Pächter der Zeit - Thomas Flanagan - E-Book

Pächter der Zeit E-Book

Thomas Flanagan

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Beschreibung

In dem historischen Roman "Der Pächter der Zeit" berichtet Thomas Flanagan über den lange aufgestauten Freiheitsdrang der Iren, der sich 1867 mit dem schicksalhaften Fenier-Aufstand entlädt. Die vier Freunde MacMahon, Tully, Delaney und Nolan, getrieben von unterschiedlichen Motiven und Sehnsüchten, schließen sich der Revolte an. Gekämpft wird gegen das britische Empire, dem Irland unterstellt ist. Doch schon bald lassen Treulosigkeit und fehlende Koordination den Aufstand zusammenbrechen. Das Leben der vier Freunde nimmt eine schicksalhafte Wendung. – Mithilfe von verschiedenen Perspektiven beleuchtet der Autor die damaligen Lebensumstände und bringt dem Leser auf spielerische Weise die Komplexität der irischen Geschichte näher. Ein fundierter und spannender Roman über ein dramatisches Kapitel der irischen Geschichte, sowie über eine tragische Liebe und die Enthüllung eins bedächtig gehüteten Geheimnisses.Thomas Flanagan studierte an der University of Notre Dame sowie an der Duke University, wo er schliesslich sein Master und später PhD Studium abschloss. Unterdessen lehrt er als Professor an verschiedenen amerikanischen Universitäten, hauptsächlich Literatur und Geschichte Irlands und lebt in Long Island, New York. Sein erster Roman "Ein Traum von Freiheit" erschien in hohen Auflagen und begeisterte Publikum und Kritiker in gleicher Weise. -

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Thomas Flanagan

Pächter der Zeit

SAGA Egmont

Pächter der Zeit

Aus dem Englischem von Gabriele Haefs nach

The tenants of time

Copyright © 1988, 2018 Thomas Flanagan und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711483978

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Zur Erinnerung an

F.W.Dupee

Mark Schorer

Kevin Sullivan

Erster Teil

1

[Patrick Prentiss]

Lange Zeit nach dem Fenier-Aufstand in Kilpeder im Jahre 1867, als Robert Delaney und Ned Nolan bereits tot waren, nachdem Ardmor sich in Italien niedergelassen hatte, als nur noch Hugh MacMahon und der alte Lionel Forrester, die beide einen Teil der Geschichte kannten, noch lebten, entdeckte ein Fremder in Kilpeder, daß er, anfangs ohne sich dessen bewußt zu sein, daran arbeitete, diese Teile zusammenzufügen. Als ihm klarwurde, daß er diese Arbeit vielleicht niemals vollenden würde, und die Teile deshalb zurück in die Truhe der Vergangenheit legte, war er zu der Überzeugung gelangt, daß die Ereignisse in Kilpeder, vom Aufstand 1867 bis zum Sturz Parnells 1891, eine Form, ein Muster, ein Thema hätten, die sich in den Variationen von einem halben Dutzend Leben niederschlügen. Aber dieses Wissen war ihm zu nichts nutze. Er hatte sich in die Vergangenheit verliebt, eine vergebliche Liebe.

Eines Abends im Juni 1904 kam Patrick Prentiss zum erstenmal nach Kilpeder und nahm sich ein Zimmer in den Arms. Er war ein unaufdringlich gekleideter Mann von Mitte zwanzig, grauer Tweed in Fischgrätmuster, weicher grauer Hut, einen Überzieher über den Arm geworfen. Sein Akzent beeindruckte Gilmartin, den Besitzer der Kilpeder Arms, auf diesem Gebiet ein Fachmann.

Als er sich ins Gästebuch eintrug, nahm er aus einem Etui aus marokkanischem Leder eine Brille mit dünner goldener Fassung, in der das Licht der grünen Lampenglocke funkelte. Seine Schrift hatte keine Ähnlichkeit mit den Kritzeleien der wohlhabenden Farmer oder dem schroffen Selbstvertrauen der Handelsreisenden, der üblichen Kundschaft der Arms. Patrick Prentiss, Dublin und London.

Am nächsten Morgen hatte er das kleine, von der Sonne erhellte Eßzimmer für sich, dessen breites, geschwungenes Fenster auf den Marktplatz hinausging. Ein Mädchen mit rotem Gesicht, mit schlanker Taille, aber dicken Fesseln unter dem schwarzen Rock brachte ihm Porridge, gekochte Eier, fettigen, dick geschnittenen Speck, gerösteten Toast, eine Kanne Tee. Beim Essen lag vor ihm auf dem Tisch ein Exemplar von Muirhead’s Guide, und er bemühte sich, die kleinen, enggeschriebenen Buchstaben zu entziffern.

Gilmartin wartete hinter dem kurzen Tresen aus Schwarzeiche auf ihn. »Werden Sie lange bei uns bleiben, Mr. Prentiss?« fragte er und erwartete zu hören, daß Prentiss am Nachmittag bereits abgereist sein würde.

»Nicht lange«, antwortete Prentiss. »Vielleicht ein oder zwei Wochen. Macht das Probleme?«

»Nicht im geringsten«, sagte Gilmartin. »Sehen Sie sich doch um. Donnerstagabend wird es hier im Haus allerdings von Farmern und Viehhändlern wimmeln, die wie ihr Vieh brüllen. Ich kann Ihnen ein ruhiges Zimmer an der Rückseite des Hotels geben, mit Blick auf die Berge. Priester und Anwälte haben sich lobend darüber geäußert.«

Prentiss sah sich um. Verstaubte, ausgefranste rote Teppiche, unregelmäßig verteilte Sessel mit rissigem schwarzem Leder. An den Wänden hingen hinter Glas Forellen und Flußbarsche, mit schillernder Haut und glotzenden Augen. Ein großes sepiafarbenes Foto zeigte eine Jagdgesellschaft: Reiter, Pferde, Jagdhunde. Ein grelles Ölgemälde: Berge in der Ferne, lila und schiefergrau, tiefblauer Himmel, Wolken wie Wattebäusche.

»Das sind die Berge«, sagte Gilmartin. »Die Derrynasaggarts. Kennen Sie sich in diesem Landesteil aus?«

»Ich habe von den Derrynasaggarts gehört«, erwiderte Prentiss. »Dahinter liegt Kerry.«

»Und die brühmten Seen von Killarney. Im Sommer steigen Reisende auf dem Weg zu den Seen bei mir ab, aus England und Deutschland. Deutsche haben mir gesagt, daß es bei ihnen solche Seen nicht gibt. Ganze Bücher sind über sie geschrieben worden.«

Prentiss hatte, da er etliche dieser Bücher gelesen hatte, nicht den Wunsch, sie zu besuchen, Pfade, ausgetreten von Generationen von Führern und Sommerfrischlern, Ausflugskarren mit Picknickkörben, Bootsleute voll abgegriffener Versionen sentimentaler Sagen. Kilpeder, diese verschlafene Marktstadt, und die wilden Hügel, die es umgaben, hatten ihn hergelockt.

Er ging zur offenen Tür und betrachtete den Marktplatz. Keine Menschenseele war so früh unterwegs, und die Läden waren geschlossen, Ihm gegenüber lag eine stattliche Markthalle aus Stein mit den Proportionen eines früheren Jahrhunderts, Quader von grauem, behauenem Stein, ein Ziergiebel. In beiden Richtungen zogen sich daneben Läden und Schenken hin, ein Laden war sehr viel größer als alle anderen; sein Name, D. Tully und Sohn, stand in vergoldeten, komplizierten Schnörkeln auf einem roten Schild. Auf Prentiss’ Seite, am nähergelegenen Ende des Platzes, befanden sich die Tore eines Gutes, Steinvögel mit ausgebreiteten Flügeln hockten auf den Torpfosten. Schräg gegenüber den Pfosten lag einee saubere protestantische Kirche mit einem Kirchturm, ihre Türen aus Eichenholz waren geschlossen. Zu seiner Rechten erstreckten sich Läden bis hin zur Polizeikaserne, und dahinter lagen in unregelmäßigen Abständen die Hütten der Landarbeiter an der Straße nach Macroom, an der die schweren Türme und sinnlosen, ornamentalen Zierpfeiler der katholischen Kirche aufragten. Ein Mann trat aus einer der Hütten und ging langsam, schwerfällig, auf den Marktplatz zu. Aus der Entfernung hatte seine formlose Jacke die Farbe des Regens.

»Ich habe einen Brief für den Schulmeister«, sagte Prentiss.

»Ah«, erwiderte Gilmartin. »Wenn’s weiter nichts ist.« Er trat neben Prentiss in die Tür. »Christy Mannion. Die Schule liegt die Straße hinunter in der Chapel Street, hinter der Kirche, und Mannions Haus ist gleich daneben.«

»Nicht Mannion«, erklärte Prentiss. »Hugh MacMahon.«

Gilmartin lächelte. »Der ehemalige Schulmeister. Er ist schon lange im Ruhestand. Hughie lebt jetzt weit außerhalb der Stadt, an der Straße nach Killetin. Sie brauchen ein Pferd oder einen Einspänner, und ich habe beides nicht. Aber die Mietstallung kann Ihnen da leicht behilflich sein und Ihnen die richtige Straße zeigen.«

Jetzt trat aus der Wache ein Constable ins blasse Sonnenlicht, sein Uniformrock war nicht zugeknöpft.

»Er hat mich unterrichtet«, sagte Gilmartin. »Ein anständiger alter Bursche. Ein gelehrter Mann. Christy Mannion kann ihm nicht das Wasser reichen, der ist so ein junger Spund aus Dublin, der alles auswendig gelernt hat. Heute besteht der ganze Unterricht nur noch aus Examen und Zeugnissen. Ein kluger Mann. Er hat mit Gelehrten korrespondiert.«

Der Constable grüßte den Landarbeiter leichthin mit einem Winken, und der Mann berührte seine Mütze.

»Jetzt ist es hier friedlicher«, sagte Prentiss, »als anno 67.«

Überrascht starrte Gilmartin ihn an, dann grinste er wieder, ein goldfunkelndes Grinsen. »Unsere Stunde des Ruhms, bei Gott. Die Schlacht von Clonbrony. Vor ein paar Jahren war die Rede davon, auf dem Marktplatz eine Statue aufzustellen, aber sie konnten sich nicht über ihr Aussehen oder die Inschrift einigen. Das ist auch besser so, wenn man sich die Denkmäler in einigen Orten ansieht, die ich nennen könnte.«

Sie standen einen Moment in der windstillen Luft, dann sagte Gilmartin: »Hugh MacMahon war dabei, haben Sie das gewußt? Einer der Fenier von Clonbrony. Jetzt sind nur noch wenige davon übrig, abgesehen von den Mitläufern.«

»Ich habe es gewußt«, erwiderte Prentiss. »Deshalb habe ich ja einen Brief für ihn.«

Gilmartin stand müßig mit in die Seiten gestemmten Armen in der Tür und sah hinter Prentiss her, der über den Marktplatz zur Mietstallung ging. Aus dem Haus waren die drei Dienstmädchen bei der Arbeit zu hören, Besenstriche auf den Teppichen. Constable MacGann trat neben ihn, ein bulliger Mann mit rotem Gesicht und klaren blauen Augen unter dem Helm.

»Schau an«, sagte Gilmartin mit entsprechender Kopfbewegung. »Ein wortgewandter junger Bursche aus Dublin und London, der hergekommen ist, um Hugh MacMahon zu besuchen. Ich dachte zuerst, er hätte geschäftlich im Schloß zu tun.«

»Was Wunder«, erwiderte MacGann. »MacMahons Name ist den Gelehrten und Professoren der ganzen Welt ein Begriff.« Gilmartin mißfiel MacGanns Ulster-Akzent, Dornen und Brombeeren.

»Wegen Clonbrony Wood«, fuhr Gilmartin fort. »Das behauptet er wenigstens.«

»Attend you gallant Irishmen«, deklamierte MacGann in einer Art Sprechgesang. »Man sollte doch denken, das alles wäre aus und vorbei und hätte ein anständiges Begräbnis bekommen.«

»Das dachte man auch früher schon«, sagte Gilmartin. »Und dann beschloß Ned Nolan, uns einen Besuch abzustatten.«

»Ein erbärmliches Land«, meinte MacGann, »wo man nicht einmal Schurken und Helden unterscheiden kann.«

»Na ja«, sagte Gilmartin, faul und boshaft in der ersten Wärme der Sonne. »Mich geht das nichts an, Gott sei Dank.«

Prentiss verließ zu seinem ersten Besuch bei dem Mann, der noch nicht zu seinem Freund geworden war, Kilpeder in einem Einspänner, wobei er versuchte, die komplizierten Erklärungen des Stallburschen über den Weg nach Killetin im Kopf zu behalten. Er fuhr an Tullys Laden vorbei und an der Wache, wo vor langer Zeit junge Männer in einen Hagel aus Gewehrkugeln gestürmt waren, standhafte Ziegel und enge Fenster; vorbei an der katholischen Kirche, deren Türen zur Frühmesse geöffnet waren; in Blau gekleidete Statuen wurden sichtbar und ein vergoldeter Tabernakel, der im priesterlichen Schatten nicht funkelte; vorbei am Schulhaus, wo der Mann, der sein Freund werden sollte, einst mit einem Stock in der Hand die Kinder von Kilpeder hatte pauken lassen; vorbei an Hütten mit eingefallenen, unebenen und verrußten Strohdächern; und schließlich hinaus in die Leere der Poststraße nach Macroom. Bei einer Kreuzung, drei Meilen vor der Stadt, gekennzeichnet wie versprochen durch ein kleines, der Mutter Gottes geweihtes Heiligenhäuschen am Straßenrand, bog er nach links ab und hielt auf die Hügel zu.

Junges Korn und Heu leuchtete in der Morgensonne, grünblättrige Kartoffelfelder, dichtbewachsene Grasweiden, schwarz und braun geschecktes Vieh auf den Feldern. Häuser in der Ferne, weißgetüncht, strohgedeckt. Die Gräben auf beiden Straßenseiten waren von blühenden Brombeerhecken überwuchert. Das Gezwitscher von Vögeln, und der Ruf eines Vogels, den er nicht bestimmen konnte, ein langer Ton und dann zwei kurze. Seine Ohren suchten angestrengt nach anderen Geräuschen, aber er hörte nur noch die Hufe auf der festen Erde, das Quietschen der Räder.

Prentiss’ rechte Hand hielt locker die Zügel, seine linke ruhte, durch Zufall, auf seinem Exemplar des Muirhead, kompakt, blau eingebunden, ein voluminöser Führer für Besucher dieser Insel, er erstickte sie mit galvanisierten Tatsachen, Skizzen, Lokalgeschichte, Karten. Für Prentiss brachte das Buch die melancholische Bestätigung der Unzulänglichkeiten der Sprache. »Kleinere Straßen«, hätte der Muirhead sagen können, wenn er sich zu solchen Details herabgelassen hätte, »führen nordwärts zu Dörfern wie Killetin«, ohne Vogelsang oder blühende Hecken zu bedenken.

Vor einigen Monaten in London, in seiner Wohnung in Pump Court, und fast ein Jahr, nachdem er sich zuerst versucht gefühlt hatte, über den Fenieraufstand zu schreiben, als das Bücherpaket von Blackwell angekommen war, das auch den Muirhead enthalten hatte, hatte er es sich sofort in seinem Sessel am Kamin gemütlich gemacht, um den Eintrag über Kilpeder zu lesen. »Ein typischer Marktflecken in West Cork«, hatte er gelesen, »gelegen an der Straße Macroom-Killarney, mit wenig Interessantem für den Besucher, mit Ausnahme von Ardmor Castle, seinen Parks und Ziergärten, Sitz der Earls of Ardmor.« Prentiss, Ire durch Geburt, durch eine Kindheit in Dublin, durch Familienferien am Loch Corrib, hatte den müden Tonfall begriffen, hatte fast Mitgefühl verspürt, hatte sich Kilpeder vorgestellt, indem er es aus Erinnerungen an kleine Städte konstruierte, die er kannte, Longford und Mullingar. Und doch begriff der Muirhead, wenn Prentiss recht hatte, nichts, und seine Sprache brachte die korrekten Lügen aller Reiseführer.

»Geschichte«, hatte der Muirhead angekündigt und dabei voller Selbstvertrauen ein Wort verwendet, das für Prentiss zu einem Gewirr aus Schatten geworden war. »Kilpeder und seine Umgebung, bis zu den Derrynasaggarts im Westen, befand sich ursprünglich im Besitz des gälischen Clans O’Donovan. Der Mittelteil gelangte später in die Hände der mächtigen normannischen Familie Barry, die am Ufer der Sullane eine beeindruckende Festung samt Bergfried errichtet hatte. Das Gebiet ging während der stürmischen Desmond- und Tyrone-Rebellionen der Tudorzeit mehrmals zwischen beiden Familien hin und her. 1584 wurde Sir Tadg O’Donovan durch den Lord Deputy Perrot an einem Baum auf dem Gebiet der heutigen Domäne gehängt. Ein Baum, der angeblich derselbe ist, was man jedoch bezweifeln muß, wird dem Neugierigen gezeigt. Die ursprüngliche Burg wurde 1599 von Hugh O’Neill, dem rebellischen und für vogelfrei erklärten Hugh of Tyrone, belagert und zerstört. Im 17. Jahrhundert gingen die Ländereien von Kilpeder in den Besitz der Forresters, einer Familie aus Dorset, über, die später in den Adelsstand erhoben wurde.«

Armer Baum, dessen Echtheit bezweifelt werden muß, hatte Prentiss neben seinem Londoner Feuer gedacht, als der Verkehr von Fleet Street leise zu seinen Ohren vordrang. Er stellte sich eine nächtliche Szene vor, von Fackeln beleuchtet, ein halbes Dutzend Soldaten, die Tadg O’Donovan zu einer Eiche stießen und zerrten, an der in aller Eile eine Schlinge aus Hanf über einen Ast gestreift worden war. O’Donovans Haare sind verfilzt, ein ungepflegter Bart fällt auf seine Brust. Er schreit vor Wut und Furcht und dreht den Kopf zu seiner besiegten Festung um. Er trägt ein verdrecktes Wams und Hosen aus Ochsenleder. Das Rittertum, das er einst als Belohnung und gegen das Lehensgelübde der englischen Königin gegenüber erhalten hatte, ist jetzt vergessen, durch seinen Verrat zunichte geworden. Perrot, der Lord Deputy, hoch zu Roß, sitzt müßig dabei, er hat andere Aufgaben zu bedenken. O’Donovan brüllt, ein Gemisch aus Gälisch und Englisch. Perrot achtet nicht darauf. O’Donovan zuckt verzerrt an dem Baum, dessen Echtheit bezweifelt werden muß, seine Ochsenlederhosen sind besudelt. Und dieser Baum wird im Reiseführer erwähnt und dem Neugierigen gezeigt.

Aber vielleicht, dachte Prentiss jetzt, als er durch flaches Weideland auf die Vorhügel zufuhr, wußte er auch nicht besser als der Muirhead, wie die Vergangenheit sich abgespielt hatte. Er hatte seine eigene Version aus Scott und Hugo zusammengesetzt, seine Lektüre der Geschichte der Tudorzeit, für die Irland ein düsteres westliches Moor gewesen war, ein Moor, das Reiter und Ruhm, Kernesa und Gallowglassesb mit zerzausten Bärten, verräterisch und dumm, in die Tiefe zog. In der klösterlichen Gelassenheit des New College, Oxford, wo er in Englands festgefügter Geschichte lebte, dessen Steine im Laufe der Jahrhunderte honigfarben wurden, ungeschwärzt von Flammen, hatte er mit beschämter Faszination die narbenreiche und fragmentarische Geschichte seines Volkes gelesen, zur mitfühlenden Erheiterung seines Dozenten. Tee und Scones mit Butter um halb sechs, vor dem Fenster ein behagliches Kloster mit würzigem Geruch, und zwischen ihnen, dem Lehrer und dem Studenten, Stücke von dem, was sich als Geschichte ausgab, beschmutzt, verkohlt an den Rändern. Nun hatte diese Faszination ihn nach West Cork geführt, zum Haus eines in den Ruhestand getretenen Schulmeisters.

MacMahon hatte ihn vom Fenster aus gesehen, Pferd und Einspänner auf der kurvenreichen Straße zwischen den Hecken, und erwartete ihn am kleinen, affektierten, unnötigen Tor. Wilde Heckenrosen kletterten an der niedrigen Wand aus groben Feldsteinen empor. Ein dünner Mann, groß und aufrecht, hohe Stirn, schütter gewordener weißer Haarschopf, energisch geschorener Schnurrbart und, hinter dicken Gläsern, große, haselnußfarbene Augen.

»Seien Sie willkommen, Mr. Prentiss«, sagte er und streckte den Arm aus, um seinem Gast vom Wagen zu helfen. »Sie sind so jung, wie ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, warum ich das erwartet hatte, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.« Er sprach mit ausgeprägtem West-Cork-Akzent, ausgeprägter als Gilmartin, dieser weltgewandte Schankwirt, lebhafte, musikalische Aussprache. Ein Gesicht, das für einen Mann in seinem Alter seltsam wenig Falten aufwies. Wie alt mochte er sein, fragte Prentiss sich. Im Jahre 67 war er sicher Anfang zwanzig gewesen, jung für einen Schulmeister, aber bereits verheiratet. »Ein junger Mann mit gebildetem und respektablem Auftreten«, hatte der Cork Examiner geschrieben, »mit dem eifrigen Gesicht eines Enthusiasten. Er war adrett angezogen, in deutlichem Gegensatz zu vielen seiner Mitverschwörer.« Heute trug er graugesprenkelten Tweed, ein ungebügeltes, aber schneeweißes Hemd und eine blaßblaue Krawatte.

Die Hütte war so adrett wie MacMahon selber. Sie standen einen Moment lang in der kleinen Diele mit ihren weißgetünchten Wänden, breiten, rotgestrichenen Dielenbrettern, dann öffnete MacMahon die Wohnzimmertür. An die rückwärtige Wand waren braungefleckte Bretter gehämmert worden, und vom Boden bis zur Decke war die Wand ein Bücherwald. Die Bücher drohten die Regalbretter zum Bersten zu bringen. Ihnen gegenüber stand zwischen den Fenstern ein richtiger Bücherschrank aus Mahagoni. Zwei Sessel neben dem verrußten Kamin, tief, abgewetzt, die Bezüge ausgefranst und ausgeblichen. Sonnenlicht erfüllte das Zimmer.

Während MacMahon Tee kochte, ging Prentiss an der Bücherwand entlang, in der die Bände planlos und ohne System untergebracht waren – Geschichte, Reisen in Afrika, Theologie, vielleicht zwei Dutzend lateinische Bücher fielen ihm ins Auge, Livius, Sallust, einige französische, die Gedichte von Lamartine, ein Roman von Hugo. Das hatte er nicht erwartet – ein Schulmeister in West Cork, ein Leben, verbracht damit, den Kindern von Farmern und Ladenbesitzern Rechnen, die Geographie der Welt, die Magna Carta und die Schlacht von Waterloo beizubringen.

MacMahon machte sich am Teetablett zu schaffen: Porzellan mit Weidenmuster, dünne, akkurate Scheiben Brot. Ein Tontopf enthielt Marmelade, mit dem süßen, Übelkeit erregenden Geruch der Hecken. »Der Schrank zwischen den Fenstern stammt aus dem alten Haus, in Kilpeder. Er war Marys großer Stolz, es gab auch noch eine dazu passende Anrichte und eine Art Vitrine, die auf Klauenfüßen stand. Aber wir hatten nie genug Platz für alle Bücher. Sie lagen in großen Stapeln im Schlafzimmer, ohne System oder Ordnung. Mary sagte immer, ich würde eines Tages noch selber zum Buch werden. Eines Morgens würde sie wachwerden und ein Buch neben sich im Bett finden.«

»Sie haben wirklich gewaltigen Appetit auf Bücher«, meinte Prentiss.

»Appetit«, wiederholte MacMahon und kostete das Wort aus. Sorgfältig schenkte er mit weißen, braunfleckigen Händen den Tee ein. »Da haben Sie wohl recht. Jahrelang habe ich geglaubt, ich nähme aus vollen Händen Wissen und Weisheit zu mir, aber im Grunde ist es wohl nur ein Appetit wie jeder andere.«

»Einer, den ich mit Ihnen teile«, sagte Prentiss und ließ seine Worte in der Luft hängen, bis er seine Tasse bekommen und einen Schluck probiert hatte. »Hervorragend«, sagte er und erinnerte sich schaudernd an sein Frühstück.

»Richtig aufgießen ist der Trick«, erklärte MacMahon. »Bob Delaney schwor auf den billigsten Tee. Der billigste Tee wurde an die Armen verkauft, und die nehmen niemals minderwertige Ware. Tee ist schließlich ihr einziges Vergnügen. Und Bob, wissen Sie«, sagte er und rührte seinen eigenen Tee um, »kannte sich in solchen Fragen aus, wo er doch seine ganze Jugend hinter Tullys Theke verbracht und Tee aus den Fässern in kleine Säckchen abgefüllt hatte.«

»Sie waren befreundet, nicht wahr?« fragte Prentiss. »Sie und Robert Delaney.«

MacMahon lächelte ihn an, ein zaghaftes, freundliches Lächeln hinter dem martialischen Schnurrbart.

»Wie ich Ihnen schon geschrieben habe, als ich Ihren schönen Brief erhielt, Mr. Prentiss, es wird mir eine Ehre sein, Ihnen zu erzählen, was ich weiß. Vor vielen Jahren fand man immer wieder Artikel über Clonbrony in den Zeitungen, aber das war alles Unsinn. Ich habe sie nicht einmal aufbewahrt. Bei Ihnen ist das anders, Sie haben in Oxford Examen gemacht, haben gelehrte Essays für die großen Zeitschriften in London und Edinburgh geschrieben.«

»Zweimal«, sagte Prentiss. »Ich wollte Sie nicht täuschen.«

»Trotzdem«, meinte MacMahon. »Das ist eine Fähigkeit, die ich nie besessen habe. Ich sage Ihnen, Mr. Prentiss, bei dem Appetit, den Sie erwähnt haben, haben sich große Klumpen von Wissen in meinem Kopf festgesetzt. Wenig, was seit den Tagen der alten Fomoric in West Cork passiert ist, ist da nicht irgendwo aufgestapelt. Aber wann immer ich versuche, etwas davon aufzuschreiben, produziere ich nur ein dummes Durcheinander. Es ist sicher eine Kunst, und vielleicht können nur die, die eine Universität besucht haben, ihre Geheimnisse durchschauen.«

»Das bezweifle ich«, sagte Prentiss. »Und die Autoren drüben in Ihrem Regal würden das ebenfalls bezweifeln.«

»Ach, diese Burschen«, meinte MacMahon, als ob er von dubiosen Trinkkumpanen spräche. »Aber zurück zu Clonbrony Wood. Ich glaube nicht, daß es Ihre Anstrengungen wert ist.«

»Denken Sie oft daran?«

»Nein, wirklich nicht. Ich bin jetzt ein alter Mann, und Clonbrony Wood hat nur einige Stunden meines Lebens ausgemacht, vor langer Zeit. Mir kommen ganz andere Dinge ungebeten in den Kopf, ohne Sinn und Verstand. Ich erinnere mich aber gut genug daran, das wird Sie sicher beruhigen, und auch an die Monate vorher und die Monate, die darauf folgten. Aber es war nicht mein Leben, mein wahres Leben, daran hatte es keinen Anteil. Mein wahres Leben gehörte Mary und unseren Jungen. All die Jahre, ehe die Jungen losgezogen sind, um ihr Glück zu suchen, und ehe Mary gestorben ist. Mein Leben war das Haus in der Chapel Street, und das Schulhaus nebenan. Am besten erinnere ich mich an das Wohnzimmer in der Chapel Street und an das Klavier, das das Gehalt von sechs Monaten gekostet hatte. Am Ende des Lebens erinnert man sich an die Musik des Lebens, Mr. Prentiss, und nicht an die Gewehrschüsse eines bitteren Nachmittags.«

»Ja, natürlich«, sagte Prentiss, von dieser abrupten Intensität fasziniert und gleichzeitig beunruhigt. »Ich wollte auch nicht…«

»Wissen Sie«, fuhr MacMahon fort, und seine Rede war nun wesentlich entspannter, als wollte er um Entschuldigung bitten. »Ich habe mir das alles gut überlegt. Es ist seltsam, daß es dieses Ich gibt, für das ich mich halte, ein Schulmeister am Ende seines Lebens, mit Begeisterung für alte Dinge und für Poesie in einer Sprache, die jetzt nur noch eine Handvoll von Menschen versteht. Aber in Clonbrony Wood war ich auch, habe meine Waffe getragen und abgefeuert. Danach wurde ich in Gewahrsam genommen und vor Gericht gestellt. Ich komme jetzt nur selten nach Cork, aber als das noch öfter vorkam, stand ich bisweilen vor dem Gefängnis oder dem Gericht und versuchte, sie in meiner Vorstellung wieder mit Leuten zu besetzen, wie im Jahre 67. Die Prozesse waren eine große Sensation, das können Sie sich ja vorstellen. Es waren Kronprozesse.«

»Ich weiß«, sagte Prentiss. »Ich habe die Akten gelesen.«

Weniger überzeugend noch als MacMahons Versuche, die öffentlichen Institutionen von Cork mit Menschen zu füllen, Wörter auf langsam braunwerdenden Seiten, Paraphrasen eines Gerichtsstenographen, Reden, vielleicht leidenschaftlich, jetzt aber vergilbt, verflacht. Alle, mit Ausnahme der Rede eines Mannes, und seine Antworten waren zu kurz gewesen, um Paraphrasen zu gestatten.

»Polizisten in doppelter Reihe«, sagte MacMahon. »Mit angelegten Gewehren, und jeden Tag wurde ein Schub von uns zum Gericht gebracht, mit auf den Rücken gefesselten Händen. Nicht nur die Männer von Clonbrony, wissen Sie. Fenier aus Skibbereen und Tralee und Tipperary. Und Kavallerie und Dragoner, Fußsoldaten. Und dahinter eine große Menge von Schaulustigen.«

»Waren die Zuschauer auf Ihrer Seite?« fragte Prentiss.

MacMahon lachte, ein unerwartetes amüsiertes Kläffen. »Sie wollten Aufregung. Die Leute von Cork sind verrückt nach Aufregung. Jede alte Frau und jeder Eckensteher vom Coal Quay. Ich erinnere mich, daß eine alte Frau Paddy Ennis zurief: ›Na sag mal, konntest du denn keine feste Arbeit finden?‹ Paddy fuhr herum und wollte ihr einen Hieb verpassen, vergaß dabei seine Handschellen und seine Fußketten und fiel gegen den Mann neben ihm. Paddy Ennis aus Knockmany, sein Bruder war jahrelang Pfarrer in Listowel.«

»Es ist lange her«, sagte Prentiss sanft, »aber Sie erinnern sich noch sehr gut.«

»Ja«, bestätigte MacMahon nickend. »Ich habe nichts vergessen. Wie hätte ich es vergessen können?«

Einen Moment unsicher, versuchte Prentiss, seine Tasse auf den flachen Tisch zu stellen, aber MacMahon nahm sie ihm ab.

»Wie hätte ich es vergessen können?« wiederholte er. »Es gab nichts Vergleichbares, bis an mein Lebensende nicht mehr. So war das für die meisten von uns. Nicht für alle. Für Bob Delaney natürlich nicht.«

»Auch nicht für Edward Nolan«, sagte Prentiss.

Rasch blickte MacMahon vom Tisch auf. »Nein«, sagte er. »Nicht für Ned.«

»Aber er war doch auch Ihr Freund, nicht wahr?« fragte Prentiss. »Sie und Delaney und…«

MacMahon schüttelte den Kopf. »Vincent Tully«, sagte er. »Bob und Vincent und ich waren die dicken Freunde, Die Drei Musketiere. Und Mary. Wir drei haben den Eid gemeinsam abgelegt, in Cork, ehe Ned nach Kilpeder zurückkam, um das Kommando zu übernehmen. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag in Cork und daran, wie wir drei vor dem Ortskommandeur den Eid ablegten. Sie wissen doch, wie das alles organisiert war, nicht wahr, Mr. Prentiss, Kommandozentrale und Ortskommandeure und alles andere?« Wieder lachte er. »Bei Gott, wir drei dachten, wir wären in das allerheiligste Mysterium des Lebens eingeweiht worden. In die Irish Republican Brotherhood.«

»Ich weiß ein bißchen darüber Bescheid«, antwortete Prentiss. »Aber nicht soviel, wie ich wissen müßte.«

»Da müssen Sie sich anderswo erkundigen«, sagte MacMahon trocken. »Denn hier beginnt und endet mein Wissen. Ich kann Ihnen sagen, wer der Ortskommandeur für Cork war; er ist schon viele Jahre tot. Joseph Tumulty aus Cork City, ein zu Wohlstand gekommener Schiffskrämer, und er hat uns im Büro hinter seinem Laden den Eid abgenommen, vor Fenstern, die auf die Lee hinausgingen. In späteren Jahren hat er damit geprahlt. Aber da war er schon das reine Bild von Ehrbarkeit, mit einem Haus in Montenotte. Er wurde ein schrecklicher alter Langweiler, um ehrlich zu sein, aber im Jahre 65, als er uns den Eid abgenommen hat, war er ein äußerst energischer Mann.«

»Alles besteht nur aus Schatten und Fragmenten«, meinte Prentiss. »Wer zur Kommandozentrale gehörte, und wo die Macht saß, und wer die Pläne machte und die Entscheidungen fällte. Deshalb möchte ich über eine lokale Aktion schreiben, über Clonbrony. Schließlich lebt Clonbrony weiter, in den Liedern und in allem anderen.«

»Nun gut«, erwiderte MacMahon. »Und warum auch nicht? Es ist alles lange her. Es sollte mehr davon geben, wenn Ihnen an der Ansicht eines ungebildeten Mannes etwas gelegen ist. Es ist meine große Liebe, Geschichte. Aber manchmal, wissen Sie, wenn ich an einem Winterabend in diesem Sessel sitze, bei einem guten Feuer und einem Becher Punsch, und mein Macaulay aufgeschlagen auf meinem Schoß liegt, dann frage ich mich, woher um Gottes willen er weiß, was er zu wissen behauptet. Unten auf jeder Seite sind kleine Fußnoten, wie Dornen auf einem Feld, aber sie können mich nicht überzeugen.« MacMahon schlug die Arme übereinander und lächelte boshaft.

In diesem Moment erkannte Prentiss endlich eine Ähnlichkeit, die ihn die ganze Zeit gequält hatte. Und zwar mit Oliver Richards, seinem Tutor, der äußerlich überhaupt keine Ähnlichkeit mit MacMahon hatte, obwohl beide große, braune, bebrillte Augen hatten. Ein stattlicher Mann, penibel, vorzeitig gealtert, seine Hände immer unterwegs zum Tabakstopf, zur Karaffe, zu den auf dem ganzen Tisch verstreuten Papieren. Um klarzustellen, was er meinte, sprang er aus seinem niedrigen Sessel auf, hüpfte auf kleinen, adretten Füßen zu seinen Bücherregalen, redete ununterbrochen, während seine Finger Titel hervorzogen. Er hatte, so weit Prentiss hatte feststellen können, niemals etwas geschrieben. Es gab auch in ihrer Herkunft keine Ähnlichkeiten, denn Richard war der Sohn eines Pastors aus Wiltshire, war mit siebenundzwanzig Fellow geworden, und seither war die Universität sein Leben.

»Ich habe einen Freund«, sagte Prentiss, »der Ihre Zweifel teilt. Er fragt sich, ob man überhaupt Geschichte schreiben sollte.«

»Ach«, sagte MacMahon in bestürztem Tonfall. »Das habe ich aber nicht gesagt. Ohne Geschichte wären wir kaum besser als die barfüßigen Heiden in Afrika. Es ist meine große Liebe«, wiederholte er, und seine Augen wanderten zu seiner Bücherwand.

Für Prentiss war MacMahon jedoch selber Geschichte, nicht die großartige Geschichte von Gibbon und Macaulay, ordentliche Absätze und angemessene Zitate, die durch die Jahrhunderte marschierten und Menschen, Könige, Ideen, Armeen aufwirbelten, sondern ein Fragment der Vergangenheit, ein Mann, der alt geworden war und dessen langes Leben sich auf den Erinnerungen an die wenigen Wochen des Aufstandes ablagerte.

»Für mich war es danach zu Ende«, sagte MacMahon. »Aber nicht für Ned Nolan oder Bob Delaney, und für den armen Vincent endete es dort am allerwenigsten. Ach, sicher habe ich meinen Eid noch jahrelang gehalten, und wenn mich irgendwer fragte, ob ich immer noch Fenier sei, dann habe ich ja gesagt, aber schließlich, in späteren Jahren, wußte ich soviel über ihre Schandtaten wie alle, die den Cork Examiner lesen. Danach kam noch soviel anderes, der Landkrieg, die Boykottkampagne, Home Rule und Parnell. Aber ich habe mich aus allem herausgehalten, wenn ich auch voller Stolz beobachtet habe, wie Bob immer höher stieg, Parlamentsmitglied und einer von Parnells Getreuen, wie sie genannt wurden. Und auch von Ned hörte man ab und zu oder sah seinen Namen. Aber ich habe mich aus allem herausgehalten, so weit das in solchen Zeiten möglich ist. Jetzt ist das alles Vergangenheit.«

»Ned Nolan«, sagte Prentiss, und ihm fiel auf, daß er sich nicht ganz wohl fühlte, wenn er diesen Namen aussprach. »Er war anders als Sie und die übrigen, nicht wahr?«

MacMahon sah ihn voll an, und ehe er antwortete, rückte er die Brille auf dem Nasenrücken zurecht. »Anders?« wiederholte er. »Nun ja, so anders als ich konnte er ja schließlich nicht sein, wissen Sie. Wir waren Vettern, sein Vater und meine Mutter waren Geschwister. Als er nach Kilpeder kam, hat er bei Mary und mir in der Chapel Street gewohnt und ist bis kurz vor dem Aufstand bei uns geblieben. Das war beim Prozeß ein großes Problem für mich, Anwalt Bourke hatte im Fall von Regina versus MacMahon wirklich keine leichte Aufgabe.«

»Aber Mr. MacMahon, wenn ich das so sagen darf, dann trennen einen Mann wie Sie und die Art Mann, zu der Nolan dann wurde, doch Welten.«

»Wurde?« wiederholte MacMahon. »Ich frage mich, Mr. Prentiss, was für eine Art Mann Sie wohl würden, wenn Sie sieben Jahre im Gefängnis von Portland verbrächten. In der Illustrated London News war einmal eine Zeichnung davon. Das Gefängnis war nur von außen zu sehen, ein graues, schreckliches Steingebäude, dahinter Felsen und ein kahler Strand. Die Unterschrift besagte, daß dieses Gefängnis Englands hartnäckigsten Verbrechern vorbehalten sei.«

»Ich weiß«, sagte Prentiss. »Ich habe gelesen, wie die inhaftierten Fenier behandelt worden sind. Es ist schwer zu akzeptieren. Natürlich war er das, vom englischen Standpunkt aus. Ein englischer Verbrecher.«

»Von seinem Standpunkt aus«, erwiderte MacMahon, »war er kein Engländer. Und was die Hartnäckigkeit betrifft, es war eine gute Schule, um hart zu werden. Er kam hart wie die Steine der Gefängnismauern wieder heraus. An solchen Orten wird an den Menschen ein fürchterliches Verbrechen begangen. Was in den Straßen von Kilpeder und in Clonbrony Wood geschah, geschah im Freien, unter dem Himmel, wo es von Gott und den Menschen gleichermaßen beurteilt werden konnte.«

»Vor Portland war er also anders?« fragte Prentiss. »Wissen Sie, das ist für alle, mit denen ich über Clonbrony gesprochen habe, der springende Punkt. Clonbrony ist das eine Ereignis des Aufstandes, von dem jeder gehört hat – es könnte als kühne Aktion bezeichnet werden; Sie waren alle erstaunlich tapfer, wissen Sie, wenn wir bedenken, wie gering Ihre Chancen waren. Und im Mittelpunkt allen Geschehens steht Ned Nolan, und was er wurde, und wie er endete.«

Nach einer Pause erhob MacMahon sich, ohne zu antworten, und ging zu einem der Fenster. Als er sich umdrehte, lächelte er.

»Vor einigen Jahren«, sagte er, »wimmelte es in Munster plötzlich von patriotischen Statuen. Die meisten waren das Werk eines Steinmetzen namens Bracken, aus Templemore, drüben in Tipperary. Ein großer Liebhaber von Hurling und der Wiederbelebung unserer Sprache und allem anderen, und inzwischen machte er Tonnen von St. Brigid-Statuen für die Kirchen und rebellische Pikenträger für die Marktplätze. Natürlich mußte auch Kilpeder sein 67er Denkmal haben, um den alten Obelisken zu neutralisieren, der unsere sklavische Ergebenheit gegenüber Lord Ardmor erklärt. Aber was für ein Denkmal, um Gottes willen? Ganz Irland kannte die traurige Geschichte vom düsteren Clonbrony Wood und unserer Schlacht gegen Englands Macht. Aber wußte ganz Irland auch, daß Bob Delaney, der Vizekommandeur von Clonbrony, seine letzten Jahre hier verbrachte, ein gebrochener Mann, ohne Freunde, außer mir und einem Stallburschen und einigen Farmern, die sich daran erinnerten, was er in den alten Tagen für sie getan hatte, und die ihm das Aufsetzen ihres Testamentes anvertrauten?«

Bei dieser Erinnerung wurde MacMahons Lächeln zu einem tiefen Lachen, und einen Moment lang glaubte Prentiss, dieses Lachen gälte ihm, wie er aufmerksam dasaß, verwirrt nicht von MacMahons Worten, sondern von seinem Tonfall.

Aus einem Eckschrank nahm MacMahon eine Flasche und Kristallgläser und sprach weiter, während er Prentiss den Rücken kehrte.

»Am Ende trank Bob etwas mehr, als gut für ihn war, und wer hätte ihm da Vorwürfe machen können, wo er doch jeden Nachmittag in seiner Anwaltspraxis verbrachte, die nur von wenigen besucht wurde, als ob er sich durch einen Eid dazu verpflichtet hätte? Ich weiß genau, daß er dort eine Flasche hatte, er hat sie oft genug hervorgeholt, wenn ich aus der Schule herüberkam, um ihn zum Tee einzuladen. Mehr, als gut für ihn war, aber nie zuviel. Seine Hand war immer ruhig, und er kleidete sich immer noch so wie in den Tagen seines großen Aufstiegs, einen gutgeschnittenen Anzug und glattgebügelte, saubere Wäsche. Aber ich bin sicher, daß er allein getrunken hat, und das tut niemandem gut. Dort saß er an Winternachmittagen, wenn das Sonnenlicht versickerte, mit allem, was ihm an Erinnerungen im Kopf herumging.«

MacMahon verließ das Zimmer, um einen Krug mit Wasser zu füllen, und aus der geringen Entfernung konnte Prentiss das Quietschen der Pumpe hören, und MacMahons munteres Lachen, zweifellos, weil er im Stillen Formulierungen einübte. Wo er doch allein lebte, dachte Prentiss, mit seiner Liebe zu den Worten, polierte er seine Geschichten bestimmt, und wenn keine Zuhörer da waren vielleicht, indem er sie laut erzählte. Als MacMahon zurückkehrte, stellte er Gläser und einen Steingutkrug zwischen die Teetassen und schenkte ein sorgfältig abgemessenes Quantum Whiskey ein.

»Bitte sehr«, sagte er, »und einen Tropfen Wasser, um ihn zu taufen. Jedenfalls, auf dem Höhepunkt der Diskussion über das 67er Denkmal erschien er bei Conefry, was er nur selten tat. Damals war Conefry ein bitterer Anti-Parnellit, obwohl er in letzter Zeit davon abgekommen ist. Leben und leben lassen – die Bibel des Gastwirtes. ›Ich habe mir meine Gedanken gemacht‹, sagte er, ›über die derzeit brennende Frage.‹ Dann ging er ins Séparée und bestellte sich einen großen Brandy. ›Und diese Frage scheint mir leicht zu klären. Wir brauchen schlichte Formen, schlicht und keusch, was die große Stärke von Mr. Brackens Kunst ist.‹ Was nicht stimmte; er war berüchtigt für seine Schnörkel und seine verschlungenen Kleeblätter. ›Und darauf kommt eine Statue von Vincent Tully. Unter allen Männern von Clonbrony war Vincent der mit dem richtigen Aussehen, er sah aus wie ein Held.‹ Was, nebenbei gesagt, alles andere als die Wahrheit war. Der arme Vincent war der angenehmste Gesellschafter, den es je gegeben hat, und die Damen fanden ihn unwiderstehlich, aber wie ein Held sah er nicht aus. ›Und Tully und Sohn können die Kosten übernehmern, fügte Bob hinzu.«

MacMahon prostete Prentiss zu, allerdings geistesabwesend, auf seine Erzählung konzentriert.

»Bob hatte eine scharfe Zunge, vor allem in diesen letzten Jahren. Ich kann mir das Schweigen, das er im Séparée hinterließ, gut vorstellen, und danach kam er in die Chapel Street, um mir davon zu erzählen. Wir beide wußten, wessen Name niemals auf dem Denkmal erscheinen würde. Am Ende ist es nie errichtet worden. Das ist besser so. Das Lied ist sein Denkmal.«

Der vom Wasser weicher gemachte Whiskey prickelte auf Prentiss’ Zunge, er hatte den Geschmack des milden Morgens. Die Anekdote, vermutete er, hatte ihre Pointe, aber bis auf weiteres konnte er sie nicht entdecken. Er sah MacMahon als Genießer solcher Geschichten, abgerundet und aphoristisch.

»Aber Nolan«, sagte er hartnäckig. »Sie hatten doch Achtung vor ihm, wie er damals war. Sie alle sind ihm gefolgt.«

»Wir hatten Vertrauen zu ihm«, erwiderte MacMahon. »Und war das nicht auch richtig von uns? Er hat uns zum festgesetzten Tag und zur festgesetzten Stunde angeführt, als in fünfzig Städten überall in Irland die Führer zögerten. Aber im ganzen Monat, den er bei uns war, unter meinem Dach schlief und mit uns aß, hatte ich nie das Gefühl, ihn zu kennen. Bob war sein engster Freund, und das war seltsam. Vorher, jahrelang, waren Bob und Vincent und ich befreundet gewesen. Aber nun gab es ihn und Bob. Ich habe nie zwei Männer gesehen, die so begeistert voneinander waren.«

»Sie waren entschlossene Männer«, sagte Prentiss. »Wenn wir von ihrem späteren Leben ausgehen.«

MacMahon hielt sein Glas mit beiden Händen. Er blickte in seinen Whiskey, dann hob er die Augen zu Prentiss und lächelte.

»Das waren sie, Mr. Prentiss. Von großer Charakterstärke.«

Sie sprachen, bis Mittag längst vorbei war und MacMahon Prentiss mit einer Grimasse versprach, jeden Tag zu Hause zu sein und sich über ein Gespräch zu freuen. Inzwischen hatte jeder drei Glas Whiskey getrunken, und Prentiss hatte ein viertes abgelehnt. Er fühlte sich in der Sommersonne etwas leicht im Kopf, MacMahon war jedoch noch so gelassen wie beim ersten Whiskey, ein kühler, offener Mann mit guten Manieren, wie es Prentiss erschien, den guten Manieren eines Provinzlers, der sich in seiner Provinz wohl fühlt. Sonnenlicht vergoldete jetzt die Bücher, fiel auf Steifleinen und Leder, auf sonnenverblichene Buchstaben. Ein Dozent, der einem bevorzugten Studenten guten Nachmittag wünscht, so begleitete MacMahon ihn ans Gartentor.

»Ich lebe nun schon seit fünf Jahren hier«, sagte er, »und nicht ein Mal bin ich dessen müde gewesen.«

»Hier gibt es sicher nicht viele Nachbarn«, meinte Prentiss.

»Stimmt«, antwortete MacMahon. »Aber weiter unten an der Straße wohnt eine Familie namens Nagle. Ihr Haus ist hinter der Kurve versteckt, aber ich kann in weniger als einer Stunde hingehen. Ich habe den Vater und danach die Jungen unterrichtet.«

»Sie müssen halb Kilpeder Buchstaben und Zahlen beigebracht haben«, sagte Prentiss. »Das muß doch eine große Befriedigung für Sie sein.«

»Das letzte Glied einer Kette«, erwiderte MacMahon. »Hier hat es immer einen Schulmeister gegeben. Früher waren es Hekkenschulmeister, ein oder zwei davon waren Dichter. Vor der großen Hungersnot war diese Gegend hier, bis zur Grenze, rein gälischsprachig, und man kann es immer noch hören. Bei all Ihrem Interesse für Kanonen und Trommeln, Trommeln und Kanonen, Mr. Prentiss, wissen Sie, daß dieser Teil von Munster einst für seine Dichtkunst berühmt war?«

»Nein«, antwortete Prentiss, etwas müde vielleicht, denn nachdem MacMahon ihn kurz angeblickt hatte, sagte er freundlich: »So war es. Kommen Sie, von hier oben hat man einen schönen Blick.«

Gemeinsam überquerten sie die Straße und gelangten durch das Gatter im niedrigen Zaun aufs freie Feld. Bei seiner Ankunft war Prentiss nicht aufgefallen, daß er auf höher gelegenes Gelände zuhielt, aber nun sah er, daß sie auf einer Anhöhe standen, die gute Sicht über ansteigende Felder bis zu den Vorhügeln bot. Dahinter glitzerten die Berge in der Mittagssonne, Sonnenlicht brach sich auf Felsen.

»Da hinten«, sagte MacMahon, und Prentiss wandte seinen Kopf den anderen, entfernteren Bergen zu, den Derrynasaggarts.

»Ein dicht bevölkertes Land«, erklärte MacMahon. »Vor Ihrer Zeit, vor meiner. Vor der Hungersnot. West Cork hat in jenen Jahren schwer gelitten, aber das wissen Sie natürlich. Skibbereen, Schull, Crosshaven, die Städte an der Küste; es war eine grauenhafte Zeit für sie. Hier war es nicht ganz so schlimm, aber es war doch schlimm genug. Es ist seltsam mit der Hungersnot, nie wird direkt darüber gesprochen. Und das war fast von Anfang an so. Nur wenige Jahre danach, als ich ein Kind war, sprach die Landbevölkerung nur von den »bösen Zeiten«, dann wurde rasch das Thema gewechselt. Aber die Hungersnot ist durch diese Täler, die wir jetzt sehen, und über diese Berge gezogen. Und sie hat die Hälfte der Menschen mitgenommen, in die Hungergräber oder über den Atlantik.«

Prentiss sah Felder, von Steinen eingerahmt, das intensive Grün des Sommers, Vieh, Hütten. Ein Mann ging langsam über eine entfernte Boreend, blieb stehen.

»Es hat mir große Freude gemacht«, sagte MacMahon, »alles, was möglich war, über das Leben an diesen Orten herauszufinden. Wunderschöne Gedichte sind dort geschrieben worden, und einige der Leute konnten sie auswendig. Ich habe sie in einem dicken Kassenbuch notiert, und ich habe auch Angaben über die Leute, die sie geschrieben haben. Das ist jetzt alles vorbei.« Prentiss, der grauen Fels, grünes Gras überblickte, versuchte ohne Erfolg, mit den Augen von MacMahons Phantasie zu sehen. MacMahons Geschichte war unsichtbar, hatte keine Narbe auf dem Land hinterlassen. Irgendwo vielleicht, versteckt von den Vorhügeln, gab es eine Siedlung von leeren Hütten, dachlos, Nesseln auf den herabgefallenen Steinen.

»Die Hungersnot war das Ende für das Volk«, sagte MacMahon. »Aber schon damals war die Dichtkunst nur noch ein Rinnsal. Wissen Sie, was der Dichtkunst den Todesstoß versetzt hat, Mr. Prentiss? Wir waren das, die Schulmeister von Kilpeder und den anderen Orten, mit unseren Buchstaben und Zahlen. Wir har ben ihnen Englisch gegeben, und wir haben das Gälische aus ihnen herausgeprügelt. Heute finden Sie in diesen Dörfern junge Burschen, die sich ihrer Großeltern schämen, die kein Englisch oder nur sehr schlechtes Englisch sprechen. Und dann komme ich und bewahre die Dichtkunst als Kuriosität auf. Wie die alten Entdecker, die ein oder zwei Indianerhäuptlinge mit nach London brachten, mit Federkronen und bemalten Gesichtern.«

»Ich fürchte, ich weiß nichts von dieser Sprache«, sagte Prentiss. »Kein einziges Wort.«

»Nun ja«, erwiderte MacMahon. »Im Grunde entgeht Ihnen da wohl nicht viel. Es gehört ja auch nicht zu Ihrem Thema. Die Burschen von 67 sprachen alle Englisch. Die Gälischsprecher, draußen in den Hügeln, lebten in einer anderen Welt als wir. Uns erschienen sie wie wilde Geschöpfe, wenn sie in die Stadt kamen, und das lag nicht nur an ihrer Sprache. Die Männer sahen alle wild und fremd aus, und die Frauen waren scheu wie Hasen.«

Aber Prentiss hatte das beunruhigende Gefühl, schwach, bohrend, daß es durchaus zu seinem Thema gehörte und daß er niemals etwas darüber wissen würde.

»Von hier aus«, fuhr MacMahon fort, »können Sie fast bis Clonbrony Wood sehen, dem großen Thema Ihrer Forschungen.« Das Wort »Forschungen« bewegte sich vage zwischen den Anführungszeichen dessen, was Prentiss langsam als MacMahons Ironie erkannte, hilfsbereit, amüsiert, die Ironie eines Tutors.

MacMahon legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn nach Süden. Die Gehöfte waren größer, und die Landschaft zog sich sanfter, ebener zum Fluß hin.

»Da hinten«, sagte MacMahon, »da liegt Ihr Clonbrony. Damals war der Wald dichter und doppelt so groß. Ardmor verkauft das Holz.«

Ein Schatten zwischen hellgrünen Feldern.

»Von hier aus können wir auch Ardmor Castle sehen, nicht wahr?«

»Sicher können wir das«, antwortete MacMahon.

Kilpeder war eine Ansammlung von Dächern. Dahinter lag Ardmor wie ein verkrustetes Juwel – Gärten, See, das Haus selber, auf einem niedrigen Hügel, mit Blick aufs Wasser.

»Von der ursprünglichen Burg«, hatte der Muirhead ihm mitgeteilt, »ist nur noch die efeubewachsene Ruine des Bergfrieds übrig. Das heutige Schloß, erbaut 1720 nach einem Entwurf von Richard Cassels, ist ein schönes Gebäude im palladianischen Stil, dessen prachtvolle Fassade aus ungewöhnlich hohen und doch wohlproportionierten Fenstern einen unvergleichlichen Blick auf die stürmischen Derrynasaggart-Hügel bietet. Auch die berühmten Gärten wurden angeblich nach Cassels’ Entwurf angelegt, aber sie wurden durch den dritten Grafen nach romantischer Manier erweitert und verändert. Das Gelände enthält einen künstlich angelegten See und Wasserfall, von der Sullane gespeist, Scheunen und Melkhäuser im Schweizer Zierstil mit Stroh gedeckt, eine Grotte, Kräuter- und Irrgarten und ein Rotwildrudel. Ihre Anlage ist jedoch weder willkürlich noch gedrängt, so weiträumig ist die Domäne, und die Wirkung ist höchst angenehm. Schloß Ardmor ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, aber das Gelände kann nach Absprache mit dem Gutsverwalter besichtigt werden.«

»Bis zu den Mauern der Domäne«, sagte MacMahon, und Prentiss sah ihn verwirrt an.

»Alles ist verkauft worden, weggeknabbert, mit Ausnahme der direkt bewirtschafteten Farmen und einer Handvoll von Gehöften mit langen Pachtzeiten. Und das neue Gesetz wird die auch noch erledigen, nehme ich an. Das Land der Ardmors liegt jetzt innerhalb dieser Mauern. Aber es ist schön, nicht wahr, wenn der See sich kräuselt und sich die Sonne in den Fenstern fängt.«

»Wirklich schön«, stimmte Prentiss zu, aber es war zu weit weg, und deshalb konnte er nicht mehr sagen. Seine Empfänglichkeit für diese großartigen Häuser stammte von einer sanfteren Insel voller kleiner Hügel und wogender Wiesen. Neben Ardmor Castle breitete sich Kilpeders niedriges Straßengewirr aus, durchbrochen von den Kirchtürmen an beiden Seiten des Ortes. Dahinter zogen sich die Felder zu dem Hügel hin, auf dem er jetzt mit MacMahon stand. Und hinter diesem Hügel, in geringer Entfernung, erhoben sich die Vorläufer jener Hügel, die der Muirhead zu recht als »stürmisch« bezeichnet hatte. Zwischen Hügeln und juwelenbesetzter Domäne schien es keine richtigen Verbindungen von Gefühl oder Landschaft zu geben.

»Wissen Sie«, sagte MacMahon, »in den Tagen der Fenier, in den Tagen des Aufstandes, war alles ganz anders. Damals bestimmten die Ardmors alles, sie und die kleineren Gutsbesitzer. Ihnen gehörte der Boden, so kam uns das damals vor, und alles, was darauf wuchs oder darüber flog. Damit waren wir aufgewachsen, wie vor uns unsere Eltern und Großeltern. Es war eine andere Welt.«

»Aber die Fenier haben nichts geändert«, erwiderte Prentiss. »Ein paar Kasernen und Stationen der Küstenwache wurden für ein paar Stunden eingenommen, es gab ein paar Handgemenge an Straßenkreuzungen. Und danach Prozesse und englische Gefängnisse.«

MacMahon lachte. »Nein, wir haben nichts verändert. Der Landkrieg hat die Änderungen gebracht, der Landkrieg und Parnell und die Boykottkampagnen. Aber es ist niemals leicht zu sagen, wo etwas anfängt. Bei Gott, Mr. Prentiss, einige Wochen lang haben wir sie trotz allem in Panik versetzt. Die Gutsbesitzer aus Limerick packten ihre Familien und ihr Erbsilber ein und brachten sich in Killarney in Sicherheit. Man kann nie wissen.«

»Aber jetzt sieht doch alles sicher fast so aus wie damals«, sagte Patrick Prentiss aus Dublin und Clongowes Wood, Oxford und London, ein Jahr in Paris, halb neidisch, wenn auch nur für den Moment, auf ein Leben, das unter dem einen Himmel gelebt worden war, in dem die Schatten des frühen Abends immer auf dieselben Hügel, Ecken von Scheunen und Läden, auf den Staub vertrauter Straßen, auf Generationen von Weißdorn gefallen waren.

»Das stimmt allerdings«, erwiderte MacMahon und fügte trocken hinzu, »aus dieser Entfernung.«

»Kilpeder selber«, hatte der Muirhead erzählt, der in dieser Hinsicht strenge Maßstäbe anlegte, »ist ein typischer Marktflekken des Südwesters, der dem Sommerfrischler wenig Interessantes zu bieten hat. Die Markthalle aus dem 18. Jahrhundert, elegant und nützlich zugleich, wird in der ›Klage um Art O’Leary‹ erwähnt, einem Gedicht in gälischer Sprache, das an eine lokale Tragödie des Jahres 1773 erinnert. Es wird Eibhlín Dubh Ní Chonaill zugeschrieben, O’Learys Witwe. Die große, imposante römisch-katholische Kirche wurde mit vielen neogotischen Verzierungen nach einem Entwurf von Pugin errichtet. Im Jahre 1867 kam es in Kilpeder zu einem Scharmützel zwischen den Krontruppen und den rebellischen Feniern, und in jüngerer Zeit hat man schwerwiegende politische und agrarische Unruhe durchmachen müssen. Inzwischen. ist der Ort wieder in seinen verschlafenen Zustand zurückgefallen. Reisende aus Cork oder Mallow können sich der beschwerlichen, jedoch pittoresken Straße bedienen, die durch die wilden Derrynasaggarts nach Kerry führt, und von dort entlang dem lieblichen kleinen Fluß Flesk zur Seenplatte von Killarney weiterfahren.«

»Da hinten«, sagte MacMahon und wandte sich von der Domäne ab, »im Dorf Turrist gibt es ein Hungergrab. Vielleicht möchten Sie es eines Tages besuchen. Das könnte Ihnen historische Perspektive vermitteln, wenn das der richtige Ausdruck ist.«

»Ja«, erwiderte Prentiss und überlegte sich flüchtig, wie der Muirhead diese Information wohl serviert hätte. Der Ausdruck selber, obwohl dünn und kühl, hatte für ihn keinen Widerhall.

Aber MacMahon konnte ein eingesunkenes Feld sehen, umgeben von einem niedrigen Zaun aus rostigem Eisen, das Gras hoch und ungemäht. Vielleicht hatte alles dort angefangen, dachte MacMahon, im Hungergrab. Wie viele lagen dort, zweihundert, drei? Vierhundert bestimmt im Massengrab in Skibbereen, auf der Anhöhe über dem Fluß. Unbesucht, ohne Gedenktafel, eine begrabene Schande.

Prentiss hatte seine Lesebrille auf die Stirn geschoben. Nun nahm er sie ab und klappte die Bügel um, die Sonne fing sich für einen Moment in den Gläsern, Leuchtsignale flackerten zu den Bergen, dem Grab, der Domäne, der tiefliegenden Stadt mit ihren Kirchtürmen hinüber. MacMahon, der bereits beschlossen hatte, ihn leiden zu mögen, lächelte. Ein höflicher junger Mann, ausgesandt von der großen Welt der Bücher und der Gelehrsamkeit, den von Büchern überquellenden Bibliotheken von Oxford und London. Ich bin ein Krümel in der Geschichte geworden, dachte er zufrieden.

Sie verabredeten, sich jeden Tag zu treffen, hier, oder bei Gelegenheit zum Essen in den Kilpeder Arms, und Prentiss dankte ihm noch einmal, als sie zur Straße, zu Prentiss’ Einspänner zurückgingen.

Aber MacMahon, die Hand auf das offene Tor gelegt, aufrecht, ohne den gekrümmten Rücken der Schulmeister, schüttelte den Kopf.

»Sie wissen sehr gut, Mr. Prentiss, daß es für einen alten Mann eher eine Freude ist als eine Zumutung, wenn er gebeten wird, sich zu erinnern. Das Problem ist, daß ich mich an allzu vieles erinnere, an Dinge, die für Sie von keinerlei Interesse sein könnten. Von keinerlei Interesse.«

»Ich weiß nicht, was für mich von Interesse ist«, erwiderte Prentiss und wechselte plötzlich in einen Tonfall, den MacMahon von ihm noch nicht gehört hatte. »Weder in der Geschichte noch irgendwo anders.«

»So geht es uns allen«, meinte MacMahon und versuchte, einen entsprechenden Ton zu finden.

Sie schüttelten einander die Hände, förmlich, zwei Historiker in Klausur, auf freiem Feld im Schatten der Berge.

Unerwartet, dachte Prentiss, als der Einspänner munter nach Kilpeder zurückrollte. Was hatte er erwartet, als er im Zug von Dublin nach Mallow gefahren war, vorbei an Feldern und Dörfern, an Herden, die vor frühbelaubten Bäumen vor sich hindösten, während auf Hügeln in der Ferne die Silhouetten von zerstörten Bergfrieden vorüberzogen, von allem getrennt durch Bewegung, grünen Plüsch, fleckiges Holz, durch ein verschmutztes Fenster? Einen Schulmeister vom Lande, dessen Gedanken und Vorstellungen notdürftig angefüllt waren von der Halb-Geschichte der Christian Brothers, von patriotischen Schlagwörtern, von Prahlereien über die Tage, als er für Irland zum Gewehr gegriffen hatte. MacMahon hatte er jedenfalls nicht erwartet, die haselnußbraunen Augen wachsam und ironisch hinter der dicken Brille, während Unausgesprochenes im leichten Gespinst seiner Höflichkeiten zitterte. Jetzt sah er MacMahon vor seiner von der Mittagssonne beschienenen Bücherwand. Durch die Geographie von MacMahons Leben, über das er, wie er nun wußte, nichts wußte, fuhr er zurück zu den Geschäften von Kilpeder, dem Marktplatz, der Polizeiwache, wo in den frühen Morgenstunden eines Märztages vor fast vierzig Jahren einige Dutzend junger Burschen in Friesmänteln, bewaffnet mit gestohlenen Gewehren, sich durch eine stille, von fremdem Schnee erfüllte Straße den von Falken bewachten Toren einer Domäne genähert hatten, hinter denen, tief verborgen hinter Buchen und schweren Eichen, ein Teil dessen auf ihn wartete, was er noch nicht wußte. Die Räder seines Einspänners tickten wie eine Uhr, als sie so dahinrollten.

2

[Hugh MacMahon]

Wenn ich wüßte, wo ich anfangen soll, dann wäre ich vielleicht ein gelehrter Historiker wie der junge Mr. Prentiss, dessen Einspänner ich vom Tor aus nachsah, bis er schließlich außer Sichtweite gerollt war und mich in meiner Welt allein und einsam zurückließ. Und doch muß ich einfach glauben, Logik und Geschichte zum Trotz, daß es für mich an jenem Winterabend Ende Januar 1867 anfing, als zur Teezeit Ned Nolan zum ersten Mal an die Tür unseres Hauses in der Chapel Street klopfte.

Die Straße lag bereits im Dunkeln, so kurz sind für uns im Winter von Munster die Tage, und hinter ihm ragten die beiden Türme von St. Jarlath unten an der Straße in den Himmel. Er war ein dunkler Bursche, an dem nur seine Größe und sein schwerknochiger Körperbau unsere Verwandtschaft andeuteten, und doch wußte ich sofort, wer er war. Wir erwarteten ihn schon seit Wochen, und Fremde kamen selten nach Kilpeder und nie in unser Haus, abgesehen von den jährlichen Besuchen des Schulinspektors. Ich sehe ihn noch vor mir, ein langes Gesicht unter dem weichen schwarzen Hut, ein langes Kinn und hohe, grobe Wangenknochen wie die eines Indianers, tiefliegende Augen, so dunkel wie sein Hut, und lange, dünne Lippen. Er hielt seinen Koffer am Griff, einen riesigen, ausgebeulten Koffer, der aus einem weichen Material hergestellt war. »Ich bin dein Vetter Ned Nolan«, sagte er. »Ich bin aus Amerika zurück.« Als Willkommensgruß packte ich seinen Arm mit meinen beiden Händen und zog ihn ins Haus. Die Straße hinter ihm war wie ausgestorben.

Aber ich bezweifle, daß diese lebhafte Erinnerung wirklich zutrifft, denn wie hätte ich in der Dämmerung und unter seiner breiten Hutkrempe seine Augen so deutlich sehen können? In Wirklichkeit konnte ich ihn erst, als ich ihn ins vordere Zimmer geführt und er seinen Hut abgenommen hatte, um Mary zu begrüßen, klar sehen. Und Mary konnte sich später an nichts Dramatisches an ihm erinnern, sie sah einen großen, schlaksigen jungen Burschen in Kleidern von amerikanischem Schnitt, mit braunen, eckigen Stiefeln, von der Reise mitgenommen und dringend einer Waschgelegenheit und einer Mahlzeit bedürftig. Da haben wir den Unterschied zwischen Mary und mir, und wir sollten uns auf Marys klaren Kopf verlassen.

Und Mary war es, die ihn in die Spülküche führte und ihn mit Wasser, Seife und Handtuch versorgte, während sie sich in der Küche an die Vorbereitungen zum Tee machte. Sie war immer noch damit beschäftigt, als er wieder ins Wohnzimmer kam, und ich hatte inzwischen Flasche und Gläser hervorgeholt, damit er den Reisestaub herunterspülen könnte.

»Bist du aus Cork zu uns gekommen, Ned?« fragte ich ihn.

»Aus Dublin«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Zuerst London, dann Manchester, dann das Boot von Liverpool nach Dublin. Aber ich habe die letzten zwei Nächte in Cork City verbracht«

»Eine schöne Stadt«, sagte ich, »die weite Lee und die Kathedrale und der viele Verkehr auf dem Fluß.« Aber was war Cork schon für jemanden, der in New York gelebt hatte und weit in den Vereinigten Staaten herumgekommen war? Er hatte den größten Teil seines Lebens in New York verbracht, aber in seiner Sprache war nur ein haarfeiner Nachklang von einem Yankee-Akzent, er sprach mit derselben Melodie und demselben Rhythmus wie ich.

»Wir haben dich erwartet«, sagte ich, »und du bist herzlichst willkommen. In deinem eigenen Zuhause könntest du nicht mehr willkommen sein.«

»Das ist mein Zuhause«, erwiderte er. »Kilpeder ist mein Zuhause.« An der Tür hatte er zu mir gesagt: »Ich bin aus Amerika zurück.« Als ob er vor einem Jahr nach drüben gegangen wäre, um sein Glück zu machen, und nun zurückkäme. Aber vielleicht stimmte das auch, überlegte ich mir, wenn er drei Jahre in der Nordstaatenarmee gewesen war, wie es hieß, während sein Vater in New York gestorben war.

»Wir wissen, daß dein armer Vater uns verlassen hat«, sagte ich. »Es tut mir so leid für dich. Mein eigener Onkel, und ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich war so klein wie du, als ihr beide Segel gesetzt habt. Aber meine Mutter hat natürlich oft von ihm erzählt, und viele andere auch.«

»Ja«, sagte er.

»In der Nation war ein wunderschöner Artikel über ihn und die Beerdigung. Ich habe ihn aufbewahrt. Eine Prozession in New York, mit O’Mahoney und Doheny und den anderen, und drei Flaggen, der Trikolore, der US-Flagge und dem Sonnenaufgang. Einer der Unerschütterlichen von 48, so hat O’Mahoney ihn am Grab genannt, jedenfalls hat er etwas in der Art gesagt, einer der Treuen und der Wahren.«

»Das weiß ich«, erwiderte Ned. »Es stand auch in den irischen Zeitungen von New York, und sie sind mir alle zugeschickt worden.«

»Natürlich«, sagte ich, obwohl ich momentan verwirrt war. »Du warst ja im Krieg.«

»Stimmt«, sagte er. »Ich war im Krieg.«

»Das war aber sehr hart von ihnen«, meinte ich. »Daß sie dir keinen Urlaub gegeben haben. O’Mahoney war doch auch in ihrer Armee, oder nicht?«

»Als Colonel«, erklärte Ned. »Als Kommandant eines Regimentes. Er bewachte gefangene Rebellen am Hudson, eine Zugstunde von New York entfernt. Ich war weit weg, in Tennessee.«

Tennessee. Das war eins dieser Wörter, die unsere Vorstellung von Amerika formen. Shenandoah, Susquehanna, indianische Wörter mit dem Geschmack von Kiefernwäldern, Bergbächen, Prairien, die sich endlos zu riesigen, orange leuchtenden Sonnen hinzogen. Und in den letzten paar Jahren war diese Vorstellung geschwärzt vom Kanonenrauch, von Stichen in den Londoner Zeitschriften, die in Flüssen kämpfende Kavallerie zeigten, mit tödlichen, weit ausholenden Säbeln, Brustwehren und schwere Batterien von Artillerie zogen sich zum Horizont hin, Infanterie rückte über verwundete Erde vor, vorbei an Bäumen mit toten Zweigen. Banner und Bajonette und der reiche, würzige Duft indianischer Namen.

»Als wir nach New York zurückkamen«, sagte er, »nach Kriegsende, bin ich als erstes zu seinem Grab gegangen. In einer der Zeitungen hatte gestanden, es gäbe eine Subskription für einen Grabstein, aber es gab nur den mit Gras bewachsenen Erdhügel und eine Karte, die an einem Metallstab befestigt war, und auf der Jahr und Geburtsjahr und Geburtsort standen. Auf dem Erdhügel lag ein Kranz, schwarzgefärbtes Weinlaub mit einem grünen Band.«

»Nun ja«, sagte ich und reichte ihm sein Whiskeyglas. »Seine Freunde haben ihre Dollars wohl für einen anderen Zweck gegeben, wenn du weißt, was ich meine. Er wäre damit einverstanden gewesen.«

»Das wäre er allerdings«, erwiderte Ned und lächelte zum erstenmal, und ich sah ihn so, wie er war – kein Fremder in schwarzem Mantel vor dem Abendhimmel, sondern ein junger Mann, nicht älter als ich selber, verlegen in einem ihm fremden Land, auch wenn er es als seine Heimat bezeichnete. Er prostete mir zu.

»Vor ein paar Jahren war in der Nation ein Lied von ihm«, sagte ich. »Das habe ich auch aufbewahrt. ›Our new Ireland beyond the waves‹, hat er es genannt. Kilpeder ist immer stolz auf Thomas Justin Nolan gewesen. Ein Getreuer von 48, wie der Mann gesagt hat.«

»Sie haben ihm eine Arbeit beim Wasserwerk von New York besorgt«, erzählte Ned. »Er mußte Rechnungen überprüfen, danach bekam er eine bessere, bei der Gesellschaft, die die Flußfähre nach Jersey betreibt. Er hat elf Dollar die Woche verdient, und wir hatten ein Zimmer bei den Kais.«

Ich schwöre bei Gott, ich war nie auf die Idee gekommen, daß er wie jeder andere seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen. In meiner Vorstellung hatte ich ihn immer als Redner auf einer mit grünem und orangem Fahnentuch dekorierten Tribüne gesehen, oder an einem Schreibtisch, an dem er »Our new Ireland beyond the waves« verfaßte.

Ned schien meine Gedanken gelesen zu haben. Er lächelte immer noch. »Das war nicht sein wahres Leben«, sagte er. »Sein wahres Leben begann um sechs, wenn er sich mit seinen Freunden in ihrer Stammkneipe treffen konnte, und in den letzten beiden Jahren vor dem Krieg war ich alt genug, um mitzugehen. Und es gab dauernd Komitees und Veranstaltungen und so etwas. Für ihn stand immer ein Stuhl auf der Tribüne, aber er wurde nur selten gebeten zu sprechen. Ich weiß noch, wie er einmal, als ich noch klein war, Thomas Francis Meagher vorgestellt hat, und Meagher beschrieb, wie er und die anderen aus der Strafkolonie in Van Diemens Land entkommen waren.«

Thomas Francis Meagher, das war nun wirklich ein Name, der Wunder wirkte, und sofort vergaß ich Neds armen Vater. Meagher vom Schwert, so wurde er in der Nation immer genannt, und sie brachten Stiche von ihm, ein gutaussehender Mann mit Uniform und Schnurrbart.

»Und John Mitchel«, sagte ich. »Ob dein Vater wohl John Mitchel gekannt hat?«

»In den letzten Jahren nicht mehr«, antwortete Ned. »Mitchel hat für die Südstaaten gekämpft.« Er zuckte die Schultern.

Er leerte sein Glas, als ob es mit Wasser gefüllt wäre, und ebensowenig Wirkung zeigte sich bei ihm, und ich schenkte ihm abermals ein. Beim Reden schweiften seine Augen durch das Zimmer, und ich überlegte mir, daß er zwar nach Hause gekommen sein mochte, daß er sich aber trotzdem in einem fremden Land befand. Er musterte die schweren Vorhänge, die vorgezogen waren, um den Abend auszuschließen, den Bücherschrank, das glühende Torffeuer, die braune Matte vor dem Kamin, den rot-blau gemusterten Teppich, die Drucke und Stiche an den Wänden und eines der beiden Ölgemälde, mit denen wir prunken konnten, der Zusammenfluß des oberen und des unteren Sees in Killarney, blaues Wasser, umrahmt von Eiche und Myrte, im Hintergrund die schöne Brücke mit den drei Bögen, Ich glaube jetzt, daß einem Fremden von Übersee das, was uns als am meisten vertraut und tröstlich erscheint, besonders fremd vorkommen muß, unsere Art, uns in unseren kleinen Zimmern gegen den Winter zu schützen, mit rotem Feuer und vorgezogenen Vorhängen und dicht zusammengeschobenen Sesseln.

Aber dann sagte er unvermittelt: »Als ich ankam, bin ich an Tullys Laden vorbeigegangen. Da arbeitet doch Robert Delaney, oder?«

»Stimmt«, antwortete ich. »Und da lebt er auch, in einem Zimmer über dem Laden, Tully überläßt ihm das als Teil seines Lohns.« Ich war nicht überrascht über sein Wissen, denn Bob war der Leiter unseres Zirkels in Kilpeder und war deshalb der Mann, zu dem Ned Kontakt aufnehmen mußte.

»Ich muß mit ihm reden, sobald sich das machen läßt«, sagte Ned. Und bei diesen Worten, oder eher durch ihren Tonfall, spürte ich im Zimmer die aufdringliche Anwesenheit von etwas, das hart und kalt war wie Metall.

Jetzt war ich mit Lächeln an der Reihe. »Das ist alles schon abgesprochen. Bob kommt heute abend her zum Tee. Der Laden hat jetzt Feierabend, aber er hat noch zu tun, und dann kommt er her.«

»Ihr beide seid also befreundet?«

»Stimmt, und Bob ist oft zum Tee hier. Wir sind eng befreundet, er und ich und Vincent Tully.«