Otto Murr. Kinderhölle - Bernhard Nette - E-Book

Otto Murr. Kinderhölle E-Book

Bernhard Nette

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Beschreibung

Zweiter Band in der Reihe: Politische Kriminalromane mit dem Journalisten Otto Murr (49). Neuer Schauplatz: Hamburg. Murr findet Spuren jahrzehntelanger sexueller Gewalt in Kinderheimen. Zwei Hamburger Kommissare enthüllen eine Mordserie. Die Finanzkrise spiegelt sich in einem obszönen Fest. Hamburger Akteure der Finanzwelt feiern in einem Hamburger Bordell eine Party: Sex meets Finanzcasino.

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Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Bernhard Nette | Otto Murr · Kinderhölle

Tagebuch von Ilse Hansen

1961 – 1962

Bernhard Nette

Otto Murr · Kinderhölle

Das Tagebuch

Das Kinderheim

Das FinanzCasino

Ein politischer Kriminalroman

Inhalt

Teil 1    Das Tagebuch

Teil 2    Das Kinderheim

Teil 3    Das FinanzCasino

© 2021 Bernhard Nette

Fassung von 2013 vollständig überarbeitet

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

978-3-347-34946-9 (Paperback)

978-3-347-34947-6 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Teil 1

Das Tagebuch

Kapitel 1

Wen interessiert heute noch Forsmann? Hamburg, 2010

„Lebenslänglich für den Nylonstrumpfmörder. Der unbekannte Zweite fehlte auf der Anklagebank“.

Die Titelseite des Hamburger Abendblatts vom 13. August 1964 versprach Auflage. Mit dem Nylonstrumpfmörder konnte an diesem Tag nicht einmal der dritte Jahrestag des Berliner Mauerbaus Schritt halten.

„Der verurteilte Wulf O. hat nach Überzeugung des Gerichts seinen Schwager, den 28jährigen Manfred Forsmann, getötet. Wulf O. stritt bis zuletzt entschieden ab, etwas mit dem Mord zu tun zu haben. Daher stützte sich die Anklage ausschließlich auf Indizien, einen Zeugen und auf zwei Sachverständige. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft fasste der Hamburger Wulf O. zu Jahresbeginn den Entschluss, seinen Schwager zu beseitigen. Manfred Forsmann habe gewusst, dass Wulf O. krumme Geschäfte auf St. Pauli betrieb, und habe versucht, ihn zu erpressen. Wulf O. habe anfangs erwogen, so das Gericht in seiner Urteilsbegründung, seinen Schwager in dessen Bremer Wohnung zu töten und die Leiche in einem Koffer beiseite zu schaffen. Nach einem anderen Plan sollte ein Verkehrsunfall vorgetäuscht werden.Schließlich habe Wulf O. aus einem faustgroßen Stein, einer Holzlatte und einem Nylonstrumpf einen Totschläger hergestellt, um Manfred Forsmann von hinten nieder zu schlagen. Am 31. Januar 1964 habe er ein Stadttelegramm im Bremer Hauptbahnhof aufgegeben und mit seinem Schwager einen Treffpunkt am Bremer Rathaus vor dem Roland verabredet. In einem gemieteten Leihwagen – der Besitzer der Leihwagenfirma erkannte Wulf O. vor Gericht wieder – sei er mit seinem Schwager und einem unbekannten zweiten Täter weggefahren, vermutlich an die Weser. Auf der Fahrt sei Manfred Forsmann vom Rücksitz aus mit dem Totschläger angegriffen und mit einem Schuss aus einer Bundeswehrpistole hinter das rechte Ohr getötet worden. Die Leiche wurde in einen Plastik-Regenmantel gewickelt, mit Steinen beschwert und in die Weser geworfen. Sie schwemmte am 15. Februar bei Vegesack an. Die Gerichtsmedizin hatte den Hergang der Tötung rekonstruieren können.

Der Angeklagte Wulf O. bestritt während des ganzen Verfahrens die Bluttat. Er sei lediglich der Fahrer des Mietautos gewesen. Laut den beiden Gutachtern wurde er aber durch Indizien schwer belastet. Außerdem hat Wulf O. sich beharrlich geweigert, den Namen des Mittäters preiszugeben.

Das Schwurgericht verurteilte ihn daher wegen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe.

Besonders tragisch ist das Schicksal der sechseinhalb Monate alten Tochter des Mordopfers. Sie hat in kurzer Zeit beide Elternteile verloren. Ilse Forsmann, die Mutter des Säuglings, war zu Beginn des Jahres bereits bei der Geburt ihres Kindes verstorben. Nachdem nun auch der Vater in dem Mordfall ums Leben gekommen ist, sucht jetzt die Kinderfürsorge eine Bleibe für den Säugling.“

Die alte Frau nahm dem Mann den vergilbten Zeitungsartikel aus der verkrümmten Hand und warf das Papier in den lodernden Kamin. „Über 50 Jahre her“, sagte sie. „Das hättest du schon längst wegwerfen sollen, Kinderkralle.“

Er betrachtete das Feuer. „Verbrennen nützt nichts. Das Hamburger Abendblatt hat ein Internet-Archiv, kann man alles neu ausdrucken.“

„Ja“, sagte sie, „vielleicht, aber wen interessiert heute noch Manfred Forsmann?“

Kapitel 2

Pater Henricius in Münster, 1976

„Noch eine Beichte gefällig, Pater Henricius?“

„Bei Ihnen etwa? Gott bewahre!“

„Oh, mein lieber Pater, das Gedicht kennen Sie doch noch: Ich war in den Dornen der Sünde verstrickt,/ da hat mich im Abgrund die Gnade erblickt,/ da war mir zum Leide, was ich getan,/ es fing mich im Herzen zu reuen an.“

„Das sollten besser Sie selber beherzigen.“

„Zehnmal dieses Gebet, Paterchen, und Sie erhalten glatte 300 Tage Ablass vom Höllenfeuer.“

„Beschmutzen Sie nicht das heilige Sakrament der Beichte.“

„Kennan Sie Sonja Forsmann?”

„Äh, wen? Jaja, natürlich kenne ich sie. Ein schwieriges Mädchen mit einer schlimmen Vergangenheit. Ein Trotzkopf.“ Er rüttelte an den Fesseln, mit denen er auf dem Stuhl an Armen und Beinen festgebunden war.

„Sie haben das schwierige Mädchen verprügelt.“

„Nein, hab ich natürlich nicht. Definitiv nein.“

„Haben Sie sie verprügelt, weil sie nicht mehr zu Ihnen in den Beichtstuhl kommen wollte?“

„Die Beichte ist ein Sakrament, da kann man nicht einfach sagen, da geh ich nicht mehr hin. Das wäre eine große Sünde. Ich habe das Mädel nur auf den richtigen Weg zurückgeführt.“

„Prügel. Ja oder nein?“

„Nur ein Mal eine leichte körperliche Strafe, die sie vor dem göttlichen Gericht bewahren sollte.“

„Nächste Frage: Haben Sie sie im Beichtstuhl missbraucht?“

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen. „Wer behauptet das?“

„Ich stelle hier die Fragen.“

„Darauf antworte ich gar nicht.“

„Noch einmal: Wurde das kleine Mädchen, der kleine Trotzkopf, von Ihnen, ihrem Beichtvater und Hallelujagockel, im Beichtstuhl vergewaltigt?“

„Ich? Von mir? Nein! Niemals!“

„Vielleicht ja doch, denken Sie mal nach.“

„Niemals. Das sagte ich schon.“

„Vorsicht, Sie stehen gleich vor Ihrem Herrgott, und der soll ziemlich rachsüchtig sein, wenn man im letzten Augenblick noch lügt.“

„Hören Sie, machen Sie keinen Fehler, es war Möller, der Schulleiter und Vorsteher des Heims, ich habe ihn dafür intern getadelt. Mehrmals! Habe ihn auch zur Rede gestellt!“

„Das wird den alten SS-Mann ja so richtig beeindruckt haben.“

„Aber ich habe doch dafür gesorgt, dass Sonja in ein anderes Heim kam, weg von Möller. Ich habe mich doch um Sonja gesorgt.“

„Nun gut. Letzte Frage: Bereuen Sie, was Sie in ihrem Sündenschnüffelstuhl getrieben haben?“

„Hören Sie, wenn in unserem Heim ´Sonnenland´ etwas Unpädagogisches geschehen ist – wie gesagt, wenn – werde ich diesbezüglich sofort eine Untersuchung anberaumen. Glauben Sie mir, ich bin genauso bestürzt über Möller wie Sie.“

„Das Kind, Pater Henricius, sagte aber, Sie seien es gewesen, Sie, der stellvertretende Heimleiter.“

„Aber Sie sagen es doch selbst, Sonja ist noch ein Kind. Das ist doch alles nicht glaubhaft. Vielleicht war da sowieso gar nichts und alles hat sich nur in der Phantasie des Kindes abgespielt. Vielleicht hat die kleine Sonja Erlebnisse aus ihrem früheren häuslichen Umfeld auf das Heim übertragen.“

„Das Kind lügt also. Ich bitte Sie, Pater, fällt Ihnen noch eine Perversität ein?“

„Nun ja, ich kann mir natürlich auch eine leichte Überreaktion des Personals auf gewisse kindliche Provokationen vorstellen.“

„Aha, das Kind hat nicht nur gelogen, sondern das Ganze auch noch provoziert.“

„Naja, provozieren ist vielleicht ein zu hässliches Wort, vielleicht, ich sage ausdrücklich: vielleicht, war das Mädchen ja auch etwas frühreif und hat es bei dem Lehrer Möller darauf angelegt. Sie wissen sicher, was ich meine. Sehen Sie es doch mal so.“

„Das war´s mit Ihrer Beichte, Pater Henricius. Folgt mein ´Te absolvo´.“ Ein Holzkasten wurde auf den Tisch gestellt.

Pater Henricius erstarrte. Er stammelte: „Gott vergisst nicht seinen Diener in der Not!“

„Vorsichtig, guter Mann, sie drohen doch wohl nicht mit dem allerhöchsten Zorn des Chefs? Wo steht eigentlich geschrieben, dass Padres Kinder quälen dürfen?“

„Mein ist die Rache, spricht der Herr.“

„Ja, das kommt euresgleichen immer so leicht über die Lippen, wenn es um andere geht. Nun denn. Ich bin vielleicht sein Werkzeug. Jetzt sehen Sie es doch mal so. Ich bin seine Rache.“

Der Pater starrte auf das ihm wohlbekannte Bolzenschussgerät. Wie immer in dem alten Holzkasten. Ein obszön plumper Lauf, die geriffelte Oberfläche gerade richtig für das Umfassen durch eine von groben Gummihandschuhen geschützte Hand. Der Bajonettverschluss wurde aufgehakt und eine gelb gezeichnete Platzpatrone eingelegt. „Gelbe Markierung, sehen Sie, für Kälber und Schafe. Und für Schweine natürlich, Schweine aller Art. Die Metzger wollen den Tieren unnötiges Leid ersparen.“

Der Schlagbolzen wurde per Hand zurückgezogen und rastete ein. Das Gerät berührte kalt seine Schläfe. Er versuchte voller Todesangst den Kopf wegzureißen. Er fiel mit dem Stuhl, auf dem er festgebunden war, zu Boden. Er röchelte. „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi: miserere nobis.“

„Was reden Sie denn da?“

„Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünden der Welt: Erbarme Dich unser“, schrie er in höchster Not.

„Halt jetzt mal für einen kleinen Moment die Klappe, du verdammter Heuchler! Nicht für das Lamm habe ich einen extra spitzen Bolzen gewählt, sondern für den ehrwürdigen Pater Henricius. Du hast doch nichts gegen eine schnelle Penetrierung?“

Der lange Abzugshebel, der den Schlagbolzen freigeben sollten, wurde langsam und sorgfältig nach innen gedrückt. Der Pater hörte die knackenden Geräusche. „Nicht!“, schrie er.

Beim zweiten Abdrücken funktionierte das Gerät. Der Bolzen durchbohrte knirschend die Stirn des Paters.

Der Bajonettverschluss wurde wieder gelöst und die leere gelbe Platzpatrone entnommen. Dann wurde der Bolzen aus einem erstaunlich kleinen Loch im herabgesunkenen Kopf des Paters mittels einer schmalen Verdrahtungszange herausgezogen, mit einem großen dreckigen Lappen abgewischt und zurück in den Lauf eingeführt, was nicht ganz ordnungsgemäß war. Der gefüllte Lauf und der leere Zündaufsatz wurden voneinander getrennt und jeder für sich in von Blut und Hirn gefleckte Lappen eingerollt, verschnürt und zusammen mit der Zange und den Gummihandschuhen zurück in den alten Holzkasten verstaut.

„Siehst du, ging ganz schnell zum Schluss. Grüß mir den Alten da oben. Frag ihn, ob die Kanakenbuben jemals auf Leute wie dich gewartet haben. Ach was, vergiss es, du kannst ihn ja gar nicht fragen! Wir sehen uns in der Hölle wieder.“

Kapitel 3

Hamburg-Bergedorf 2010

Auf dem Küchentisch steht eine runde Kristallvase. Sie hat einen kleinen Boden. Wirklich sehr klein, darüber ein obszön ausschwingender Körper. Ein funkelnd durchsichtiger, umgedreht stehender Rock. Grüne Stängel ragen aus dem gläsernen Trichter. Eingezwängt drängeln sich sieben Beinchen auf dem Glasboden, streben befreit nach oben, lehnen sich leicht in alle Richtungen auf das geschliffene Vasenrund und senken ihre verblühenden Köpfchen in einem melancholischen Todeskreis. Die trocken gekräuselten Blütenblätter der rotgeäderten gelben Tulpen rascheln, als er sie berührt. Ich sollte Wasser nachgießen, denkt er. Aber warum? Sie sind längst tot, obwohl abgeschnittene Blumen ja manchmal weiter wachsen. Eine schwärzlich verfärbte Blätterspitze glüht plötzlich. Die rotgeäderten gelben Totenköpfchen prasseln auf. Seine weit aufgerissenen Augen näheren sich dem Flammenkreis. „Nicht!“ Er reißt die Hände hoch. Die Kristallvase zerplatzt lautlos.

Otto Murr wachte auf. Es war neun Uhr. Das einsame Rotweinglas von gestern Nacht lag zersprungen am Boden. Er musste es im Schlaf heruntergestoßen haben. Zum Glück war es leer gewesen. Ich sollte auf Splitter achten, dachte er, stand auf und tappte durch seine neue Wohnung in Hamburg Bergedorf. Er fand nichts im Kühlschrank. Seufzend ging er an den Umzugskartons vorbei zurück, zog sich an, schleppte einen Stuhl in den Flur, setzte sich und zog Straßenschuhe an. Er ging nach unten, zur Garage, nahm das Fahrrad heraus und fuhr durch den kleinen Schlosspark zum City Center Bergedorf.

Den Edeka-Supermarkt Halmschlag kannte er von früher. Der Laden war 2009, also vor einem Jahr, umgebaut worden, der Eingang unter der Glaskuppel öffnete sich fast auf ganzer Front. Niedrigschwellig, dachte er, sehr verkaufsfördernd. Er schnappte sich einen Einkaufswagen, warf Fidelini pasta di semolo di grano duro a lenta essiccazione hinein, dünnes gerolltes Nudelgeflecht, das aussah wie Vogelnester, drei Minuten Kochzeit. Darauf plumpsten zwei Gläser Barillo Bolognese-Sauce, zehn Tomaten aus den Vierlanden, die er in einer dünnen Plastiktüte, losgefummelt von der Abreißrolle, verstaute. Dazu Hansano-Milch und Hansano-Joghurt, zwei Fischdosen, ein Stück eingeschweißten Hartkäse, eine Sauerkirsch Konfitüre „extra gut und günstig“, eine Flasche italienischen Rotwein und zwei Pakete geschnittenes Schwarzbrot. Das Übrige, dachte er, besorg ich auf dem Markt, der zwei Mal pro Woche in der Nähe seiner neuen Wohnung aufgebaut wurde.

An der Kasse wartete er hinter einer älteren Bergedorfer Dame. Sorgfältig räumte sie alle eingescannten Waren in zwei große Plastiktüten von Karstadt. Die junge Kassiererin hatte ihr schon längst den zu zahlenden Betrag gesagt: 27 Euro 31. Die Dame suchte das Portemonnaie in ihrer Handtasche. Jetzt kramte sie darin herum. „Sie brauchen doch sicher Centstücke“, lächelte sie der geduldigen Kassiererin zu, „ich habe es vielleicht in klein.“ Einfach Scheine hingeben, das Wechselgeld einstecken und umgehend den Weg frei machen, das wäre doch mal was Neues, dachte Otto Murr.

Er war endlich drangekommen und hatte alles mit einem zerknitterten Fünfzig-Euro-Schein bezahlt, als er feststellte, dass er nichts zum Einpacken hatte. „Das macht noch fünf Cent“, sagte die junge Kassiererin und reichte ihm eine Plastiktüte „Fünf Cent? Warten Sie, das hab ich sicherlich klein.“ Er öffnete mit dem Daumen der rechten Hand noch einmal sein Portemonnaie, ließ aber mit der linken Hand die neu erworbene Tragetasche nicht los. Da klappte das Geldfach seines nur lose gehaltenen Portemonnaies unvermutet ganz auf, veränderte das Gleichgewicht und ein silberner und kupferner Münzstrom ergoss sich zwischen die Waren auf der Metallplatte hinter der Kasse. Er ließ die Plastiktüte los, griff panisch nach dem Portemonnaie und stieß dabei die vor ihm liegenden Lebensmittel um. Die scharfe Kante des verschweißten Käses bohrte sich in den dünnen Aluminiumfoliendeckel des Joghurtbechers, der daraufhin seinen weißen Inhalt träge fließend in die Freiheit entließ. Shit! Hektisch grabbelte er ein Tempotaschentuch heraus, wischte in dem Joghurt herum. Die junge Kassiererin überblickte das Chaos. „Kein Fünf-Centstück“, stellte sie fest. Sie nahm sich ein heruntergefallenes Zwanzig-Centstück und gab ihm den Rest heraus. Dann umwickelte sie den halb ausgelaufenen Joghurt-Becher mit Plastikfolie und klingelte. „Bitte jemand an Kasse zwei. Mit Tuch und Eimer. Und einen Joghurt mit Vanille.“ Die Kassiererin lächelte ihn freundlich an, „Da kommt Ihr neuer Joghurt schon. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen. Seien Sie heute vorsichtig.“

Als nächstes lege ich den jungen Dingern an der Kasse gleich mein offenes Portemonnaie hin, damit sie darin rumkramen, wie bei alten Omis und Opis, dachte Otto Murr erbost und sammelte stumm seine Siebensachen ein.

Draußen regnete es. Seine Regenjacke leckte im Schulterbereich.

Klitschnass zu Hause angekommen – wo hatte er bloß den Umzugskarton mit den Handtüchern hingestellt? – kochte er sich die Pasta. Er hatte vergessen Zwiebeln zu kaufen und Hack und Olivenöl gab es auch noch nicht in der Küche. Er trank den Wein aus einem alten Senfglas und lehnte sich seufzend zurück.

Durch die Küchentür blickte er in eines seiner drei großen Zimmer hinein. Die ganze Bodenfläche war von einem kompakten Würfel bedeckt, über zwei Meter hoch. Lauter Umzugskartons. Man konnte sich gerade eben noch, wenn man sich dünn machte, drum herum quetschen. Alles Bücher, dachte er, weit über hundert Kartons, die Umzugsleute hatten auf „dreiviertel voll“ bestanden. 30 Jahre Erwachsenenleben, erst Studium, Geschichte und Deutsch, dann Lehrer und jetzt seit langem Journalist. Das musste man ihnen lassen, die Umzugsleute hatten die Kartons klaglos in den ersten Stock geschleppt und sorgfältig gestapelt. Gut gefugt, wie für die Ewigkeit, dachte er. Er sollte sie gar nicht auspacken. Zimmer abschließen, Schlüssel wegschmeißen und ein neues Buchleben beginnen. Er dachte an Manuel Vazquez Montalbán. Sein spanischer Detektiv Pepe Carvalho verheizte seine Bücher der Reihe nach im Kamin. Hab ich aber nicht, sinnierte er, keinen Kamin und auch keinen Ofen. Die hatte irgendein Vorbesitzer mal rausgerissen.

Die große dreistöckige Villa war zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erbaut worden. Seine Wohnung lag im ersten Stock, in der der Belle Ètage aus kaiserlich-wilhelminischen Zeiten, Pitchpine-Holzfußboden, in der Küche Terrazzo-Boden, zwei kleine Balkone, einer nach vorn und einer über Auffahrt zu den Garagen. An den Zimmerdecken verstaubten großzügige Stuckgirlanden.

Beim Einzug hatte er im Erdgeschoss des geräumigen Treppenhauses seinen neuen Nachbarn getroffen, der unter ihm wohnte. Otto Murr stellte sich vor.

„Herzlich willkommen in unserem schönen Haus. Gestatten, Ziernagel, Gerd-Heinrich Ziernagel.“ Sein Nachbar zeigte unwirsch auf ein Jugendstilfenster aus buntem Glas, das merkwürdig weit nach außen gedrückt war. Die Söhne des Voreigentümers von Otto Murrs Wohnung hätten leider die Unart besessen, sich von ihren Freundinnen auf dem Fensterbrett vor der einhundert Jahre alten Glaspracht stürmisch zu verabschieden. Jetzt sei einer der jugendlichen Lümmel ein bekannter Rock-Sänger, klagte Gerd-Heinrich Ziernagel, und das Fenster sei hin.

Die Ehefrau des neuen Nachbarn hatte in ihrer Wohnungstür im Erdgeschoss Posten bezogen. Otto Murr begrüßte sie höflich: „Guten Tag, Frau Ziernagel.“

„Ziernagel-Neumann, Herr Murr, Ute Ziernagel-Neumann. So viel Zeit muss sein. Man hat ja auch seinen Stolz, als Frau, sozusagen.“ Sie lächelte mit verblühten Lippen, ihre Augen blieben kalt und sie fragte kurzatmig: „Haben Sie Kinder?“ Jetzt im traulichsten Honigton, die Frau konnte blitzschnell umschalten, dachte Otto Murr, wie hielt das Gerd Heinrich nur aus? Man hätte sie früher im Übrigen als vollschlank bezeichnet, kam es ihm in den Sinn. Merkwürdige Bezeichnung, dachte er.

Dann antwortete er liebenswürdig: „Ja, gewiss doch, Frau Ziernagel-Neumann, aber sie wohnen nicht hier.“

Aufatmen der korpulenten Dame. „Sehr gut. Und, bittschön, auch beim Einzug muss die Nachtruhe eingehalten werden. Ab

22 Uhr herrscht bei uns im Haus nächtlicher Frieden! Das hat die Eigentümerversammlung schon vor Jahren beschlossen.“

„Natürlich, klar, die Eigentümerversammlung“, murmelte Otto Murr.

„Über Ihnen wohnt übrigens ein Bankmanager mit Gattin und Tochter und einem reizenden Hund“, meldet sich der Gatte der Dame Ziernagel-Neumann zu Wort. Hast du in Gegenwart deines vollschlanken Lieblings auch was zu sagen, dachte Otto Murr und bemerkte halblaut: „So, mit Gattin und Hund, naja, warum nicht?“ Hoffentlich kein stinkender Riesenköter.

In seiner Wohnung angekommen, setzte er sich auf das rote Sofa im zweiten, dem freien Zimmer und stellte den Fernseher an. Etwas störte ihn. Genauer, etwas tat seine Augen weh. Besagte jugendliche Lümmel hatten die Wände farbsatt bepinselt, in Dunkelgrün.

Im Fernsehen gab es eine langweilige Diskussionsrunde über die Finanzkrise. Immer wieder Griechenland und immer wieder Sparen. Er schaltete den Fernseher aus und ging zu Bett

Das zweite Mal Schlafen in der neuen Wohnung. Man hat mich hinausgeworfen, dachte er. Seien wir ehrlich, die Süddeutsche Zeitung hat mich geschasst. In gegenseitigem Einvernehmen, so hieß es, was zumindest eine erkleckliche Abfindungssumme bedeutete, vermutlich aus Steuergeldern. Trotzdem habe ich versagt, dachte Otto Murr. Ich hätte drauf bestehen müssen. Die Ehre des Journalisten! Kannst du es denn nicht begreifen, hatten sie zu ihm gesagt, die Sicherheit der westlichen Welt steht auf dem Spiel und du möchtest doch sicherlich auch durch unsere Bahnhöfe gehen, ohne dich ständig umsehen zu müssen? Sogar Jochen Schwarz, sein Freund in der Redaktion der Süddeutschen, hatte gemeint: „Michael Kohlhaas bringt nichts. Du kämpfst gegen Windmühlenflügel, Otto. Vergiss Kreta.“

„Das mit den Windmühlen war nicht Kohlhaas, Jochen, sondern Don Quixote von la Mancha.“

„Keine literarischen Spitzfindigkeiten“, hatte sein Freund geantwortet. „Du stehst auf verlorenem Posten, mein Lieber. Du bist mit einer simplen geheimdienstlichen Verwarnung noch erstaunlich glimpflich davon gekommen. Halt einfach mal die Schnauze. Verkrümel dich. sonst stehst du zwischen allen Fronten, und zwar dort, wo es am heißesten ist.“

„Vielleicht könnte Wikileaks …“, hatte Otto Murr angefangen.

„Vergiss Wikileaks, du siehst doch, wie die ihre Quellen hochgehen lassen. Selbst wenn dein Verdacht stimmen sollte, willst du der nächste sein? Such dir schon mal eine lateinamerikanische Botschaft in London aus, für ewigen Hausarrest! Viel Spaß! Aber dein internationaler Atomterrorismus ist sowieso nur verschwörungstheoretischer Stuss! Nicht mal Moskau würde dich dafür in Sibirien aufnehmen!“

Er hatte die ansehnliche Abfindung – fünfhunderttausend Euro – akzeptiert. Jetzt fand er, man hätte vielleicht noch mehr rausholen sollen. Er hatte aber unterschrieben, nirgends seine Rechercheergebnisse aus Kreta zu verbreiten. „Nicht einmal träumen sollten Sie davon“, hatte ihm ein hochrangiger Vertreter des BND mit auf den Weg gegeben. Sein Schweigen würde den Steuerzahler sowieso schon Geld genug kosten.

Er hatte akzeptiert. Er war ohne Arbeit, hatte einen mittelgroßen Batzen Geld, ein schlechtes Gewissen und eine sauschlechte Laune.

Im Übrigen war er gerade 50 geworden und sah, wie sein Vater sich ausgedrückt hätte, noch recht passabel aus. In der Rubrik „Heiraten und Bekanntschaften” könnte über ihn stehen: „Mehrere Katastrophen, daher Neubeginn. Recht attraktiv, meist ziemlich sympathisch, finanziell unabhängig, 180, eher noch schlank, einige graue Haare, zur Zeit unbeweibt und ledig, vor kurzem noch 49, Sinn für fremde Kinder, lacht und redet viel, wenn man ihn lässt, liebt, wenn er kann, ansonsten reist er und streitet gern.“ Außerdem bin ich zutiefst pessimistisch und romantisch, was vermutlich auf dasselbe hinausläuft, dachte er.

Immerhin, über die sogenannte Goldene Pietà hatte die Süddeutsche Zeitung ja berichtet. Die Pietà wird im Archiv in Heraklion bleiben, dachte Otto Murr. Das kretische Nationalmuseum stellt nur höchst selten neue Funde aus. Es war selber museal, was noch die netteste Umschreibung seines unhaltbaren Zustandes war. Er hatte allerdings gehört, dass es modernisiert werden sollte. Vielleicht bis 2019, hatte sein bisheriger Arbeitgeber, die Süddeutsche Zeitung, in demselben Artikel über die Piéta berichtet.

Er war von München zurück in seine Heimatstadt Hamburg gezogen, genauer, in die kleine östliche Vorstadt Hamburg Bergedorf, in diese alte Villa mit ruhebedürftigen Nachbarn unter ihm und einem hundebesitzenden Banker samt Gattin und Tochter über ihm. Die ganz normale Kleinbürgeridylle hatte ihn wieder.

In der nächsten Woche müsste er mal Albert kontaktieren, Albert Wagenbauer. Und was war mit Maria Blumendanck? Sie wohnt in Eppendorf, eine halbe Stunde mit der S- und U-Bahn. Nein nein! Keine Maria mehr! Nicht nach Charlotte. Oder? Vielleicht später. Er schlief ein.

Kapitel 4

Hartwig Möller in Münster, 1977

23 Jahre zuvor, es war das Jahr 1977, hatte es bei Hartwig Möller geklingelt. Es waren zehn Monate nach dem plötzlichen Ableben von Pater Henricius vergangen, was Hartwig Möller aber nicht erfahren hatte, den die katholische Kirche hatte eine Nachrichtensperre erhoben gehabt.

Energisch machte der ehemalige Soldat, genauer, der ehemalige SS-Mann, die Tür zu seiner Münsteraner Neubau-Wohnung auf. Sie lag in der Nähe des Doms und besaß nur zwei Zimmer, ein Bad mit Toilette und eine kleine Küche, in dem zwei spanische Stühle und ein weiß lackierter Tisch mit einer Resopalplatte standen. Die Stühle hatte er aus Spanien mitgebracht, wo er von 1946 bis 1964 gelebt hatte. Als ihm die Anstellung als Lehrer und Leiter des katholischen Waisenheims „Sonnenland“ von guten Freunden, die ihm nach dem Krieg die Flucht nach Spanien ermöglicht hatten, vermittelt wurde, war er nach Deutschland zurückgekehrt, zumal die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ihm mitgeteilt hatte, dass er keine Anklage mehr wegen seines Kriegsdienstes in der Einsatzgruppe befürchten musste, die 1941 bis 1942 im ukrainischen Raum im Sinne der großdeutschen Entjudung tätig gewesen war.

Möller bat den Besuch in seine Küche. Er hatte ihn erwartet, weil er ihm vom Bischofsamt angekündigt worden war. Eine finanziell besonders wichtige Persönlichkeit, war ihm mitgeteilt worden. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Richtigen Filterkaffee?“ Der Stolz auf „richtigen” deutschen Kaffee war ihm von seinem Spanienaufenthalt geblieben, obwohl das in Deutschland nun wirklich nichts Besonderes mehr war. Wir sind schnell wieder auf die Beine gekommen, dachte er, schneller als die Spanier und viel schneller als die verdammten Russkis, falls die sich jemals von unserem „Feldzug” erholen würden. Er hatte extra seinen Melitta-Kaffeefilter aus innen geriffeltem Steingut herausgeholt, einen papierenen Filtereinsatz hineingedrückt und mit gemahlenem Kaffee gefüllt. Er musste nur noch den Wasserkessel auf den Herd stellen.

„Sehr gütig, Herr Möller, aber vielen Dank, nein. Mein Besuch dauert auch nicht lange.“

Hartwig Möller stellte das Melitta-Arrangement in die Spüle, drehte sich zum Tisch herum und setzte sich. An der Wand gegenüber hing ein Bild von Generalíssimo Francisco Franco neben einem Werbeplakat mit dem Adenauer-Mercedes. Er hatte kurze Zeit die hochwertigen Autos der deutschen Luxusmarke in Spanien verkauft, war aber von einem Kameraden aus dem Geschäft gedrängt worden, der als Luftwaffen-Leutnant in der Legion Condor gedient und sich exzellente Kontakte zur spanischen Elite erworben hatte. Das Wichtigste aber: Dem ehemaligen Flieger haftete kein Ludergeruch an, den Möller wegen der „jüdischen Angelegenheiten“ intern durchaus nicht los wurde. Jederzeit konnte die DDR Möllers Einsatzgruppen-Vergangenheit öffentlichkeitswirksam aufwärmen, was der Firma Mercedes Daimler-Benz nicht besonders willkommen gewesen wäre.

„Nun?“, fragte er in die entstandene Stille hinein.

Der Besuch stellte ein eingewickeltes Paket auf den Boden. Hatte wohl vorher noch Einkäufe erledigt, dachte Möller.

„Sie sind Lehrer“, stellte sein Besuch fest und sah sich um. An der Wand neben der Balkontür hing, unter Glas, das Vereinsgebet des Paderborner Bonifatiusvereins, verziert mit dem Kunstdruck des Jesusknaben von Murillo.

Der Besuch stand auf, stellte sich davor und las halblaut den Text: „Göttlicher Heiland, du hast einst die Kinder in deine Arme geschlossen und sie gesegnet. Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn für solche ist das Reich Gottes. Blicke gnädig herab auf die verlassenen Kinder in unserem Vaterlande und schließe sie in Dein göttliches Herz ein, damit sie vor Sünde, Abfall und dem ewigen Verderben bewahrt werden.“

„Sehr hübsch“, sagte der Besuch und setzte sich wieder. „Sind Sie Mitglied des Bonifatiusvereins?“

Hartwig Möller nickte. „Äh, ja, bin ich. Ich arbeite mit bei der katholischen Diasporakinderhilfe. Wir tragen mit Mitgliedern aus allen deutschen Gauen die Frohbotschaft in die Nacht des Heidentums und der Kirchenferne, trotz der kommunistischen Glaubensfeinde, die auch in Mitteldeutschland mit Hilfe der bolschewistischen Horden Gewalt ausüben.“

„Sehr brav. In irgendeinem Verein muss man ja aktiv sein, verliert sonst die Übung, oder?“

Hartwig Möller warf einen schnellen Blick auf sein Gegenüber. Er hatte plötzlich einen kalten Hauch verspürt. Sei auf der Hut, ermahnte er sich im Stillen. Blitzschnell reagieren, das konnte er, das hatte er gelernt. Einmal hatte in Lemberg ein jüdisches Mädchen – bildhübsch im Übrigen, das hatte ihn abgelenkt – versucht, ihm seine Walther aus der Pistolentasche zu reißen. Sie hatte keine Chance, natürlich nicht, er war schneller. Ihr Pech, nicht wahr, dass ihr Tod dann etwas langsamer ausfiel, langsamer als normal. In der Tischschublade unter seinem Stuhl lag jedenfalls seine Astra 400, für alle Fälle, eine spanische Ordonnanzpistole.

Hartwig Möller nickte. „Ja”, sagte er gedankenverloren, fast mechanisch, „man verliert sonst die Übung.

„Lehrer! Was für ein herrlicher Beruf! Immer mit jungen Leuten um sich herum, das muss schön sein, oder?“

„Ja, natürlich“, antwortete er. „Auch hier gilt natürlich, Übung macht den Meister.” Er lachte etwas scheppernd. „In einem Waisenheim ist es freilich etwas schwieriger als sonst.“

„Und Sie sind richtig als Lehrer ausgebildet, nicht wahr?“

„Ja, aber dann kam der Krieg dazwischen.“ Verdammt, dachte er, warum muss ich Hornochse immer wieder selber mit dem Krieg anfangen?

Aber der Besuch schien nichts zu merken und nickte nur. „Und es bringt Ihnen Spaß“, fuhr er leichthin fort.

„Ja, wie ich schon sagte. Es macht wirklich Spaß mit den Kindern, zumal sie ja beide Eltern verloren haben und unserer besonderen Fürsorge bedürfen.“

Was will sein Besuch, fragte er sich. Das Bischofsamt hatte ihm etwas von einem Vertreter einer wohltätigen Einrichtung gesagt, die das Heim unterstütze. Man wolle die Lehrkräfte und speziell den Leiter kennenlernen, hieß es.

„Das verstehe ich sehr gut, Herr Möller.” Sein Gegenüber lächelte entwaffnend. „Und sicherlich macht es Ihnen besonderen Spaß, kleine Mädchen und Jungen zu quälen, oder?”

Hartwig Möller erstarrte. Immer noch dieselbe lächelnde Fratze da drüben auf der anderen Seite seines Resopaltischchens, immer noch sehr höflich.

„Zumal Sie keine Angst vor Strafen haben müssen, weil, wie Sie richtig anmerkten, beide Elternteile tot sind und nicht mehr dazwischenfahren können.“ Jetzt war es eine kühle Stimme, beinahe etwas sarkastisch. Diese Art zu sprechen kannte er, die hatte er schließlich selber benutzt, wenn er dem jüdischen Zahnarzt, aus Hamburg deportiert, den Befehl gab, allen deutschen und russischen Juden, bevor sie erledigt wurden, das Gold aus dem Zähnen zu holen. Fiel immer auch ein bisschen für mich ab, erinnerte er sich plötzlich. Kühle Stimme, genau! Die kühle Stimme der Macht. Wer bist du da drüben?

Die DDR, dachte er plötzlich, Hauptverwaltung Aufklärung, HVA! Einer von Markus Wolfs Schergen! Sitzt hier ganz gemütlich an seinem Küchentisch, verdammt! „Was wollen Sie?“, quetschte er heraus und zog langsam die Schublade auf.

Der Besuch richtete eine Walther P 1 auf ihn. „Hände auf den Tisch!“

Wohltätige Einrichtung, da kann ich ja nur lachen, dachte Hartwig Möller, mit einer Walther! Er hatte sich überrumpeln lassen. „Schöne Grüße von Markus? Oder sollte ich sagen, von Mischa?“, fragte er betont munter.

„Schöne Grüße von Sonja“, antwortete sein Besuch leise. Das Lächeln war endgültig verschwunden.

Sonja? Wer zum Teufel war Sonja? Er guckte fragend in die Mündung der Walther. Wie häufig hatte in der Ukraine seine Walther gezogen und Gnadenschüsse verteilt? Verdammt, welche Sonja? „Sonja, die russische Partisanin?“

„Was redet er nur für einen Unsinn, mein kleiner Nazi-Strolch. Sonja Forsmann.“

Ach die! Die kleine Nutte, dachte er. Klar, Sonja, sie sträubte sich immer so nett. „Eine meiner ehemaligen Schülerinnen“, sagte er erleichtert. „Meinen Sie die? Wie geht es ihr?”

„Das Opfer eines perversen Kinderfickers.“

Verflucht, es war doch noch nicht vorbei. Woher weiß sein Besuch das mit Sonja? Früher suchte man sich jede Woche die hübschesten Jüdinnen heraus und erschoss sie hinterher. Keine Ansprüche, keine Überraschungen, keine dummen Fragen. Und heute darf man sich nicht mal mehr amüsieren. Man wird sofort von einer Walther bedroht! Schöne Demokratie, das!

„Ich verstehe Sie nicht ganz, und das tut mir außerordentlich leid“, sagte er dann. „Kann ich Ihnen irgendwie sonst noch behilflich sein?“

„Kannst du, ja.“ Sein Besuch stand auf. „Leg dich langsam auf den Boden, auf deinen dicken Bauch, und streck deine Vergewaltigerpfoten über deinen Hintern.“

Er starrte sein Gegenüber an.

„Wird´s bald? Oder soll ich erst böse werden?“ Sein Besuch kam um den Tisch herum. Ein Schuss zerfetzte hinter ihm Francos rechtes Auge. Der Querschläger heulte durch seine Küche. Erschrocken ließ er sich auf den Boden sinken. Auf dem Bauch liegend sah er die dicken dreckigen verschimmelten Essensreste unter der Spüle, wo der Mülleimer stand, den er manchmal verfehlte, wenn er seinen Teller ausleerte. Er streckte seine Hände über seinem Rücken nach oben, was ihm sichtlich schwer fiel. Eine Schlinge riss sie schmerzhaft zusammen. Mit einem Ruck warf er sich herum auf den Rücken und strampelte wild mit den Beinen gegen seinen Besuch. Der stand schon wieder zwei Meter entfernt, hatte jetzt in der einen Hand das Ende des Stricks, in der anderen die verfluchte Walther und lachte.

„Sehr witzig, so ohne Hände. Wie wäre es ohne Eier?“

Sein Gast befestigte den Strick an der Klinke der offenen Tür zum Wohnzimmer. Als Hartwig Möller einen eher albernen Versuch unternahm, mit schräg gestellten Knien auf die Beine zu kommen, wurde die Tür zugeschlagen, so dass er nach hinten auf den Rücken gerissen wurde. Die gefesselten Hände bohrten sich in den Rücken. „Schön ruhig liegenbleiben! Ist gleich vorbei.“ Sein Gast stellte das eingewickelte Paket auf den Küchentisch, holte eine Holzkiste daraus hervor und öffnete sie mit der linken Hand, während die rechte weiterhin mit der Pistole auf Möller zielte. Hervor kam etwas, das Hartwig Möller sofort erkannte, weil er auf dem Lande bei Münster aufgewachsen war. Ein Bolzenschussgerät also, dachte er, und beobachtete mit schief hingestrecktem Kopf voll böser Vorahnungen, wie sein Gast das Gerät vorbereite und dann sorgfältig zwischen seine Beine zielte. Sein Unterkörper wölbte sich über den gefesselten Händen schutzlos hoch. Das ist ein böser Traum, ein Albtraum, dachte er fieberhaft, das kann mir gar nicht passieren. Wieso ich? Ich habe doch nicht den ganzen Scheißkrieg ohne einen einzigen Kratzer überlebt, nur um jetzt wegen einer kleinen Nutte abzukratzen. Herrgott, so hilf mir doch!

„Und vergiss nicht, dem Heiland demütig zu danken, dass zumindest er immer wieder verzeiht.“

Erst der zweite Schuss klappte. Der rostige Bolzen zerriss sein Geschlecht. Das Aufheulen des Lehrers mischte sich mit dem abgedumpft metallischen Klacken des von menschlichem Gewebe verschmierten Bolzens auf dem Kachelboden. Hartwig Möller wurde ohnmächtig.

Später erwachte er unter stechenden Schmerzen im Unterleib. Sein Gast war längst gegangen. Er lag immer noch auf dem Rücken, konnte sich nicht rühren, weil inzwischen auch seine Füße gefesselt worden waren, und er bemerkte, als er unter unsäglichen Mühen den Kopf zur Seite drehte, dass sein Blut den Boden unter der Spüle erreicht hatte. Das gräulich-weiße Gespinst an den Brotresten hatte sich rotbraun durchfeuchtet. Blut und Boden, welch schimmelige Scheiße, dachte er, bevor er wieder ohnmächtig wurde.

Hartwig Möller verblutete.

Kapitel 5

Sperrmüll-Erinnerungen, Hamburg-Bergedorf, 2010

Am nächsten Morgen begann Otto Murr in Hamburg Bergedorf einige Kartons auszupacken, die noch vom vorletzten Umzug stammten und seither in irgendwelchen Münchener Kellern die Zeit verdämmert hatten. Und unter all dem Geraffel fiel ihm ausgerechnet das alte Kästchen in die Hand. Er erkannte es sofort wieder.

Als Siebzehnjähriger hatte er es in Barmbek-Nord auf der Straße gefunden, damals, 1977. Er erinnerte sich noch, wie ein türkischer Sperrmüllprofi ihm die Beute streitig machen wollte. Er habe das Kästchen zuerst gesehen, behauptete der Türke, und es für sich beiseite gestellt. Das stimmte durchaus, aber Otto Murr beharrte wortreich auf seinem angeblichen Erstfundrecht, und da das Kästchen mit seinen angestoßenen Ecken so wertvoll nun auch wieder nicht aussah, verzichtete der Türke, zumal ihm wichtige Zeit verlorenging, denn die anderen Sperrmüll-Geier waren bereits zu den vielen anderen allmählich auseinanderfließenden Haufen gefahren. Also hatte der Türke die Tür seines Ford Transits blechern zugeknallt und war ohne ein weiteres Wort und ohne das Kästchen weitergefahren.

Jetzt – 33 Jahre später – betrachtete Otto Murr es neugierig. Es war eine Art Schatzkästchen mit den Ausmaßen eines flachen Schuhkartons, dünn geriffelte Haut aus grau-weiß gestreiftem Plastik, etwas angeschmuddelt. Aufgedruckte Zeichnungen, Häuser, Figuren und Kutschen im Neo-Biedermann-Design der 1950er Jahre, Giebel mit eingerollten Dächern, Damen und Herren mit völlig leeren Gesichtern, die Herren in der Stutzermode aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Damen mit breit gerüschten Krinolinen. Alles mit zarten Farben wie dahingetuscht, eine nachgemacht kindliche Strichelei. Nach dem Krieg hatte sich der zutiefst verunsicherte kleinbürgerliche Biedersinn in diesen lächerlichen Zeichnungen ausgetobt.

Er klappte das Kästchen auf. Die Innenseite des Deckels war in kindlich ernsthafter Art beschriftet: „Ilse Hansen“ las er. Ja, natürlich, Ilse. Ein bisschen hatte der Siebzehnjährige sich damals in sie verliebt. Er kannte weibliche Wesen nur aus den Romanen von Charles Dickens, der in der elterlichen Bibliothek vertreten war, sein Vater war Mitglied der Büchergilde Gutenberg gewesen. Und dann gab es noch die jungen wunderschönen Frauen in den moderneren englischen Romanen – wie hieß der Autor damals mit seinem jungen Arzt und der hübschen Reiterin aus dem Landadel? – ach ja, Cronin oder so ähnlich. Otto Murr schaute träumend hoch. Ja, er war damals noch nie einem Mädchen näher gekommen und wäre so gern ein edler Ritter gewesen, natürlich nicht hoch zu Ross, sondern, das lag in den Zeiten seiner Jugend näher, ein kühner einsamer Jagdflieger, der das Mädchen, das ihn unwahrscheinlicherweise liebte, retten konnte.

Denn vor allem litt er mit der unbekannten jungen Frau, die ihm aus dem Kästchen so nah gekommen war wie nie zuvor ein Mensch außerhalb seiner eigenen engsten Familie. Es war seine erste junge Frau, die er kennenlernte, und sie hatte tatsächlich Hilfe vor ihrem Tod gebraucht.

Im Kästchen lag obenauf ein Büchlein, klein und quadratisch, gebunden in dunkelgrünem Leder, mit Goldschnitt und golden eingeprägten Lettern: „TAGEBUCH“. Die einstmals verschließbare Schnalle am Büchlein war schon 1977, als er es gefunden und zum ersten Mal betrachtete hatte, erbrochen gewesen, man hatte das Büchlein offensichtlich, bevor das Kästchen auf dem Sperrmüll gelandet war, gewaltsam geöffnet.

Ilse Hansens grünes Tagebuch. Er legte es vorsichtig auf seinen vor dem Fenster aufgestellten Schreibtisch. Das Büchlein war fast genauso alt wie er selbst.

Damals als Gymnasiast hatte er seine Zimmertür abgeschlossen. Er wohnte noch bei seinen Eltern. Dann erst traute er sich, mit roten Ohren im Büchlein nachzulesen, was 16 Jahre zuvor – zu Beginn der 1960er Jahre – die junge Ilse Hansen dem kleinen grünen Buch anvertraut hatte. Intimste Geheimnisse aus einer Zeit, als er selbst gerade geboren worden war.

Das Büchlein war nicht für ihn bestimmt gewesen, das wusste er natürlich, als er es jetzt wieder durchblätterte und dann zuklappte.

Unter dem Büchlein lagen Briefe aus der Zeit des Tagebuchs. Auch sie hatte er damals – mit schlechtem Gewissen – geöffnet und gelesen. Es waren Briefe eines gewissen Ulrich Reimers an die junge Ilse Hansen und sie waren von ihr in veilchenblaues Seidenband verschnürt worden. Außerdem fand er noch Briefe von Angelika Hansen, Ilses Schwester, die – er erinnerte sich jetzt – knapp zwei Jahre älter war.

Jetzt legte er auch die Briefe in zwei Stapeln neben das Büchlein auf den Schreibtisch.

Ganz unten im Kästchen lag Katholisches aus den 1950er Jahren, Erbauungsblättchen, Heiligenbildchen, Fotos von Papst Pius X und von einem Priester, der eine Puppe segnete, die ihm ein kleines Mädchen vertrauensvoll hinstreckte. Dazu Postkarten aus Hamburgs Nachkriegsjahren, Bilder von der Schlagersängerin Cornelia Froboess, auch von Romy Schneider als Kaiserin Sissy mit Karl-Heinz Böhm. Ganz zuunterst kam eine kurze katholische Bildgeschichte für Kinder zum Vorschein: „Kanakenbuben erwarten den Missionar“. Ilse Hansen war offensichtlich katholisch gewesen.

Nachdem Otto Murr auf dem Schreibtisch alles sehr ordentlich ausgebreitet hatte, so, als wollte er das Lesen noch hinauszögern, holte er sich einen Kaffee aus der Küche und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er schaute aus dem Fenster. Von der großen Linde vor dem Haus segelten herbstliche Samen herab und rotierten dabei. Wie Hubschrauberpropeller, dachte er. Wer mochte dieses Tagebuch, diese Briefe und persönlichen Erinnerungen auf die schmutzige Straße gestellt haben? Bestimmt nicht die junge Ilse Hansen selber! Vielleicht hatten Verwandte oder Nachbarn ihre Wohnung entrümpelt, das Tagebuch gefunden, es aufgebrochen und achselzuckend weggeworfen. Was aber war mit der Tagebuchschreiberin geschehen, die ihr Büchlein und die Briefe und ihre Erinnerungen offensichtlich nicht hatte hüten können?

Er berührte das dunkelgrüne Leder des Tagebuchs. Jetzt, 2010, wäre Ilse Hansen 68 Jahre alt. Wenn sie noch lebte. Otto Murr erinnerte sich des Schreckens, als er zum ersten Mal die Schlusszeilen des Tagebuches gelesen hatte. Er zögerte noch immer.

Dann schlug er Ilse Hansens Tagebuch zum ersten Mal seit über dreißig Jahren wieder auf. Eine mädchenhafte, leicht nach links geneigte Handschrift. Offensichtlich hatte sie ein liniertes Löschblatt unter die leeren Seiten des Büchleins gelegt, sonst wären ihre Zeilen nicht so schnurgrade ausgefallen. Und Rechtschreibung hat man offensichtlich gelernt, damals in der Schule.

Ein vergilbtes Blatt fiel aus dem Tagebuch heraus.

„Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Personalamt

Ta.-Nr. 76 259

den 20. Sept. 1961

Festsetzung der Bezüge für Ilse Hansen, geb. 27.11.1942

Eingestellt am 1.4.1961 als Lernschwester

(Kinderkrankenpflege)

Die Bezüge (ohne Kinderzuschlag) betragen monatlich ab

1.4.1961: 235,- DM, ab 1.4.1962: 250,- DM.

An AK St. Georg üb. Ges.-Behörde

Scholz, Reg.-Inspektor“

Ja genau, sie war Lernschwester gewesen. Knapp drei Monate nach ihrer Einstellung schrieb Ilse Hansen zum ersten Mal in ihr Tagebuch. Es war der 7. Dezember 1961, ein Donnerstag mitten in der Vorweihnachtszeit. Und wie es so mit Tagebüchern ist, sie nahm eine persönliche Katastrophe zum Anlass, um mit den Eintragungen zu beginnen. In ihrem Fall waren es die dauerhafte Abwesenheit der Mutter und die Trennung vom ersten Freund.

„Ich fange wieder an Tagebuch zu schreiben, weil ich niemanden habe, mit dem ich über alles sprechen kann.

Manfred Forsmann hat sich schlecht benommen. Ich habe mit ihm Schluß gemacht. Endgültig. An sich hatte es ja auch gar nicht richtig angefangen.

Mutti ist schon fast ein halbes Jahr weg, arbeitet auf der Hanseatic, und ich bin sehr viel allein. Ich mag nicht allein sein, ich habe Angst davor, weil meine Gedanken dann immer auf Wanderschaft gehen und meist sind es traurige Gedanken.

Otto Murr hatte schon damals, vom ersten Augenblick an, jenen Manfred Forsmann gehasst. Schlecht behandelt habe er Ilse. Der junge zornige Otto Murr hatte sich etwas sehr Finsteres darunter vorgestellt. Schläge, Vergewaltigung, was wusste er! Und dann die Mutter, die sich absentierte. Heute noch spürte er den Nachhall jenes Urzorns in sich aufsteigen. „Seine” Ilse, misshandelt und ganz allein!

Er las weiter.

„Übermorgen habe ich Urlaub. Ich freue mich schon. Die Oberin gab mir ausnahmsweise über Weihnachten Urlaub, weil Mutti nicht da ist. Am Sonnabend will ich nach Itzehoe fahren und im Holsteinhaus meinen 19. Geburtstag feiern. Ich weiß noch nicht, was ich in meinem Urlaub anfange. Weihnachten werden wir wohl im Holsteinhaus sein. Ich finde es ganz toll von Frl. Graf, dass sie mich eingeladen hat den ganzen Weihnachtsurlaub in Itzehoe zu bleiben. Ich tue es auch, denn wo soll ich sonst hin?

Fünf Tage später, am Dienstag, den 12. Dezember 1961, vertraute sie ihrem Tagebuch an, dass sie wieder glücklich sei. Sie war inzwischen neunzehn Jahre alt geworden – „Was heißt hier alt“, sagte Otto Murr leise zu sich selber, „jung!“ – und Inges Einsamkeit hatte – keine Überraschung für ihre Umgebung, nur eine für den sehr jungen Otto Murr – ein schnelles Ende gefunden.

„Sonnabend in Itzehoe war es ganz toll. Ich habe mich neu verliebt. Das kam ganz komisch. Meine Schwester Angelika wollte ihren Freund Ulrich ärgern und brachte einen Bekannten aus Hamburg mit, einen gewissen Wulf. Da tanzte Ulrich den ganzen Abend mit mir. Ich weiß nicht recht, was ich machen soll. Ich wurde vor Ulrich gewarnt. Er hat bereits ein Kind, für das er zahlen muß, und von der Mutter ist er geschieden. Ich glaube auch, daß es nicht ernst ist, das muß aber die Zeit lehren. Angelika hat sich furchtbar geärgert. Aber sie hat ja Schuld, daß alles so gekommen ist.“

Tja, „Schuld“, dachte Otto Murr. Ilse spannt ihrer Schwester Angelika den Freund Ulrich aus und verliebt sich in ihn. Sie ist glücklich, ihre Schwester nicht. Alles sehr normal, fand er. Und die Schwester hat möglicherweise sowieso schon einen Neuen, diesen Bekannten aus Hamburg. Das Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, das manchmal tragisch endet.

Beim Holsteinhaus musste es sich um eine Art katholisches Jugendfreizeitheim handeln, die Leiterin war eine gewisse Frau Graf, damals sagte man ja noch Fräulein zu unverheirateten Frauen. Also Frl. Graf.

Am Freitag, den 29.12.1961, schrieb Ilse Hansen erneut in ihr Tagebuch. Inzwischen hatten sich die Dinge so entwickelt, wie es zu erwarten war, dachte Otto Murr und musste altersmüde lächeln.

„Weihnachten ist jetzt vorüber. Es war sehr schön im Holsteinhaus. Frl. Graf hat sich so große Mühe gegeben, es uns allen nett zu machen. Ulrich schenkte mir eine kleine Schachtel mit Likörpralinen.

Ich bin ganz doll verliebt in Ulrich. Er küßt gut, sagt aber, von mir könnte er dabei noch was lernen. Als wenn man das Küssen lernen muß. Das kommt eben von allein. Er kommt mir oft vor wie ein kleiner, hilfloser Junge, aber ein Süßer!“

Die nächsten Einträge im Tagebuch jubeln. Man will zusammenbleiben. Im Januar 1962 fährt Ilse Hansen an fast jedem freien Wochenende nach Itzehoe. Ulrich, der kleine und hilflose Junge, natürlich ein „Süßer”, hat gestanden, „er könne es nicht länger aushalten ohne sie.“

Ach Ilse, dachte Otto Murr. Die Katastrophe wartet schon auf dich.

Kapitel 6

Marc Collins, Hamburg, 2010

Marc Collins, Liverpooler, 35 Jahre alt, ließ seine kurzen stämmigen Beine über die Armlehne der Ledercouch hängen. Er firmierte zur Zeit als Mitarbeiter im britischen Institut für internationale kulturelle Beziehungen in Hamburg. Offiziell arbeitete er an der Berliner Botschaft Ihrer Majestät, Departement of Governance and Society, Justice and Human Rights. Menschenrechte! Schon fast eine zynische Tarnung, hatte er anfangs gelacht. In Wirklichkeit gehörte er dem Secret Service an und war zur Zeit Resident in Hamburg. Seit Herbst 2010 überwachte er diesen ehemaligen Münchener Journalisten Otto Murr. Unschöne Sache das mit Charlotte Falkenthal im Sommer. Sie war Commanding Officer der Spezialkräfte gewesen, hatte einen der wichtigsten Jobs auf Kreta und – verliebte sich in diesen Otto Murr, half ihm sogar aus der Patsche und gefährdete die Mission gegen die Kameltreiber. Sie musste doch wissen, was das bedeutete, vor allem bei unseren US-Allies. Und dann machte dieser Herr Murr auch noch Ärger, ausgerechnet beim offiziellem Begräbnis der Falkenthal, in Burford, in der Nähe von Oxford.

Marc Collins seufzte leise. Er hatte die Falkenthal gemocht, so von ferne jedenfalls. Rote Haare von der irischen Mutter. Ihre Großeltern väterlicherseits waren vor den Hunnen nach England geflohen. Deutsche Juden. Warum die Huns ihre Elite, ihre besten Wissenschaftler und Künstler rausgeworfen hatten, verstand er bis heute nicht. Einstein und so. Berlin hatte einfach nicht das Zeug zur Weltmacht. Bis heute nicht. Simpel zu dämlich. Und entweder sie winselten feige herum oder sie wurden kühn wie tollwütige Hunde. Obwohl, nahe genug waren sie dran gewesen damals. Die Pariser Froschfresser abserviert. Die Hood versenkt. Und Uncle Joe Stalin tüchtig gezaust. Dann aber Stalingrad und Kursk und der Zusammenbruch der deutschen Heeresgruppe Mitte beim Angriff der Russen. Und schließlich wir und die Cousins aus Übersee mit der Landung in der Normandie. Bei den jährlichen Veteranentreffen des Service erzählten sich die alten Helden, sie hätten nie verstanden, warum Truman 1945 nicht auf Churchill gehört hätte, der angeblich gleich weiter gegen Stalin marschieren wollte. „Wir hatten doch die Bombe“, raunten die alten Haudegen. Die Boys aus Washington hatten sie aber nur gegen die Japse eingesetzt. Vielleicht dachten sie, Moskau würde sich daraufhin in die Hose scheißen vor Angst. Nix da, dachte Collins mit etwas uneingestandener Hochachtung vor den tough boys in Russia. Die Bolshevik bastards entwickelten selber die Bombe, mit ein bisschen Hilfe der fellow travellers in good old England freilich, und einem gewissen bloody German refugee in the States. Ach, was soll´s, dachte er, viele Nukes hatte Washington sowieso nicht zur Verfügung gehabt, damals 1945.

„Little Boy“ sollte ja an sich gegen Hamburg eingesetzt werden. Auch das behaupteten die Veteranen.

Ja, Hamburg. Kein so schlechter Einsatzort für ihn selbst, fand Marc Collins. Heute hatte sich selbst beurlaubt. Keine Überwachung von Otto Murr. Dieser Nachmittag gehörte ihm, Marc Collins aus Britain, und natürlich dem Chateau Kallipygos. Warum auch nicht? Der Service zahlte gute Spesen.

Er stand auf und ging zu Fuß von der großen Villa an der Außenalster, die mal irgendeinem Hamburger Juden gehört hatte, in die Innenstadt. Er spazierte gern durch Hamburg. Haben die Krauts alles recht ordentlich wieder aufgebaut, nachdem die Royal Air Force hier aufgeräumt hatte. Alte hochaufragende Bürohäuser. Er machte einen kleinen Umweg über den Jungfernstieg. An der Fassade des Alsterhauses allegorische Figuren, nackt, Brüste aus Stein, wie immer ohne die verdammten Mösen, das hämmerten die Alten nicht in den Stein, an sich schade. Tiefe Wolken über der Stadt, ein kleiner Streifen blauer Himmel. Pfützen blitzten auf. Warme Menschengesichter. Menschenlachen, Frauenkörper weich und leicht, seine Hand bebte unwillkürlich. Er hätte sie leicht auf ihre weißen Schultern legen mögen. Er ahnte ihre Brüste. Frauen, ach, ihr Frauen. Und er gehörte schließlich zu den Siegern.

Das Chateau Kallipygos lag in einer Nebenstraße gleich hinter dem Dammtorbahnhof. Eine breite Allee. Hellgelb durchleuchtete Lindenbäume. Er trat in die weiß gestrichene Villa. Monitore im Außen- und Innengelände, nur nicht in den Intimräumen. Sogar ein Hausarzt hatte, wie er wusste, hinten seine Praxis, für Gäste mit Problemen.

Der Geschäftsführer begrüßte ihn. „Welcome. Frühstück zwischen 11 und 15 Uhr. Warmes Essen von 18.00 bis zum Morgen, Sir“, sagte er. „I know“, brummte Mark Collins. „Just one hour.“ Eintritt in bar, diskret, 200 Euro, der Stunden-Haustarif war noch derselbe wie vor einem Monat. Der Wellness-Bereich, Pool, eine Bio-Sauna, nur 60 Grad Celsius. Die Recreation-Suite mit lagernden Damen. Hier fanden aber keine sexuellen Kontakte statt. Mit Victoria – 120 Euro pro Stunde – und einer Flasche Champagner im Arm – noch mal 150 Euro – stieg er die große Freitreppe hinauf und starrte fasziniert auf ihren schwingenden Hintern. Dicht hinter ihr betrat er das Safari-Zimmer. Alberne Zebrafelle an den Wänden. Afrikanische Masken. Gekreuzte Speere über dem breiten Bett. Marc Collins grinste. Kolonialschnickschnack, ganz so, wie der brave Deutsche sich Afrika vorstellte.

Aber dann! Hamburgs Türme hinter diskret gerüschten Vorhängen. Blaue kühle Seide. Erotische Wellness pur. Insgesamt wieder mal 470 Euro die Stunde. Das war, wenn man es nicht aus der Sicht des britischen Steuerzahlers betrachtete, angemessen. Er musste nachher noch Helen in London anrufen. Ihre gemeinsame Tochter hatte heute ihren fünften Geburtstag. Er hatte ihr einen Teddy geschickt, mit echtem Brummen, irgendwas Elektronisches drin.

Victoria öffnete ihr Abendkleid. Seit wann hießen Russinnen Victoria? Egal. Eine von den kleinen blauen Pillen des Hausarztes vom letzten Mal – was für eine Blamage, als er ihn zwischendurch hatte aufsuchen müssen – steckte zur Sicherheit in seiner Jackentasche. Hoffentlich kein russischer Scheiß, dachte er. Es stand ihm aber tadellos. Er schenkte den Champagner ein. Ein bisschen zu heftig, die kostbaren Perlen schäumten über den Glasrand. Victoria lachte. „Komm, mein kleiner Süßer. The bar is open.“ Lernten sie das schon in der Schule, die kleinen Nutten? Er stieß mit ihr an und trank sein Glas in einem Atemzug leer.

Victoria sah hinreißend aus auf der blauen Seide. Sie war fast einen Kopf größer als er. „Soll ich unten liegen?“ Er nickte und stellte das Glas auf den Couchtisch. Es hinterließ einen feuchten runden Kreis.

Kapitel 7

„Mein armer kleiner Liebling“? Winter 1962

Otto Murr hatte einen Spaziergang durch das Bergedorfer Villenviertel gemacht. Es war wunderbares Herbstwetter in diesem Jahr 2016. Prächtige alte Bäume.

Nach Hause zurückgekehrt, zog es ihn an seinen Schreibtisch. Das Tagebuch und die Briefe lagen immer noch da. Otto Murr löste vorsichtig das himmelblaue Seidenband um die Briefe.

Aber zuerst griff er noch einmal zu Ilses Tagebuch. Am Sonntag, den 15. Januar 1962, war Ilse Hansen in ihrem Hamburger Schwesternheim von ihrem neuen Freund Ulrich besucht worden, wo sie mit drei anderen Lernschwestern in einem Vierbettzimmer wohnt.

„Ich finde nur immer, wir sind zu wenig allein. Wir haben uns doch sehr lieb und wollen mal allein sein. Aber im Holsteinhaus geht es nicht. Nur abends spät, wenn wir noch hinten im Zimmer sitzen, tanzen wir auf dem Flur und … Hier in Hamburg im Schwesternhaus ist es auch nicht schön im Viererzimmer. Ich freue mich schon auf Eilbek, dann wohne ich nur noch mit Brigitte in einem Zimmer. Morgen ziehen wir um, das gibt einen Rummel! Das Zimmer dort ist ganz toll. Am kommenden Sonnabend feiern wir Einweihung, zu viert. Ulrich kommt und Brigittes Freund Uwe. Und am Sonntag kommt Frl. Graf nach Hamburg. Zwischendurch kann ich sicher mal mit Ulrich allein sein. Wenn das jemand lesen würde, der würde jetzt sicher schlecht von mir denken. Pfarrer Urbanski hat mir bei meiner ersten Beichte in Itzehoe gesagt: „Hättest du die Gnade Gottes nicht im Herzen, so wärest du ein wilder Baum, der keine guten Früchte bringen kann.“ Ich liebe ihn aber. Und Kinder?

Der wackere Pfarrer Urbanski und seine heuchlerische Sexualmoral, dachte Otto Murr. Ohne Gnade Gottes keine guten Kinderfrüchte! Bei dem Satz „Wenn das jemand lesen würde, …” freilich hatte er sich damals ertappt gefühlt. Er dachte aber nicht schlecht von ihr, oh nein, im Gegenteil. Etwas aufpassen sollte sie bei diesem Ulrich aber, das hatte er gedachte, und seine sich entwickelnde Zuneigung zu Ilse hatte ihn hellsüchtig gemacht. Oder war er nur ein bisschen eifersüchtig gewesen? Otto Murr lächelte wehmütig.

Brigitte war ihre Mit-Lernschwester damals, und Uwe ihr Freund. Die Party zu viert konnte beginnen.

Was passierte?

Otto Murr griff zu dem ersten Brief dieses Ulrich vom 22. Januar 1962. Er kannte den Text und er wusste, er würde sich wieder ärgern.

„An die Lernschwester Frl. Ilse Hansen

Mein armer kleiner Liebling!

Ich kann mir richtig vorstellen, wie traurig du bis jetzt gewesen bist – vielleicht sogar ein bißchen böse. Die ganze Woche kein einziges Lebenszeichen von deinem „Schatz“. Bevor du aber anfängst zu schimpfen, will ich dir sagen, woran es gelegen hat. Vor drei Tagen – also Mittwochabend – wollte ich diesen Brief schon schreiben, aber erstens war ich zu hungrig, zweitens zu durstig und drittens hatte ich nicht einmal 20 Pfg. für Briefmarken. Du siehst, ich hatte meine Gründe. Heute sind alle Bedürfnisse gestillt. Es ist jetzt gleich halb zehn und vor einer guten Stunde kam ich aus´m Kino. Seitdem habe ich ununterbrochen versucht Dich (meine süße Kleine) anzurufen. Wie der Mißerfolg ja beweist, ist es mir nicht gelungen, auch nur einen „Piep“ von meiner Liebsten zu hören. Ich bin selber ganz traurig.

Ich hoffe jetzt nur noch, daß du am Sonntag rechtzeitig Feierabend hast. Auf jeden Fall werde ich am Bus sein, um dich, falls du kommst, vom ersten Augenblick bei mir zu haben.

Ich hab dich nicht einmal in Form eines Bildes hier, aber, aber dafür habe ich ja ´Lubatsch´, den ich mir bei dir im Zimmer ausgeliehen habe. Halt! Nicht gleich einschnappen. Der Teddybär ersetzt das Bild nicht wegen der Ähnlichkeit mit dir, sondern weil er mich immer an dich erinnert. Er hat einen Ehrenplatz an der Wandlampe, genau über mir beim Schlafen, und ist schon sehr verwöhnt. Jeden Abend muß er einen Gute-Nacht-Kuss haben, sonst gibt er keine Ruhe. Jetzt passt er auf,daß ich nicht zu viel dummes Zeug schreibe. Er nimmt sich auch schon ziemlich viele Freiheiten heraus.

Tschüß für heute, viele Grüße und Küsse

Dein Ulrich.“

Otto Murr ließ den Brief sinken. Ja nun, Herr Ulrich Reimers dachte er wieder, du kleiner Witzbold und Sprachenspieler! Gibst den Überlegenen, alberst mit dem vom „armen kleinen Liebling“ erbeuteten Kuscheltier herum. Du schreibst, er würde sich dir gegenüber Freiheiten herausnehmen. Lächerliches Spiel mit Zweideutigkeiten! Erst wird der Teddy erbeutet, dann sie. Scharf warst du auf sie, scharf machen wolltest du sie. Es ist die alte Geschichte, dachte Otto Murr erbost. Eine junge Frau verliebt sich in einen erfahrenen Hallodri und der spielt mit ihr. Hat der Teddybär-Verwöhner sie zumindest ein bisschen geliebt?

Man muss gerecht bleiben, dachte Otto Murr. Dazu, was die beiden damals vorhatten, gehörten zwei. Frauen sind nicht die geborenen Opfer und auch nicht die reinen weißen Unschuldslämmchen, sonst landen wir wieder bei der katholischen Morallehre und der unbefleckten Empfängnis. Ilse Hansen wollte Ulrich Reimers vögeln und Ulrich Reimers sie. So what? Das einzige Problem war: Sie liebte ihn, der Windhund sie vermutlich nicht. Und passiert war offensichtlich sowieso noch gar nichts außer ein bisschen Petting, wie das damals hieß. Eine ganz normale Geschichte. Aber es war das Jahr 1962.

Kapitel 8

„Der Engländer hat wieder Ärger gemacht.“

„Was war?“

„Er kriegte keinen mehr hoch zum Schluss.“

„Wer war bei ihm?“

„Unsere Studentin, Victoria.“

„Ja und? Seit wann haben Engländer Schwanzprobleme?“ „Seine kleine Tochter aus London rief ihn mitten drin auf dem Handy an. Er hatte es auf Laut gestellt. „Daddy, how are you?” Sowas in der Art. Sie hatte zum Geburtstag einen Brummbären von ihm bekommen und ließ ihn durch das Handy typische Geräusche machen und quietschte dabei vergnügt.“

„Ja und?“

„Brummen und Quietschen, während Väterchen sich auf dem Mädel Mühe gibt. Victoria hat gekichert.“

Die alte Frau lehnte sich hinter ihrem riesigen Schreibtisch zurück. „Hätte ich vielleicht auch getan an ihre Stelle. Ist natürlich unprofessionell, aber das muss man sich mal vorstellen, die Szene!“ Sie lachte vergnügt.

„Er behauptete, das Viagra wäre russischer Scheiß.“

Erneut lachte die alte Frau. „Ist es ja auch, aber wirksam.“

„Er wollte nicht zahlen.“

Die alte Frau wurde ernst. „Sag das noch mal, Kinderkralle.“

„Naja, er krakeelte rum und wollte nicht zahlen.“

„Wir sind doch keine Tankstelle, wo man den Rüssel reinhängt, Sprit zieht und ohne zu bezahlen abrauscht.“

„Ja, die Zahlungsmoral unserer Kunden! Je reicher, umso umsonster. Wir werden schon keinen Skandal zulassen, denken sie. Und jetzt noch die Krise.“

„Aber die haben doch immer noch ihre Boni! Wird Zeit, dass wir unser Angebot ausweiten. Kreuzfelltchen arbeitet dran, bisschen Casino im Chateau.“

„Casino? Bei uns?“

„Wir müssen mit der Zeit gehen. Was war nun mit dem verhinderten Engländer?“

„Was schon? Dieses Mal ging Victoria auf Kosten des Hauses. Der kommt wieder.“

„Na schön. Melde mir, wenn er wieder da ist, ja? Ich will ihn mir mal angucken, den empfindsamen Vater.“

Kapitel 9

Goethe, Wilhelm Meister und Mariane. 1794 und 2010

Otto Murr wachte spät am Vormittag auf. Draußen lärmte die Müllabfuhr. Danach kam auch noch ein Laubsauger. Man hatte einem mageren Arbeitslosen einen Knattermotor auf den Rücken geschnallt. Infernalischer Lärm! Otto Murr guckte aus dem Fenster. Nicht mal Hörschutz bekam der arme Kerl in seinem viel zu weiten orangenen Strampelanzug.

Nach dem Duschen und noch vor dem Frühstück las er in Ilse Hansens Tagebuch weiter. Die Vierer-Party im Eilbeker Schwesternheim!

„Hamburg, Montag, den 29. Januar 1962

Am Sonnabend war es hier in unseren Zweierzimmer prima. Brigittes Uwe und mein Ulrich verstehen sich prima. Nachdem wir alle einen kleinen Schwips hatten, waren wir sehr liebesbedürftig. Wir haben uns sehr sehr lieb gehabt. Ich glaube, soviel wie an diesem Abend habe ich noch nie geküßt. Ulrich kann einem aber auch den Kopf verdrehen. Ulrich und Uwe gingen aber schon gegen halb 11 Uhr, weil wir Angst hatten, daß wir erwischt würden. Wir dürfen hier keinen Herrenbesuch haben.

Am Sonntag hat Ulrich in seiner Hamburger Unterkunft natürlich verschlafen. Ich habe vergeblich mit dem Frühstück und dem Mittagessen gewartet. Um ½ 2 waren wir alle am Kino verabredet mit Frl. Graf. Ulrich ist gerade noch rechtzeitig gekommen. Wir sind dann hinterher alle zu mir gefahren, haben Kaffee getrunken und später Wein, den Frl. Graf mitgebracht hatte. Es war noch sehr nett.“

Schön, schön, dachte Otto Murr. Noch sehr nett also. Sie waren vorsichtig gewesen, hatten nicht miteinander geschlafen. So viel Zurückhaltung hatte Otto Murr Ulrich Reimers, dem leidlich begabten Vorstadtcasanova, gar nicht zugetraut. Aber es hatten sich ja auch vier Menschen in dem kleinen Zimmer vergnügt.

Der Mensch hatte im Übrigen entschieden einen Hang zum Verschlafen.

Er schob das Tagebuch und die Briefe erst einmal beiseite und frühstückte.

Dann räumte er seine Zimmer weiter ein.

Wie durch ein Wunder war eine Woche später der kompakte Bücherkartonturm in Otto Murrs großem Zimmer um die Hälfte geschrumpft, Er hatte überall Ikea-Borde aufgestellt und sie, so gut es ging, sinnvoll nach Themenbereichen und vor allem nach Lebensabschnitten, in denen er die Bücher erworben und gebraucht hatte, gefüllt.

Danach öffnete er am Sonntagabend zufrieden eine Flasche Lübecker Rotspon und zog sich auf sein Sofa zurück. Tatort im Ersten! Gute alte Tradition. Aber plötzlich war ihm nicht mehr nach Mord und Totschlag und auch die Dialoge des an sich ja witzigen Ermittler-Duos aus München kam ihm schon nach wenigen Minuten fad vor. Ganz zu schweigen von dem ewigen: „Wo waren Sie am letzten Dienstag zwischen dreiundzwanzig Uhr und vier Uhr morgens?” Er nahm einen Schluck des wirklich guten Rotspons und stellte den Fernseher aus.

Vor ihm auf dem runden fleckigen Couch-Tisch lag eine alte gelbe Reclam-Ausgabe. Er hatte unter seinen Büchern Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre” entdeckt und begann jetzt, darin herumzuschmökern. Ach Felix, dachte er plötzlich, als er den Namen des Kindes wieder las. Wilhelm Meister hatte eine allererste Geliebte, die schöne junge Schauspielerin Mariane. Sie war umschwärmt gewesen und hatte bereits mehrere Liebschaften gehabt. Barbara, Mariane alte Dienerin, hatte ihre junge Herrin, statt sie Wilhelm Meister zu überlassen, mit reicheren jungen Herren aus der guten Gesellschaft verkuppeln wollen. Und Wilhelm verdächtigte prompt Mariane, seine Geliebte, zugleich mit ihm auch ein Liebesverhältnis zu dem jungen reichen Kaufmann Norberg zu unterhalten. Wilhelm verstieß sie in jugendlichem Ungestüm, denn er glaubte, unumstößliche Beweise für ihre Untreue erhalten zu haben. Es war freilich alles ein Irrtum gewesen. Mariane schrieb ihm verzweifelte Briefe und flehte um ein Treffen. Otto Murr las sich einen ihrer Briefe halblaut vor.