Ozero - Josua Markus - E-Book

Ozero E-Book

Josua Markus

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Allein, umgeben von Feinden, in einem fremden Land, Tausende Kilometer entfernt von allem Vertrauten. Alexander, 19 Jahre alt, wird aus seinem Alltag gerissen und plötzlich in eine Welt voller Gefahren gestürzt, die sein Leben bedrohen. Wenn er überleben will, muss er sich diesen Herausforderungen stellen – ohne zu wissen, wem er vertrauen kann. Umgeben von Freunden, die ihn verraten könnten, und Feinden, die ihn jagen. Gefangen im Netz der Geheimdienste, deren Lügen und Intrigen ein ganzes Land erschüttern könnten. Ein Konflikt, der über die Zukunft einer Nation entscheiden kann – und Alexander mittendrin. Viele sind bereits verraten worden, haben ihr Leben verloren. Kann Alexander entkommen, bevor auch er das nächste Opfer wird? Ein Thriller über Mut, Vertrauen, Geheimnisse und die unerbittliche Härte des Lebens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 580

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Yosua Markus

Ozero

Im Netz der Lügen

© 2024 Josua Markus

Umschlag, Illustration: Samuel Markus

ISBN

Paperback978-3-384-34899-9

Hardcover978-3-384-34900-2

e-Book978-3-384-34901-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Josua Markus, Rottmannsdorfer Str. 74, 08064 Zwickau, Germany.

Für Ole,

ohne ihn wäre es unmöglich diesen Traum jetzt zu leben.

Prolog: Entscheidung mit folgen

Als das Taxi mit voller Fahrt gegen den Laternenmast raste, wurde Paul schmerzhaft gegen den Vordersitz geworfen. Seine Nase brach mit einem leisen Knacken. Blut lief ihm in heißen Strömen über sein Gesicht. Leicht benommen brauchte er einige Sekunden, um sich wieder vollständig zu fangen. Sein ganzer Körper tat ihm weh.

Die Tür des Taxis klemmte, als Paul versuchte, sie aufzustemmen. Erst nach mehreren Tritten dagegen gelang es ihm, einen Spalt zu öffnen, der groß genug war, um sich mühsam hindurchzuzwängen. Frische Luft schlug ihm entgegen, als er den zerstörten Wagen verließ. Kalter Regen prasselte vom Himmel auf ihn herab. Es war ein miserables Wetter für Ende Sommer, von der Wärme der vergangenen Tage war nichts mehr übrig.

Immer noch leicht verwirrt stand Paul neben dem Taxi, das inzwischen angefangen hatte zu brennen. Dunkle Rauchwolken stiegen empor. Für den Fahrer gab es ohnehin keine Hoffnung mehr; bereits beim Aufprall hatte er sich vermutlich jeden Knochen gebrochen. Als sich sein Kopf langsam wieder beruhigte und das Brummen nachließ, sah sich Paul um. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen. Aber sie waren hier sicher irgendwo, lauerten ihm wahrscheinlich auf. Vermutlich waren sie bis gerade eben sicher, dass er tot war.

Aber auch zu seiner eigenen Überraschung lebte er noch; nahezu unbeschadet hatte er diesen schweren Autounfall überlebt. Doch Paul hatte keine Zeit, einfach hier herumzustehen und sich umzuschauen. Eilig blickte er zu den Schaulustigen, die sich auf der anderen Straßenseite zu sammeln begannen. Vorbeifahrende Autos hielten mit quietschenden Bremsen, Leute stiegen aus und eilten zu dem zerstörten Wagen, der nun lichterloh in Flammen stand. Laute drangen an sein Ohr die er nicht verstand. Sätze dessen Bedeutung verhallte. Nach wie vor stand Paul unter Schock da und blickte ängstlich in die Umgebung. Sie waren hier.

Instinktiv griff er unter seine Jacke, um nach dem Objekt der Begierde zu sehen. Er fasste ins Leere. Natürlich war es nicht mehr dort; er hatte es längst auf dem Weg zu seinem Ziel geschickt. Die Gewohnheit ging mit ihm durch, es war zu einem Reflex geworden. Sein Blick fiel nun stattdessen auf den schwarzen Mercedes, der mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit um die Ecke am Ende der Straße bog. Verdammt, das waren sie. Er musste weg, die Zeit lief ihm davon.

Ohne weiter darüber nachzudenken, wohin er fliehen sollte, drehte sich Paul um und rannte einfach los. Empörte Passanten schrien auf, als er sich von der Unfallstelle entfernte. Er achtete nicht darauf und lief mit weiten Schritten auf ein Parkhaus zu, das nicht weit entfernt war. Es sah in der Abenddämmerung ziemlich ruhig und verlassen aus. Hoffentlich gelang es ihm, die Verfolger darin abzuschütteln.

Zügig eilte er an der Schranke vorbei, den Aufgang hinauf. Obwohl das Parkhaus fast vollständig mit Autos gefüllt war, zeigte sich keine Menschenseele. Das flackernde Licht der Neonröhren warf einen gelblichen Schein auf die Umgebung. Ein dumpfer Schlag ertönte von weiter hinten. War da jemand? Verzweifelt tastete Paul nach der Pistole, die er in einem Halfter an seiner Schulter trug. Langsam zog er sie heraus und schlich damit weiter in die Dunkelheit hinein. Wenn sie ihn bereits erwarteten, würde ihm die Waffe auch nicht helfen; dann konnte ihn gar nichts mehr retten.

Doch vielleicht war das Geräusch auch von einem einsamen Menschen gekommen, der sein Auto abholen wollte. Wie auch immer, er durfte jetzt nicht zögern. Das war die Chance, seinen Verfolgern zu entkommen. Es gab einen Ort den er erreichen konnte, wo er in Sicherheit war. So schnell es seine bereits stark geschundene Lunge zuließ, rannte er durch die dunklen Reihen der stillen Autos.

Plötzlich ertönte hinter ihm das Brummen eines Motors; um ihn wurde es hell. Auch vor ihm in der Dunkelheit erwachten zwei Autoscheinwerfer zum Leben und blendeten ihn. Doch nur kurz, denn dann verlosch das Licht so schnell, wie es gekommen war. Stattdessen ertönte eine Stimme, die Paul nur zu gut kannte, die ihn jagte, seit er in dieser Stadt war. „Du kannst uns nicht entkommen, das solltest du doch inzwischen wirklich verstanden haben.“ Sie klang weit weg und doch nah. Sie hallte von den Wänden wider und ließ es so wirken, als wäre der Ursprung überall zugleich.

Unschlüssig sah Paul sich um, konnte aber nur Dunkelheit und parkende Fahrzeuge sehen. Wo war er denn bloß? Wie aus dem Nichts krachte ein Schuss in der Dunkelheit, und Paul spürte an seinem Nacken einen frischen Luftzug. Instinktiv sprang er zur Seite und suchte zwischen den Parkflächen Deckung. Angespannt lugte er in die Schwärze. Dass ausgerechnet hier die Lampen nicht funktionierten, das war doch kein Zufall, oder? Man wollte ihn töten, sonst hätte man nicht auf ihn geschossen. Hatten sie erfahren, dass er nicht mehr hatte, was sie wollten?

Tief atmete er durch und dachte kurz an seine kleine Tochter daheim. Warum hatte Paul sich bloß darauf eingelassen? Es sollte eigentlich ganz einfach gehen und keine gefährliche Mission werden. Nur ein Kurierdienst. Doch wenn man für Ozero arbeitet, ist es wohl nie leicht. Das würde der letzte Auftrag dieser Art sein; als frischer Familienvater konnte er das nicht mehr verantworten.

Ein Geräusch rechts neben ihm ließ Paul aus seinen Gedanken aufschrecken. War da in den Schatten der Dunkelheit jemand? Eine Bewegung? So vorsichtig wie möglich, um kein Geräusch zu verursachen, erhob er sich und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Sein Ziel war der Aufzug, der keine 20 Meter entfernt war. Dieser würde ihn sicher zu einem Ausgang bringen.

Doch als ihn nur noch ein paar Meter von seiner Rettung trennten, trat ein alter Bekannter aus der Schwärze eines geparkten Autos. Ein hochgewachsener Mann im grauen Anzug und mit hellblauen, sehr auffälligen Augen. Er hatte eine Pistole direkt auf Pauls Kopf gerichtet. Langsam hob dieser die Hände; er war in eine Falle getappt, aus der es kein Entkommen mehr gab. „Du hättest auf meine Worte hören sollen, es gibt keine Fluchtmöglichkeit für dich. Wir suchen etwas, das uns gehört, und sind uns ziemlich sicher, dass du es bei dir hast.“

Starke Hände packten ihn von hinten und tasteten unsanft nach dem Gesuchten. Aber sie würden nichts mehr finden, es war längst auf dem Weg zu seinem Ziel. Das bemerkten auch seine Verfolger, was sie sichtlich aufbrachte. Fluchend ließen sie von ihm ab. „Wo ist es?“ herrschte man Paul an. Doch er sagte nichts und schüttelte nur den Kopf. Er würde das nicht überleben, das war ihm nur allzu bewusst. Deshalb waren seine Lippen versiegelt; Ozero verriet man nicht.

„Du wirst es uns sagen, Paul. Sonst wirst nicht nur du einen tragischen Unfall erleiden.“ Der Mann vor Paul zog ein kleines gefaltetes Foto aus seiner Tasche, dass er nur zu gut kannte. Es zeigte ihn, seine Frau und seine kleine Tochter. Sein Herz krampfte sich in der Brust zusammen. Wie konnten sie nur davon wissen? Er hatte doch alle Spuren um seine Identität verwischt. Oder doch nicht?

Der Mann verfolgte seine Reaktion genau; er hatte Paul erfolgreich in eine Ecke gedrängt, aus der er nicht mehr herauskam. „Sag uns, was wir wissen müssen, Paul, dann halten wir deine Familie da raus. Für sie ist es noch nicht zu spät.“ Verzweifelt rang Paul mit sich und seinen aufbrausenden Gefühlen.

„Wieso sollte ich dir glauben? Warum solltest du sie nicht einfach töten, auch wenn ich es dir sage?“ Und wenn Ozero von seinem Verrat erfuhr, würde es seiner Familie auch nicht anders ergehen. Doch das sprach er nicht laut aus, sondern behielt es für sich. Sein Gegenüber sah ihn schweigend an.

„Ich gebe dir mein Wort, dass sie nicht für deine Fehler zur Rechenschaft gezogen werden. Mehr kann ich dir leider nicht bieten. Aber ich töte nicht unnötig.“ Für einige Sekunden blieb dieser Satz im Raum stehen. Hin- und hergerissen zwischen seinen Gedanken, ausgesetzt einer Wahl, die eigentlich keine war.

„Also, wo ist es?“ Zuerst sträubte sich alles in ihm; für diese Informationen waren Leute gestorben. Und es würden noch mehr sterben, wenn er nichts sagte. Es lag nicht mehr in seiner Hand, dachte Paul traurig. Er sah die Pistole des Mannes vor sich und wusste, dass sie sein Ende sein würde, sobald er erzählt hatte, was sie wissen wollten. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, seine Familie zu beschützen – seine Tochter, die keinen Vater mehr haben würde.

Nicht wie erhofft

Alexander krachte seinen Spind zu. Er kochte vor Wut, das war wieder einmal ein Tag zum in die Tonne treten. Sauer kickte er die Trinkflasche durch die Umkleide. Mit einem Scheppern flog sie gegen einen anderen Spind und rollte zu Boden. Der Inhalt begann sich in einer Pfütze zu sammeln. Der ganze Schultag hatte bereits schlecht begonnen und dann waren ihm im vielleicht wichtigsten Spiel der Saison die Nerven durchgegangen, sodass er rot gesehen hatte. Nun hieß es frühzeitig Duschen für ihn. Dabei hatte sich Alexander so viel für das heutige Spiel vorgenommen. Sein Trainer Torben war stinksauer gewesen und hatte ihn das auch spüren lassen. Diesen Gefühlsausbruch konnte man ihm nicht verdenken. Dass sein Team jetzt in Unterzahl spielen musste, war unnötig gewesen. Und wenn er so genau darüber nachdachte, hatte der Schiedsrichter keine andere Wahl gehabt, als ihn vom Platz zu schicken. Er hatte sich einfach nicht unter Kontrolle gehabt. So ehrlich musste er mit sich sein. Wütend war Alexander trotzdem, als er in die Dusche stieg und das warme Wasser über seinen Rücken laufen ließ. Nachdem er den Schweiß abgeduscht hatte, beeilte er sich mit dem Abtrocknen und Anziehen. Sein Blick wanderte seinen Körper hinab. Er war stark und durchtrainiert. Die vielen Spiele und das teilweise tägliche Training mit der Mannschaft, hatten ihn geformt. Kurz huschte der Blick zum Spiegel gegenüber. Alexander blickte in sein enttäuschtes Gesicht und die müden, braunen Augen. Letzte Nacht hatte es nur wenig Schlaf gegeben. Die dunklen Augenringe verliehen ihm seinem sonst hübschen Gesicht, einen düsteren Ausdruck. Seine kurzen, blonden Haare hingen ihm in die Stirn. Die schmalen Wangenknochen stachen hervor. In den vergangenen Wochen war er ein wenig Magerer geworden.

Nichts lief derzeit wie es sollte. So langsam reichte es ihm. Alexander konnte das alles nicht mehr sehen. Die vorwurfsvollen Blicke und das ständige Genörgel von den anderen. Ärger und Enttäuschung über sich selbst wurmten ihn, er hatte sein Team im Stich gelassen. Und was ihn noch mehr schmerzte, er hatte seinen Trainer enttäuscht. Heute war so ein wichtiges Spiel gewesen. Immerhin ging es um den ersten Platz in der Liga und er hatte es verbockt. Sauer auf sich selbst, seine Situation und die ganze Welt durchquerte er die Umkleide Richtung Ausgang.

Jedoch schwang die Tür auf, bevor er sie erreichen konnte, und Torben, sein Trainer, stand in der Tür. Er blieb stehen und sah zuerst verdutzt und dann sauer aus. „Darf man fragen, was das gerade eben sollte?“, fragte Torben ihn. Er sprach mit ganz ruhiger Stimme, jedoch funkelten seine Augen. „Ich habe nicht aufgepasst und dann habe ich einfach zu getreten.“, antwortete Alexander zerknirscht. Er wusste selbst, dass dies keine gute Antwort war, die Torben zufriedenstellen würde. „Und jetzt?“, fragte sein Trainer, „lässt du das Team draußen ganz allein kämpfen?“ Was ist eigentlich los mit dir, Alexander? Ich wollte sowieso mit dir nach dem Spiel reden, aber es scheint, als müssten wir das jetzt tun. Ist dir das alles egal geworden? Wenn man versucht, dich in letzter Zeit zu erreichen, gehst du nie ran. Du wirkst im Training unkonzentriert, fahrig und nicht bei der Sache, wenn du überhaupt mal da bist. Ich weiß, dass deine Ausbildung dich fordert, aber ich habe ein wenig das Gefühl, du bist in letzter Zeit nicht mehr derselbe.“ Jetzt sah sein Trainer gar nicht mehr wütend aus, eher einfühlsam. „Alexander, was ist los mit dir? Mit mir kannst du doch reden. Das weißt du, oder?“

Der letzte Satz klang fast schon flehend. Alexander schwieg, denn er wusste es selbst nicht so recht. War ihm das alles egal? Nein, sicher nicht, und er fragte sich selbst, was ihn in letzter Zeit immer so wütend machte. Er hatte es derzeit nicht so einfach und war meistens beschäftigt oder unterwegs. Es blieb einfach nicht mehr so viel Zeit für den Fußball übrig, und er selbst ärgerte sich über jedes Training, das er verpasste. Ob die Arbeit, Berufsschule oder auch tägliche Dinge: Das alles brauchte Zeit. Die er nicht hatte. Bis jetzt hatte sein Trainer immer darüber hinweggesehen, weil er trotzdem herausragend spielte und sie sich jetzt schon Jahre kannten. Das würde sich wohl ändern, aber es gab wohl auch noch wichtigere Dinge im Leben als Fußball. Die Tage, wo er seine gesamte Freizeit auf dem Platz verbracht hatte, waren vermutlich vorbei.

Außerdem gelang es ihm aktuell nur schwer, seine Gedanken und die vielen Sorgen in den Hintergrund zu schieben. Doch statt mit seinem Trainer darüber zu reden, ihm all das zu erklären, sagte Alexander einfach nur: „Tut mir leid, Torben, aber ich habe aktuell echt keinen Kopf dafür. Gibt derzeit paar andere Probleme bei mir. Kannst gerne Elias auf meine Position setzen, wenn du willst.“ Und mit diesen Worten ließ er seinen Trainer stehen und drängte sich an ihm vorbei durch die Tür. Er hörte noch im Hinausgehen, wie dieser seinen Namen rief, doch da war er schon auf dem Weg Richtung Parkplatz. Es war falsch, wie er ihn hatte stehen lassen, und das wusste er selbst nur zu gut. Und trotzdem hatte er es gesagt. Und viel schlimmer: Alexander meinte auch, was er sagte. Womöglich war es an der Zeit, den Fußball hintenanzustellen und sich um wichtige Dinge zu kümmern. Trotzdem war er sich bewusst, dass sein Trainer sich nur Sorgen um ihn machte. Torben war ein toller Mensch, freundlich und besonders einfühlsam gegenüber seinen Spielern, mit dem sich Alexander immer gut verstanden hatte. Vielmehr war Torben der Einzige, der für ihn dagewesen war, als es sonst niemand war. Viele Jahre waren sie gemeinsam durch verschiedenste U-Mannschaften gegangen.

Das würde jetzt wohl einen Riss bekommen, denn egal wie nett Torben war, respektloses Verhalten tolerierte er nicht. Die Sache heute würde also ein Nachspiel haben, das war sicher. Zum wiederholten Male am heutigen Tag war Alexander enttäuscht über sich selbst und sein eigenes Verhalten. Zumindest seine Lage kurz erklären hätte er ja können und ihn nicht so beiseiteschieben. Leise seufzte er auf und blieb auf dem Schotterplatz vor den Umkleiden stehen. Vorsichtig spähte er zurück in der leisen Hoffnung, dass Torben ihm folgen würde. Eine kleine Chance nur, es vielleicht doch zu erklären. Doch es kam niemand, vermutlich war Torben längst wieder auf der Trainerbank. Vom Platz her drangen leise Rufe bis zu ihm herüber, die Sicht wurde von einigen hohen Tannenbäumen versperrt. Alexander hätte jetzt dort sein sollen. Es half alles nicht.

So stieg er in sein Auto und ließ den Rucksack auf den Beifahrersitz fallen. Kurz hielt er inne und atmete tief durch: Wie war nur wieder alles so schiefgegangen. Diese Tage durften nicht zu Gewohnheit werden, und das wurden sie in letzter Zeit ziemlich häufig. Aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer. Ein gequältes Lachen entrang sich seiner Kehle. Alexander startete den Motor, legte den ersten Gang ein und fuhr vom Vereinsgelände. Sein Handy klingelte auf dem Beifahrersitz, er ignorierte es bereits ahnend, wer das wohl war, und stürzte sich in den Feierabendverkehr der Straßen in seiner Heimatstadt Dresden. Jetzt war keine Zeit mehr zum Reden, vermutlich würde Alexander nur alles schlimmer machen. Er gab Gas und rauschte mit sichtlich überhöhter Geschwindigkeit an den anderen Wagen vorbei. Sein Tacho zeigte 75 Stundenkilometer. Wenn ihn jetzt die Polizei stellen würde, wäre er vermutlich seinen Führerschein los. Doch das war ihm im Augenblick egal. Ein wenig fühlte es sich an, als müsste er die ganze Welt herausfordern.

Durch den stetigen Feierabendverkehr fuhr er nach nur fünfzehn Minuten, ohne von der Polizei angehalten worden zu sein, auf einen freien Parkplatz gegenüber dem Haus, in dem er wohnte. Die kleine Wohnung mit vier Zimmern lag im dritten Stock des Mehrfamilienhauses. Es war eine sehr ruhige Gegend. Er hatte sehr viel Glück gehabt, sie zu bekommen. Von seinem kümmerlichen Gehalt als Lehrling konnte er sie sich jedenfalls nicht leisten, und so hatten seine Eltern einen Teil der Kosten übernommen. Seine Freunde konnten jedenfalls nicht mit so etwas angeben.

Alexander überquerte die Straße und machte sich auf den Weg die Treppen hinauf. In seinem Stockwerk angekommen, vor der eigenen Wohnungstür, schloss er gerade auf, als Tür gegenüber geöffnet wurde. Eine kleine, pummelige Frau Ende 60 streckte den Kopf heraus. „Alex, schon zurück vom Fußball?“ sagte sie erfreut. Ihr Gesicht strahlte. Es war seine Nachbarin Frau Naumann. Sie duzte ihn schon seit dem ersten Moment, als er hier eingezogen war. An diesem Tag vor über einem Jahr hatte sie erfreut an ihrer Tür gestanden und zugesehen, wie er seine Kisten in die Wohnung gegenüber geschleppt hatte. Sie war eine herzensgute Frau, die am liebsten den ganzen Tag auf dem Balkon saß und die Leute beobachtete, die unten vorbeiliefen. Alles an ihr strahlte Lebensfreude aus. Ihre hellblauen Augen leuchteten immer, wenn er sie sah. Und dass, obwohl sie allein in ihrer kleinen Wohnung lebte. Ihr Mann, so wusste Alexander, war vor einigen Jahren bereits gestorben. Und ihre beiden Söhne waren längst erwachsen. Sie schienen nicht viel davon zu halten, ihrer Mutter mal einen Besuch abzustatten. Das hatte sie ihm mal bei einem ihrer Gespräche am Kaffeetisch erzählt. Er unterhielt sich eigentlich gerne mit ihr, doch heute war er dazu nicht in der Stimmung. Das frühe Ende im heutigen Spitzenspiel und das Gespräch mit seinem Trainer beschäftigten ihn noch immer. Trotzdem bemühte er sich, freundlich zu klingen. Sie konnte ja nicht für seine schlechte Laune. „Guten Tag Frau Naumann, ja, leider war ein wenig früher Schluss für mich, der Schiedsrichter und ich haben ein wenig andere Auffassungen von Fair Play.“ Um das Gespräch in eine andere Richtung und weg vom Fußball zu lenken, ergriff Alexander stattdessen selbst die Initiative. „Und bei Ihnen? Haben Sie am heutigen Tag schon was Spannendes beobachtet?“ Sie grinste und winkte ab. „Nein, nur das Übliche. Da fällt mir ein.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und eilte zurück in ihre Wohnung. Einen Augenblick später kam sie zurück und hatte ein kleines Päckchen in der Hand. „Nur der Postbote“, sagte sie und drückte ihm das Päckchen in die Hand. Alexander sah verdutzt darauf: Er hatte doch nichts bestellt, oder? Denn den Absender kannte er auch nicht, es kam von einer Firma aus Köln. Einmal quer durchs Land geschickt, dachte er zweifelnd. Es hatte die Größe eines Schreibblocks und war nicht dicker als ein kleines Buch. Aber ohne Zweifel, es war für ihn. Mit schwarzer Schrift prangte sein Name Alexander Fomin darauf. „Vielen Dank, dass Sie es entgegengenommen haben.“ Alexander würde sich später mit dem Inhalt befassen. Seine Nachbarin lächelte. „So bin ich eben, und jetzt lasse ich dich mal alleine. Du siehst aus, als könntest du ein wenig Ruhe vertragen.“

Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich. Er selbst schob seine eigene auf und betrat die kleine Wohnung. Hastig zog er die Schuhe und die Jacke aus, schmiss seinen Rucksack auf das Sofa und legte das Päckchen auf seinen Schreibtisch. Das würde warten können, bis er die Zeit und vor allem die Nerven dafür hatte. Dann konnte er ja mal schauen, um was es sich handelte. Jetzt hatte er erst einmal Hunger. Auf dem Weg zu seiner kleinen Küche begann sein Handy erneut zu klingeln. Langsam nervte es. Das waren bestimmt seine Teamkollegen oder Torben, der reden wollte. Doch Alexander interessiert das nicht und so legte er das Handy neben das Päckchen. Hier konnte es klingeln, soviel es wollte. Die ganze Sache mit dem Fußball musste er erst einmal in Ruhe überdenken. Vermutlich war es Zeit, sein Leben ein wenig neu zu ordnen. So wie in den letzten Tagen und Wochen konnte es nicht weitergehen. Es war nötig, zu priorisieren, was er wollte. Seine Ausbildung gut meistern und mit den Freunden Spaß haben oder auf dem Fußballplatz die Nerven verlieren. Doch zuerst musste Alexander jetzt etwas zu essen machen, sonst würde er vollkommen durchdrehen. Im Internet suchte er ein Rezept aus, das ziemlich lecker aussah, und begann, die Zutaten zu suchen.

Für die nächsten zwei Stunden war er damit beschäftigt, seine Mahlzeit vorzubereiten und anzurichten. Dabei vergaß er zumindest für kurze Zeit seinen schlechten Tag und die neuen Probleme, die er gebracht hatte. Zwischenzeitlich klingelte ab und zu das Handy, das er jedoch stur ignorierte. Er war jetzt einfach nicht in der Stimmung für irgendwelche klärenden Gespräche. Sein Essen war wichtiger. Das Kochen war unverhofft, seit er alleine wohnte, zu einer Leidenschaft geworden, die ihm eine Menge Freude bereitete. Das war aber auch bitter nötig, einfach mal was zu haben auf das man sich freuen konnte. Nachdem sein hungerleidender Magen endlich beruhigt war, setzte er sich an den Tisch und begann, die Konzeptzeichnung für ein Projekt zu erstellen, das er auf der Arbeit herstellen wollte. Diese Idee schwirrte schon lange in seinen Gedanken umher, nun wollte Alexander sie auf Papier bringen. Die Arbeit mit Holz hatte ihm schon immer begeistert und fasziniert. Das war der Hauptgrund, warum er im letzten Jahr eine Lehre zum Tischler begonnen hatte. Seine Arbeit erfüllte ihn. Immer wenn es praktisch wurde und sein Erfindungsgeist gefragt war, sah sich Alexander voll in seinem Element. Das Einzige, was er an der Ausbildung nicht mochte, war die Schule. Diese sorgte immer wieder für Frust. Er wollte doch nur aktiv werden und seine Hände arbeiten lassen. Die endlosen Stunden im Unterricht langweilten ihn dagegen nur. Alles andere war aber zu seiner vollen Zufriedenheit. Sein Meister Nick verstand es, Alexanders Begeisterung richtig zu fördern, sodass er einige ziemlich anspruchsvolle Arbeiten bereits selber planen und ausführen durfte.

Für mehrere Stunden verlor er sich in seinen Zeichnungen und Ideen. Als Alexander schließlich zufrieden mit seinem Konzept war, verstaute er die Zeichnungen sorgfältig in seiner Arbeitsmappe. Er würde es nächste Woche seinem Meister Nick zeigen und sich seine Meinung anhören. Diese Aussicht brachte ihm, vermutlich zum ersten Mal heute, ein Lächeln aufs Gesicht. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm nun, dass es höchste Zeit war, ins Bett zu gehen, wenn er morgen fit sein wollte. Schnell räumte Alexander den Tisch ab und machte sich bettfertig. An das Päckchen, das er sich eigentlich noch ansehen wollte, dachte er gar nicht mehr. Es lag nach wie vor auf dem Schreibtisch und wartete darauf, geöffnet zu werden. Ein wenig später schlief er bereits tief und fest. Das ständig klingelnde Handy hatte Alexander längst ausgeschaltet. Der morgige Tag konnte nur besser werden, dachte er noch kurz bevor er wegdämmerte.

Eine Nacht die alles verändert.

Alexander erwachte ruckartig aus seinem Tiefschlaf. Etwas hatte ihn geweckt. Er lauschte in die Dunkelheit, die ihn umgab, doch alles war still. Gerade als er sich wieder beruhigt in seine Kissen fallen ließ, hörte Alexander es wieder. Ein leises Rascheln, dann ein Kratzen und wieder Stille. Genervt warf er einen Blick auf den Wecker, der auf seinem Nachttisch stand: 2:57 Uhr. Er seufzte und überlegte, dieses Geräusch einfach zu ignorieren, sich umzudrehen und weiterzuschlafen. Doch das konnte er nicht. Still lag Alexander da und lauschte in die Dunkelheit.

Schließlich entschloss er sich doch, der Sache nachzugehen. Vielleicht hatte er ja eine Maus in der Wohnung oder was auch immer dafür verantwortlich war. So leise wie möglich stieg er aus dem Bett, schlüpfte aus seinen Schlafsachen und in die Sportklamotten. Vorsichtig schob er die Zimmertür auf und trat hinaus. Langsam und behutsam lief er durch seine Wohnung, um den Ursprung des Geräusches zu finden. Immer wieder blieb Alexander stehen, um die Richtung des Geräusches zu ermitteln. Es war unregelmäßig und manchmal lauter. Er machte den Flur seiner Wohnung als Ursprungsort aus und schlich dorthin, immer darum bemüht, keinen Laut zu verursachen. Ein wenig lächerlich kam es ihm schon vor, was er hier tat. Eigentlich wollte Alexander einfach nur zurück in sein Bett.

Das Geräusch wurde noch lauter und eindringlicher, als er auf Zehenspitzen den Flur betrat. Es kam von seiner Wohnungstür! Gerade als er davorstand, begann diese wieder zu ächzen und das Holz zu knacken. Was ging hier vor sich? Dann krachte die Tür. Splitter regneten herab und verteilten sich auf dem Boden. Die Scharniere quietschten protestierend, als sich jemand von außen dagegenstemmte. Ein weiteres Rucken ging durch die Tür und ließ sie in ihrem Rahmen erbeben. Unvermittelt gab sie nach, als das Schloss versagte. Sie schwang knarzend auf und ermöglichte einen Blick in das Treppenhaus. Alexander war zu geschockt, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Licht von Taschenlampen fiel von draußen in den Flur. Erschrocken taumelte er vom Eingang zurück, starrte perplex auf das, was er dort sah, und war unfähig zu reagieren. Hilflos stand er da, als sich mehrere schwarz gekleidete Schatten durch den Eingang schoben. Es waren mindestens vier, die sich Zutritt zu seiner Wohnung verschafften. Einbrecher! Das waren Einbrecher, schoss es Alexander in den Sinn. Hier brach gerade jemand bei ihm ein, mitten in der Nacht.

Seine Gedanken rasten. Gegen diese Leute würde er keine Chance haben. Hatten sie ihn schon entdeckt? Der Flur lag im Stockdunkel, bis jetzt hatte ihn kein Schein einer Lampe gestreift. Er versuchte, sich langsam rückwärts an der Wand zurück in sein Schlafzimmer zu schieben, in der Hoffnung, dass die Schwärze, die darin herrschte, ihn verbergen würde. Er musste irgendwie zu seinem Handy gelangen, das auf dem Schreibtisch lag, um die Polizei zu alarmieren. Hoffentlich hatte einer der Nachbarn oder Anwohner in der Nähe etwas von dem Lärm mitbekommen. Ewig würde man sich in dieser kleinen Wohnung nicht verstecken können. Doch dafür war es bereits zu spät, als der vorderste der Einbrecher ihn entdeckte. Einen Warnruf ausstoßend, sprang dieser nach vorne und ging, die Arme fest um seinen Oberkörper geschlungen, mit Alexander zu Boden. Ihm knickten die Beine weg, und er krachte unsanft mit dem Hinterkopf auf den Teppich, so dass ihm für einen Augenblick ganz schwarz vor Augen wurde. Diesen kurzen Moment der Schwäche nutzte sein Angreifer eiskalt aus. Ihm musste es gelungen sein, den Sturz besser abzufangen. Mit flinken Händen begann er nun, Alexanders Handgelenke auf den Rücken zu drehen und sie mit Kabelbindern zu fixieren. Leicht benommen versuchte Alexander, den Mann, der über ihm hockte, abzuschütteln. Mit Tritten versuchte Alexander, seinen Gegner empfindlich zu treffen. Jedoch musste er seine Gegenwehr einstellen, als ihm der Angreifer ein Knie in den Rücken rammte.

Ein schmerzhaftes Stöhnen entwich ihm, doch er blieb still liegen und wehrte sich nicht mehr. Weitere Personen liefen an ihm vorbei und begannen, in seiner Wohnung auszuschwärmen. Alle, das konnte Alexander erkennen, waren dunkel gekleidet und maskiert. Kurz darauf begannen die Eindringlinge, jedes Zimmer zu durchsuchen. Zwar konnte er in der Dunkelheit vom Flur aus nicht alle Räume einsehen, aber das, was er sah und vor allem, was er hörte, machte ihn wütend. Schubladen in der Küche wurden aufgerissen, Möbel quietschten. Es polterte leise, als Sachen aus seinem Schrank achtlos auf den Boden geworfen wurden. Glassplitter zerstreuten sich. Die Einbrecher zerlegten innerhalb von wenigen Minuten seine gesamte Wohnung und verwandelten sie in einen Scherbenhaufen. Verzweifelt bäumte sich Alexander unter dem Knie auf und versuchte, sich zu entwinden, doch leider vergebens. Sein Bewacher war aufmerksam und einfach zu stark. So musste er mit ansehen, wie sich sein Besitz auf dem Boden verteilte. Er konnte sich nicht wehren, er konnte nichts tun, um diese Leute aufzuhalten. Stumm lag er einfach nur auf dem Boden seiner Wohnung und musste zusehen, wie eine Gruppe von Leuten sein Zuhause in ein Chaos verwandelte. Langsam wurde es kalt, während die Minuten verstrichen und er sich kaum rühren konnte. Der Fremde drückte ihn immer noch zu Boden, jedoch nicht mehr ganz so schmerzhaft wie zuvor. In dieser ausweglosen Situation begannen die Fragen. Wer waren diese Leute? Was wollten sie von ihm? Wilde Gedanken und Theorien schossen ihm durch den Kopf, eine absurder als die nächste. Eines stand für ihn aber fest: Hierbei handelte es sich nicht um einen normalen Einbruch. Dafür suchten die Einbrecher zu konsequent etwas und ignorierten seine Wertsachen. Was gab es bei ihm denn schon zu holen? Viel Geld oder wertvolle Dinge besaß er nicht. Aber bei dem Lärm, der hier verursacht wurde, war es unmöglich, dass die anderen Leute im Haus nichts mitbekamen. Vermutlich war bereits die Polizei auf dem Weg. Dieser Gedanke hauchte ihm wieder Hoffnung ein: Es würde alles gutgehen. Womöglich könnte er ja auf seine missliche Lage aufmerksam machen. Doch der Versuch, um Hilfe zu schreien, wurde durch einen schwarzen Handschuh vereitelt, der sich über seinen Mund legte. Sein Gegner hatte wohl bereits damit gerechnet und drückte ihm nun den Mund zu.

Schließlich, es kam Alexander vor wie eine Ewigkeit, schien man gefunden zu haben, was gesucht wurde. Alle versammelten sich nach und nach im Flur seiner Wohnung, während der Mann über Alexander begann, Befehle zu erteilen. Es gelang ihm, ein paar Satzfetzen aufzuschnappen. Alle sprachen im leisen Flüsterton. Offenbar hatte man das Ziel der Begierde tatsächlich in seiner Wohnung gefunden. Mehr verstand Alexander allerdings nicht, da er im nächsten Moment auf die Beine gezogen wurde. Sein Körper zitterte und fühlte sich steif an, der Kopf pochte unter Schmerzen. Nun sah er seinem Angreifer ins Gesicht. Durch die Löcher der Maskierung konnte Alexander in eisblaue Augen blicken, die ihn anstarrten. Sie schienen regelrecht in der Dunkelheit zu leuchten. Dieses Bild war dann allerdings auch das letzte, was er sah. Im nächsten Moment wurde es vollständig finster, als ihm ein Stück Stoff über die Augen gezogen wurde. Das war für Alexander zu viel: Seine Angst, Wut und die Panik, die er bis jetzt unter eiserner Kontrolle gehabt hatte, brachen über ihn herein. Vorher hatte er seinen Widerstand eingestellt, da er einfach keine Chance gesehen hatte, etwas auszurichten gegen so viele Angreifer. Doch nun übernahmen die Gefühle die Kontrolle. Alexander trat und schlug blindlings um sich. Völlig wild geworden traf er mehrere der Umstehenden. Er stieß die gefesselten Hände jemandem ins Gesicht. Ein Getroffener stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als Alexanders Fäuste sich in seinen Bauch bohrten. Das befeuerte seinen Widerstand und seine Wut. Der plötzliche Kampfgeist schien die Gruppe sichtlich zu überraschen, was aber nur von kurzer Dauer war. Ein schmerzhafter Schlag traf ihn mit voller Wucht in die Magengrube und ließ ihn nach hinten taumeln. Da Alexander nichts sehen konnte, war es fast unmöglich auszuweichen. Doch er würde nicht aufgeben. Beim Versuch, sich mühsam aufzurichten, erschallte ein leises Klicken hinter ihm, und kaltes Metall berührte den Stoff an seiner rechten Schläfe. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, er zuckte zurück und wehrte sich nicht mehr. Was hätte er auch tun sollen, wenn man ihm eine Waffe an den Kopf hielt? Die Botschaft war ziemlich klar.

Starke Hände packten ihn von hinten und schoben ihn Richtung Tür und dann ins Treppenhaus. Halb getragen, halb geschleift, wurden er die drei Stockwerke hinunter zum Ausgang bewegt. Alexander hoffte verzweifelt, dass trotz der späten Stunde noch jemand wach war und bemerkte, was hier vor sich ging. Jemand musste doch die Polizei rufen. Doch ihm war auch klar, wie unwahrscheinlich es war, dass jemand eingreifen würde. Schließlich verließen sie das Haus durch den Haupteingang, und es gab keine Anzeichen dafür, dass jemand die Situation bemerkt hatte. Keine Rufe, keine Sirenen in der Ferne – nur absolute Stille.

Als sie die kalte Luft draußen spürten, begann Alexander sofort zu frieren in seiner dünnen Kleidung. Er wurde über den Gehweg zu einem Fahrzeug gezogen, das bereits mit laufendem Motor auf sie wartete. Die Türen knallten, und Alexander wurde vorwärts gestoßen, wobei er unsanft auf dem Boden landete. Es war ein Transporter oder Lieferwagen, dachte er. Hinter ihm fiel die Tür zu, und im nächsten Moment quietschten die Reifen, der Motor heulte auf, und der Wagen raste mit hoher Geschwindigkeit los. Alexander wurde nach hinten geschleudert und prallte schmerzhaft gegen ein Hindernis. Stechender Schmerz durchzog seinen Rücken. Mit den gefesselten Händen tastete er nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Als er Halt fand, klammerte er sich daran, während das Auto ihn weiter fortbrachte – in der Gewalt von wem auch immer, mit unbekanntem Ziel. Es kam ihm vor wie ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Der Wagen brauste immer weiter ihrem unbekannten Ziel entgegen. Manchmal schneller, dann verlangsamte sich das Tempo und Alexander dachte, dass sie gleich anhalten würden. Doch so weit kam es nie. Die Stille, abgesehen vom leisen Brummen des Motors, war bedrückend und verbesserte seinen Zustand nicht sonderlich. Die Dunkelheit und die unbequeme Position, in der er nun schon seit einiger Zeit hockte, machten es auch nicht besser. Mit den Minuten, die verstrichen, wurden seine Glieder steif vom Verharren; ab und zu versuchte er, das Gewicht zu verlagern. Dabei ging er vorsichtig vor, da um ihn herum im Heck des Transporters hölzerne Kisten mit äußerst tückischen Kanten lagen. Bereits mehrfach hatte er sich an diesen gestoßen, als das Auto in eine steile Kurve gegangen war. So wurden Minuten zu Stunden.

Immer wieder versuchte er, Herr über seine Empfindungen zu werden und sie wieder zu ordnen, doch es gelang ihm nicht. Entführung – Alexander konnte das Wort nicht greifen und die Bedeutung nicht ganz verstehen. Er war gefangen und wurde verschleppt. Erst mit der Zeit wurde die ganze Tragweite dieser Worte bewusst. Von der Aussichtslosigkeit seiner Lage überwältigt, blieb Alexander einfach liegen und rührte sich nicht. Tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit begannen sich breit zu machen. Mit der quälenden Stille um ihn herum und der Unfähigkeit, etwas gegen seinen Zustand zu unternehmen, kamen die schlimmen Gedanken. Sie wirbelten in seinem Kopf herum, so viele, und er bekam sie einfach nicht zu fassen. Gedankenfetzen, Ideen und Emotionen vermischten sich und brachten ihm höllisch pochende Kopfschmerzen.

Panik überkam ihn, er atmete zu schnell. Er musste sich beruhigen. Tief Luft holen, sagte Alexander zu sich. Angst half ihm nicht weiter, doch er bekam seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle. Sie waren zu schnell wieder weg. Sein Kopf drehte vollkommen durch. Was brachte es denn bitte, dass er sich jetzt beruhigte? Seine Lage war aussichtslos, es würde niemand kommen und ihm helfen, er war von einer Gruppe unbekannter bewaffneter Personen entführt worden, die ihn wohin auch immer verschleppten. Es gab keine Hoffnung: Er war diesen Leuten ausgeliefert. Niemand hatte sein Verschwinden bemerkt, und bis man es tat, waren diese Leute mit ihm längst über alle Berge. Alexander wusste in seinem tiefsten Inneren, dass nicht alles so aussichtslos war, aber seine Angst hatte ihn in der Gewalt. Das war ihm schon mehrmals passiert; es half nur, zu warten, bis es vorbei war und die Angst sich legte. Bis die dunklen Wolken in seinem Kopf sich verzogen und wieder Platz für ein wenig Sonne machten.

Was wollten diese Leute von ihm? Er rollte sich zusammen und wartete darauf, dass der Sturm seiner Gedanken sich legte. So lag er da, bis es vorbei war und er seine Gedanken wieder unterordnen und sortieren konnte. Als die Angst sich schließlich vollständig zurückzog, sah er die Welt wieder klarer. Alexander fluchte leise, es war ihm schon wieder passiert. Erneut war ihm die Kontrolle entglitten. Schon wieder hatte er der Verwirrung, der Panik und den Gefühlen gestattet, die Oberhand zu gewinnen. Meistens hatte Alexander sich im Griff, doch eben nicht immer. Dann kamen diese Angstattacken und die Hoffnungslosigkeit, und von einem Moment auf den anderen war er nur noch ein Bündel Elend. Es war wie ein Makel an ihm, für den sich Alexander hasste. Als sein Opa damals gestorben war, hatte er ständig unter diesen Attacken gelitten. Sie waren ganz plötzlich gekommen und wieder gegangen. Es gab keine Anzeichen, wann es passierte. Nur ein Auslöser: Stress. Plötzlich waren sie da, auch wenn es manchmal keinerlei Gründe dafür gab. Das hatte ihm in seinem Alltagsleben nicht gerade gutgetan. Als es einmal im Unterricht passiert war, hatten alle seine Mitschüler ihn den Rest des Tages nur angestarrt, als wäre er verrückt. War er das? Nein! Und trotzdem hatte Alexander begonnen, sich zurückzuziehen und viele Situationen zu vermeiden. Das alles in der Hoffnung, dass er mit seinen Problemen klarkommen würde.

Schluss jetzt! In die Vergangenheit konnte er später noch abdriften und herumstochern. Im Moment sollte er sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, die er bisher noch nicht in Betracht gezogen hatte. Dazu musste Alexander sich erst einmal einen Überblick verschaffen und systematisch zusammentragen, was er wusste. Wer waren diese Leute? Einbrecher wahrscheinlich, doch genau feststellen ließ sich das nicht. Hatte er irgendetwas getan, dass diese Leute sich die Mühe machten, bei ihm einzubrechen? Warum hatten sie seine Wohnung durchsucht? Was suchten sie ausgerechnet bei ihm? Verzweifelt dachte Alexander nach, ob in letzter Zeit irgendetwas auffällig oder seltsam gewesen war. Doch ihm fiel nichts ein, höchstens das Paket, das er bekommen hatte. War das möglich? Er hatte es bekommen und ein paar Stunden später stürmten bereits vermummte Männer seine Wohnung. Aber war das so wichtig, um einen Einbruch und eine Entführung zu rechtfertigen? Auch das wusste Alexander nicht, eigentlich wusste er gar nichts. Alles war innerhalb von ein paar Stunden anders geworden; sein ganzes Leben stand auf dem Kopf. Seine Probleme, die ihm so wichtig waren, die ihn bedrückt hatten, waren jetzt vollkommen irrelevant geworden. Der ganze Alltag, das war nun in weite Ferne gerückt: die Schule, die Ausbildung, ja, auch der Fußball. Nun zählte nur noch, dass er irgendwie aus dieser Sache hier heil herauskam. Würden sie ihn töten wollen? Ein flaues Gefühl machte sich in ihm breit. Nein, sicher nicht, dann hätten sie sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, ihn mitzuschleppen. Auf diese Weise versuchte er sich selbst zu beruhigen. Alexander musste positiv bleiben, um nicht wieder abzurutschen. Was war hier los? Diese Frage blieb trotz allem präsent. Eine geplante Entführung kam für Alexander jedenfalls infrage. Diese Leute waren professionell. Sie wussten, was sie taten. Dafür sprach der gut geplante Ablauf und die anscheinend gute Vorbereitung mit dem Fluchtwagen. Aber welchen Sinn das haben sollte, wollte ihm nicht einleuchten. Seine Eltern waren nicht besonders reich. Seine Mutter arbeitet in einer kleinen Bäckerei am Rande von Dresden. Und sein Vater hatte einen hohen Posten in einer Agentur, nichts allzu Besonderes. Das würde allerdings niemals diesen Aufwand rechtfertigen, das schloss er dann doch aus.

Auch war er niemals mit solchen Leuten in Kontakt gekommen, hatte nicht mit ihnen am Hut. Was wollten sie nur von einem ganz normalen Typen wie ihm? Und dann war da noch, dass diese Leute etwas gezielt gesucht und, wie Alexander verstanden hatte, auch bei ihm gefunden hatten. Das Paket war zwar eine Möglichkeit, doch um ehrlich zu sein, glaubte er das nicht wirklich. Warum sollte man ihm etwas schicken, das diese Leute wollten? Es machte keinen Sinn; alles war so unglaublich, fast wie in einem Film. Als er auch hier nicht weiterkam, stöhnte Alexander frustriert auf. Wie es schien, musste er warten, um die Teile zusammenzusetzen. In diesen Gedanken versunken, fielen ihm schließlich die Augen zu. Er hatte einfach zu wenig Schlaf in der Nacht gefunden, und das machte sich jetzt bemerkbar. Die ganze Aufregung und der Stress der vergangenen Stunden forderten ihren Tribut. Wie spät war es eigentlich inzwischen? Herzhaft gähnt Alexander. War es schon Morgen? Ob man ihn zuhause bereits vermisste? Was würden seine Eltern und Freunde denken, wenn sie davon erfuhren? Sie würden sicher eine Menge Sorgen machen bei dem Anblick seiner verwüsteten Wohnung. Er machte sich auch Sorgen.

Sie fuhren immer noch, gefühlt schon seit Stunden. Vermutlich war ein wenig Schlaf das Beste was er bekommen konnte. Ein wenig neue Kraft tanken und sich bereits vorbereiten auf das, was ihn womöglich erwarten würde. Nicht viel später sank Alexander bereits in einen äußerst unruhigen Schlaf, immer wieder gestört von Kisten, die gegen ihn rutschten. Sein letzter Gedanke war, dass die Welt morgen vielleicht bereits ganz anders aussah.

Das Quietschen von Bremsen weckte Alexander aus dem Dämmerzustand. Nach stundenlanger Fahrt schien es, als sei man am Ziel angekommen oder zumindest bereit, einen kurzen Halt einzulegen. Um sich tastend setzte Alexander sich an der Wand abstützend auf und massierte seine steifen Glieder. Alles tat ihm so weh oder fühlte sich taub an. Der Schlaf musste ihn wohl ziemlich lange ins Traumland geschickt haben; seine Hände konnte er kaum noch spüren. Besonders ausgeruht fühlte er sich leider auch nicht, eher schmerzte sein ganzer Körper. Wie lange waren sie wohl gefahren? Es mussten Stunden gewesen sein, vielleicht auch ein ganzer Tag. Wo sie nun wohl waren? War es möglich, dass sie sich bereits in einem anderen Land befanden? Wenn man von seiner Heimatstadt Dresden nach Osten fuhr, dann konnten sie sich bereits irgendwo in Osteuropa befinden.

Alexander stöhnte und versuchte, sich so gut es ging zu strecken, doch leider nur mit mäßigem Erfolg. Der Schlaf war auch nicht gerade erholend gewesen; er war leicht und traumlos gewesen, aus dem er immer wieder aufgeschreckt war. Wenigstens keine Albträume, das war besser als nichts, versuchte er sich selbst aufzumuntern. Obwohl man auch sagen könnte, dass er seit einem Tag einen anhaltenden Alptraum hatte. Stimmen draußen vor dem Wagen rissen ihn aus seinen Gedanken. Er blieb still und lauschte in der Hoffnung, etwas verstehen zu können. Dieser Versuch war allerdings vergebens, da es ihm nur gelang, ein paar Wortfetzen aufzuschnappen, ohne einen Zusammenhang zu verstehen. Aber wenn er sich nicht täuschte, dann klang das nicht nach Deutsch, was sie dort sprachen. Es klang für Alexander eher nach Russisch oder etwas in der Art. Jedoch war er sich da nicht ganz sicher, da er ziemlich Mühe hatte, sich auf die schwachen Stimmen zu konzentrieren. Da nützte es auch nicht, dass er zumindest grundlegend der russischen Sprache mächtig war. Sein Opa war Russe gewesen und hatte Alexander, als dieser noch jünger war, eine Menge über die Sprache beigebracht Gemeinsam hatten sie es auch Gesprochen und geschrieben.

Sein Opa. Nostalgisch dachte er an ihre schöne Zeit. Zusammen hatten sie die tollsten Dinge unternommen. Auch war Opa seinem Vater immer in den Ohren gelegen, Alexander zweisprachig zu erziehen. So wie er selbst damals. Aber dieser wollte davon nichts hören. Sein Vater war der Meinung, dass eine Fremdsprache für Alexander reichen werde. Und das war Schulenglisch. Mit Russisch, so sagte er immer, wolle er nichts am Hut haben. Diese Entscheidung seines Vaters hatte ihn allerdings nicht davon abgehalten, später Russisch als Zusatzsprache im Gymnasium zu belegen. Vielleicht rührte Vaters Abneigung davon her, hatte Alexander schon öfter überlegt, dass sein Vater einfach nicht mehr in der Lage war, gutes Russisch zu sprechen. Zwar war er damit aufgewachsen, hatte aber seit er seine Mutter geheiratet hatte, kaum noch die Gelegenheit, es zu sprechen. Zumindest hatte Alexander es noch nie mitbekommen, dass er es sprach. Womöglich hing es auch mit seiner schwierigen Kindheit und Jugend zusammen. Er wusste nicht viel darüber, nur dass Opa und sein Vater einen tiefsitzenden Zwist hatten, der auf diese Zeit zurückgehen musste.

Diese Meinungsverschiedenheiten über Sprachen und Herkunft hatten daher immer zu Konflikten in seiner Familie geführt. Vater wollte seine eigene Vergangenheit vergessen. Sein Opa hingegen pochte auf ihre Herkunft aus dem großen Land im Osten. Und dazwischen stand immer wieder er. Alexander hatte es geliebt, bei seinem Opa sein zu können. Er war für ihn die Vaterfigur, die er nicht wirklich gehabt hatte. Die Beziehung zu seinem Vater war von Ärger und Streit überschattet. Nie war er mit ihm zufrieden und ließ das Alexander auch spüren. So hatte sich über die Jahre eine Kluft zwischen ihnen aufgetan, die sie beide nicht überwinden konnten oder wollten. Dazu hatten auch die unzähligen Geschäftsreisen beigetragen. Fast immer war sein Vater irgendwo in der Welt unterwegs, um Kunden zu treffen und Aufträge abzuschließen. Für seinen einzigen Sohn blieb da wenig Zeit, die sie meistens mit Streiten verbrachten. Mit Großvater war das ganz anders gewesen, er hatte ihn stets bestärkt, seinen Träumen zu folgen und zu machen, was er liebte.

Umso härter war es für Alexander, als die Nachricht seines Todes ihn getroffen hatte. Damals vor vier Jahren, da war er noch 15 gewesen, war sein Opa in einem Autounfall tödlich verunglückt. Er war stets seine Stütze gewesen und von einem Tag auf den anderen war er einfach weg. Dieses Ereignis war für ihn wie eine Zeitenwende gewesen. Soweit es möglich war, hatte er sich von seinen Eltern abgewendet und seinen Kummer und die Trauer im Fußball vergraben, sein einziger Halt in dieser Zeit. Immer wenn er an diese Zeit dachte, verspürte er einen kleinen Stich. Doch weiter kam er in seinen Erinnerungen nicht. Alexander fuhr hoch zurück in die Wirklichkeit, als sich draußen an der Tür jemand zu schaffen machte. Im nächsten Moment ging die Wagentür auf und ließ helles Sonnenlicht in das Innere des Autos. Für Alexander, der die letzten Stunden in vollkommener Dunkelheit verbracht hatte, war das trotz der Augenbinde zu hell. Lichtstrahlen stachen durch den dünnen Stoff. Die Augen fest zusammengekniffen wartete er einige Sekunden, bevor er es wagte, sie wieder zu öffnen.

Wieder erklangen hektische Stimmen von draußen und dann wurde Alexander aus dem Fahrzeug gezogen. Seine Beine waren schwach und zitterten vom langen Verharren in derselben Position. Er war froh, dass ihn jemand an den Armen gepackt hielt. Vermutlich wäre er nicht lange in der Lage gewesen, auf eigenen Füßen zu stehen. Tief atmete Alexander ein, frische Luft strömte in seine Lungen. Endlich raus aus dem abgestandenen Muff des Wagens – ganz nah hörte er Vögel zwitschern. Wo waren sie hier? Für einen Moment sog er die Gerüche um sich ein, es roch nach frischem Regen und Wald. Plötzlich trat jemand von hinten an ihn heran und zog ihm die Augenbinde vom Kopf. Helligkeit traf Alexander ein zweites Mal mit voller Wucht. Erneut musste er abwarten, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Nach ein paar Augenblicken wagte er es, sie wieder zu öffnen, als die Sonne nicht mehr ganz so gleißend war. Jetzt konnte Alexander sich verstohlen umschauen. Er war umringt von einer Gruppe von Personen, alle in ordentlichen, waldgrünen Uniformen. Seine Schuhe standen auf einer kleinen Straße, die mal wieder etwas Pflege und Teer gebraucht hätte. Links und rechts davon erstreckte sich Nadelwald, soweit er schauen konnte. Es war ein nasser, aber noch warmer Herbsttag. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel. Keine einzige Wolke zeigte sich, eigentlich das perfekte Wetter für einen Spaziergang an der frischen Luft. Wenn nur nicht eine Gruppe von Leuten auf die Idee gekommen wäre, ihm den Tag zu vermiesen. Das Einzige, was hier nicht so recht reinpasste, waren die zwei Autos, die vor einer Schranke mit einem kleinen Häuschen standen. Dieses lag mitten im Nirgendwo und versperrte die Weiterfahrt. Zu beiden Seiten davon erstreckte sich ein meterhoher Zaun mit Stacheldraht, der in den Wald führte und bald aus seinem Blickfeld verschwand. Seltsam, was war das hier nur?

Der vordere Wagen, ein Mercedes mit getönten Scheiben, hatte das Fenster heruntergelassen. Der Beifahrer führte ein angeregtes Gespräch mit einem der Wachposten an der Schranke. Insgesamt waren es vier Wachen, die den kleinen Konvoi nicht passieren lassen wollten. Alle trugen Tarnuniformen und hatten Gewehre über der Schulter hängen. Soldaten, oder zumindest hielt Alexander sie dafür. Er suchte nach Hoheitszeichen an ihren Uniformen, um herauszufinden, zu wem sie gehörten und hoffte, ein Indiz dafür zu finden, wo er sich befand. Doch es war nichts zu sehen, keine Flagge oder ein Symbol, das auf die Zugehörigkeit hinwies. Waren sie vielleicht an einem Militärstützpunkt angekommen? Die Indizien sprachen dafür. Doch das lauter werdende Gespräch vorne an der Schranke zog Alexanders Aufmerksamkeit auf sich.

Der Beifahrer aus dem Mercedes war inzwischen ausgestiegen und diskutierte hitzig mit dem Wachposten, der lässig auf der Schranke lehnte. Diese Art und sein Verhalten trieben den Beifahrer offensichtlich zur Weißglut, denn das Gespräch eskalierte, bis beide sich anschrien. Alles deutete darauf hin, dass man den Konvoi nicht passieren lassen wollte. Dem Beifahrer passte das offensichtlich gar nicht. Unsicher stand Alexander da, umgeben von seinen Bewachern. Was hätte er jetzt dafür gegeben, loszurennen und im Wald zu verschwinden. Er würde schon allein nach Hause finden. Aber natürlich konnte Alexander das nicht. Man würde ihn aufhalten oder vielleicht sogar auf ihn schießen. Gerade als er ernsthaft darüber nachdachte, es einfach zu wagen, winkte der Beifahrer in seine Richtung. Die beiden Bewacher hinter ihm schoben Alexander unsanft nach vorne Richtung Schranke. Die Blicke aller Anwesenden ruhten nun auf ihm. Eingeschüchtert schaute er auf den Boden vor seinen Füßen. Jemand hinter ihm raunte leise in sein Ohr: „Sie wollen dich sehen. Mach keine Schwierigkeiten, klar?“ Der Mann sprach mit leichtem Akzent. Doch Alexander hatte gar nicht vor, Schwierigkeiten zu machen – seine Chance war vertan, wenn man es so nennen wollte. Also ließ er sich nach vorne führen, bis er vor den beiden Männern und dem Mercedes stand. Der Wachposten musterte ihn einige Sekunden lang eindringlich. Er war ein sportlicher junger Mann mit harten Gesichtszügen, sein braunes Haar lugte unter dem Barett hervor. „Und das ist er?“ fragte er skeptisch in Richtung des Beifahrers, den Alexander als einen seiner Entführer aus der Wohnung identifizierte. Die hellblauen Augen verrieten ihn. „Der hat uns so viel Ärger gemacht? Dafür sieht er ganz schön jung aus.“ Zweifelnd sah er Alexander wieder an. „Er ist es. Wir haben, was wir wollten. Dürfen wir nun endlich passieren? Der Direktor wartet sicher schon.“ Der Beifahrer sagte das ohne jede Emotion in der Stimme, doch man konnte ihm ansehen, dass er angespannt war. Seine Augen funkelten vor unterdrückter Wut. „Ich werde Bescheid geben, dass ihr da seid.“ Mit diesen Worten drehte sich der Wachposten um und ging zurück zum Wachhäuschen. Wenige Minuten später kam er mit einem breiten Grinsen zurück. „Er erwartet euch tatsächlich schon, ihr könnt passieren. Richte dem Direktor schöne Grüße von mir aus.“ Er signalisierte seinen Kollegen, die Schranke zu öffnen. Sein Gegenüber schien vor unterdrückter Wut gleich platzen zu wollen, doch er hielt sich zurück. „Bring ihn in den vordersten Wagen. Ich will ein Auge auf ihn haben“, wies der Beifahrer Alexanders Bewacher an. So quetschten sie sich zu dritt auf die Rücksitze des Mercedes. Draußen wurden noch kurz Worte auf Russisch gewechselt, dann stieg der Beifahrer ebenfalls ein. Bei ihm musste es sich um den Anführer der Gruppe handeln, da war sich Alexander inzwischen sicher. Als die Schranke oben war, fuhren beide Fahrzeuge weiter und folgten der kleinen Straße, die sich für die nächsten 15 Minuten tiefer in den Wald schlängelte. Während der Fahrt herrschte Schweigen im Wagen, jeder wirkte beunruhigt. Alexander schaute verstohlen in den Spiegel zu dem Mann auf dem Beifahrersitz. Seine einfache khakifarbene Uniform wurde nur von einem Holster an der Hüfte ergänzt, aus dem eine Pistole ragte. Seine schwarzen, nach hinten gegelten Haaren passten gut zu seiner Erscheinung und seinem selbstbewussten Auftreten. Der Mann musste Alexanders Blick bemerkt haben, denn er drehte sich zu ihm um und sah ihn mit seinen eiskalten blauen Augen an. Alexander fühlte sich sofort unwohl unter diesem Blick, dem es keine Möglichkeit gab zu entkommen. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, drehte sich der Mann wieder um, offenbar zufrieden mit seiner ausführlichen Musterung. Mit Blick nach vorne murmelte er halblaut mit russischem Akzent: „Ein Junge hat uns so viel Zeit gekostet. Die vom Inland haben uns echt ziemlich Ärger eingebracht.“

Alexander schwieg. Diese Worte waren eindeutig an ihn gerichtet. Welchen Ärger hatte er denn bitte gemacht? Erst der Wachposten an der Schranke und jetzt das. Wo war er hier hineingeraten? Er versuchte, die Eindrücke der letzten Minuten zu ordnen, doch es brachte ihm keine Antworten. Russen also, aber warum ausgerechnet er? Vielleicht die russische Mafia? Mit jeder Information, die er aufschnappen konnte, wurden die Fragen nur mehr. Ein gewisser Direktor wartet auf ihn. Vielleicht ein Geheimdienst? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Alexander fühlte sich wie Teil eines Films, den er nicht verstand. Immer noch passte rein gar nichts zusammen, und er war dem Grund seiner Entführung keinen Schritt näher. Auch die Frage, von wem er hier mitten im Wald erwartet wurde, blieb ungeklärt. Wozu überhaupt eine Schranke mitten im Nichts bauen und sie von bewaffneten Männern bewachen lassen? Immerhin erhielt Alexander nach ein paar weiteren Minuten Fahrt endlich einige Antworten, als sie ihr Ziel erreichten.

Als der Wagen den Wald verließ, führte die Straße auf eine gewaltige Lichtung. Diese war bestimmt einen Kilometer lang und breit und auf der rechten Seite mit kleinen flachen Häusern bebaut. Sie waren U-förmig angeordnet und sahen alle exakt gleich aus. Eckig und mit grauem Putz bestrichen wirkten sie wie ein Rohbau, der nie fertiggestellt worden war. Zu seiner Linken erhoben sich mehrere halbrunde Hallen mit großen Schiebetoren, die mindestens zehn Meter hoch waren. In der Mitte führten zwei lange, geteerte Straßen über die Lichtung und endeten schließlich im Nichts. Einige Sekunden brauchte Alexander, um zu begreifen, was er hier sah. Das war ein kleiner Flugplatz, und die Straßen waren die Startbahnen. Diese Erkenntnis bestätigte sich, als er das Flugzeug sah, das auf der Bahn stand. Es war klein, etwa zwanzig Meter lang, schätzte Alexander. In makellosem Weiß leuchtete es in der strahlenden Sonne. Überrascht schaute Alexander aus dem Fenster, ob er noch andere Flugzeuge entdecken konnte, und tatsächlich fand er ein weiteres. Einige Meter weiter vorne, auf der zweiten Startbahn, stand ein SU-57-Kampfjet. Das erkannte er sofort, da er den Typ bereits auf einer Flugshow im letzten Sommer gesehen hatte, als er mit Freunden nach Berlin gefahren war.

Damit fiel die Möglichkeit, dass es sich hier nur um einen Privatflugplatz handelte, weg. Dafür war dieser Ort auch zu gut versteckt, hier mitten im Wald, der das gesamte Gelände einrahmte. Die Wachen, der Flugplatz und jetzt auch noch Militärgerät. Ob die Mafia solche Mittel hatte, war fraglich. Vermutlich gehörten diese Leute einer Regierung an. Die Russen also. Entgegen seiner Erwartung fuhren sie nicht zu den Gebäuden am Rand des Flughafens, sondern steuerten mit dem Mercedes direkt auf das Flugzeug zu. Der hinter ihnen fahrende Transporter scherte allerdings aus und verschwand in der vordersten Halle, vermutlich einem Hangar. Als sie näherkamen, sah Alexander, wie die Treppe des Flugzeugs gesenkt wurde. Er würde wohl an Bord gehen. Oder war gerade jemand eingetroffen? War all dieser Aufwand wegen ihm? Wieder meldeten sich seine Gedanken und die Fragen. Was war das hier? Ein geheimer Militärflughafen vielleicht? Warum war er für diese Leute von Interesse? Immer dieselben Fragen und immer keine brauchbaren Antworten. Alexander horchte in sich hinein: War da wieder die Angst? Ja, aber vor allem spürte er Anspannung und Nervosität. Sie wollten doch etwas von ihm, sonst hätten sie ihn nicht hierhergebracht. Davon war er überzeugt. Doch auch etwas anderes regte sich in ihm. War das Neugier? Sicher war er sich nicht, aber er wollte schon gerne wissen, was das alles hier auf sich hatte. So zu denken war auch deutlich besser, als sich auszumalen, was sonst noch passieren konnte.

Im nächsten Moment hielt der Wagen vor dem Flugzeug, und Alexander wurde von seinen Wachen aus dem Auto gezerrt. Immer noch mit gefesselten Händen schoben sie ihn die schmale Treppe hinauf. Es war deutlich schwerer als gedacht, das Gleichgewicht zu halten. Plötzlich strauchelte er, und hätte der Mann vor ihm, ihn nicht am Kragen festgehalten wäre er wohl abgestürzt. Aber trotz allem erreichte er sicher das obere Ende der Treppe. Zu viert betraten sie das Innere des Flugzeugs: Alexander, der Beifahrer und seine beiden Bewacher. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Es herrschte eine gewisse Anspannung unter den Männern. Was erwartete sie hier? Oder wer?

Das Innere des Flugzeugs war luxuriös eingerichtet. Die Wandverkleidungen waren aus edlem Holz, und goldene Akzente glänzten im gedämpften Licht. Offensichtlich hatte jemand das nötige Kleingeld, um sich solch einen Luxus leisten zu können. Doch Alexander blieb keine Zeit, um die Umgebung näher zu betrachten, denn der Anführer der Gruppe eilte zielstrebig voraus. Sie gingen den schmalen Gang entlang und gelangten schließlich in den hinteren Teil des Flugzeugs. Dort befand sich ein kleiner Raum mit einem Sofa in der Ecke und Sesseln, die im Halbkreis angeordnet waren.

Endlich wurden Alexander die Handschellen abgenommen. Die Hände kribbelten schmerzhaft, als das Blut zurück in die Finger floss. Doch die Freiheit währte nur kurz. Sofort drückte man ihn in einen der Sessel und fesselte seine Hände und Füße daran. Ganze zehn Sekunden hatte er Bewegungsfreiheit gehabt, dachte er sarkastisch. Jetzt war er wieder fest verschnürt, ohne jede Möglichkeit zur Flucht. Nicht dass er dies vorgehabt hätte. Die Bewacher schienen nicht mehr gebraucht zu werden, denn sie wurden mit einer knappen Handbewegung hinausgeschickt und verschwanden durch die Tür.

Der Mann mit den blauen Augen, dessen Namen Alexander immer noch nicht kannte, stellte sich hinter seinen Sessel. Offensichtlich wartete er auf etwas oder jemanden. Mehrfach sah er sich nervös um, doch es kam niemand. Die Spannung in der Luft war fast greifbar, und Alexander spürte, wie sein Herz schneller schlug. Wer würde als Nächstes durch diese Tür treten?

Richtung Osten

Die Zeit verstrich und immer noch kam niemand. Alexander rutschte unruhig auf seinem Sitz umher, verzweifelt versuchend, eine bequeme Position zu finden. Die Fesseln machten dies jedoch unmöglich. Der Mann, der hinter ihm stand, bewegte sich nicht, als wäre er angewurzelt, oder vielleicht aus Angst. Die Stille war bedrückend, und langsam drängten sich die schlimmen Gedanken wieder in sein Bewusstsein. Alexander kämpfte verzweifelt gegen die aufkommende Angst an und schaffte es, seine Emotionen ein Stück weit zu verdrängen.

Während er sich bemühte, sich abzulenken, bekam er unerwartet Unterstützung: Das Flugzeug, das bisher ruhig gestanden hatte, begann nun leise zu heulen, als die Triebwerke starteten. Alexander hörte von vorne das Geräusch der sich schließenden Eingangstür. Sie starteten.

Die Angst kehrte zurück, diesmal stärker. Wohin ging der Flug? Der Mann hinter ihm schien eingesehen zu haben, dass es nichts brachte, einfach nur rumzustehen. Er setzte sich ohne ein Wort auf einen Platz ihm gegenüber. Der lange erwartete Gast ließ jedoch auf sich warten. Nach mehreren Minuten, in denen die Triebwerke aufwärmten, begann das Flugzeug langsam auf die Startbahn zu rollen. Es beschleunigte, und nach einigen Sekunden hob es schließlich ab. Alexander schaute aus dem Fenster auf die immer kleiner werdenden Bäume, die sich bald zu einer grünen Masse vermischten. Der Anblick war wunderschön und zog ihn für einen Moment in seinen Bann. Obwohl er schon geflogen war, lag das letzte Mal Jahre zurück – damals, als er noch mit seinen Eltern in den Urlaub geflogen war. Doch irgendwann hatte er sich geweigert, mitzureisen, und blieb lieber zuhause. Während seine Eltern in fernen Ländern am Strand lagen, zog er es vor, mit Freunden herumzuziehen oder auf dem Bolzplatz zu spielen. Die ewigen Streitigkeiten mit seinem Vater hatten auch ihren Teil dazu beigetragen, dass sie nicht miteinander auskamen. Trotz allem hatten sie es nicht verdient, sich Sorgen über den Verbleib ihres Sohnes zu machen. Was machten sie wohl gerade? Waren sie schon bei der Polizei? Traurig wurde ihm bewusst, dass er nicht einmal wusste, wann er das letzte Mal mit ihnen gesprochen hatte. Es mussten schon mehrere Monate vergangen sein. Vielleicht würde es keine weitere Gelegenheit geben, sie zu sehen. Das Leben konnte so schnell enden.