Ostseenebel - Eva Almstädt - E-Book

Ostseenebel E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

Der Ostseeurlaub von Alva Dohrmann findet ein jähes Ende, als sie im Garten ihres Ferienhauses eine Leiche entdeckt. Der Schädel des Mannes wurde eingeschlagen, das Gesicht des Toten wurde post mortem mit Schlamm bedeckt. Es handelt sich um den umstrittenen Bürgermeister des Ortes, der aus verschiedensten Gründen zahlreiche Feinde hatte. Pia Korittki ermittelt gemeinsam mit der örtlichen Polizei. Der Fall nimmt eine überraschende Wendung, als Alva Dohrmann spurlos aus dem Dorfgasthof verschwindet, in dem sie vorübergehend untergebracht wurde. Und dann wird eine weitere Leiche in den Dünen gefunden...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel

Über dieses Buch

Der Ostseeurlaub von Alva Dohrmann findet ein jähes Ende, als sie im Garten ihres Ferienhauses eine Leiche entdeckt. Der Schädel des Mannes wurde eingeschlagen, das Gesicht des Toten wurde post mortem mit Schlamm bedeckt. Es handelt sich um den umstrittenen Bürgermeister des Ortes, der aus verschiedensten Gründen zahlreiche Feinde hatte. Pia Korittki ermittelt gemeinsam mit der örtlichen Polizei. Der Fall nimmt eine überraschende Wendung, als Alva Dohrmann spurlos aus dem Dorfgasthof verschwindet, in dem sie vorübergehend untergebracht wurde. Und dann wird eine weitere Leiche in den Dünen gefunden …

Über die Autorin

Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin. Die Autorin lebt in Hamburg.

EVAALMSTÄDT

O s t s e e n e b e l

Pia Korittkis achtzehnter Fall

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieThomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras

Titelillustration: © Konrad Uznanski/shutterstock; tobigraf22/shutterstock; LGieger/shutterstock; © tobigraf22/arcangel

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4191-0

luebbe.de

lesejury.de

Prolog

Der Teich schimmerte silbern im Mondlicht, umgeben von Schilf und nachtschwarzen Büschen. Linn Aubach harrte geduldig im Dunkeln aus, während ihr die Feuchtigkeit aus dem Rasen die Hosenbeine hochkroch. Ihre Knie schmerzten von der ungewohnten Hockstellung, und ihr war eiskalt. Der Spaten, den sie vorsorglich mitgenommen hatte, lag neben ihr im Gras. Das Pfefferspray – gegen bissige Hunde, wie der Mann in dem Waffengeschäft augenzwinkernd betont hatte – befand sich in der Tasche ihrer dunkelblauen Golfjacke.

Als sie sich gerade stöhnend aufrichten wollte, um ihre Mission für gescheitert zu erklären, hörte sie Schritte. Langsame, leise Schritte, doch das Geräusch kam näher. Die Zweige der Büsche teilten sich, eine Gestalt materialisierte sich und trat aus dem Tiefdunkeln an das Ufer des Teichs.

Linn stockte der Atem. Sie hatte aufspringen wollen, um den Eindringling zu stellen. Sie musste beweisen, dass sie sich seine nächtlichen Besuche nicht nur einbildete. Die Polizei sollte ihre Anzeige endlich ernst nehmen.

Doch die Gegenwart des Mannes, der sich nun verstohlen über die Schulter umsah, war wider Erwarten Furcht einflößend. Was passierte hier? Sie war eine mutige, pragmatische Frau, das hatte sie als Strafverteidigerin schon oft bewiesen. Außerdem hatte sie geahnt, dass es unangenehm werden konnte, wenn sie sich spät abends in ihrem Garten auf die Lauer legte. Doch sie wollte den Kerl unbedingt erwischen und damit dem wochenlangen Spuk ein Ende bereiten. Sie wollte beweisen, dass sie recht hatte!

Nur … was passierte, wenn sie sich irrte? Wenn sie die Situation vollkommen falsch einschätzte? War eres überhaupt? Linn war sich seiner Identität so sicher gewesen. Doch der Mann unten am Teich war bei längerer Betrachtung zu agil und zu kräftig. War es ein Fremder? Konnte sie es mit ihm aufnehmen? Oder war sie wahnsinnig?

Der Mond wurde immer wieder von schnell wandernden Wolken verdeckt. Dunstschleier stiegen wie dünne Finger von der Oberfläche des Teichs auf. Sie hörte Wasser plätschern. Mit einer schwungvollen Bewegung holte der Mann einen ihrer Koi-Karpfen heraus, der klatschend am Ufer auf den Steinen aufschlug. Oh nein!

Linn unterdrückte ein Aufstöhnen. Er hatte schon zwei ihrer Kois abgeschlachtet und ihr die toten Fische mit herausgerissenen Eingeweiden erst auf ihrer Terrasse, dann auf dem Fensterbrett des Schlafzimmerfensters präsentiert. Nur ein völlig kranker Geist tat so etwas.

Sie hatte es womöglich mit etwas ganz anderem zu tun, als sie angenommen hatte. Und sie war allein hier draußen, nur mit einem Spaten und Pfefferspray bewaffnet. Langsam kroch sie rückwärts durch die Büsche, um zurück zum Haus zu gelangen. Ein Zweig unter ihrem Knie knackte. Der Mann hob den Kopf. Sie gefror. Er drehte sich um und schaute nun direkt zu ihr herüber. Lauerte. Doch sie sah kein Gesicht. Er trug eine schwarze Motorradmaske. Linns Herz raste. Wie hatte sie nur so dumm sein können?

 

1. Kapitel

»Oh, das ist jetzt aber eine Überraschung!« Kriminalhauptkommissar Heinz Broders fixierte eine Stelle irgendwo hinter seiner Kollegin.

»Was ist denn?« Pia Korittki blickte über ihre Schulter, entdeckte aber nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte. Ihr Teamkollege musterte sie unter schweren Augenlidern hervor, neugierig und ein bisschen besorgt zugleich. »Nun sprich nicht in Rätseln, Broders. Wen oder was meinst du?«

Der große Besprechungsraum des K1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck war von ihren gemeinsamen Kolleginnen und Kollegen bevölkert. Sie feierten Kriminalhauptkommissars Wilfried Kürschners letzten Arbeitstag und seine Verabschiedung aus dem Polizeidienst.

Dicht an dicht standen die Mitarbeiter des Lübecker Polizeihochhauses, aßen, tranken und plauderten. Die Stimmung war, gemessen am Ort der Begegnung, ausgelassen. Die offiziellen Reden waren überstanden, das Büfett geplündert; die Veranstaltung zeigte bereits erste Auflösungserscheinungen. Jetzt waren nur noch die Kollegen da, die die Zusammenkunft genossen. Mit Neuankömmlingen rechnete wohl niemand mehr.

Broders senkte die Stimme. »Nähert sich auf achtzehn Uhr.« Er blickte ihr in die Augen. »Noch etwa fünf Meter.«

Da sah Pia ihn. Marten Unruhs schlanke Gestalt mit den breiten Schultern schien die Menschenmenge zu teilen. Was zum Teufel machte er auf einmal hier? Ihr Herz klopfte, und ihr Mund wurde trocken. Weil sie sich ärgerte, sagte sie sich. Sie mochte keine Überraschungen. Marten hätte sie ruhig vorher anrufen können.

»Du meintest doch gestern, Marten sei noch eine Woche auf seiner Fortbildung in Wiesbaden.« Broders beobachtete Pia genau. Er kannte Martens und ihre gemeinsame Geschichte, wenigstens zu einem großen Teil.

Marten Unruh war früher ihrer beider Kollege im K1 gewesen. Während ihrer gemeinsamen Zeit in der Lübecker Mordkommission waren Marten und sie für eine Weile zusammengekommen. Es war eine kurze, aber stürmische Liebesaffäre gewesen. Sie hatte damit geendet, dass Marten ohne eine Erklärung von einem Tag auf den anderen aus Lübeck und aus ihrem Leben verschwunden war. Später hatte Pia erfahren, dass er zum BKA gewechselt war und fortan als verdeckter Ermittler gearbeitet hatte.

Sie waren sich einige Zeit später zufällig in Italien wiederbegegnet. Da hatte Pia gerade mit ihrem damaligen Freund Hinnerk Schluss gemacht. Neun Monate später war ihr Sohn Felix zur Welt gekommen. Hinnerk hatte Pia gegenüber damals behauptet, er habe einen Vaterschaftstest machen lassen. Er sei Felix’ Vater. Und Hinnerk hatte sich stets gut um den Jungen gekümmert. In dieser Zeit lernte Pia Lars Kuhn kennen. Irgendwann entschlossen Lars und sie sich dazu zu heiraten. Doch bevor es so weit war, kam Lars bei einem Autounfall in England ums Leben. Es war ein harter Schlag für Pia gewesen, von dem sie sich nur langsam erholt hatte.

Inzwischen lag sein Tod beinahe drei Jahre zurück. Marten war vor einem halben Jahr wieder in Pias Leben getreten. Inzwischen hatten sie erfahren, dass er Felix’ biologischer Vater war. Doch wie sollte Pia das ihrem siebenjährigen Kind erklären, das mit Hinnerk und dessen Frau und Tochter als seiner zweiten Familie aufgewachsen war? Felix verstand sich toll mit Marten, und inzwischen verbrachten sie viel Zeit zusammen. Pia liebte Marten. Aber reichte das für eine gemeinsame Lebensplanung aus?

»Ja, das mit Martens Fortbildung ist auch mein letzter Kenntnisstand«, sagte Pia zu Broders.

Marten wurde von Michael Gerlach und Juliane Timmermann aus Pias Team aufgehalten. Die Kollegin hatte Marten soeben mit einer vertraulichen Geste am Arm festgehalten und sich an ihn gelehnt, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Pia krauste die Stirn. Marten schien sie noch nicht entdeckt zu haben. Er nickte lächelnd und trat einen Schritt zur Seite.

Pia riss sich von seinem Anblick los. »Immerhin hat er jahrelang mit Wilfried zusammengearbeitet«, sagte sie. »Da ist es doch verständlich, dass er bei seiner Verabschiedung vorbeischaut.«

»Du bist aber überrascht.« Broders hob leicht die rechte Augenbraue an. Als einer der wenigen, die wussten, dass Pia und Marten wieder zusammen waren, war ihm die Brisanz der Situation bewusst.

»Broders, ich bin nicht Martens Kindermädchen.« Doch er hätte mir wirklich Bescheid sagen können, dass er nach Lübeck kommt, dachte Pia erneut. Und nicht wie »Kay aus der Kiste« einfach hier hereinschneien …

Marten verbrachte mehr Nächte zusammen mit ihr in Pias Wohnung als allein in seiner in Kiel. Die letzten vier Wochen während seiner Fortbildung war er allerdings nur an den Wochenenden bei ihr gewesen. Und am vergangenen Sonntagabend war er nach einer heftigen Meinungsverschiedenheit zurück nach Wiesbaden gefahren. Sollte sein merkwürdiges Verhalten nun die Konsequenz daraus sein?

»Möchtest du vielleicht noch ein paar Käsespießchen?« Broders deutete mit dem Kopf in Richtung Büfett.

»Nein, danke.« Pia versuchte, mit tiefen Atemzügen ihren inneren Aufruhr zu besänftigen. Dies war nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit ihrem Freund.

»Ich wollte dir nur die Gelegenheit bieten, ihm ohne Zeugen gegenüberzutreten.«

»Das ist nicht nötig.« Vielleicht wären Zeugen, die verhinderten, dass sie Dinge sagte, die sie hinterher bereute, sogar besser.

»Du siehst aus, als wolltest du Marten den Kopf abreißen … Oder Schlimmeres. Nichts für ungut.« Broders schaute nun wirklich besorgt drein. »Aber keine Sorge. So schnell kommt er dort, wo er aufgehalten wird, ja nicht weg«, setzte er sarkastisch lächelnd hinzu.

Heinz Broders war eine Konstante in Pias Leben. Manchmal fürchtete sie, er könne sogar ihre Gedanken lesen. Sie waren seit ungefähr acht Jahren bei Ermittlungen der Mordkommission ein festes Team. Ihr gemeinsamer Anfang war zwar schwer gewesen, doch mittlerweile teilten sie sich ein Zweier-Büro und hatten eine Menge aufreibender Fälle erfolgreich zusammen durchgestanden.

»Ich möchte doch so ein Spießchen«, erwiderte Pia so würdevoll wie möglich.

»Hm. Oder vielleicht doch lieber etwas Weiches? Ein Mozzarella-Bällchen? Nur zur Sicherheit?«

»Egal, was.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Engelchen.« Er war so rührend besorgt um sie, dass sie ihm das »Engelchen« mal wieder durchgehen ließ. Es war eine Art Running Gag zwischen ihnen, seit sie zusammenarbeiteten.

Broders schlenderte zum Büfett, machte hier eine Bemerkung zu einem Kollegen, wurde dort angesprochen. Nach Wilfrieds Weggang war er nun der Dienstälteste bei der Lübecker Mordkommission.

Pia wollte nicht zu auffällig zu Marten hinüberschauen, aber sie war auch neugierig. Marten trug Jeans, ein graues T-Shirt und ein dunkles Jackett, dazu Sneakers. Er hatte sich wahrscheinlich direkt nach dem Seminar auf den Weg gemacht. Sein immer noch braunes Haar war mal wieder einen Tick zu lang. Doch ansonsten merkte man ihm den Seminartag und die knapp sechshundert Kilometer nicht an. Marten sah so aus, als wäre er vollkommen entspannt im Hier und Jetzt. Als belastete ihn der Streit, nach dem sie am Sonntag auseinandergegangen waren, nicht im Geringsten.

Dabei hatte das letzte Wochenende so gut angefangen. Ihr gemeinsamer Sohn Felix war bei Hinnerk und dessen Familie gewesen. Marten und Pia hatten die ungestörte Zweisamkeit genossen. Doch dann hatte er sie gefragt, wie es denn nun mit ihnen weitergehen solle. Er wartete schon ein halbes Jahr auf ihre Antwort. War das wirklich schon so lange her? Mit seiner Zeit in Wiesbaden habe er ihr Raum für eine Entscheidung geben wollen, hatte er gesagt. Aber nun wollte er doch gern wissen, ob sie mit Felix und ihm zusammenleben wollte. Ob es für sie eine gemeinsame Zukunft als Paar und als Familie gab.

Und sie … Der Gedanke an diese Entscheidung hatte bei Pia die altbekannte Panik ausgelöst. Sie hatte Angst, ihre Unabhängigkeit aufzugeben, das sichere Konstrukt, das sie für sich und ihren Sohn erbaut hatte. Sich ganz für Marten zu entscheiden erschien ihr nach wie vor wie ein Sprung ins eiskalte Wasser. Und sie traf diese Entscheidung ja nicht nur für sich.

Zum einen musste sie dafür endgültig Abschied von Lars und ihren gemeinsamen Hochzeitsplänen nehmen. Doch das, so musste sie sich eingestehen, war nicht mehr das eigentliche Problem. So weit, ihre vergangene Liebe loszulassen, war sie inzwischen. Der Knackpunkt war nach wie vor, dass sie in der Lage sein sollte, Marten zu vertrauen. Konnte sie das? Das Zusammensein mit ihm war jeden Tag aufs Neue spannend, anregend und wunderbar. Aber schon einmal hatte er sie ohne ein Wort der Erklärung verlassen, und das konnte er ja jederzeit wieder tun.

Marten Unruh hatte das Konzept von »Partnerschaft und Familie« gewiss nicht erfunden. Was, wenn sein neu entdeckter Familiensinn nur eine vorübergehende Laune war? Ihm jetzt unter den Augen so vieler Kollegen gegenüberzutreten und Small Talk zu betreiben behagte Pia nicht. Sie war ihm eine Antwort schuldig, da hatte er recht. Aber nicht hier und sofort. Sie blickte auf die Uhr. In einer halben Stunde musste sie Felix bei Freunden abholen.

Marten nickte gerade Juliane und Michael noch einmal zu und kam dann zu ihr. »Hi, Pia.«

»Hey, Marten.«

Er schien die zwischen ihnen stehende Frage, warum er so unerwartet hier auftauchte, zu spüren. »Ich hatte nicht gedacht, dass ich es heute hierherschaffe«, erklärte er. »Aber dann haben wir etwas früher Schluss gemacht. Und ich wollte Wilfried unbedingt noch mal sehen, bevor er zum Rentier mutiert.«

»Wie lange habt ihr, du und Wilfried, eigentlich im K1 zusammengearbeitet?«, fragte Pia. Das war neutrales Terrain.

Marten krauste die Stirn. »Zwölf Jahre. Wilfried war schon dabei, als ich beim K1 anfing. Ich habe viel von ihm gelernt.«

»Er wird mir fehlen«, sagte Pia.

Broders näherte sich mit einem Teller aus Richtung des Büfetts.

»Hallo, Broders«, sagte Marten. Und mit einem Augenzwinkern in ihre Richtung: »Tja, Pia, jetzt bist du wohl hauptsächlich auf diesen Miesepeter hier auf dem Flur angewiesen.«

Broders grinste. Das war der Ton, auf den er sich verstand. »Ich werde ihr die Arbeit schon verleiden. Das ist meine Spezialität. Du kennst mich ja.«

Pia lächelte kühl. »Zumindest weiß ich bei Broders, woran ich bin.«

»So ist es!«, rief dieser, bevor Marten darauf reagieren konnte. Er blickte von einem zum anderen. »Spaß beiseite. Ich sorge wie eine Mutter für Pia«, spottete er. »Möchte einer ein Lachshäppchen? Ich habe gerade alles gegeben und sie unserem Chef vor der Nase weggeschnappt.« Broders bot den übervoll beladenen Teller an. Er sprach von Manfred Rist, dem Leiter des K1 und damit Pias und Broders direktem Vorgesetzten.

Marten und Pia schüttelten den Kopf, sahen sich stumm in die Augen.

»Okay. Schon verstanden.« Broders hob das Kinn. »Viel Spaß noch, ihr zwei.«

»Ich wollte dich vorher anrufen«, sagte Marten halblaut. »Aber ich wusste bis zuletzt nicht, ob ich es überhaupt schaffe herzukommen. Und ich muss auch heute Abend noch zurückfahren.«

»Ist wirklich kein Thema. Ich war nur überrascht«, erwiderte Pia. »Und ich muss jetzt leider los, Marten. Ich habe versprochen, Felix um halb sieben abzuholen.«

»Kann ich nicht mitkommen?«, fragte er. »Ich würde ihn gern sehen.«

»Wie lange kannst du denn heute bleiben?«

Er seufzte. »Noch knappe zwei Stunden.«

»Das würde Felix nur verwirren«, entgegnete Pia sanft. »Das nächste Mal wieder.«

»Pia, ich …«

»Ich muss wirklich los. Wir telefonieren.« Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft drehte sie sich um und ging in Richtung Tür. Im Vorbeigehen stellte sie ihr leeres Glas auf einem der Bistrotische ab, die für diese Feier aus irgendeinem Fundus hervorgeholt worden waren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Juliane wieder auf Marten zusteuerte. »Verdammt, verdammt, verdammt«, flüsterte Pia unhörbar, als sie zu den Fahrstühlen ging. Das Wiedersehen war ja gründlich schiefgegangen. Aber sie konnte nun mal nicht aus ihrer Haut.

Der eine Fahrstuhl war defekt, der andere kam von unten und schien wieder einmal in jedem Stockwerk zu halten. Sie starrte auf die Anzeige. Dass Marten immer noch dieses Gefühlschaos in ihr auslöste! Warum war er hergekommen, wenn er gleich wieder verschwinden musste?

Der Aufzug öffnete sich, ein paar ihr unbekannte Kollegen traten lachend heraus und steuerten in Richtung Besprechungsraum. Pia betrat den leeren Fahrstuhl. Sie drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoss und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Hals knackte. Der Aufzug setzte sich ruckelnd in Bewegung. Bereits im sechsten Stock hielt er wieder an. Die Tür glitt zur Seite, und Marten trat ein.

»Ups«, sagte Pia erstaunt.

»Ich lasse dich doch nicht einfach so gehen.«

»Ich fürchte, du musst. Lass uns reden, wenn wir mehr Zeit haben.« Der Fahrstuhl setzte sich wieder in Bewegung.

Unerwartet drückte Marten auf den Stopp-Knopf und trat näher an sie heran. Pia spürte seine Körperwärme und roch den unverwechselbaren Duft nach Sandelholz, Meer und ihm selbst. Das war unfair! Er hielt gerade so viel Abstand, dass sie sich nicht berührten. Ihr Körper reagierte mit einem Schauer, der ihr Rückgrat hinunterlief, aber sie war seinetwegen auch immer noch aufgebracht.

»Ich habe dich wahnsinnig vermisst, Pia.« Martens Gesicht war ihrem so nah, dass sie seinen Atem als Hauch auf ihrer Wange spürte. »Wiesbaden war überhaupt keine gute Idee.« Die Versuchung, sich gegen ihn zu lehnen, seinen festen, warmen Körper zu spüren, war groß. Seine Lippen näherten sich ihren, sein Blick war fest auf sie gerichtet. Neugierig, erwartungsvoll … amüsiert?

Mit der rechten Hand löste Pia den Stopp-Knopf. Der Fahrstuhl ruckelte wieder und setzte die Fahrt fort.

»Küss mich! Diskutieren können wir später …«, sagte er drängend. Ihre Lippen trafen sich einen magischen Moment lang. Pia schloss die Augen. Der Aufzug stoppte im Erdgeschoss. Die Tür schnarrte auf. Pia trat vorsichtshalber einen Schritt von Marten weg. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Wangen und Lippen glühten.

Ein Kollege vom Kriminaldauerdienst in Uniform, die Hände am Gürtel, sah fragend von einem zum anderen. »Wollt ihr nicht aussteigen?«

Pia straffte die Schultern. »Ich schon.« Sie sah Marten in die Augen. »Mein Kollege fährt wieder nach oben.«

 

2. Kapitel

Felix hatte am Nachmittag bei seinem ehemaligen Kindergartenfreund Raphael gespielt. Wenn Pia ihn dort abholte, klönte sie meistens noch mit Raffis Mutter Inka.

Leider war Raphael nicht in Felix’ Klasse gekommen, weil seine Eltern sich für eine Privatschule entschieden hatten. Kurz hatte Pia überlegt, Felix ebenfalls dorthin zu schicken, weil er so gern mit seinem Kumpel zusammenbleiben wollte. Letztlich war sie aber zu dem Entschluss gekommen, dass die öffentliche Schule das Richtige für Felix war. Sie war davon ausgegangen, dass er schnell neue Freunde in seiner Klasse finden würde. Doch leider hatte sich das bisher nicht bewahrheitet. Die meisten Kinder dort kannten sich aus einem anderen Kindergarten und waren neuen Kontakten gegenüber nicht besonders aufgeschlossen.

Pia drückte den Klingelknopf und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hoch zu der Wohnung, in der Raphael mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte.

»Hallo, Pia!« Raffis Mutter musterte sie. »Frisch gestresst?«

»Ach, das kann eigentlich nicht sein. Ich komme von der Verabschiedungsfeier eines Kollegen.«

»Und uneigentlich?«

»Uneigentlich habe ich mich gerade über Marten geärgert.«

»Felix hat erzählt, dass Marten zurzeit in Wiesbaden ist.«

»Das dachte ich auch.« Sie lächelte. »Hat man Kinder, hat man keine Geheimnisse mehr.«

»Hast du noch Zeit für einen Kaffee? Oder was Kaltes? Die Jungs sollen noch aufräumen.«

»Gern ein Wasser.« Pia folgte Inka in die Küche. Sie setzten sich an den langen Tisch, der mit Zeitungen, Matchboxautos, Gläsern und ungeöffneter Post übersät war. Ihr nackter Unterarm blieb an etwas Klebrigem hängen.

»Felix hat mir außerdem erzählt, dass er morgen auf Klassenreise fährt«, sagte Inka, als sie sich gegenübersaßen.

»Ach ja. ›Reise‹ ist übertrieben. Aber die Klassenlehrerin meint, es sei eine gute Idee, drei Tage mit den Kindern wegzufahren.«

»Mutige Frau.«

»Sie will die Klassengemeinschaft stärken. Es geht nach Schloss Sandberg am Plöner See.«

»Und wie findet Felix das?«

»Seine Stimmung wechselt von Stunde zu Stunde. Mal freut er sich und ist ganz aufgeregt. Dann wieder ist er irgendwie bedrückt und abwesend, wenn ich ihn darauf anspreche. Wir müssen gleich noch seinen Koffer fertig packen.«

Inka nickte. »Die Kinder gehen damit unterschiedlich um. Mein Großer hasst Klassenfahrten. Raffi hingegen kann gar nicht weit und lange genug von uns weg sein.«

»Es wäre sicher einfacher für Felix, wenn Raffi auch dabei wäre. Er hat noch keinen richtigen Freund in seiner Klasse gefunden.«

»Die Lehrerin hat bestimmt eine große Flasche Heimweh-Medizin im Gepäck … Und zur Not ist Sandberg ja nicht zu weit weg, um ihn schnell von dort abzuholen.« Inka versuchte, Pia mit einem Lächeln aufzumuntern.

Pia nickte wenig überzeugt.

»Meistens ist alles gut, wenn sie erst einmal dort sind.« Inkas Lächeln vertiefte sich. »Vertrau einer dreifachen Mutter.«

»Wir haben wieder Läuse.«

»Was?!« Vicky Bruhns kam gerade zur Haustür herein. Ihr kurzes blondes Haar war vom Fahrradfahren zerzaust. Sie stöhnte auf und warf die Hände in die Luft. »Wen hat es diesmal erwischt? Den Kleinen?«

»Nein, es geht nur gerade wieder in Oskars Kindergarten um.« Ole Bruhns fragte sich, wieso seine Frau so ein Theater machte, wenn es doch eh seine Aufgabe sein würde, die Kinder zu filzen, Kopflausmittel auf Kinderköpfen zu verteilen und Klamottenberge zu waschen. Aber er genoss es auch ein bisschen, ihr den Feierabend zu verderben, stellte er beschämt fest.

Seit wann freute er sich nicht mehr, seine Frau abends zu sehen? Sie hatte vor ein paar Monaten ihr Haar zu einer Art Topfschnitt abgeschnitten und versteckte sich nach der Arbeit in ausgebeulten Joggingklamotten. Vicky schminkte sich auch nicht mehr. Alles musste »praktisch« sein.

»Wir haben mal wieder so einen Elternzettel mitbekommen.« Er deutete auf ein Blatt Papier auf der Kommode. »Und es hängt eine Warnung an der Pinnwand des Kindergartens. Das alte Spiel.«

»Der gesamte Kreis ist laut Gesundheitsamt durchseucht.« Vicky streifte die Schuhe ab und schlüpfte in die weißen Clogs, die sie im Haus trug. Vicky betrachtete jedes Problem erst mal aus Sicht der nüchternen und wohlinformierten Ärztin. »Hast du Oskar schon untersucht?«

Oskar war ihr Jüngster, fünf Jahre alt und ein frecher, süßer Fratz. Was er auch sehr wohl wusste. Er ging in den Dorfkindergarten von Stüvensee. Ihre beiden älteren Kinder, die neunjährige Friederike und die siebzehnjährige Tilda, fuhren jeden Morgen mit dem Schulbus nach Neustadt zur Schule. Doch seit wann hatte Vicky eigentlich alle Aufgaben, die mit den Kindern einhergingen, an ihn allein abgegeben? »Filze du Oskar bitte. Ich kann die Mistdinger immer erst sehen, wenn sie so groß wie Kakerlaken sind.«

»Ach herrje, Ole. Dann kauf dir endlich eine Brille! Dazu, ihn nach Läusen abzusuchen, fehlt mir heute Abend einfach die Kraft. Es war unheimlich viel los in der Praxis.«

Er starrte sie nur wütend an.

»Schon gut.« Sie hob beide Hände. »Lass uns später darüber reden.« Vicky schüttelte den Kopf, als hätte sie es nicht mit ihrem Ehemann, sondern mit einem trotzigen Kleinkind zu tun, und wandte sich in Richtung Treppe. Das Erste, was seine Frau tat, wenn sie abends aus ihrer Arztpraxis kam, war, eine lange, heiße Dusche zu nehmen und ihr Haar zu waschen. Wenn sie dann endlich wieder nach unten kam, konnte sie sich meistens an einen gedeckten Abendbrottisch setzen.

Doch heute war ihm nicht danach, das Familienleben zu managen. Stattdessen ging er in sein Arbeitszimmer und fuhr seinen Rechner hoch. Eine E-Mail mit einer Versandankündigung fiel ihm ins Auge. Die Bestellung hatte er beinahe vergessen. Morgen früh sollte das Teil hier ankommen. Doch die Freude auf seinen neuen Gaming-Computer nebst Zubehör wurde von der Aussicht getrübt, dass er Vicky noch gar nichts von der Bestellung erzählt hatte. Während sie sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie für den Praxiskredit aufkommen sollten, der nach zehn Jahren zur Rückzahlung fällig wurde – nicht, dass sie das überraschen dürfte –, würde er sie morgen mit der Ankunft eines neuen Spielzeugs für sich erfreuen.

Auch nach dem Abendessen war Ole Bruhns noch nicht bereit für die Konfrontation mit seiner Frau, seinen neuen Computer betreffend. Nachdem die Kinder den Abendbrottisch verlassen hatten, hatte Vicky ihm von ihren Problemen in ihrer Hausarztpraxis erzählt. Sie hatte im Rahmen ihrer Sprechstunde einem dreiundvierzigjährigen Familienvater eine Krebsdiagnose stellen müssen. Eine Achtunddreißigjährige hatte nach ihrer vierten Fehlgeburt verzweifelt in der Sprechstunde gesessen.

Außerdem machte sie sich Sorgen um ihre Arzthelferin Rosina, die verweint und mit blauen Flecken auf den Oberarmen zur Arbeit erschienen war. Vicky hatte den Onkel, bei dem die junge Frau lebte, in Verdacht, grob mit ihr umzuspringen, und war fest entschlossen, Rosina zu helfen. Auch die Tatsache, dass ihr Onkel der Bürgermeister und ein angesehenes Mitglied ihrer überschaubaren Dorfgemeinschaft war, würde Vicky nicht von ihrem Vorhaben abbringen, sich einzumischen.

Seine Frau schaffte es immer wieder, dass Ole sich neben ihr unbedeutend und unfähig fühlte. Sollte er ihr im Gegenzug erzählen, dass er heute die Webseiten für zwei Hotels programmiert und mit Friederike eine Stunde lang Multiplikation geübt hatte?

Mit der Ausrede, noch eine kleine Runde joggen zu gehen, verließ er im Eiltempo das Haus. Sie wohnten am Ortsrand von Stüvensee in einem Einfamilienhaus aus Backstein aus den Sechzigern. Da sie drei Kinder hatten und Ole von zu Hause aus arbeitete und dort ein Büro brauchte, war das Haus eigentlich schon zu klein für ihre Bedürfnisse.

Bisher waren sie noch nicht dazu gekommen, das Haus ihren Wünschen gemäß um- oder ein weiteres Zimmer anzubauen, wie sie es beim Kauf geplant hatten. Sie zahlten den Hauskredit ab, den Kredit für den Familien-Van, und nun kam auch noch Vickys Praxiskredit hinzu, der die ersten zehn Jahre ratenfrei gewesen war. Und das Geld war nicht das einzige Problem.

Trotz seiner Sorgen war Ole Bruhns von der Schönheit des lauen Maiabends wie geblendet. Das Licht hatte einen warmen Ton angenommen. Der Himmel war immer noch blau, bis auf leicht orangefarbene Schlieren am Horizont. Nach wenigen Metern gelangte er auf einen Feldweg. Auf den sattgrünen Weiden leuchteten die gelben Butterblumen mit dem angrenzenden Rapsfeld um die Wette. Der strenge, leicht ölige Rapsgeruch lag schwer in der Luft. Das Grün der Bäume war noch frisch und hell.

Er lief nicht wie sonst in Richtung Ortsmitte, sondern zunächst auf die Felder hinaus. Stüvensee-City, dachte er spöttisch und sprang auf den Randstreifen, als ihm auf der schmalen, S-förmigen Straße ein Trecker entgegenkam. Siegfried Engel, Landwirt des nahegelegenen Kiekeberg-Hofs, hob grüßend die Hand. Nach zehn Jahren im Dorf waren sie allgemein akzeptiert, wozu sicher die Tatsache, dass sie drei Kinder hatten, und vor allem Vickys Hausarztpraxis im Nachbarort beigetragen hatten.

Anfangs war Ole Bruhns sogar noch Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr gewesen, um Anschluss zu finden, doch er war in diese verschworene Männergemeinschaft nie richtig hineingekommen. Nun beschränkte er sich auf eine zahlende Mitgliedschaft und hatte sein Dorfleben auf eine regelmäßige Skatrunde im Dorfkrug reduziert. Strategie und Logik waren nun mal eher seine Stärken als Wagemut und Trinkfestigkeit.

Am Ortsrand lag noch Linn Aubachs alte Fischerkate. Ein Kleinod von einem Haus, aufwendig restauriert und mit einer Holzterrasse mit Blick über die Wiesen, bei dem einem das Herz aufging. Was hatte Vicky mal über dieses Haus gesagt: »Es gibt auch positiven Neid …« Aber die Wahrheit war, dass der Neid ganz schön an seiner Frau nagte. Was sollte daran positiv sein?

Linn war Anwältin und in der Gegend aufgewachsen. Ole fragte sich, ob sie das Häuschen allein mit ihrem Job finanzierte.

Er überquerte die Chaussee und nahm einen weiteren Feldweg, der hinter Linns Kate durch ein kleines Wäldchen führte. Hier war es dunkler, und die Luft roch grün und ein bisschen modrig. Obwohl seit einigen Tagen die Sonne schien, standen auf dem unbefestigten Weg noch Pfützen, die er laufend umrundete.

Vor ihm tauchte ein graues, quadratisches Haus mit orangerotem Ziegeldach auf. Ein altes Siedlungshaus, das in den Siebzigern lieblos und spartanisch renoviert worden war. Das Gartentor stand offen, sodass er hindurchgehen konnte. Seitlich grenzte ein großer Hundezwinger aus Maschendraht an die Außenwand, doch es war kein Hund zu sehen.

Ole drückte auf die Klingel neben der Haustür aus Aluminium und Riffelglas. Fabian Ruschke öffnete ihm. Er war ein hochgewachsener, etwas schlaksiger Mann Anfang dreißig mit dichten braunen Haaren und blauen Augen.

Zwei seiner Hunde schossen an Ole vorbei und beschnüffelten ihn, bellten aber nicht. Er beugte sich kurz zu ihnen hinunter und kraulte ihr weiches Fell. Fabian Ruschke züchtete Niederländische Kooikerhondjes. Oles Kinder liebten die Hunde und lagen ihm damit in den Ohren, dass sie genau so einen haben wollten, besonders, wenn Ruschke mal wieder Welpen hatte.

Fabian stand barfuß und mit zerzausten Haaren vor ihm. Er trug Jeans und ein graues T-Shirt darüber.

»Hallo, Fabian, ich hoffe, ich störe dich nicht?«, fragte Ole leicht atemlos.

»Hi, Ole. Nein, gar nicht«, antwortete der Züchter. »Ich hocke sowieso nur zu Hause herum. Ich erwarte Yaras ersten Wurf. Es kann jeden Moment so weit sein.« So etwas wie der Stolz des werdenden Vaters erhellte Fabians sonst eher mürrische Züge. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Ich habe eine Bitte an dich.«

»Worum geht’s?«

»Morgen kommt ein wichtiges Paket für mich an, aber ich bin nicht zu Hause. Kann ich dem Paketdienst mitteilen, dass sie es bei dir abgeben sollen?«

»Klar. Ich bin sicherlich hier. Wer weiß, wann die junge Dame geruht zu werfen!«

»Es ist nur …«

»Ja?« Fabian lächelte, als einer der Hunde an seinem Fuß zu knabbern begann.

»Das Paket ist nicht ganz klein.« Ole hob die Hände, um zu demonstrieren, welche Größe er erwartete. »Und schwer. Ein neuer Computer«, setzte er erklärend hinzu.

Er kraulte den Hund. »Kein Problem. Wir werden gut drauf aufpassen.«

Ole verabschiedete sich mit dem Gefühl, sein Problem nicht gelöst, aber zumindest aufgeschoben zu haben. Er winkte Fabian noch einmal zu und trabte dann unter den Bäumen hindurch zur Straße. Diesmal nahm er den anderen Weg, der wieder zurück in den Ort und zur Kirche führte.

Auf halbem Weg kam ihm eine Fahrradfahrerin auf einem alten Hollandrad entgegen. Um ihren Lenker herum waren rosafarbene Kunstblumen gewickelt, und in dem Korb am Lenker befanden sich eine Flasche und etwas unter einem karierten Geschirrtuch, was wie ein Kuchen aussah. Wie bei Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter … Seine Kinder hatten die Märchen, die er ihnen vorgelesen hatte, immer als zu gruselig empfunden. Wahrscheinlich durch Vickys Intervention, die Märchen einfach barbarisch fand.

Die junge Frau schaute ihn überrascht an und rumpelte dabei durch ein Schlagloch. Sie fing sich wieder und lächelte kurz und zurückhaltend. »Guten Abend, Herr Bruhns«, grüßte sie ihn.

»Hallo, Rosina.« Wie oft hatte er ihr schon gesagt, dass sie ihn gern duzen durfte? Mein Gott! Hier im Dorf duzten sich doch alle. Außerdem arbeiteten seine Frau und Rosina Peters seit zwei Jahren zusammen. Sie war mittlerweile sechsundzwanzig, rechnete er schnell nach, und reichlich schüchtern für eine erwachsene junge Frau, die voll im Berufsleben stand.

Rosina hielt nicht an, sondern fuhr an ihm vorbei in Richtung Fabians Haus. Er blickte ihr nach. Rosina und Fabian Ruschke also? Möglich, dass es nichts zu bedeuten hatte. Doch eigentlich passten die beiden ganz gut zusammen, fand er.

Sollte er Vicky davon berichten, dass er ihre Arzthelferin auf dem Weg zu einem Freund angetroffen hatte? Nein, dann müsste er ihr ja sagen, was er hier gewollt hatte. Aber was, wenn Rosina nun Vicky morgen erzählte, dass sie sich auf dem Weg zu Ruschkes Haus begegnet waren? Das war eher unwahrscheinlich, denn Rosina redete wohl selten von sich aus über irgendwas. Doch verlassen konnte er sich nicht darauf. Und dann stünde er richtig dumm da.

Die Schönheit des Frühlingsabends verzerrte sich vor seinen Augen. Warum musste immer alles so kompliziert sein?

In der Adlerstraße in Lübeck packte Pia Felix’ Koffer. Er hatte den kleinen blauen Trolley mit den Dinosauriern darauf von ihren Eltern geschenkt bekommen. Sie wusste nicht, wie lange Felix noch auf Dinosaurier stand, aber wenigstens würde er seinen Koffer überall wiedererkennen.

Pia versuchte, ihn für das Abarbeiten der Liste, die sie von der Klassenlehrerin bekommen hatten, zu begeistern, doch er war nicht richtig bei der Sache. Und auch Pia ertappte sich dabei, dass ihre Gedanken immer mal wieder zu ihrer letzten Begegnung mit Marten wanderten. Verdammt, wie war es möglich, dass sie ihn liebte und sich nach ihm sehnte, dass ihr aber die Entscheidung für eine gemeinsame Zukunft Angst einjagte?

Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, fing Felix an zu weinen. Pia sank das Herz. »Ich will da nicht mit«, klagte er. »Ich will zu Hause bleiben, bei dir und Marten.«

Sie nahm ihn fest in die Arme und spürte, dass er zitterte. »Ich verstehe, dass du aufgeregt bist. Das ist verständlich. Aber wenn du erst mal dort bist, gefällt es dir bestimmt«, sagte Pia. »Alle deine Schulkameraden sind da.«

»Ich mag die nicht.«

»Ihr kennt euch doch noch gar nicht richtig. Frau Wagner fährt mit euch dorthin, damit ihr euch besser kennenlernt.« Felix weinte still vor sich hin. Pia strich ihm übers Haar und sah ihn an. »Ihr wohnt in einem alten Schloss am See. Deine Lehrerin hat ganz viele spannende Ausflüge für euch geplant. Eine Olympiade und eine Nachtwanderung …«

Felix schniefte. »Aber ich will nicht so lange von dir weg sein.«

»Es ist doch gar nicht lange. Du warst schon viel länger weg. Bei Papa und bei Oma und Opa.« Pia versuchte, ruhig und vernünftig mit ihm zu reden, doch Felix war müde und steigerte sich immer weiter in seine Angst vor dem Unbekannten hinein. Letztlich nahm sie ihn mit zu sich ins Bett, wo er sich schließlich beruhigte und einschlief.

Pia lag noch lange wach und war ratlos. Am nächsten Morgen sollten sie um acht Uhr am Reisebus vor der Schule sein. Was, wenn Felix morgen früh seine Meinung nicht geändert hatte und weiterhin nicht mitfahren wollte? Das war beim jetzigen Stand der Dinge mehr als wahrscheinlich.

Sollte sie ihn dann lieber zu Hause lassen? Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn gegen seinen Willen in den Bus zu setzen. Was, wenn er wirklich noch überhaupt keinen Anschluss in der Klasse gefunden hatte? Wäre die Reise dann nicht eine Quälerei für ihn? Doch wenn sie ihn jetzt darin bestärkte, seiner Angst nachzugeben und den leichten Weg zu wählen, würde er sich dann bei nächster Gelegenheit wieder von seinen Ängsten lenken lassen? Brachte sie ihn damit nicht um das Erfolgserlebnis, etwas gewagt und durchgestanden zu haben? Wo verlief die Grenze zwischen Förderung und Überforderung?

Mit einem hilfreichen Gedanken, fast so etwas wie einem Plan, schlief Pia schließlich ein.

 

3. Kapitel

Ein paar Stunden nach Sonnenuntergang umgab eine allumfassende Dunkelheit das fremde Haus. Nicht einmal der Mond war zu sehen. Alva Dohrmann fühlte Beklemmung in sich aufsteigen. Sie lag in dem Bett ihres Ferienhauses und lauschte. Ein Auto näherte sich auf der Landstraße. Das Scheinwerferlicht malte wandernde Lichter an die Decke der Kate und verschwand wieder. Alva Dohrmann hörte, wie sich der Wagen in Richtung der Ortsmitte von Stüvensee entfernte. Nach einer Weile vernahm sie das Motorengeräusch eines zweiten Autos. Doch dieses verlangsamte anscheinend seine Fahrt. Sie lauschte angestrengt, aber sie hörte nichts mehr.

Sie konnte nicht einschlafen, obwohl sie eben, als sie im Wohnzimmer gesessen hatte, todmüde gewesen war. Und sie fühlte ein nagendes Verlangen, das nur ein kleiner Drink beseitigen konnte. Irgendwo in dem fremden Haus gab es bestimmt eine Flasche Wein oder Sekt. Vielleicht auch etwas Stärkeres? Nicht, dass sie normalerweise Schnaps und dergleichen trank. Aber zur Not … Sie musste nur kurz aufstehen und danach suchen.

Doch Alva Dohrmann blieb im Bett liegen. Die frische Bettwäsche raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Sie roch dezent nach Lavendel und Seife. Alva Dohrmann drehte sich auf die andere Seite, schloss wieder die Augen. Doch ihre Gedanken kreisten unverwandt um diesen »Schlummertrunk«, wie sie es für sich nannte. Hatte sie sich nicht etwas zur Beruhigung verdient? Der Wunsch wurde drängender, zerrte an ihren Nerven.

Eigentlich war Alva Dohrmann mit dem festen Vorsatz in den Urlaub gefahren, an der Ostsee keinen Tropfen Alkohol anzurühren. Doch nachdem sie bei ihrer Ankunft vorhin einen Brief ihrer Vermieterin auf dem Küchentisch gefunden hatte, sah die Sache schon etwas anders aus. Linn Aubach hatte sie darin überraschend und auch übergriffig gebeten, regelmäßig die Koi-Karpfen im Teich hinter dem Haus zu füttern. Davon war in dem Gespräch per Videochat, das Linn Aubach und sie wegen der Vermietung des Ferienhauses geführt hatten, nie die Rede gewesen. Sie wusste zwar, dass dies ein Privathaus war, doch mit »Haustieren« hatte sie nicht gerechnet.

Alva Dohrmanns erster Impuls beim Lesen des Briefes war gewesen, sich rundheraus zu weigern und so zu tun, als hätte sie den Brief gar nicht gefunden. Was unglaubwürdig wäre, denn er hatte bei ihrer Ankunft mitten auf dem Küchentisch gelegen, beschwert von einer Blumenvase mit einem bunten Tulpenstrauß darin. Erschwerend kam hinzu, dass solche Fische, Kois, angeblich sehr teuer waren. Und ihre Vermieterin war anscheinend Juristin. Da musste sie vorsichtig sein. Vielleicht war der Urlaub in einem privaten Ferienhaus doch nicht ihre beste Idee gewesen? Doch die Ostseeküste war schon so gut wie ausgebucht gewesen, bis auf diese Kate.

Jetzt brauchte Alva Dohrmann jedenfalls etwas zu trinken, sonst würde sie nie einschlafen können! Sie setzte sich im Bett auf und schaltete das Licht ein. Es war kurz nach elf. Das Schlafzimmer in dem alten Haus sah fremd und ein bisschen zu kahl aus. Grau gestrichene Wände, ein Doppelbett aus gelaugtem Holz, ein Stuhl, eine Kommode, ein Flickenteppich auf den Dielen, nicht einmal Vorhänge vor den zwei Sprossenfenstern.

Sie schwang die Beine aus dem warmen Bett und zog eine lange Strickjacke über ihr Schlafshirt. Die Sohlen ihrer Flipflops klatschten auf den harten Boden, als sie in die Wohnküche ging. Ihre Zehen krümmten sich vor Kälte, und sie schlang die Arme um ihren Körper. Nun war sie froh, dass sie hier vorhin das Licht der extravaganten Stehlampe mit den drei nackten Leuchtmitteln hatte brennen lassen. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie damit von außen wie ein Frosch in einem beleuchteten Terrarium zu sehen war. Was Unsinn ist, schalt sie sich. Die Kate war von drei Seiten von Garten umgeben, dessen Grenzen dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen waren, und die zwei Fenster, die über der Küchenzeile zur Straße hinausgingen, lagen tief unter dem Reetdach und unterhalb des Straßenniveaus, sodass sie keine Zuschauer zu fürchten hatte. Am Rande dieses Dorfes, Stüvensee, also am Ende der Welt, schon gar nicht.

Alva Dohrmann öffnete systematisch die Küchenschränke. Das innerliche Ziehen, das Verlangen nach etwas Alkoholischem, wurde stärker. Nichts. Sie schaute auch hinter Stapel von Geschirr und Vorratspackungen, wohl wissend, dass manche Leute ihren Alkohol versteckten.

Ein leises, kratzendes Geräusch ließ sie aufmerken. Alva Dohrmann verharrte in der Bewegung, die Schranktür noch in der Hand.

Kam es von drinnen oder draußen? Das Haus war exzellent renoviert. Trotzdem war es nicht ausgeschlossen, dass eine Maus hereingehuscht war, als sie vorhin länger die Terrassentür hatte offen stehen lassen. Das war dumm von ihr gewesen. Oder lebten etwa Tiere auf dem Dachboden oder im Reet? Wieder hörte sie dieses Geräusch. Doch es kam nicht von oben, sondern eher aus Richtung der Terrassentür. Eine Gänsehaut überzog Alva Dohrmanns Arme, als sie sich langsam umdrehte.

Die Ecken des Eingangsbereichs mit der Wohnküche und dem Esstisch lagen im Schatten. Die Treppe, die ein halbes Stockwerk tiefer ins Wohnzimmer führte, mündete in absolute Dunkelheit.

Wahrscheinlich hatte der Wind nur einen Zweig gegen eines der Fenster scharren lassen. Aber es war windstill … Eine Seltenheit, so nah an der Küste. Alva Dohrmann stand reglos da, bewegte nur die Augen, suchte den Raum nach der Herkunft des Geräusches ab. Sie wusste nicht, wieso, aber sie war auf einmal der Überzeugung, nicht mehr allein zu sein.

Als sie eine Bewegung, einen Schatten, hinter einer der Scheiben sah, machte ihr Herz einen Satz und begann, heftig zu schlagen. Es war die verglaste Tür hinter dem Esstisch, die auf die Terrasse hinausführte. Das eben konnte alles Mögliche gewesen sein. Ein Vogel, eine Fledermaus, ein langer Zweig womöglich. Doch dazu war der Schatten zu groß gewesen. Tief in ihrem Inneren war sie bereits davon überzeugt, dass sich ein menschliches Wesen vor dem Fenster bewegt hatte.

Ein Mensch, der auf das Grundstück gekommen war – um was zu tun? Um hier einzubrechen? Sie schauderte erneut. Wahrscheinlich hatte sich Linn Aubachs Abreise herumgesprochen. Womöglich dachte nun jemand, die Kate sei unbewohnt. Doch hier gab es ihres Wissens nichts Wertvolles außer einem Kaffeevollautomaten und einem Flachbildfernseher. Tja, das reichte womöglich schon. Und vielleicht waren die hässlichen grau-schwarzen Bilder an den Wänden wertvoll? Ein Haus ohne Gardinen, Rollos oder Vorhänge, das musste ja Spinner anlocken!

Gegen Alva Dohrmanns Theorie von dem Einbrecher, der die Fischerkate im Augenblick für unbewohnt hielt, sprach, dass ihr Auto seit heute Nachmittag im Carport parkte. Ein nächtlicher Besucher konnte davon ausgehen, dass das Haus bewohnt war. Doch ihre Anwesenheit schien denjenigen nicht daran zu hindern hineinzuschauen. Da sie im Licht stand und der- oder diejenige in der Dunkelheit, war sie von draußen gut sichtbar.

Alva Dohrmann gelang es, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sich so weit zu bewegen, dass sie die Küchenschublade mit den Kochwerkzeugen aufziehen konnte. Beinahe lautlos glitt die Lade auf, enthüllte eine Reihe von Kochmessern in einer Buchenholzablage. Mit zitternder Hand griff Alva Dohrmann nach dem schwarzen Griff des größten Messers. Es lag schwer, aber gut ausbalanciert in ihrer Hand.

Einen Moment stand sie unschlüssig da. Das Messer in der kalten Hand gab ihr so viel Sicherheit, dass sie glaubte, nicht gleich den Verstand zu verlieren. Sollte sie ans Fenster gehen und hinausschauen, ob tatsächlich jemand dort draußen war? Dazu müsste sie erst mal das Licht löschen. Oder sollte sie zu ihrem Auto laufen und wegfahren? Viele Unglücke geschahen, weil die Menschen sich zu lange einredeten, sie seien nicht in Gefahr. Man sollte doch seinem Bauchgefühl vertrauen.

Aber nein, sie würde das Ferienhaus nicht verlassen. Zwischen der Haustür und dem Carport lagen dreißig Meter nächtliche Dunkelheit. Das Haus war massiv gebaut, Fenster und Türen neu und von guter Qualität. Zur Not, falls es zum Äußersten kam, könnte sie sich im Schlafzimmer einschließen und Hilfe herbeirufen. Doch wo war ihr Telefon?

Es lag noch auf dem Nachttisch. Sie hatte sich ja nur schnell ein Glas Wein oder Ähnliches ans Bett holen wollen.

Mit steifen Beinen tappte Alva Dohrmann zurück ins Schlafzimmer. Sie schloss sorgfältig die Zimmertür ab. Gern hätte sie noch das Fenster zugehängt, doch da war nichts. Nicht einmal eine Stange oder zwei Haken, über die sie ein Badelaken hätte hängen können.

Die Klinge von ihr wegzeigend, legte sie das Messer neben ihr Handy auf den Nachttisch, setzte sich ins Bett und zog die Decke hoch. Ihr Herz klopfte immer noch heftig. Alva Dohrmann zitterte, teils vor Kälte und teils vor Anspannung. Jeder Muskel ihres Körpers schien verkrampft zu sein. Sie würde in dieser Nacht kein Auge zutun.

Unruhig blickte sie in dem kleinen Raum umher. Sich der Schwärze hinter der Scheibe und ihrer eigenen Sichtbarkeit wohl bewusst, griff Alva Dohrmann zum Lichtschalter und löschte das Licht. Der einzige Lichtschein, der noch zu erkennen war, war der, der aus dem Wohnbereich unter der Tür hindurchfiel, sowie ein schwacher Schein des Nachthimmels, zwischen Zweigen und Blättern hindurch.

Was genau hatte sie da draußen gesehen? Hätte sie getrunken, würde sie davon ausgehen, dass sie sich die Bedrohung nur eingebildet hatte. Ein kratzendes Geräusch, ein wandernder Schatten, der sogleich wieder verschwunden war, das konnte alles Mögliche bedeuten. Doch sie war absolut nüchtern.

Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Auch das Zittern ließ nach, als die Luft zwischen Bettdecke und Matratze wieder mit ihrer Körperwärme erfüllt war. Ihre Lider wurden allmählich schwer.

Da hörte sie ein leises, verstohlenes Geräusch, direkt vor dem Haus. Wie Kies, der unter Füßen knirscht. Sie fuhr hoch, krabbelte aus dem Bett in Richtung Fenster und sah gerade noch etwas Weißes, das weiter hinten zwischen den Büschen verschwand.

 

4. Kapitel

Das Smartphone weckte Pia um halb sechs. Eilig stellte sie den Alarm aus, um Felix noch eine Stunde Schlaf zu gönnen. Sie machte ein paar Dehnübungen, duschte erst warm und dann ganz kurz kalt, um richtig wach zu werden. Dann zog sie sich im Halbdunkel ihres Schlafzimmers an. Felix’ gepackter Trolley, mit dem abgewetzten Stoffhund Tuffel obendrauf, stand im Flur. Der Anblick des weichen, vom Spielen und Schmusen ramponierten Plüschtieres versetzte ihr einen kleinen Stich.

Sie kochte sich gerade einen Kaffee, als Felix in die Küche tapste. »Ich will da nicht hin …« waren seine ersten Worte.

Pia nahm ihren Sohn in den Arm. Sie setzten sich auf die Küchenbank, er auf ihrem Schoß. Er presste sich an sie. Sein Gesicht war warm und feucht.

»Wenn du wirklich nicht mit nach Sandberg fahren willst, musst du dort nicht hin«, sagte sie.

Sein Schluchzen ließ nach. »Dann kann ich hierbleiben?«

»Natürlich kannst du bei mir bleiben, wenn du es wirklich willst. Du müsstest in dem Fall aber wahrscheinlich so lange in die Parallelklasse gehen. Pass auf: Ich habe mir etwas überlegt, Felix.«

Er sah sie mit tränenverschleierten Augen und laufender Nase an. Pia reichte ihm zum Naseputzen ein Stück Küchenrolle. »Ich kann verstehen, dass du dich ein bisschen fürchtest«, sagte sie. »Es ist deine erste Klassenfahrt, und du bist noch nicht lange mit den anderen Kindern zusammen. Du kennst sie noch nicht so richtig gut.«

Felix nickte vorsichtig.

»Deinen Mitschülern geht es vielleicht ähnlich. Nicht allen, aber einigen schon, meinst du nicht?«

»Das ist mir egal.«

»Wir machen Folgendes«, erklärte Pia bestimmt. »Wir frühstücken gemeinsam, du ziehst dich an, und dann bringe ich dich ausnahmsweise mit dem Auto zur Schule. Dorthin kommt ja auch der große Reisebus, mit dem ihr nach Sandberg fahrt.«

Felix nickte wieder, diesmal ein bisschen misstrauisch, was nun folgen mochte.

»Wenn wir beide dort vor dem Bus stehen, mit all deinen Schulkameraden, und du mir dann sagst, dass du wirklich nicht mitfahren willst, dann nehme ich dich wieder mit nach Hause.«

Er runzelte die Stirn. »Ich will aber gleich hierbleiben.«

»Nein. Wir beide fahren zum Bus, und dort darfst du dich entscheiden.«

Felix schniefte. »Versprochen?«

»Ich halte mein Wort. Unsere Absprache ist, dass wir auf jeden Fall mit gepacktem Rollkoffer, Rucksack und Tuffel darin bis zu dem Reisebus gehen. Ohne Theater. Und dort entscheidest du dich. Bist du damit einverstanden?«

Er wischte sich übers Gesicht. »Na guut …«

»Prima. So machen wir es.« Pia strich ihm über das weiche Haar. »Was möchtest du zum Frühstück? Müsli oder Toastbrot?« Sein Kummer tat ihr in der Seele weh, sie konnte ihn beinahe körperlich spüren. Doch sie hoffte, dass sie das Richtige für Felix tat. Falls er auch am Bus noch nicht mitfahren wollte, würde sie mit der Lehrerin besprechen, dass er hierbleiben konnte. Vielleicht musste er wirklich für die Dauer der Fahrt in eine Parallelklasse gehen. Das wäre dann sicherlich auch kein Weltuntergang. Aber sie wollte Felix zumindest mit der Situation konfrontieren und hoffte das Beste.

»Rosina, du kannst mit mir über alles reden.« Vicky Bruhns suchte im Kühlschrank der Teeküche ihrer Arztpraxis nach etwas Essbarem. Eigentlich musste irgendwo noch eine angebrochene Packung Nussschokolade sein. Sie brauchte Nervennahrung, um den heutigen Patientenansturm zu überstehen.

Rosina stand an der Kaffeemaschine und ließ sich einen Becher voll Cappuccino einlaufen. Lena, die zweite Arzthelferin, hielt vorne die Stellung. Das Telefon läutete unentwegt. Wahrscheinlich war es nicht der glücklichste Zeitpunkt, Rosina auf ihre frischen Abschürfungen anzusprechen. Doch sie wollte es beiläufig erwähnen, so, als wäre es keine große Sache.

»Danke, Vicky. Aber es ist nichts.«

Vicky wandte sich um und deutete auf Rosinas Hand. »Das ist nicht nichts?«, entgegnete sie barscher als beabsichtigt. Das Mädchen – in ihren Augen war Rosina noch ein Mädchen – raubte ihr mit ihrer Schüchternheit den letzten Nerv.

»Ach, das. Das ist wirklich nichts. Ich habe es gleich desinfiziert und Salbe draufgemacht.«

»Wo hast du das überhaupt her?« Endlich fand sie die Schokolade. Doch es war weniger in der Packung, als sie erwartet hatte.

»Von den Hunden.« Rosinas Gesicht leuchtete auf. »Yara hat gestern Abend ihre Jungen bekommen. Fünf Stück! Drei Rüden und zwei Weibchen. Echt süß, die Kleinen, und alle putzmunter … Aber die Mutter war ein bisschen nervös und hat mich gekratzt.«

»Und du warst bei der Geburt dabei?«, fragte Vicky, erfreut über Rosinas Initiative, von sich aus etwas zu erzählen. Sie riss die Packung Schokolade weiter auf und brach sich einen Riegel ab. Nuss- und Schokoladensplitter rieselten auf die weißen Bodenfliesen. Doch es hörte sich nach einer Ausrede an. Die Hunde konnten schließlich nicht dementieren, sie gekratzt zu haben. Jeder wusste, dass Rosina vernarrt in Fabian Ruschkes Niederländische Kooikerhontjes war. Nicht einmal Vicky konnte sich dem Charme der süßen Fellbündel entziehen.

»Ja, war ich.« Rosinas Wangen röteten sich. Sie sah zur Seite.

»Was ist los?«

»Ach, nichts. Mein Onkel soll nur nicht wissen, dass ich so spät noch dort war«, sagte sie eilig.

»Ich erzähle es ihm bestimmt nicht«, erwiderte Vicky. Sie steckte sich einen halben Riegel in den Mund. Die Süße der Schokolade beruhigte sie augenblicklich. »Aber du bist erwachsen. Zeit, dass du deine eigenen Entscheidungen triffst.«

»Das weiß ich«, antwortete Rosina abweisend.

Lena steckte den Kopf zur Tür herein. Sie war eine Pocahontas-Schönheit mit hüftlangem schwarzem Haar und dem Temperament eines italienischen Rockstars. Sie stellte in beinahe jeder Hinsicht einen beeindruckenden Kontrast zu Rosina dar. »Herr Winter ist in der Drei, Frau Schleidenbrink in der Zwei, und das Wartezimmer ist voll. Kommen Sie jetzt, Frau Doktor?«

Wenn Lena »Frau Doktor« sagte, war es ernst. »Ich komme sofort.« Vicky blickte ihre zweite Arzthelferin mit hochgezogenen Augenbrauen an, um sie aufzufordern, wieder nach vorn zu gehen. Immerhin war es ihre Praxis. Lena verdrehte andeutungsweise die kaffeebraunen Augen und verzog sich wieder hinter den Empfangstresen.

Rosina versuchte, sich mit dem Becher in der Hand an ihr vorbeizudrängen. Vicky hielt sie am Oberarm fest. Die junge Frau zuckte zusammen, was der Ärztin eine seltsame Befriedigung bereitete. Doch nur kurz. Sie irrte sich nicht. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Und es hatte höchstwahrscheinlich mit Burkhard Schönfeld zu tun, Rosinas einzigem Verwandten, bei dem die junge Frau leider immer noch wohnte. Wie grausam war es, wenn man sich in seinem eigenen Zuhause nicht sicher fühlen konnte … Doch bei Rosinas Gehalt war es hier an der Ostsee auch beinahe aussichtslos, eine eigene bezahlbare Wohnung zu finden. Und Vicky wollte ihre Mitarbeiterin auch nicht verlieren. Sie blickte ihr in die hellen grünblauen Augen. »Es gibt immer eine Alternative. Lass dir von mir helfen.«

»Die Patienten warten«, erwiderte Rosina und eilte hinaus.

Als Pia den Wagen abgestellt hatte und Felix und sie sich zu Fuß der Schule näherten, fuhr ein riesengroßer, silberblauer Reisebus mit getönten Scheiben an ihnen vorbei. Er passierte langsam das Schultor und blieb stehen. Die Menschenmenge, die vor dem Schultor versammelt war, Eltern und Erstklässler, wichen beinahe ehrfürchtig zurück.

Auf dem Weg zur Schule hatte Felix noch geweint. Es war Pia gelungen, ihn zu beruhigen, doch er hielt ihre Hand sehr fest. Er hatte seinen Rucksack auf dem Rücken, in dem auch sein Stoffhund Tuffel saß und herausblicken durfte. Das Gesicht des Plüschtieres war sehr viel fröhlicher als das ihres Sohnes. Pia zog ratternd den kleinen Rollkoffer hinter sich her, bis sie nah genug am Bus waren.

Pia blickte sich um. Sie kannte einige der Eltern vom Elternabend, aber nur wenige der Kinder. Felix hatte sich noch nicht oft verabredet, sondern weiterhin nachmittags lieber mit Raffi gespielt. Sie konnte seine Bedenken, was diese Klassenreise betraf, in gewisser Weise nachvollziehen.

Einige Kinder rauften auf dem Schulhof am Rande der Sandkiste. Andere standen zu zweit oder in Grüppchen herum. Viele wirkten aufgeregt, ein paar sahen aber auch verweint aus.

Felix hatte Wort gehalten und überhaupt kein Theater mehr gemacht. Darauf war Pia stolz.

»Der Reisebus ist ja riesig und richtig modern«, stellte sie bewundernd fest. Sie suchte nach einer der begleitenden Lehrerinnen, konnte aber noch keine entdecken. Also ging sie weiter auf den Schulhof.

Felix sah sich suchend um. Dann löste sich seine warme Hand aus ihrer. Er lief zu einem Mädchen, das neben einem hochgewachsenen Mann in Joggingsachen am Schulzaun stand. Die beiden sahen einander so ähnlich, dass sie unverkennbar Vater und Tochter waren. Das Mädchen hatte lange dunkelbraune Zöpfe und einen Esel aus Plüsch im Arm. Felix und die Kleine sprachen kurz miteinander, das Mädchen lächelte schüchtern, und dann liefen sie zusammen zum Klettergerüst. Nanu?

Der Vater trat auf Pia zu. »Sind Sie die Mutter von Felix?«

»Ja, bin ich. Ich habe Sie noch nie hier gesehen. Ist Ihre Tochter auch in der 1b?«

»Das ist sie. Sie heißt Emily.« Er senkte die Stimme und sprach in vertraulichem Tonfall weiter: »Ich bin ja so froh, dass Felix mit auf Klassenreise kommt! Sonst würde Emily nämlich gar nicht mitfahren. Sie mag die anderen Kinder in der Klasse nicht besonders.«

»Felix wollte eigentlich auch nicht mit«, bekannte Pia. Die Kinder standen am Klettergerüst, und Felix holte gerade seinen Plüschhund aus dem Rucksack, wie es aussah, um ihn dem Plüschesel vorzustellen. »Kennen sich die beiden schon länger?«

»Sie spielen wohl manchmal in den Pausen zusammen.«

»Warum haben sie sich noch nicht miteinander verabredet?«

»Wir sind erst vor zwei Wochen hergezogen. Und Emily hat drei Geschwister. Vielleicht war bisher immer zu viel los bei uns. Aber sie erzählt ganz viel von Felix.«

»Oh.«

»Felix sagt, Sie sind Polizistin.« Er musterte sie, milderte seine offensichtliche Neugierde jedoch mit einem jungenhaften Grinsen ab.

»Das stimmt.« Sie konnte seinen Blick nicht ganz deuten. »Ich bin gerade etwas überrascht von dieser neuen Entwicklung. Was Felix und Emily betrifft, meine ich.«

»Wie gesagt: Wir sind noch nicht lange hier.«

»Na, ich freue mich jedenfalls, dass Emily in Felix’ Klasse gekommen ist. Ich war schon darauf eingestellt, ihn heute wieder mit nach Hause zu nehmen.«

»Das scheint sich ja gerade geändert zu haben.« Der Mann lächelte wieder. »Ich bin übrigens Jonas Hübner, Emilys Vater«, setzte er hinzu.

»Pia Korittki.« Als sie wieder zum Klettergerüst schaute, waren Emily und Felix verschwunden. »Was ist denn nun los? Wo sind die beiden denn hin?«

»Sie steigen gerade in den Reisebus.« Jonas’ blaue Augen blickten sie forschend an. »Wir müssen wohl die Koffer hinbringen. Und dann können wir ihnen nur noch zuwinken.«

»Damit habe ich im Leben nicht gerechnet«, sagte Pia perplex.

»Ich dachte auch, es würde länger dauern«, erwiderte Emilys Vater. »Was wollen wir mit der gewonnenen Zeit anfangen? Haben Sie Zeit für einen Kaffee beim Bäcker?«

Alva Dohrmann hatte von Fischen geträumt. Und es war kein guter Traum gewesen. Es waren dunkle, sich schlangenartig bewegende Fische mit winzigen, messerscharfen Zähnen gewesen, die in trübem Wasser schwammen.

Sie blinzelte und schaute auf die Uhr. Es war bereits halb neun. Alva Dohrmann hatte am vergangenen Abend noch lange wach im Bett gesessen und war erst weggedämmert, als der Himmel sich im Osten bereits violett färbte. Ein paar Stunden Schlaf hatte sie nach der unruhigen Nacht also doch noch bekommen, aber sie fühlte sich müde und verspannt.

Bei Tageslicht, mit den Sonnenstrahlen, die durch das Laub vor den Fenstern fielen und ihre Lichtreflexe auf dem Dielenfußboden tanzen ließen, kamen ihr die Ereignisse der vergangenen Nacht längst nicht mehr so bedrohlich vor. Das Küchenmesser auf dem Nachttisch war ihr peinlich. Als sie in die Küche tappte und sich ein Glas Milch eingoss, war Alva Dohrmann geneigt, die Geräusche und die Schatten am Fenster ihrer lebhaften Fantasie zuzuschreiben. Sie würde sich noch mal gründlich im Garten umschauen, nahm aber an, dass sie dort nichts Aufregenderes finden würde als ein paar frische Maulwurfshügel.