Pacazo - Roy Kesey - E-Book

Pacazo E-Book

Roy Kesey

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Beschreibung

John Segovia, Amerikaner in Peru, ist ein liebenswerter Freund, ein überschwänglicher Liebhaber und ein leidenschaftlicher Historiker: Seine Faszination gilt der glanzvollen und grausamen Geschichte der Inkas und Konquistadoren, seine Besessenheit aber der Suche nach dem unbekannten Mörder seiner geliebten Frau Pilar, die eines Abends vom Nachtmarkt nicht mehr zurückgekehrt ist. Zerrissen zwischen dem Wunsch nach Rache, schmerzhaften Erinnerungen und der alltäglichen Betreuung seiner kleinen Tochter Mariángel, wandert John durch die pulsierende Stadt Piura. Die blutige Geschichte des Landes vermengt sich mit seiner chaotischen Gegenwart, während John, den sein trockener Humor und seine buntgemischter Freundeskreis aufrecht halten, mit Zorn und Zärtlichkeit einen Weg zurück ins Leben finden muss.

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Roy Kesey

Pacazo

Roy Kesey

PACAZO

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Motto wird zitiert nach: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 1983

Die Zitate von Carlo Ginzburg auf S. 322 ff stammen aus: Carlo Ginzburg, Holzaugen. Über Nähe und Distanz. Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 1999, S. 215, S. 222, S. 230

© 2014 Residenz Verlagim Niederösterreichischen Pressehaus Druck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

www.residenzverlag.at

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook: 978-3-7017-4476-3

ISBN Printausgabe: 978-3-7017-1634-0

Inhalt

I

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

II

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28.

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

III

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38.

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

DANKSAGUNGEN

Para mi pacaza, y mis dos pacacitos

Aber hinter diesem Indizien- und Wahrsageparadigmaerahnt man den vielleicht ältesten Gestus in der Geschichtedes menschlichen Intellekts: den des Jägers, der im Schlammhockend die Spuren der Beute untersucht.

Carlo Ginzburg

I

1.

Hier ist äußerste Vorsicht angesagt. Behalte das schattige Astgewirr über dir genau im Auge. Der Pacazo liegt auf der Lauer.

Reynaldo behauptet, der Pacazo sei nichts als ein ungewöhnlich großer Leguan. Für mich ist er ein aus der Zeit gefallener Dämon, Schuppen und Fleisch gewordener Zufall, ein Gott, den niemand mehr verehrt, nicht mächtig in seinem Zorn wie die Götter der Wari oder Moche oder der blutigen Chavín, sondern eine kleine, verbitterte Lokalgottheit, die dicke, weiße Plünderer hasst. Reynaldo sagt, andernorts leben die Pacazos auf dem Boden, nur hier auf dem Campus leben sie in den Bäumen, weil nachts die Füchse aus der Wüste kommen. Das kann nicht stimmen. Die Füchse sind so groß wie Hauskatzen. Der Pacazo ist über zwei Meter lang, und wehe dem Fuchs, der ihm zu nahekommt, den packt er und zermalmt seinen Schädel.

Weg von den Bäumen und in die Sonne, über den Rasen zu einer Bank im spärlichen Schatten. Die Bank biegt sich, als ich mich setze. Ich warte ab, atme tief aus und lasse mein Gewicht in die Latten sinken. Stelle die Aktentasche neben mich. Ziehe ein Taschentuch heraus, wringe mir den Schweiß aus dem Bart.

Das nächste Gebäude, ein grelles Weiß. Ich mache die Augen zu. Es riecht nach verrottendem Laub, nach Hitze und feuchtem Gras. Ich war schon einmal so müde, weiß aber nicht mehr wann, und ein Schiff treibt die Küste hinunter nach Süden auf eine Flussmündung zu. Ein Schrei ertönt. Die Männer drängen sich backbord an die Reling. Am Ufer sitzt ein Tallán beim Netzeflicken. Der erste Mensch seit zwei Tagen, vielleicht nützlich. Die Männer ankern, lassen das Beiboot zu Wasser und holen ihn.

Der Tallán sieht die Männer kommen, steht da und starrt sie an. Das Sonnenlicht funkelt auf ihrer Metallhaut. Dann ein Geräusch, das Knirschen des Beiboots auf dem Sand. Der Tallán lässt sein Netz fallen und rennt.

Es dauert nicht lange, bis sie den Mann eingeholt haben. Sie zerren ihn zurück zum Strand, werfen ihn ins Boot, rudern zurück zum Schiff, bringen ihn an Deck. Sie streicheln seine schwarzen Haare. Der Kapitän kommt herbei, betrachtet ihn, kommt näher. Er hebt das Kinn des Mannes, zeigt auf die Küste und spricht.

Der Tallán sieht, wie sich die Lippen des Kapitäns bewegen, und versteht kein Wort. Als Schweigen eintritt, blickt er von einem bärtigen Gesicht zum nächsten. Wieder macht der Kapitän Handbewegungen, und der Tallán vermutet, dass ein Name verlangt wird, aber wofür? Der Kapitän greift in die Haare des Mannes. Der Tallán stößt den Namen des Flusses aus, Virú, keine Reaktion, er gerät in Panik, stottert, versucht es mit seinem eigenen Namen, Pelu. Jetzt lächelt der Kapitän. Er zieht sein Schwert, schneidet dem Tallán die Kehle durch, wirft die Leiche über Bord und macht aus den beiden Worten ein neues, und auf dieser Anekdote beruht der berühmteste Ausspruch hier: Ein Indio hat sich versprochen, ein Spanier hat sich verhört, und seitdem hat Peru verschissen.

Jemand sagt Hallo und ich mache die Augen auf. Es ist eine meiner ehemaligen Studentinnen, nett und klug, und ich weiß nicht mehr, wie sie heißt. Sie sieht die Bank an, als wolle sie sich neben mich setzen. Wenn ich zur Seite rutschen würde, wäre genug Platz für uns beide. Ich lächle lieber.

Sie lächelt zurück, nickt und geht endlich weiter. Immer noch eine halbe Stunde bis zu meinem nächsten Kurs und im nächsten Gebäude brandet Gemurmel auf und verebbt wieder. Offiziell ist das die Verwaltung, in Wirklichkeit aber beherbergt es eine Mischung aus Büro- und Unterrichtsräumen und im Erdgeschoss die Geschichtswissenschaften. Der Dekan ist nicht unfreundlich, hat aber keine Verwendung für mich, auch wenn ich mehr über die Conquista weiß als alle anderen auf dem Campus, und diese Anekdote über den Ursprung des Namens Peru – woher habe ich die bloß?

Wahrscheinlich Reynaldo. In anderen Versionen heißt der Eingeborene nicht Pelu, sondern Belu oder Beru und ist auch nicht Tallán, sondern Inka oder Chimú, und wird nicht umgebracht, sondern versklavt oder freigelassen. Alle Versionen sind schlüssig und gleichermaßen falsch: 1522, sechs Jahre, bevor spanische Schiffe so weit die Küste herunterfuhren, macht sich Pascual de Andagoya östlich von Panama-Stadt, dann in Kolumbien auf die Suche. Er raubt Gold und Perlen von den Stämmen, auf die er trifft, und jetzt weisen seine Chochama-Führer weiter nach Süden. Birú, sagen sie, und das ist der Name einer Provinz oder auch des dort herrschenden Curaca. Birú ist sehr reich, sagen sie, und mit jedem Vollmond kommen sie zu uns in den Norden und töten uns. Bald sind auch diese Provinz und ihr Gold und ihre Perlen erobert. Der Curaca wird zu de Andagoya gebracht und zeigt noch weiter nach Süden: ein Großreich, unvorstellbare Mengen an Gold, und das ist das Missverständnis, das hängen bleibt. Der Name verwandelt sich in Perú, er wird mit Gold in Verbindung gebracht, und Andagoya zieht dorthin oder versucht es zumindest. Er macht sich, mit dem Curaca als Führer oder Geisel oder Mitstreiter im Schlepptau, auf den langen Weg zur Küste, sucht mit einem breiten Kanu befahrbare Passagen. Irgendwo am Oberlauf des San Juan kentert das Kanu. Als beide im Wasser liegen, hilft der Curaca Andagoya auf den Schiffsrumpf, und ich erinnere mich an das Gefühl, im Urwald im Wasser zu liegen, wärmer als man denken würde. Andagoyas Kleider trocknen zu langsam in der feuchten Hitze und bald ist er krank, Bronchitis oder Lungenentzündung. Wird nach Panama zurückgebracht. Erzählt allen, die es hören wollen, seine Geschichten, Pizarro ist auch dabei, jetzt mehrere Studenten, die stehen bleiben und mich begrüßen, und ich nicke allen zu.

Wieder das Taschentuch. Ich wische mir Stirn und Gesicht ab. Reynaldo sagt, auf dem Campus gibt es mehrere Pacazos, aber ich habe bisher nur einen gesehen: Er hat eine lange, schmale Narbe auf der linken Seite, an der rechten Vorderklaue fehlt die zweite Kralle. In den vier Jahren, seit ich hier bin, habe ich ihn nur neun Mal zu Gesicht bekommen. Meistens war er grau, aber einmal war er braun, einmal grün und einmal schwarz.

Vermutlich hängt seine Färbung vom Licht ab, und einmal suchte er sich einen Zweig aus, der zu dünn für sein Gewicht war, und krachte vor mir zu Boden. Fett und grau und hässlich. Glotzte mich an und marschierte mit hoch erhobenem Kopf auf den nächsten Baumstamm zu, Kamm aufgestellt, die Augen gegen die Sonne zu Schlitzen verzogen. Er marschierte langsam, als sei er uralt und unsterblich.

Das war noch früh in meinem ersten Semester. Reynaldo sagte: Hässlich, von mir aus, aber harmlos. Acht Monate später regnete die Scheiße aus dem Baum, ein halber Liter ranziger Zuckerrübensirup auf meinen Kopf und meine Schultern, und vielleicht hassen die Pacazo-Götter ja nicht alle Ausländer, sondern dieser hat es auf mich persönlich abgesehen. Darmparasiten, sagte Reynaldo, sonst wäre der Stuhl geruchlos und weniger dünnflüssig. Das tröstete mich kaum. Es dauerte Wochen, bis ich den Gestank aus den Haaren gewaschen hatte. Alle meine Studierenden rückten in die hinterste Reihe, bis auf eine.

Ein ähnlicher Geruch: die Mischung aus Innereien und Urin und Schweiß, die aus dem offenen Abwasserkanal vor unserem Haus aufsteigt. Die meisten Abwasserkanäle sind vor fünfzehn Jahren bei den Unwettern während des letzten El Niño eingestürzt und noch nicht repariert worden. In jeder Küche in Piura riecht es nach Knoblauch und Schweiß. In den Bordellen nach Pilzen und Schweiß. Spätnachts in den Straßen nach Jasmin und Lorbeer, Frangipani und Schweiß. Es ist immer heiß hier, immer, und mit der Wettervorhersage befasste Physiker an der Universität behaupten, dass es dieses Jahr noch heißer wird: El Niño kommt wieder.

Zwischen ihren Schulterblättern duftete meine Frau nach Mango und Zypressen und Salbei.

Eine Viertelstunde bis Unterrichtsbeginn. Reynaldo, mein Freund und Kollege, arbeitet in der Botanischen Chemie, und ihm verdanke ich Baumnamen wie Große Sapote, Charán, Matacojudo. Mata wie matar, töten. Cojudo heißt Trottel, und nur ein Volltrottel würde im April, wenn in Piura Herbst ist, unter einem Matacojudo-Baum durchgehen. Die Matacojudo-Frucht sieht wie eine Art Riesenkartoffel aus, die man sich vielleicht als Kuriosität auf die Kommode legen könnte. Die Dinger werden bis zu zwanzig Pfund schwer, sie zerschmettern Knochen, wenn sie von hoch genug fallen. Bisher habe ich Glück gehabt.

Matacojudos haben keinen direkten Nutzen. Genauso wenig wie Pacazoscheiße, die aber kulturell trotzdem eine gewisse Rolle spielt. Wenn du nicht mit dem Geschrei aufhörst, dann macht dir der Pacazo auf den Kopf – den Erziehungsratgebern zufolge darf man so etwas zu seinem Baby sagen, solange man es nicht drohend, sondern liebevoll und zärtlich vorbringt. Nur der Tonfall zählt.

Reynaldo wohnt bei seiner Tante auf der anderen Flussseite in Castilla, einem Stadtteil, der seinen Namen von der einstmals reichsten Region Spaniens hat. Hier ist es der tristeste und staubigste Teil dieser tristen, staubigen Mittelstadt, und Reynaldos Tante ist herzlich, aber oft krank. In Liebesdingen hat Reynaldo nur Interesse an Ausländerinnen, ausgenommen Spanierinnen. Dieses Jahr waren Frauen aus Kanada und Holland und Mexiko in Piura, um Vorträge und Seminare zu halten, doch es hat mit keiner von ihnen geklappt. Sein ganzer Stolz ist ein Motorrad, das noch nie richtig gefahren ist, und an der Uni experimentiert er mit ungewöhnlichen Kombinationen, er ist kreativ, unterrichtet botanische und andere Chemie.

Ich unterrichte Englisch und mache keine Experimente. Meine Studenten lernen, wie man konjugiert, suchend oder global liest, richtig flucht und meine Vergesslichkeit verzeiht, Lebensläufe und Berichte und Liebesbriefe schreibt, um einen Gefallen bittet, ohne unangenehm aufzufallen, und das alles auf Englisch, als könnte sie das im Leben weiterbringen. Ich würde ihnen gern die Wahrheit sagen, aber sie sind so hinreißend jung und schön.

Noch zehn Minuten. Die anderen Professoren sehen mich immer noch mit besorgtem Gesichtsausdruck an, laden mich immer noch zu sich nach Hause ein. Ich gehe nicht mehr zu den Partys, aber als ich es getan habe, waren Frauen mit langen Beinen und kurzen Röcken und engen, bunten Blusen da, in den Zimmern roch es nach Rum, Parfüm und Schweiß, und alle tranken und tanzten, unter dem Heiligsten Herz Jesu – aufgeschnittene Brust, in Dornen verpacktes Herz, eine kleine rote Glühbirne unten am Rahmen – und Pilars Haar reichte fast bis zur Taille. Ihre Augen waren tief und schwarz. Wenn sie tanzte, wurde die Luft süß und glitschig wie Samt, und ich musste mich an die Wand lehnen, um nicht umzufallen.

Die Jahre haben Piura zerschlissen, verhöhnt und erniedrigt, vielleicht haben sie sich auch mit ihr verbündet. Chaotisch und gleichgültig schwebt die Stadt in der Hitze, ein Sammelsurium wirrer Verhältnisse. Mittags isst man oft Meeresfrüchte, abends kaum. Wenn es ausdauernd und stark regnet, brechen Feuer aus, und allen Häusern wird das Wasser abgedreht. Auf jeder Kommode stehen Porzellanfigürchen – Welpen und Hasen und Meisen –, sogar bei Leuten mit Geschmack.

Vor zwanzig Jahren kam ein Austauschschüler aus Abancay an meine Highschool im nördlichen Kalifornien. Er erzählte mir, dass in Peru sogar hässliche, dicke Männer hübsche, intelligente Frauen heiraten können, die gern schwimmen und tanzen und lieben, wenn diese Männer nur blaue Augen und ausländische Pässe haben und keine kompletten Cojudos sind. Wozu mich das macht, braucht mir keiner zu sagen, aber Pilar saß als Einzige in der ersten Reihe und nahm mir das Versprechen ab, Peru nie zu verlassen. Ihr ging es also nicht um den Pass, und sie war meine Rettung, oder wäre es gewesen. Reynaldo sagte, es sei unmoralisch und abstoßend, etwas mit einer Studentin anzufangen, wenn auch nicht ausgesprochen ungewöhnlich. Ich gab ihm recht. Er sagte, sie würde mir das Herz brechen. Ich hörte nicht auf ihn.

Vielleicht hätte ich auf ihn gehört, wenn er gesagt hätte: Sie wird dein Leben auf den Kopf stellen, sie wird spät auf den Markt gehen, um Mangos zu kaufen, sie wird sie schälen und in Stücke schneiden, sie wird dir erlauben, die Schnitze über ihren nackten Bauch und ihre Schenkel und zwischen ihre Schulterblätter gleiten zu lassen, der Saft wird einer ihrer vielen Düfte und Geschmäcker werden, und vier Wochen nach der Geburt eures Kindes wird sie in die Wüste verschleppt, vergewaltigt, gewürgt, für tot zurückgelassen werden, wird das Bewusstsein wiedererlangen, halb tot im Delirium in die falsche Richtung laufen und am nächsten Tag an Hitzschlag sterben.

Und es wird deine Schuld sein.

Ein Schrei ist zu hören, der mit »Colorado!« endet. Ich blicke auf, doch der Ruf galt jemandem in der Ferne. Colorado, Rot oder Rotbraun, ist der Ausdruck für alle Weißen, und als ich nach Piura kam, verwechselte ich ihn mit colorido – farbenfroh. Hier gibt es nur wenige Weiße, und die meisten sind Ausländer, die in der Sonne alle möglichen Farben zugleich annehmen: Anfangs sind wir knollenweiß und werden dann knallrot, wenn wir unmoralischer- und abstoßenderweise mit unserer Freundin, der Studentin, heimlich an den Strand fahren. Etwas später nehmen unsere Arme die Farbe von dünnem Tee an, Nacken und Stirn sind nach wie vor knallrot, und der Rest unseres Körpers bleibt knollenweiß.

Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass die Leute einander nach ihrer Rasse ansprechen: Negro oder Negra, Chino oder China, Indio oder India. Die Mehrheit der Bevölkerung – Mischlinge aus einheimischen Indios und Spaniern, klein von Gestalt, dunkelhäutig, mit glatten schwarzen Haaren und kleinen dunklen Augen – wird als Cholo beziehungsweise Chola bezeichnet. Die Spanier hatten das ursprünglich als Schimpfwort gemeint, und verwoben mit der Geschichte, die ich hier erforschen wollte, ist die Geschichte, die immer noch abläuft, Zeiten und Zeitformen, die über mich hinwegbranden, in denen ich untergehe.

In Piura sind es meistens die Taxifahrer, die Taxistas, die nach mir rufen. Sie fahren im Schritttempo neben mir her und rufen Colorado! oder Mister! Außerdem hupen sie, immer wieder, flehen mich an mitzufahren, und es nützt nichts, sie zu bitten, mit dem Gehupe aufzuhören. Sie anzuschreien und mit meinen dicken Fäusten auf ihre Kühlerhaube zu hämmern, hilft auch nicht.

Es gibt Hunderte Taxis hier, vielleicht sogar Tausende – viel mehr, als in einer Stadt dieser Größe nötig sind. Um Taxista zu werden, braucht man keinen Führerschein, auch keine Versicherung, man braucht nur ein Auto und einen Taxista-Aufkleber. Den Aufkleber gibt es für dreißig Cent auf demselben Markt, auf dem man auch Mangos und Zinkwannen und Lamaföten in großen durchsichtigen Flaschen kaufen kann.

An jenem Abend wollte Pilar sich davonstehlen, um frische Mangos zu kaufen, ein Geschenk für mich, für den späteren Abend, aber ich kehrte gerade zurück von der Arbeit, von Aussprache und Bedeutung, bat und vat, seen und sin, bread und breath und breadth. Ich holte Pilar ein, als sie an den Straßenrand trat, hielt sie fest, roch ihren Zypressenduft, den Salbei.

Wo sie hinwollte, fragte ich, und sie verriet es mir lächelnd. Sie sagte, ich sollte Mariángel auf den Arm nehmen, die würde sich unglaublich freuen, mich zu sehen. Mariángel ist noch viel zu klein, um sich über etwas anderes als den Geruch von Milch zu freuen, erwiderte ich. Pilar meinte, da irrte ich mich, ich würde es bald begreifen. Dann hielt sie das erste Taxi an, das vorbeifuhr.

Es war ein alter gelber Tico. Ich sagte noch, ich hätte eine Überraschung für sie, sagte, sie sollte so schnell wie möglich wiederkommen. Sie lachte mit offenem Mund und glänzenden Lippen und versprach es mir. Sie sagte dem Fahrer, wohin sie wollte, und die beiden feilschten um den Fahrpreis. Ich beobachtete den Fahrer beim Sprechen. Es war ein dünner, dunkelhäutiger, braunäugiger Mann, wie so viele hier.

Pilar stieg ein, und das Taxi fuhr davon. Aus reiner Gewohnheit warf ich einen Blick auf das Kennzeichen. Eine Stunde später hatte ich es weitgehend vergessen und wusste nur noch, dass es mit einem P anfing und auf 22 endete. Gelbe Ticos sind die häufigsten Autos in Piura.

Das Taschentuch, Hände und Augen. Unterricht in fünf Minuten. Ich nehme die Aktentasche, stemme mich von der Bank hoch, gehe hinüber zum grellweißen Gebäude und daran entlang. Bruchstücke zu Ende gehender Vorlesungen – Federumhänge aus Paracas, Manco Cápacs goldener Pflug, Salaverry und das Erschießungskommando. Um das Gebäude herum und in der brennenden Sonne über einen großen Parkplatz. Weit weg flimmern Bäume in der Hitze. Von der nächsten Großen Sapote reiße ich ein Blatt ab. Das Blatt ist breit, perfekt, fleischig, ein glänzendes Dunkelgrün.

Auf dem Parkplatz beschattet das Blatt meine Augen, die Bäume reichen wieder bis zum Boden. Ein Pfad führt ins Gelände, da vorn teilt er sich, links das Rehwildgehege, rechts das Fremdsprachenzentrum. Dahinter endet der Campus. Die Mauer ist an der Stelle noch nicht fertig, fünfzig oder sechzig Meter, die ungeschützt sind und den Füchsen Zutritt gewähren, den Skorpionen und Schlangen und kleineren Echsen, aber die Begrenzung ist trotzdem klar: Drinnen ist die Oase mit den Baumwipfeln, Rasenflächen, mit vierundvierzig Arten von Nistvögeln, ein Triumph des Geldes, der Hydraulik, Schwerkraft und ferner Wasseradern. Draußen, das sind vereinzelte Algarrobos, Kakteen, Dornengestrüpp und endloser Sand.

Das Rehwild im Gehege ist für Reynaldos Versuchsreihen wichtig. Reynaldo ist hellhäutig, fast ein Colorado; er bringt mir beim Spazierengehen die Namen der Bäume bei und fragt nicht mehr, warum ich nicht nach Kalifornien zurückwill. Er würde nach Kalifornien gehen, wenn er könnte. Wenn die Bedingungen stimmen würden, sagt er, dann würde er nach Kalifornien fliegen und sich Disneyland anschauen. Er träumt von Sex am Strand mit einer großen Blondine. Er würde Englisch lernen, jeden Samstag Basketball spielen, würde Chemie an einer Universität lehren, in der die Hörsäle Meerblick und Deckenventilatoren mit verschiedenen Geschwindigkeitsstufen haben. Das sagt er und ich antworte: Wie heißt der Baum da, Reynaldo, der da drüben? Du hast es mir schon mal gesagt, aber ich habe es wieder vergessen.

An der Gabelung nach rechts, in mein Büro, einen Ordner mit Fotokopien vom Tisch nehmen, das Blatt Blatt sein lassen, die Treppe hoch und mit dem Glockenläuten in den Seminarraum. Es riecht nach Kreidestaub und Schweiß. Vor mir sitzen die Studenten der Mittelstufe. Sie beachten mich nicht, tun zumindest so, und diskutieren weiter über das Spiel von gestern Abend, Cienciano gegen Alianza Lima. Ich stelle meine Aktentasche neben dem Pult ab und überprüfe, wer anwesend ist, während ich warte, dass Ruhe einkehrt. Achtzehn von vierundzwanzig sind da, weder gut noch schlecht. Es wird immer noch über das bemerkenswerte letzte Tor des Spiels geredet, und ich gönne ihnen den Augenblick.

– Wer hat es geschossen?, frage ich.

– Waldir Sáenz, sagt ein Student namens Milton. Schönes Tor, sagt er.

Ich fordere ihn auf, nach vorn zu kommen, ein Diagramm des Torschusses an die Tafel zu zeichnen und die Komponenten auf Englisch zu benennen. Milton nimmt die Kreide zur Hand. Er zeichnet Chaos im Mittelfeld, einen Pass zu Muchotrigo rechts außen, Flanke zu Sáenz und dann den Schuss direkt auf den Torwart, dem der Ball durch den Körper zu gehen scheint. Nur die letzte Bezeichnung macht Milton Schwierigkeiten.

– Por la huacha, sagt er. Zwischen den Beinen durch, und schön.

– Huacha, genau. Auf Englisch Muskatnuss.

Das Wort ist so gut zum Aufwärmen wie jedes andere auch. Ich schreibe es an die Tafel und lasse es wiederholen, als könnte es einmal wichtig werden. Ich beschreibe das Gewürz, und Milton fragt nach seiner historischen Bedeutung. Die Studenten sind jetzt ganz konzentriert, schauen mich an und ich lächle zurück.

– Ich habe keine Ahnung. Aber wenn wir von Geschichte sprechen.

Die Studenten stöhnen. Ich nicke, zucke die Achseln, bespreche den heutigen Lernwortschatz mit ihnen. Dann der Text, Daniel Boone, suchendes und globales Lesen. Verständnisfragen, dann der Aufsatz: Ein Nationalheld/eine Nationalheldin und deren/dessen Schwachpunkte.

Die Studenten senken die Köpfe. Ich blättere in meinem Ordner. Falls am Ende noch Zeit ist, habe ich ein Kreuzworträtsel über Gemüse dabei. Ich stütze mich auf das Pult, starre die Klassenrückwand an und weiß, was morgen passieren wird, oder übermorgen, oder am Tag danach:

Ich gehe von der Arbeit nach Hause. Im Westen entzündet sich sanft der Himmel, und der Geruch von Jasmin und Innereien liegt über der Stadt. Als ich nicht weit von unserem Haus am Park entlanggehe, verlangsamt neben mir ein Taxi sein Tempo. Der Fahrer hupt und ich blicke nicht auf: Aufblicken ermutigt sie nur. Er hupt wieder, fährt näher an den Bürgersteig, sagt: Oye, Colorado, Taxi?

Ich schüttle den Kopf, doch als es wegfährt, werfe ich einen Blick auf das Kennzeichen. Es fängt mit einem P an und endet mit 22. Ich erstarre, dann rufe und winke ich. Der alte gelbe Tico hält unter einem Matacojudo-Baum. Ich gehe langsam darauf zu, blicke auf der Beifahrerseite zum Fenster hinein, und das Gesicht des Fahrers kommt mir fast bekannt vor.

– Du warst es, stimmt’s?, sage ich.

– Mister?, sagt er.

Und ich glaube, die Stimme zu erkennen. Ich wische mir die Hände am Hemd ab, fasse mit dem Taschentuch nach dem Türgriff, reiße die Tür auf und zerre den Mann über die Sitze nach draußen. Ich schmettere ihn mit dem Gesicht nach unten auf die heiße Kühlerhaube. Er entwindet sich, holt aus, verfehlt mich, Blut fließt ihm aus der Nase und spritzt mir auf Hände und Gesicht und Kleider. Ich fasse nach oben, pflücke eine niedrig hängende Matacojudo, schlage sie dem Mann an den Kopf, aber die Frucht ist überreif und platzt. Ich fasse wieder nach oben und reiße eine Liane herunter, und mit der erdrossele ich den Taxista, ich ziehe die Liane fester und fester zusammen, bis er sich nicht mehr bewegt.

Es sind keine anderen Autos vorbeigekommen, aber meine Nachbarn hätten an den offenen Fenstern etwas sehen oder hören können. Ich lasse den Toten fallen und gehe nach Hause. In der Küche höre ich Casualidad und Mariángel, schlüpfe an ihnen vorbei ins Bad, dusche und ziehe mich um.

Zurück in der Küche, und Casualidad lächelt, fragt, wie ich ins Haus gekommen bin, ohne dass sie etwas gehört hat. Das Gummiband ihrer Augenklappe hat sich verschoben, es verläuft als Diagonale schräg über ihre Stirn und klemmt ein Büschel schwarzer Haare so ein, dass es über dem Ohr senkrecht absteht. Ich habe die Nase voll von Instantkaffee und trinke ab sofort nur noch richtigen Kaffee, sage ich zu Casualidad und schicke sie zum Supermarkt. Ich küsse Mariángel und stelle ihr eine Comicsendung an. Draußen im Hof schütte ich Spiritus auf die blutbefleckten Kleider, verbrenne sie in der neuen Zinkwanne und vergrabe die Asche im Blumenbeet.

Dann fällt mir der Polizeikommissar mit seiner Liste ungeklärter Fragen ein. Wir haben nur einen Teil eines Kennzeichens. Das Taxi war ein Privatauto, wie die meisten Taxis hier, im Land gibt es Tausende von möglichen Übereinstimmungen. Unmöglich herauszufinden, wo es angemeldet ist, wenn überhaupt. Das Kennzeichen könnte gefälscht oder gestohlen sein, oder das ganze Auto geklaut. Autos werden ständig weiterverkauft. In dieser Stadt allein gibt es Tausende und Abertausende von dunkelhäutigen, schwarzhaarigen, braunäugigen Männern. Die Unterschiede sind für mich nicht immer erkennbar.

Ich gehe zurück ins Haus und wasche mir die Hände, als es klingelt. Schweißausbruch. Nichts. Dann ruft eine Stimme. Reynaldo, nur Reynaldo.

Er sitzt da und sieht zu, wie ich Mariángel mit Süßkartoffelbrei füttere. Er sieht mir in die Augen und weiß Bescheid. Er fragt trotzdem.

– Was ist passiert?

– Ich habe ihn umgebracht.

– Den Taxifahrer?

– Ich glaube schon.

– Du weißt es nicht genau?

– Schwer festzustellen. Aber ich glaube schon.

– Hat dich jemand gesehen?

– Ich weiß es nicht.

– Ich habe Bekannte in Bolivien.

– Was soll ich da?

– Du könntest von da zurück nach Kalifornien fliegen.

– Und dann? Was soll ich da?

– Verstehe ich nicht. Wenn du den Richtigen erwischt hast, bist du doch frei.

– Und wenn es nicht der Richtige war?

Reynaldo nickt.

– Und jetzt?

– Wenn keiner kommt, sehe ich dich morgen bei der Arbeit.

– Soll ich hier bei euch bleiben?

– Nein. Danke, ist nett, aber nein.

– Na gut, sagt Reynaldo. Dann bis morgen.

Er geht und ist zwanzig Minuten später mit dem Bild des Heiligsten Herzen Jesu aus dem Haus seiner Tante wieder da. Er hängt es an einen leeren Nagel und steckt das rote Lämpchen in die Steckdose.

– Vielleicht hilft das, sagt er.

Ich gebe keine Antwort. Er zuckt die Achseln, will schon gehen, dreht sich aber noch einmal um.

– Komm morgen im Labor vorbei. Ich habe einen neuen Baum gepflanzt, am Weg. Eine Lucuma, aus dem Tarma-Tal in Junín.

Ich sage zu, sehe ihm nach, und Milton starrt mich an. Ich weiß, was passiert ist. Milton hat ein Schaudern oder Zucken in meinem Gesicht bemerkt, weiß, dass er es nicht hätte sehen sollen, und jetzt hat er Angst. Einmal durchzuckte es mich so stark, als ich dem Mann den Hals umdrehte, dass ich mir einen Muskel zerrte, und alle Studenten haben es mitbekommen und tagelang darüber geredet.

Ich gehe zu Milton an den Tisch. Er hat die Aufgabe falsch verstanden, hat über seine Mutter geschrieben. Ich lobe den Aufbau seines Texts, erkläre den Unterschied zwischen moreover und however, und habe mir die Begegnung auf vielfältigste Weise ausgemalt – verschiedene Orte, verschiedene Waffen, verschiedene Lichtverhältnisse. Erst seit Kurzem drehen sich meine Fantasien derart im Kreis. Reynaldo deutet immer öfter an, dass ich vielleicht allmählich aufgeben sollte. Ein seltsamer Ausdruck: auf und geben. Meine Frau ist seit dreihundert Tagen tot. Die Polizei hat die Suche eingestellt, und ich werde immer leerer, das schon, aber ich kämpfe dagegen an, und manchmal versage ich nicht.

2.

Zum Universitätstor hinaus, über der Stadt liegt der Geruch nach Jasmin und Innereien. Im Westen Feuer am Himmel, und mein Doktorvater blickt auf, als ich sein Büro betrete. Er schwingt in seinem Bürostuhl herum, lehnt sich zurück und sagt, Dr. Williamson habe ihn gerade angerufen. Ich sage nichts. Er erkundigt sich, ob er richtig gehört habe und ich wirklich schon wieder mein Thema und meine Herangehensweise wechseln will. Ich nicke. So!, sagt er. Alle schwärmen vom neuen Todorov! Inkas statt Azteken, Pizarro statt Cortés …

Ich sage nichts, und er nickt. Doch in Anbetracht der Tatsache, sagt er, dass sich der alte Todorov bester Gesundheit erfreut und weiterhin Bücher schreibt, brauchen wir im Grunde eigentlich keinen neuen. Außerdem hatte er die Kodizes als Material. Und was haben Sie? Quipus – ein paar Strippen mit Knoten.

Wieder sage ich nichts. Mein Doktorvater war immer nett zu mir, hatte Zeit und Ideen für mich, besonders, nachdem ich seine Hermeneutik übernahm. Wenn ich Glück habe, wird sich sein Ärger irgendwann in Frustration und dann Gleichgültigkeit verwandeln. Er kaut auf seiner Unterlippe herum. Aha, sagt er. Na schön, sagt er, es ist doch so: Sie arbeiten jetzt erst seit ein paar Monaten an der Subalternität der Yanaconas, und da ist es –

Die kann man ja wohl kaum als Subalterne bezeichnen, entgegne ich. Er lacht schallend: Und Sie wollen ein Skeptiker sein? Man kann alles mit allem bezeichnen! Wenn Sie die Yanaconas wirklich aufgeben wollen, von mir aus, aber warum kehren Sie nicht zu den Chachapoya zurück? Sie waren schon so weit, haben sich gut gemacht bei dem LASA-Forum, und The Americas hat Ihren Artikel gebracht.

Ich erzähle ihm, dass mir endlich klar geworden ist, was ich wirklich will, das ist genau, was ich bei jeder bisherigen Kehrtwende auch gesagt habe. Darauf weist er mich nicht hin. Er sagt stattdessen, dass der Fachbereich mir keinerlei finanzielle Unterstützung mehr bieten wird, wenn ich mein Dissertationsthema jetzt wieder ändere, auch nicht für die seit Monaten geplante Forschungsreise im Oktober. Ich antworte, dass ich sie selbst finanzieren werde. Na schön!, sagt er. Und wenn alle Stricke reißen, wird immer noch ein wunderbarer Mittelschullehrer aus Ihnen!

Ich warte darauf, dass ihm wieder einfällt, dass meine Mutter seit Jahrzehnten Mittelschullehrerin ist. Es fällt ihm ein, er zuckt die Achseln, entschuldigt sich, sagt, dass ich irgendwann beginnen muss, Angefangenes zu Ende zu führen. Der Dekan habe das Schreiben für mich fertig, erwünscht mir auf jeden Fall alles Gute.

Ich nicke, schüttle ihm die Hand und gehe hinüber zum Büro von Dr. Williamson. Er hat mich früher hin und wieder deutlich unter Druck gesetzt – Sie wollen also Barthes essentialisieren? Welchen? Den frühen Barthes? Den späten? Den mittelfrühen, mittelspäten? –, macht jetzt aber keine Schwierigkeiten. Er händigt mir ein unpersönliches Empfehlungsschreiben aus, warnt mich, dass es vielleicht nicht allzu viel ausrichten wird, hofft, mich bald wiederzusehen.

Noch ein Nicken, ein Händedruck, eine Stunde bei der Studienförderung, um eine Verlängerung auszuhandeln, und ich bin frei von Irvine. Hinaus zu dem alten weißen Straßenkreuzer auf dem Parkplatz, dem Auto meines Vaters, das immer das Auto meines Vaters bleiben wird, auch wenn er schon seit neun Jahren tot ist, neben mir fährt langsam ein Taxi vorbei. Der Fahrer hupt, ich werfe einen Blick auf das Kennzeichen: Vorne ein C, hinten eine 46. Er hupt wieder, fährt dicht an den Bürgersteig. Ich schüttele den Kopf und die farbigen Streifen am Himmel sind jetzt eher Federn als Flammen.

An der Haustür wartet Casualidad mit Mariángel, die die Arme nach mir ausstreckt. Ich nicke Casualidad zu, nehme Mariángel auf den Arm und küsse sie. Casualidad sagt, mein Essen steht auf dem Tisch, sie muss früher los, zu einem Termin bei der Lehrerin ihres Sohns, und dass sie das Geschirr am Morgen abwaschen wird.

Ihre Stirn wird vom Gummiband einer Augenklappe in zwei gleiche Hälften geteilt, und sie ist selten so gesprächig. Vielleicht ist etwas Gutes oder Schlechtes vorgefallen. Ich halte ihr Mariángel hin, damit sie ihr ins Kinn kneifen kann, mache dann die Tür hinter ihr zu und trage meine Tochter ins Badezimmer. Ich halte sie mit einer Hand fest und wasche mir mit der anderen den Schweiß von Gesicht und Hals. Ins Schlafzimmer, ich lege sie auf dem Bett ab, ziehe mich aus und ein Paar Shorts an.

Als Nächstes Esszimmer. Ich setze Mariángel in ihren Hochstuhl und biete ihr im Schnellverfahren einen Löffel von jeder Schicht der Causa an – Kartoffelbrei, Avocado, Tomate, zerkleinertes Hühnerfleisch. Wie immer spuckt sie mit Ausnahme des Kartoffelbreis alles wieder aus.

Nach dem Abendessen laufen wir durchs Haus. Mariángel ist elf Monate alt und lernt gerade laufen, fällt aber nicht gern hin. Sie hält sich an meinem Bein fest, während wir einen Raum nach dem anderen durchqueren, nimmt Gegenstände in die Hand und erfindet Geräusche, um sie zu benennen, Hegel’sche Analogie oder Spitzer’sche Sprachkunst oder Barthes’sche Lust am Text, das alles biete ich ihr als Erklärung für ihre Sprachschöpfungen an und verlege mich dann auf die Worte selbst: Topf, Telefon, Kissen. Sie wiederholt ihre eigenen Erfindungen. Ich frage, wann sie vorhat, endlich Worte zu benutzen, die auch ich verstehe. Sie schüttelt die Gegenstände, lässt sie fallen oder wirft sie weg. Ich bitte sie, die Sachen aufzuheben und zurückzustellen, aber für so etwas interessiert sie sich nicht.

Sie findet meine Aktentasche, zieht an der Schnalle, und mir fällt das Sapote-Blatt wieder ein. Es ist nicht mehr perfekt, sondern welk, aber immer noch schön grün. Ich halte es Mariángel hin. Sie ist unbeeindruckt. Ich stimme zu, dass es nur ein Blatt ist, aber in zehn oder hundert Jahren wird jemand ein Foto in die Hand bekommen und »John pflückte ein Sapote-Blatt« schreiben, und dann wird es Blatt und Blatt zugleich sein. Mariángel runzelt die Stirn. Semiologischer Apparat und linguistische Performanz, sage ich. Sie glaubt mir nicht. Ich versichere ihr, dass ich in solchen Dingen nie lüge: Geschichtsschreibung ist nicht wie behauptet eine Betrachtung der Vergangenheit, sondern eine Aussage über ihre geläuterten Spuren in der Gegenwart, sie hat immer die Form eines vermittelten Porträts, eines Damms gegen die zerstörerische Macht der Zeit, in Tafelbildern eingefrorene Veränderung, das Blatt jetzt Allegorie, parteiliche Teleologie, Plausibilität definiert als Waffenstillstand zwischen Gewissen und Libido, als ethischer Horizont, als herrschendes Paradigma und Bestätigung der geltenden Praxis, als Mittel, mit dem die Machthaber definieren, was vernünftigerweise gewollt werden darf, und so verbinden sich unsere derzeitige Gesellschaft und ihre moralischen Beschränkungen zu Garanten unserer Integrität, die nur auf eigene Gefahr herausgefordert werden darf.

Mariángel zerrupft das Blatt, lässt die Stücke fallen, klatscht zwei Mal in die Hände, gähnt. Ich mache ihr Fläschchen warm, gehe mit ihr ins Wohnzimmer und stelle das Fernsehen an. In den ersten paar Minuten gibt es Werbung, und sie klettert auf den Kisten herum, die doppelt gestapelt an der Wand stehen – Dutzende von Notizbüchern, Dutzende von Aktenordnern, ein Schuhkarton voller Disketten. Die eine Hälfte stellt meine historischen, die andere meine Taxista-Forschungen dar.

Jetzt will Mariángel doch ihre Milch, ich hebe sie hoch und setze sie neben mich aufs Sofa. Sie summt vor sich hin, während die Außenminister Perus und Ecuadors sich wegen Nichtanerkennung des Grenzverlaufs bedrohen. Während einer Montage aus Bildern von Lady Dianas Beerdigung letzten Monat kommt Mariángel zur Ruhe und rührt sich erst wieder, um auf die Blumenberge zu zeigen, die sich immer noch vor den Palasttoren auftürmen. Im nächsten Augenblick liegt sie schlafend an meiner Brust. Ich nehme ihr das Fläschchen aus den Händen und stelle es auf den Beistelltisch.

Die Nachrichten berichten jetzt von einem Erdbeben, bei dem heute in Assisi zehn Menschen ums Leben gekommen sind, die Basilika des Heiligen Franziskus ist schwer beschädigt. Dann Live-Berichterstattung von einem Flugzeugabsturz auf Sumatra mit vermutlich zweihundertdreißig Toten. Mariángel zuckt zusammen und wacht auf, als die Stimme des Reporters bei der Beschreibung des dicken Rauchs, der in der Luft liegt, laut wird – Rauch nicht als Folge, sondern als Ursache des Absturzes: Die Bauern brennen zu dieser Jahreszeit ihre Felder ab. Ich stelle den Ton ganz leise und singe Mariángel zum Einschlafen ein Medley aus Nat King Cole und Aerosmith vor. Sie schläft, bevor ich beim ersten Refrain bin. Ich habe eine wunderbare Stimme.

Ich blicke zurück auf den Fernseher, wo jetzt ein grüner Mann in einem Brunnen nackt im Kreis rennt. Er hat ein nettes, nachdenkliches Gesicht. Die Tauben am Fuß des Brunnens flattern jedes Mal auf, wenn er vorbeirennt. Immer im Kreis herum und wer ist dieser Mann, und warum hat er sich angemalt und warum grün? Dann fällt mir wieder ein, dass mir das eigentlich egal ist.

Ich verlagere mein Gewicht nach vorn und angle nach der Fernbedienung und der grüne Mann fällt mit dem Gesicht voran ins Wasser und steht nicht wieder auf. Ich warte. Der Mann bewegt sich nicht. Ich halte die Luft an, und das Bild wird schwarz. Die Fernsehmoderatoren sind wieder da und schütteln lächelnd den Kopf. Dann sind sie betrübt und zeigen Bilder von einem Busunglück in Sullana, das Pflaster voller Flecken, Decken über zwei Leichnamen.

Wieder Werbung: Cristal Bier, Hamilton Zigaretten, Always Tampons. Draußen bellt ein Hund und Mariángel wacht wieder auf.

– Alles in Ordnung, sage ich.

Sie gähnt und sieht mich an.

– Wirklich. Alles ist bestens.

Ich fahre ihre Augenbrauen nach. Pilars Augenbrauen. Pilars braune Haut, braune Augen, schwarze Haare. Nur die Gesichtsform hat sie von mir, die hohe Stirn und das kräftige Kinn. Ich lege Mariángel die flache Hand auf den Bauch, und sie umfasst meinen Daumen mit der einen und den Zeigefinger mit der anderen Hand.

Weitere stumme Inlandsnachrichten – ein Aquarium in einem Hotel in Lima mit traurig dreinblickenden Delfinen. Ich stimme ein neues Lied an, Mariángel runzelt die Stirn, also erzähle ich ihr eine Geschichte und rede einfach weiter, auch, als sie schon lange schläft:

– Es war einmal ein Prinz, ein malaysischer Prinz, der viel Geld und schöne Kleider und hunderte Hüte besaß. Sein einziges Problem war, dass er kein Zuhause mehr hatte und immer von einem Ort zum nächsten reisen musste. Eines Tages bestieg er ein Flugzeug von Kapstadt nach Khartoum – stundenlang fürchterliches Essen und noch schlimmere Filme, und sein Sitz ließ sich auch nicht zurückklappen. Er setzte sich auf einen anderen Sitz, den man ganz nach hinten kippen konnte. Er wollte gerade einschlafen, da gab es einen Sturm, ein Riesenunwetter, Donner und Blitz, und mit einem Mal plumpste das Flugzeug zehntausend Meter tief, geradewegs in den Viktoriasee. Die Afrikaner stiegen in ihre Boote und suchten den See nach Überlebenden ab, glaubten aber nicht, dass sie welche finden würden. Wer könnte so einen Absturz überleben? Doch sie fanden jemanden: den Prinz aus Malaysia. Ein Wunder!, sagten die Leute in den Booten. Sie brachten ihn ans Ufer und ins Krankenhaus, und die Ärzte und Krankenschwestern waren verblüfft, dass dem Prinz nichts fehlte, abgesehen von einer leichten Gehirnerschütterung, einem blauen Auge und zwei langen Reihen blutender Wunden an einem Bein. Sie verbanden ihn und hielten ihm die Fernsehteams so lange wie möglich vom Leib, aber am zweiten Morgen verschafften sich die Reporter doch Zugang zum Krankenhaus. Die Ärzte und Schwestern schrien, dass sie die Polizei rufen würden, aber der Prinz sagte, die Reporter dürften dableiben, er habe eine Geschichte zu erzählen. Sie bauten ihre Kameras auf und er legte los: der Flug, das Unwetter, wie er beim Absturz das Bewusstsein verlor, wieder zu sich kam, als sie noch in der Luft waren, wieder bewusstlos wurde, als das Flugzeug aufs Wasser aufschlug. Er erwachte zum zweiten Mal, lag quer auf einem treibenden Wrackteil, er konnte nicht schwimmen, er bekam Todesangst und fühlte etwas an seinem Bein ziehen. Als er sich umdrehte, sah er ein Krokodil, wurde unter Wasser gerissen, und ohne jeden Grund spuckte ihn das Krokodil wieder aus und brachte ihn zurück nach oben. Die ganze Welt sah dieses Interview im Fernsehen, die ganze Welt staunte über das unglaubliche Glück dieses Prinzen, alle Welt, außer einer ganz normalen Frau, die in einem kleinen, düsteren Büro in Kuala Lumpur saß. Die Frau erkannte den Mann von Bildern in ihren Akten und wusste, wer er war: ein Betrüger und Dieb, der vor Jahren in Abwesenheit verurteilt worden war. Zwei Monate später saß der Prinz wieder in Malaysia im Gefängnis, wo er hingehörte, und das, das, das ist der Grund, warum wir fernsehen. Weil man nie weiß, wen man dort zu Gesicht bekommen wird. Wir bleiben wachsam, du und ich, wir sehen uns die Gesichter im Hintergrund jedes Bilds an, und eines Tages erkennen wir den Taxista. Und wir gehen ihn suchen. Und wenn wir ihn gefunden und gestellt haben, dann ziehen wir unser Schwert und hacken ihm Hände und Füße ab. Dann stecken wir unser Schwert wieder in die Scheide. Wir ziehen unsere Degen. Wir berühren seine Augen sanft mit den Spitzen, und dann stechen wir zu.

Mariángel regt sich, lässt meine Hand los und greift sich stattdessen meinen Bart. Ich hebe sie höher an meine Schulter. Die Nachrichten enden mit einem neuen Trainer für die Fußballmannschaft in Arequipa, vermute ich jedenfalls. Noch mehr Werbung, und Woody Woodpecker. Hier heißt er El Pájaro Loco. Ich bin froh, dass ich den Ton abgeschaltet habe. Bloß nicht dieses penetrante Lachen.

Der Mann war kein Prinz, vielleicht noch nicht mal aus Malaysia, aber es klang gut, als ich es erzählt habe. Die meisten Abende verlaufen wie dieser, und der Taxista hat Piura höchstwahrscheinlich lange verlassen. Bei der Campusmesse wird morgen für diejenigen gebetet, die in der Basilika gestorben sind. Vielleicht auch für die Toten auf Sumatra, oder ein gemeinsames Gebet für die beiden Katastrophen. Ich habe dazu keine Meinung und streiche meiner Tochter die Haare glatt, während El Pájaro Loco seinen Schnabel in ein Heftgerät verwandelt und das Fahndungsplakat eines korpulenten, bärtigen, entflohenen Sträflings an einen Telefonmast tackert.

In meinem ersten Jahr hier hatte ich eine Studentin in der unteren Mittelstufe, die Lady Diana hieß. Letzte Woche habe ich sie auf der Straße getroffen und ihr mein Beileid ausgesprochen. Sie meinte, ihr mache es nichts aus, nur ihre Eltern seien tief betrübt. Ich lobte ihre Fortschritte und den Gebrauch dieses schönen Wortes – betrübt.

Der entlaufene Sträfling schleicht auf Zehenspitzen durch einen Garten, und El Pájaro Loco verwandelt seinen Schnabel in einen Vorschlaghammer, mit dem er den Mann niederschlägt. Mariángel ist unruhig und jammert. Wahrscheinlich die Hitze, ich trage sie ins Kinderzimmer und lege sie auf das kühle Laken in ihrem Gitterbett. Ziehe das Moskitonetz darüber. Drehe den Ventilator zur Wand, stelle ihn an, schließe den Vorhang. Flüstere, keine Worte, wortloses Gewisper. Ziehe die Tür hinter mir heran.

Ein Glas Karambolensaft aus dem Kühlschrank, dann zurück ins Wohnzimmer. Stehe vor der Couch. Das Ausmaß des Abdrucks, den mein Körper hinterlassen hat, ist selbst für mich erstaunlich: Die mittleren zwei Drittel des Sofas bilden einen Krater, in dem der Stoff verfärbt ist und in diesem schlechten Licht fast schwarz aussieht.

El Pájaro Loco ist vorbei, abgelöst von einer Soap. Ich setze mich in den Krater und drehe die Lautstärke hinauf. Eine schöne blonde Frau bearbeitet Möhren mit einem Hackmesser. Sie fängt an zu weinen, wendet sich ab, starrt zu lange aus dem Fenster.

Ein gut aussehender Mann betritt die Küche. Er und die Frau fangen an zu streiten. Ihre Lippenbewegungen passen nicht recht zu den Worten: Sie sprechen Spanisch, aber die Sendung stammt aus Brasilien, und die Münder bewegen sich daher portugiesisch, der Streit selbst klingt wie ein dünnes Zischeln, das lauter und dann urplötzlich leiser wird, als schlafe nebenan ein Kind, und dieses Zischeln, das Spektrum von Lautstärke und Klangfarbe, kommt mir vertraut vor, ich weiß nicht woher, dann aber doch. Daly City. Sieben Jahre alt, mit Plastikdinosauriern auf dem Boden in meinem Zimmer, aber ein paar Stunden vorher draußen, Blut vorn auf meinem T-Shirt, eingetrocknet in meinen Nasenlöchern und auf meinem Gesicht.

Die Häuser sind, abgesehen von den unterschiedlichen Pastelltönen, identisch. Es ist eine Neubausiedlung, in der nichts passieren kann und daher auch noch nie etwas passiert ist. Die Blondine hebt das Gemüsemesser und sticht zu, aber der Mann packt sie am Handgelenk und drückt es, bis sie das Messer fallen lässt, zieht die Frau an sich. Erst wehrt sie sich gegen ihn, dann lässt sie alles mit sich geschehen. Unser Haus, himmelblau. Über den Rasen zur Tür herein, meine Mutter schon zu Hause, und ihr Lächeln gefriert, aber verschwindet nicht, als sie das Blut sieht.

Sie führt mich ins Bad und bepinselt die Wunde mit Jodtinktur. Ich zucke zurück und weine ein bisschen. Sie pustet, holt die Pflasterdose heraus und fragt mich, was passiert ist. Der andere Junge hat angefangen – normale Hänseleien wegen meines Gewichts; er war dünn und schnell und gemein und furchtlos, und ich sage ihr, ich wäre von der Kletterstange gefallen. Die Frau legt dem Mann einen Finger an die Lippen. Das gefrorene Lächeln meiner Mutter wird breiter. Sie ermahnt mich, von jetzt an vorsichtiger zu sein, sie weiß genau, dass ich mich nicht für Kletterstangen interessiere.

Ich nicke, gehe in mein Zimmer, und da sind die Dinosaurier. Eine Stunde, zwei. Mein Vater kommt nach Hause, gedämpfte Diskussion im Schlafzimmer meiner Eltern. Abendessen, Hausaufgaben. Zischeln in der Speisekammer, lauter und leiser werdend, genau dasselbe Spektrum wie jetzt, und dann Fernsehen.

Meine Eltern sitzen auf dem Sofa, ich stehe vor dem Gerät. Ich schalte von Nachrichten aus Vietnam weiter zu Mayberry, halte bei einem Footballspiel, es muss also ein Montag gewesen sein. Der Kopf der Frau kippt zur Seite, als der Mann ihren Hals küsst. Meine Mutter räuspert sich. Ich schalte auf den letzten noch verbleibenden Sender, der Sprecher beendet gerade einen Satz, es geht darum, wie dünn die Luft ist, und zu sehen sind Männer in Rüstungen, die sich einen steilen Pfad hochschleppen, ihre Pferde am Halfter führen, die Blondine knöpft ihre Bluse auf und genau das war der Abend:

Der Aufstieg bei Vilcaconga. Ich liege auf dem Bauch vor dem Fernseher, krieche noch näher, werde an den Füßen zurückgezogen und staune über die Kräfte meines Vaters. De Soto hat seinen Vortrupp zu weit nach vorne geschickt, er hat Pizarros Befehle ignoriert, weil er hofft, Cusco alleine einzunehmen, und seine Männer und Pferde sind erschöpft, halb verhungert und verrückt von der Mittagshitze.

Hinter ihnen liegen die Massaker von Cajamarca und Jauja. Hinter ihnen liegt auch das Gemetzel in Vilcas, Hunderte erstochen, Frauen reihenweise vergewaltigt, darunter zwei Töchter von Huayna Cápac selbst, der alte Herrscher ist schon an Pocken oder Malaria gestorben, die sich von der Karibik hierher ausgebreitet haben, und von all dem ahnte ich damals noch nichts. Die Macht des Inkareichs ist erschüttert, sagt der Sprecher, die göttliche Macht des Inkaherrschers wird in Zweifel gezogen, und wir nicken, wir kennen die Stimme des Schauspielers, aber der Name fällt uns nicht ein. Einen schweren Schritt nach dem anderen haben die Spanier es schon halb den Berg hinauf geschafft. Der Mann lässt sich quer auf das Bett sinken. De Soto blickt zum nächsten Bergkamm, dann Werbeblock, Wäsche, mein Vater eilt ins Bad und wieder zurück. Die Blondine flüsterte einen Namen und ja, sagt der Mann, ja. Ich kratze an dem Pflaster in meinem Gesicht.

Lady Diana, wunderschön, alle beide.

De Soto starrt wieder zum Bergkamm hoch. Er erbleicht, als ihm viertausend Inkakrieger von oben entgegenkommen. Sie umzingeln die Spanier, greifen mit Keulen und Streitäxten an, spalten sechs Schädel und Gaspar de Marquina, sein Testament in der Sammlung Harkness, die Archivarin lässt mich nicht aus den Augen, wendet sich endlich ab und ich ziehe schnell einen Handschuh aus und fahre mit dem Finger über die zerbröselnde Kante.

Die überlebenden Spanier sammeln sich auf einer Anhöhe und errichten dort ein Lager. Ein Geräusch, Metall auf Stein, und ich richte mich auf. Es kommt nichts weiter. Ich lasse mich wieder in den Krater sacken. Ein Krankenhauszimmer, eine schöne Brünette liegt im Sterben und eine viel ältere Frau weint in ihr Taschentuch. Die umzingelte Anhöhe. Die Hälfte der Spanier ist verwundet. Ich mache die Augen zu, und sie wissen, dass sie am Morgen sterben werden. Niemand macht sich die Mühe, die Pferde abzusatteln, keiner schläft. Ich kratze am Schorf auf meiner Stirn. Meine Mutter ermahnt mich. Ein neues Geräusch. Die Spanier lauschen, wollen es nicht glauben, doch tatsächlich: eine Trompete.

Almagro und dreißig berittene Soldaten, erzählt der Sprecher, die von Pizarro vorgeschickt wurden, nicht um de Soto zu retten, sondern um ihn aufzuhalten. Der Trompeter heißt Pedro de Alconchel. Er will de Soto gar kein Signal geben, weiß gar nicht, wo die Vorhut ist, sondern bläst nur für seine eigenen Leute, zum Zeichen, dass sie ihr Nachtlager aufschlagen sollen. De Sotos Trompeter antwortet von der Anhöhe. Das ist Juan de Segovia, sagt der Sprecher. Ich drehe den Kopf nach meinen Eltern um. Meine Mutter ausdruckslos. Mein Vater blickt auf seine Hände.

De Soto und Almagro umarmen sich. Im Morgengrauen besteigen die Spanier ihre Pferde. Die Inkas starren. Die Spanier zücken ihre Lanzen. Die Inkas flüstern miteinander. Die Spanier greifen an, und die Krieger, die sich ihnen in den Weg stellen, werden niedergeritten, die anderen rennen davon und verstecken sich im rettenden Nebel.

Ich mache die Augen wieder auf. Eine Beerdigung, eine Verfolgungsjagd, Männer, die mit Blumensträußen geschlagen werden. Ich verlagere das Gewicht in meinem Krater und mein Vater räuspert sich und sagt, dass in meinen Adern Konquistadorenblut fließt.

Nie hätte ich gedacht, dass er so etwas sagen würde. Ich bitte ihn, das zu wiederholen, und er nickt. Juan de Segovia?, sagt er. Das ist dein Vorfahre. Wir haben dich nach ihm benannt.

Unwahrscheinlich – so viel Glück habe ich nie gehabt –, aber hochwillkommen. Meine Mutter wendet den Blick nicht vom Fernseher ab. Auch mein Vater ist wieder ganz auf die Sendung konzentriert. Ich stehe auf, setze mich zwischen sie aufs Sofa und sehe zu, wie die Spanier Cusco einnehmen und dem Inkareich den Garaus machen. Keiner der Trompeter wird noch einmal erwähnt.

Die hübsche Blondine liegt jetzt schlafend im Bett. Der gut aussehende Mann öffnet ein Auge, blickt zu ihr hinüber, schlägt die Bettdecke zurück. Soviel man weiß, starb Juan de Segovia, bevor er Kinder zeugen konnte, und hat daher keine Nachkommen, und Mariángel wacht weinend auf. Sie holt Luft, ich warte. Sie weint wieder und ich gehe hin, ihr Arm ist zwischen der Matratze und dem Gitterbett eingeklemmt. Ich befreie ihn, beruhige sie, halte sie, bis sie wieder schläft. Dann gehe ich ins Bad und masturbiere zur Erinnerung an die Blondine mit dem Messer.

Zurück zur Couch. Fernbedienung finden, die Sender durchklicken, bei einem alten Film anhalten. Cantinflas fährt mit seinem Motorrad im Kreis, dreht sich auf dem Sitz, fährt im Stehen, auf dem Lenker, alles, um den Captain zu beeindrucken und in die Motorbrigade aufgenommen zu werden.

Ich kenne diesen Film schon, weiß nicht mehr, wie er heißt, und an diesem Morgen auf dem Weg zur Arbeit habe ich fünf Leute auf einem einzigen Motorrad gesehen. Auf dem Tank ein Baby in Mariángels Alter, am Lenker ein mittelalter Mann, hinter ihm seine Frau, ein dünnes junges Mädchen und ein ungefähr fünfjähriger Junge. Es war kein großes Motorrad, aber die Familie wirkte glücklich. Ich zappe durch die anderen Sender. Wenn ich das Bimmeln der Müllabfuhr höre und das Ächzen der Müllmänner, die die Müllsäcke durch die Luft werfen, weiß ich, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen.

3.

Meine Gartenstühle sind breit, Hanf und Stahlrohr, sehr bequem, und in meinem Mandelbaum sitzen kleine Vögel. Sie sind größtenteils braun. Ich habe sie schon oft gesehen, weiß aber nicht, wie sie heißen.

Mariángel sitzt neben mir auf dem gefliesten Boden. Sie starrt hoch zur Traufe, dann zu den Vögeln und zeigt hin, als sie alle gleichzeitig auffliegen. Sie schaut mich an, um sicherzugehen, dass ich sie auch gesehen habe, und ich nehme meine Tochter auf den Schoß und versichere ihr, dass ich sie natürlich gesehen habe, dass die Vögel toll waren, und sie sitzen schon wieder im Baum. Mariángel entwindet sich und macht es sich wieder auf dem Boden bequem.

Eine Zeit lang schaue ich den Vögeln und meiner Tochter zu, die den Vögeln zusieht. Es gefällt mir, wie aufmerksam sie beobachtet, auch wenn ich die Töne, die sie von sich gibt, nicht verstehe – sie macht die Vögel nach oder ruft ihnen zu oder befiehlt ihnen vielleicht auch etwas. Dann lese ich die Zeitung.

Die meisten Zeitungen hier berichten über Sport, Außerirdische und halbnackte Frauen. Die Schlagzeilen wären ein Skandal, wenn die Redakteure nicht so einfallsreich wären. Arsch, Titten, Muschi: Neue Ausdrücke dafür werden allwöchentlich erfunden und in der nächsten Woche von anderen, neueren Worten abgelöst.

Theoretisch müsste El Tiempo mehr bringen. Es ist Piuras einziges Nicht-Revolverblatt, benannt nach Zeit und Zeitform, und ja, auch nach dem Wetter. Heute gibt es Artikel über das Erdbeben und den Flugzeugabsturz, über einen Einbruch in ein Malereifachgeschäft, den Protest gegen steigende Benzinpreise. Von vorne bis hinten einmal durch, nichts. Jetzt die Fotos, alle Gesichter im Vordergrund und Hintergrund. Nichts. Ein dritter Durchgang, um nach Registerwechseln oder zwischen den Zeilen versteckten Hinweisen zu suchen, und das ist sinnlos, es ist wie Nägel mit einem Schraubenzieher einschlagen, und natürlich wieder nichts, genau wie gestern, wie an jedem Tag.

Ich bin beziehungsweise war ziemlich geschickter Zimmermann. Was viele überrascht.

Mariángel ist bis zum Baum vorgerobbt und sitzt zwischen den abgefallenen Blättern unten beim Stamm. Sie starrt hinauf und unterhält sich mit den Vögeln, kippt nach hintenüber, richtet sich langsam wieder auf. Die Vögel beachten sie nicht, flattern auf die Mauer, als Casualidad mit einem Wäschekorb zur Hintertür herauskommt, kehren aber auf die Zweige zurück, als sie sich zum Lavadero umdreht.

Casualidad legt mehrere Kleidungsstücke zum Einweichen in die neue Zinkwanne zu ihren Füßen. Den Rest schrubbt sie einzeln Stück für Stück, und meistens ist ihre Augenklappe beige, aber heute ist sie blau. Sie summt beim Schrubben, eine einzige Note, die eventuell ein wenig nach unten oder oben abgetönt wird, aber nie die nächste Note erreicht. Sie kennt die Namen der meisten Vogelarten, hasst alle gleichermaßen und verscheucht sie aus unserem Gartenhof, sobald ich nicht hinsehe, und das Wenige, das ich weiß, ist unglaublich: Vor dreißig Jahren flog ihr ein Kolibri geradewegs ins Gesicht und stach ihr den Schnabel ins Auge, so tief, dass der Schnabel fast ins Gehirn drang.

Ich habe noch nie von einem solchen Kolibriverhalten gehört, andererseits keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln, und Casualidad ist nicht ihr echter Name. Sie heißt Pilar. An dem Tag, an dem ich sie der universitären Putzkolonne abwarb, sagte ich ihr, ich müsse sie anders nennen, da meine Frau auch so geheißen habe und ich Verwechslungen vermeiden wollte. Sie sagte: Qué Casualidad. Ich dankte ihr lächelnd – abgesehen von Lady Diana habe ich schon Studentinnen gehabt, die Empfängnis und Willkommen, oder Studenten, die Hitler hießen, Zufall erschien mir also nicht allzu ungewöhnlich. Vor ein paar Wochen fragte ihr Sohn Fermín, der zweimal im Monat kommt, um nach dem Garten zu schauen, warum ich sie so nenne. Sie schalt ihn, dass ihr das nichts ausmache, er solle lieber aufpassen, dass er nicht alles nass spritzt. Mehrere Tage lang versuchte ich sie Pilar zu nennen, aber es ging einfach nicht.

Fermín ist zwölf, wirkt aber wie zehn, abgesehen von seinem Blick. Casualidad hebt die Klappe hoch, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu waschen, und ich kann das Auge kurz sehen: Iris und Pupille sind von einer schillernden Gewebeschicht überzogen. Sie stellt das Wasser ab und trocknet sich die Hände an ihrer Schürze. Ich rufe ihr zu, ob sie den Namen der kleinen braunen Vögel kennt.

– Arrozeros, sagt sie. Wenn sie die Wahl hätten, würden sie nichts als Reis fressen. Wenn man eine Schale Reis stehen lässt und nicht abdeckt, kommen sie sogar in die Küche geflogen. Den Fehler mache ich nie wieder.

Ich versichere ihr, dass es keinerlei Anlass zur Beunruhigung gibt, und frage nach der Unterredung mit Fermíns Lehrerin.

– Es ist nichts Schlimmes, erwidert sie. Nur, dass er im Unterricht nichts sagen will.

In vielerlei Hinsicht ist sie die beste Haushälterin, die ich je gehabt habe, auch wenn sie sich in letzter Zeit langsamer bewegt und ich gestern vier saubere Teller gestapelt im Kühlschrank gefunden habe. Wenn ich nachfrage, was nicht häufig ist, antwortet sie, dass sie gern für mich arbeitet und bei niemand anderem arbeiten will. Reynaldo sagt, ich würde ihr zu viel zahlen, das würde sie selbstgefällig und geldgierig machen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß auch nicht, wie ich ihr die ersten Monate nach Pilars Tod je vergelten kann und habe es noch nicht wirklich versucht.

Abgestorbene Blätter fallen jetzt in Mengen zu Boden, aber im Sommer wird der Baum dem Garten wieder Schatten spenden, und das Haus meiner Jugendzeit hatte auch einen Mandelbaum. Die Mandeln wurden nie geerntet und der Baum wuchs schlecht, aber mein Vater hat jeden Herbst einen Entwässerungskanal für ihn gegraben und ihm bei jeder Kältewelle ein Heizgerät hingestellt. Meine Mutter wohnt immer noch in dem Haus, nicht in Daly City, sondern in Fallash, drei Stunden nördlich von Daly City, mit einem gemauerten, offenen Kamin und einem überwucherten Garten. Natürlich haben Pilar und ich das Haus in Piura nicht nur des Mandelbaums wegen gekauft, aber er macht mir an vielen Tagen Freude.

Ein ganzes Jahr lang hatten meine Eltern davon geredet, wie anstrengend sie das Leben an der Bucht von San Francisco fanden; eine Woche nach meinem elften Geburtstag zogen wir weg, nach Fallash, achttausend Einwohner am Ufer des Clear Lake. Erst hasse, dann liebe ich die Einsamkeit. Entenfamilien, kahle Berge, immergrüne Eichen und Bärentraubensträucher. Meine Mutter unterrichtet Sozialkunde an einer Schule in Lakeport und mein Vater verkauft Versicherungen. In manchen Nächten schleiche ich spät am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei, sehe meine Mutter im Traum zucken und meinen Vater Werbesendungen schauen, wobei ihm die Tränen die Wangen hinunterlaufen. Eines Morgens frage ich. Mein Vater streitet ab, je geweint zu haben, und meine Mutter behauptet, sie habe nur von Schulbüchern geträumt, die zum Leben erwacht waren und tanzten.

Hier in Piura hat man Heilige statt Versicherungen. Die laminierten Heiligenbilder werden in Hand- und Brieftaschen herumgetragen und als Glücksbringer verschenkt. Die Arrozeros sind weg. Mariángel steht mit beiden Händen am Baum da und schwankt. Casualidads Hautfarbe ist in den letzten Tagen noch dunkler geworden, warum weiß ich nicht, und im Wohnzimmer klingelt das Telefon.

Als ich nach dem Hörer greife, stoße ich mit der Hand gegen eine Buchstütze, und eine Buchlawine ergießt sich auf den Boden – Baudin und de la Riva Agüero und Porras Barrenechea. Vom Lärm aufgeschreckt, kommt Casualidad herein und steht lautlos da, während ich telefoniere. Es ist Arantxa, meine Chefin, Leiterin des Fremdsprachenzentrums, Vorsitzende der Englischabteilung, eine üppige Spanierin aus Bilbao. Wenn sie Pakete von zu Hause bekommt, riecht es in ihrem Büro nach Chorizo, und sie ist aufgekratzt und für sämtliche Ideen aufgeschlossen, sogar für schlechte.

– Dein Typ wird verlangt, sagt Arantxa.

– Das kannst du nicht machen. Nicht am Wochenende.

– Der Archäologe braucht einen Dolmetscher beim Abendessen mit dem Rektor. Jackett und Krawatte, Pórticos Hotel, in einer Stunde.

– Was für ein Archäologe?

– Du hast doch die Ankündigung der Konferenz bekommen, antwortet Arantxa. Ich habe gesehen, wie du sie gelesen hast, du hättest hingehen sollen, es hätte dir gefallen. Egal, Tatsache ist jedenfalls, dass ich dich heute Abend brauche.

– Warum machst du das nicht? Du bist viel –

– Ich habe gestern alle Präsentationen gedolmetscht, und das Abendessen mit der Geschichtsabteilung auch, aber die Schweinekoteletts müssen verdorben gewesen sein, oder der Salat. Jedenfalls schaffe ich es nicht aus dem Bett.

– Hast du erbrochen? Ist der Durchfall grünlich oder bräunlich? Wie steht es mit Blut?

– John –

– Wenn da nämlich Blut ist, heißt das, dass du Geschwüre im Darm hast. Wahrscheinlich Amöbenruhr. Du brauchst Antibiotika, steriles Wasser, vielleicht Antiparasitika, und –

– John.

– Was?

– Ich will einfach nur, dass du in einer Stunde am Pórticos Hotel bist.

Casualidad sammelt die heruntergefallenen Bücher auf. Ich halte den Telefonhörer zu und frage, ob sie länger bleiben kann. Sie nickt und sagt, dass sie die ganze Nacht hier bleiben kann, wenn notwendig, und nur Fermín anrufen muss, um ihm Bescheid zu sagen.

– Tut mir leid, sage ich zu Arantxa, Casualidad hat keine Zeit.

– Ich habe deine Frage gehört, John, und ihre Antwort auch.

– Es gibt noch zwanzig andere Englischdozenten außer mir. Jeder von denen spricht –

– Du bist unser einziger Muttersprachler. Außerdem habe ich schon alle durchtelefoniert, und außer dir ist keiner drangegangen. Ich habe noch was gut bei dir, John. Bitte sei in einer Stunde da.

Ich quetsche den Hörer zusammen, bis der Kunststoff Risse bekommt, lege auf, bedanke mich bei Casualidad und sage, sie könne jetzt gern Fermín anrufen. Sie fragt, ob ich das vielleicht machen kann. Ich nicke und wähle. Sie ist in einem Andendorf namens Frías aufgewachsen, und bei ihr zu Hause gab es kein fließendes Wasser, keinen Strom und kein Telefon. Manchmal vergisst sie immer noch, dass man den Hörer auf den Tisch legen muss, nicht zurück auf die Gabel, wenn man denjenigen holen geht, der am Telefon verlangt wird.

Fermín hebt ab, und unter dem Sofa liegt noch ein von Casualidad übersehenes Buch. Ich richte ihm die Nachricht aus, wünsche ihm alles Gute und befördere das Buch ans Tageslicht – die Means-Übersetzung von Pedro Pizarros Relación