Pakt der Krähen - Brigitte Jünger - E-Book

Pakt der Krähen E-Book

Brigitte Jünger

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Beschreibung

Seit dem Verlust seiner besten Freundin fühlt Oke sich verloren. Zachy wiederum macht alles, um seinen Vater zu begeistern;der lässt ihn jedoch hängen, wieder und wieder. Zusammen gründen sie die "Crows", eine lose Gemeinschaft Jugendlicher, die sich mehr vom Leben erhoffen. Kein Geld, keine Möglichkeiten: Das lässt sich ändern. Die Crows helfen den Nachbarn und bekommen etwas dafür – oder ziehen ihnen das Geld aus der Tasche, ein einfaches Geschäftsmodell. Bis die Situation eskaliert und Zachy Oke in einem verlassenen Bunker einsperrt – weil es doch keine andere Möglichkeit gibt?

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Seitenzahl: 168

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Brigitte Jünger

wurde 1961 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie und arbeitet als Autorin und freie Journalistin für mehrere Rundfunkanstalten in Deutschland. Sie verfasst Hörfunkbeiträge zu Themen wie Musik, Kunst, Religion, Zeitgeschichte, Naher Osten und das Zusammenleben verschiedener Kulturen.

Folgende Bücher von Brigitte Jünger sind bei Jungbrunnen lieferbar: Der Mantel (2019) und Monster (2021).

ISBN 978-3-7026-5980-6

1. Auflage 2023

Einbandgestaltung: vielseitig.co.at (Artwork: Silvia Wahrstätter unter Verwendung von Fotos von unsplash.com)

© 2023 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Europe

Druck und Bindung: Florjančič, Maribor

Wir legen Wert auf nachhaltige Produktion unserer Bücher und arbeiten lokal und umweltverträglich: Unsere Produkte werden nach höchsten Umweltstandards gedruckt und gebunden. Wir verwenden ausschließlich schadstofffreie Druckfarben und zertifizierte Papiere.

Brigitte Jünger

Pakt der Krähen

Jungbrunnen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

1

„Zachy, du verdammter Hund, lass mich hier raus!“ Oke schlug mit der Faust gegen die raue Wand des niedrigen Bunkers, so dass Staub auf ihn herabrieselte. Den Schmerz in seiner Hand bemerkte er nicht.

„Soll ich hier bis in alle Ewigkeit verrotten oder was?“

Oke schlug diesmal mit der Faust auf den Boden, aber schon viel kraftloser. Die flammende Wut, die ihn gerade noch bis in den letzten Winkel seines Körpers ausgefüllt hatte, verwandelte sich in Verzweiflung und brach schluchzend aus ihm heraus. Das Kinn auf die Brust gelegt, lehnte er sich gegen die Wand und schlang die Arme um die Knie. „Warum?“ Warum nur war alles so gekommen? Dass Zachy ihn in den Wald zu ihrem Bunker gelockt und darin eingeschlossen hatte. Dass er Oke nicht mal sein Handy gelassen hatte.

Was war mit ihrem gemeinsamen Plan? Dem Plan vom blauen Meer, einem wolkenlosen Himmel und einem Boot, das Zachys Vater angeblich besaß. Ein Plan, nur für sie beide, ohne die anderen, trotz des Vorfalls auf der letzten Versammlung.

Oke hatte über Wochen nach den richtigen Worten gesucht, die er dort sagen wollte. Sie dann aus seinem Inneren herauszulassen, hatte ihn fast übermenschliche Kraft gekostet. Er hatte lange daran gefeilt und geschliffen, jedes einzelne Wort abgewogen und neu sortiert. Es sollte sich nicht nach einem Vorwurf anhören, nur nach einem Gedanken, den sie vielleicht mal diskutieren könnten. Es ging einfach nicht anders. Nicht nach dem, was mit Hansmann passiert war!

Aber es wurde nichts diskutiert. Zachys Gesicht war im Verlauf von Okes Rede versteinert, als hätte er sich in eine Sphinx verwandelt, eine von den Figuren, die die alten Ägypter zur Bewachung ihrer Pyramiden aufgestellt hatten. Es war nicht zu erkennen gewesen, ob Zachy sich ärgerte oder richtig sauer auf Oke war.

Tage vergingen, dann hatten sie sich, wie immer, an der halb verrotteten Bank hinter den Häusern getroffen. Zachy hatte Oke seinen Plan unterbreitet, der nur ihnen beiden galt. So wie früher. So wie ganz am Anfang, als die Crows nur eine Idee gewesen waren. Zachys Idee, die er mit ihm, Oke, teilte. Langsam waren die Crows zu ihrer gemeinsamen Idee geworden, allerdings – wenn man einen der Crows gefragt hätte, wer der Chef war, hätten die meisten gesagt: Zachy. Und Oke? Ja, der ist sein Schatten, hätten sie gesagt, der Libero, der Co-Pilot. Und damit wäre Oke auch völlig einverstanden gewesen, es reichte ihm, dass er so etwas Ähnliches wie Zachys Bruder war. Was die anderen dachten, war ihm egal.

Als sie anfingen, über die Crows nachzudenken, hatte es sich angefühlt wie zuvor nur mit Leo, was womöglich das Allerallerwichtigste gewesen war. Und dann hatte es ja auch tatsächlich funktioniert. Die Crows – elf Leute, Oke und Zachy inklusive – waren eine feste Größe im Hochhausblock zwischen Gröbener Platz und Wildener Höhe. Sie hatten die Serben verdrängt, den Hausmeister im Griff und die Hälfte der Rubnow-Gang abgeworben. Ein voller Erfolg. Bis zu diesem Vorfall vor einer Woche. Bis zu dieser einen Frage, die Oke in den Raum gestellt hatte. Bis zu Zachys versteinertem Gesicht.

Dass Zachy kurze Zeit später trotzdem mit diesem Urlaubsplan angekommen war, hätte Oke wundern können. Aber er war einfach nur froh gewesen, dass Zachy nicht ausgeflippt war. Oh ja, das konnte Zachy gut, wenn ihm was in die Quere kam, und dann ging man ihm besser aus dem Weg. Dieses Mal war er Oke eher nachdenklich vorgekommen. Vielleicht hatte er sich das, was Oke gesagt hatte, ja tatsächlich zu Herzen genommen und wog es in seinem Innern ab. Deshalb dieses undurchdringliche Gesicht.

Außerdem war es gerade so heiß, dass die Aussicht auf ein blaues Meer und ein Boot mehr als verlockend war. Kurz bevor sie loswollten, hatte Zachy gemeint: „Wir treffen uns am Bunker, wir brauchen noch etwas Proviant.“

Auch das hätte Oke stutzig machen können. Proviant! Zachy hatte immer gerne etwas Essbares in der Nähe. Ein plötzlicher Anfall von Heißhunger verdarb ihm ebenfalls die Laune, wenn sich nichts finden ließ, was er sich in den Mund schieben konnte. Es war das Wort Proviant, das Oke hätte nachdenklich machen müssen. Das war so, als hätten die Müllmänner freitagmorgens „Abfalleimer herausstellen“ in den Hausflur gebrüllt, anstatt „Tonnen raus!“

Aber auch dieses Zeichen nahm Oke als eine positive Veränderung an Zachy wahr, wunderte sich zwar ein wenig, schrieb es aber insgeheim seinem persönlichen Einfluss auf den selbstgewissen und häufig zu explosiven Ausbrüchen neigenden Freund zu. Wie entsetzlich dumm war er gewesen!

Später, im Bunker: Während Oke gerade mit den Vorräten beschäftigt war und im hinteren Teil des langgezogenen, zur Hälfte unter der Erde liegenden Betonraums einen Sixpack kleiner Wasserflaschen und zwei Handvoll Energieriegel in seinen Rucksack packte, schlug vorne die eiserne Tür zu. Oke dachte sich nicht viel dabei, drehte sich nicht einmal um. Doch als er schließlich raus wollte, war Zachy weg – und die Tür verschlossen. Er rüttelte an dem rostigen Griff und rief Zachys Namen, immer wieder, doch nichts passierte.

Langsam und unerbittlich wurde ihm klar, dass es kein Zufall war, der ihn hier gefangen hielt.

Jetzt, fünf Stunden später, konnte er seinen Irrtum immer noch nicht fassen. Aber er kam nicht drumherum: Zachy hatte tatsächlich einen ganz anderen Plan gehabt. Die Anzeichen hatte Oke einfach übersehen. Zachys verschlossenes Gesicht, seine knirschenden Zähne! Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er unter Strom stand. Dass ihn etwas beschäftigte, das all seine Konzentration beanspruchte. Er hatte nur das Nötigste geredet. Aber so war er manchmal, wenn er ein Problem in den Griff bekommen wollte.

Oke löste sich aus seiner Kugelform und warf den Kopf hin und her. „ICH bin also das Problem! WIESO????“ Dabei wusste er es eigentlich, er wollte es sich nur nicht eingestehen. Es war wie hinter einem Vorhang verborgen, und Oke wollte ihn nicht öffnen, um die Wahrheit, die ganze Wahrheit anzuschauen. Dass Zachy ihn benutzt hatte. Dass Zachy sich keineswegs in irgendeiner Weise geändert hatte. Und schon gar nicht unter Okes Einfluss. Wie hatte er nur die Augen davor verschließen können! Dass Zachy eben nicht Leo war, niemals sein konnte!

Oke griff sich in die Haare und riss dichte Büschel aus. Dabei brüllte er wie ein verwundetes Tier, das mit seinem Schrei den Schmerz zu übertönen versuchte. Zachy hatte ihn benutzt, so, wie er alle benutzt hatte. Wofür? Ja, wofür? Nur für sich selbst? Für sein eigenes kleines Ego?

Oke wischte sich mit dreckigen Fingern die Tränen aus dem Gesicht. Der Gedanke war zu schrecklich, dass alles ein Irrtum sein sollte. Dass die Gemeinschaft, die Oke über alles ging, nur ein hohles Versprechen gewesen war. Dass er alles schon früher hätte erkennen können, wenn er nur gewollt hätte. Aber er hatte es nicht wissen wollen und deshalb war er mitschuldig. An allem. Auch daran, dass er jetzt hier hockte. Er, Otfried Beermann, genannt Oke, hatte an die Crows geglaubt. Daran, dass es in diesem beschissenen Leben etwas gab, das gut war und Sinn machte. Etwas, das stärker war als alles andere, das ständig an einem zerrte. Stärker als jeder Verlust. Und ausgerechnet das sollte jetzt der größte Irrtum sein?

Oke stützte die Ellenbogen auf die Knie. Tante Henri würde sich wundern, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Und noch jemand stand ihm vor Augen: Leo, die er so gern vergessen hätte. Aber das war nicht möglich, auch jetzt nicht, und vielleicht gerade jetzt nicht. Ein Unglück folgte dem nächsten, ohne Rücksicht darauf, ob Oke das auch aushalten konnte. Er selbst war der Magnet, der das Unglück anzog, und es gab nicht den winzigsten Schimmer Hoffnung am Ende des Tunnels.

2

„Leute, könnt ihr mal ruhig sein!“

Mo saß in der Crow-Versammlung allein hinter dem fetten Schreibtisch, der trotz seiner Größe ein wenig verloren in dem großen hellen Raum im zehnten Stock des Hochhauses wirkte. Er schaute von seinem Kassenbuch auf und fixierte die anderen Crows, die auf der grauen Sofalandschaft rechts von ihm lümmelten oder links an der Wand lehnten, aber niemand beachtete ihn.

Oskar, der gerne irgendwo dazugehörte, und der kleine, wendige Pat, der immer auf der Flucht vor dem Geschrei seiner Mutter war, konnten nicht still sitzen. Konzentriert spielten sie das „Pass auf, ich treff dich“-Spiel. Die Fäuste erhoben, warteten sie auf den einen Moment, in dem die Aufmerksamkeit des anderen für einen Sekundenbruchteil nachließ, um ihn dann an irgendeiner Stelle seines Körpers zu treffen. Dabei lachten sich beide kaputt.

„Du und deine Listen!“, rief Pat glucksend, ohne Mo überhaupt anzuschauen. Im nächsten Augenblick traf er Oskar an einer schmerzhaften Stelle direkt über dem Knie. Der lange Mario, der direkt neben den beiden saß, drehte sich genervt weg und spielte weiter auf seinem Handy herum.

„Es reicht jetzt“, sagte Mo. „Eure Einnahmen sind echt nicht die besten!“

Pat sprang wie von der Tarantel gestochen vom Sofa hoch. „Ach ja? Schau dich selber an! Was bringst du denn ein? Spielst dich auf wie der neue Chef!“ Er spuckte wütend auf den Boden. „Wo sind Zachy und Oke heute? Sag uns lieber, was das zu bedeuten hat!“

Mo schaute seelenruhig wieder in sein Kassenbuch. „Putz das auf!“, murmelte er, ohne Pat anzuschauen.

Der ewig Kaugummi kauende Sam, der am anderen Ende des Sofas saß, legte sein Comicheft weg und hob den Kopf. „Echt, Mo, das würde ich auch gerne wissen. Ist doch nicht normal, dass Zachy und Oke plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sind. Oder planen die irgendwas, von dem wir nichts wissen sollen? Irgendwas Großes?“

Mo zuckte mit den Schultern. „Weiß ich doch nicht. Oder meint ihr, die Arschgeigen hätten mir was gesagt!“

Von der gegenüberliegenden Wand beobachteten Luke, Tom und Minh die steigende Spannung aufmerksam und stumm. „Arschgeigen! Jetzt auf einmal!“, zischte Pat, der wie ein Tiger zwischen Mo und dem Sofa hin und her lief und das Abtreffspiel völlig vergessen hatte. „Du und dein Kassenbuch, ihr hattet doch immer was mit den beiden zu besprechen.“

„Was willst du?“, schrie Mo und stand so plötzlich auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und krachend auf dem Boden landete. „Kannst den Job gerne übernehmen, du Vollidiot. Müsstest bloß ein bisschen, ein ganz kleines bisschen Mathe können!“

Pat blieb stehen, stützte seine linke Hand in die Hüfte und hob den rechten Arm mit der geöffneten Hand in die Höhe, als wollte er eine Ansprache halten. Dabei hatte er den Blick zu Boden gerichtet und sagte mit schneidender Stimme: „Fakt ist, du hast noch nie mehr als einen Fuffi eingenommen, und das auch nur alle Jubeljahre mal. Fakt ist, du ruhst dich auf unserer Arbeit aus! Oder meinst du, es beeindruckt irgendwen, dass du Zahlen in ein Heft malen kannst?! Fakt ist außerdem, dass hier irgendwas läuft, von dem wir alle nichts wissen!“

Mo drehte sich herum, gab dem Stuhl einen Tritt und lehnte sich ans Fenster. Einen Moment lang war es still. Die Blicke von Oskar, Sam und Mario wanderten von einem zum anderen. Auf der Dachkante des gegenüberliegendes Hochhauses saß eine der schwarzen Krähen, die den Koberg als ihr Revier betrachteten. Sie hüpfte ein Stück an der Kante entlang, hob plötzlich ab und segelte in die Tiefe. Mo sah unten, auf den verdorrten gelben Rasenflecken zwischen den Häusern, den Professor entlangschlurfen, der wie immer sein merkwürdiges Wägelchen mit all seinem Hab und Gut hinter sich her zog.

Mo wandte seinen Kopf ein wenig zur Seite und sagte noch einmal zu Pat: „Wisch deine Rotze auf.“

In diesem Moment ging auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes die Tür auf und die Zwillinge traten ein. „Was ist hier los?“

Die spindeldürre Ida und ihr ebenso dünner Bruder Adil hatten innerhalb von Sekundenbruchteilen die Spannung im Raum erfasst, als könnten sie die Wut und den Ärger als bunte Farbflecke wahrnehmen. Was sie sahen, war zähflüssig und rot. Normalerweise erhielt die Stimmung eine gewisse Leichtigkeit, wenn die beiden irgendwo auftauchten. Als hätte jemand mit den Fingern geschnipst und einen kleinen Funkenregen versprüht. Dabei waren Ida und Adil keine Witzkanonen und hauten auch keine Sprüche raus. Sie hatten es sich einfach antrainiert, auf Knopfdruck positive Energie zu verbreiten, die niemanden kalt ließ. Als wären sie ein Magnetfeld, das alle fröhlichen Kräfte verdoppelte und verdreifachte, während alles Negative sich verzog. Doch heute liefen sie gegen eine undurchdringliche Wand.

Adil runzelte sie Stirn und sah seine Schwester fragend an. Im gleichen Moment drehte Mo sich weg vom Fenster: „Wieso seid ihr so spät?“ Dabei verschränkte er die Arme vor dem Bauch und sah die Zwillinge ernst an.

„Hört euch nur den Wichser an!“, rief Pat dazwischen, griff nach seiner Jacke, stürmte quer durch den Raum an Ida und Adil vorbei und knallte die Tür hinter sich zu.

„What?“ Adil verstand immer noch nichts und hob die Hand, als würde er ein Fragezeichen hinter Pat her senden. Mit dem lauten Scheppern der Tür setzten sich auch die anderen in Bewegung, packten zusammen und verließen eilig den Raum, als hätte ihnen jemand ein Zeichen gegeben. Adil und Ida sahen sich ein weiteres Mal fragend an, wussten jedoch, dass es keine Antwort geben würde, deshalb verließen auch sie das zehnte Stockwerk, noch ehe die Tür wieder zugefallen war.

3

Mo war plötzlich allein in diesem großen weißen Raum, den der geschniegelte Mann von der Koberg-Verwaltung ihnen aus unerfindlichen Gründen zur Verfügung gestellt hatte. Wollte der eigentlich was von ihnen? Das hatte Mo sich schon öfter gefragt. Doch in diesem Moment hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Er stand immer noch hinter dem alten Schreibtisch mit den gedrechselten Beinen und starrte auf die Tür, durch die alle verschwunden waren. Die plötzliche Stille hallte in seinen Ohren. Er schluckte. Da war es wieder, dieses schwarze Loch, das ihn zuweilen aufsog wie ein überdimensionales unsichtbares Riesenmaul und ins Weltall spuckte, wo sein stämmiger Körper immer mehr in der Unendlichkeit verschwand.

Mo schloss die Augen. Mühsam strampelte er sich aus dem elenden Gefühl heraus, das ihn aufzufressen drohte. Sie ignorierten ihn einfach! Sie hielten ihn für einen Schwächling, der sich nach oben geschleimt hatte. Dabei hatte er nie damit gerechnet, irgendeine besondere Position bei den Crows zu bekommen. Er hatte eigentlich nur nicht Nein sagen können. Am Anfang fand er sich selbst am uncoolsten von allen Crows. Dieser Mo mit seiner Ordnungsliebe, seiner Leidenschaft für Listen und Haushaltsbücher, rang den anderen höchstens ein mitleidiges Lächeln ab, das bekam er zu spüren. Die Ordnungsliebe, die in ihm steckte, fanden sie einfach nervig. Genau wie sein Vater, der richtig wütend werden konnte, wenn Mo in seinen Augen mal wieder zu langsam war. Mos Lehrer lobten seine akkurate Handschrift, aber er zuckte jedes Mal zusammen, denn er wusste, mit welchen Sprüchen seine Mitschüler das in der Pause quittieren würden.

Dass Zachy, gerade dieser Zachy, seine Genauigkeit schätzte und dem blassen Moppel die Führung des Kassenbuchs übertragen hatte, fand Mo in manchen Momenten immer noch unglaublich. Zachy musste auf erstaunliche Weise einen Blick in seine Seele getan haben. Er war der Erste und Einzige, der erkannt hatte, dass Mos Ordnungsliebe etwas Gutes und Sinnvolles war. Schließlich hatten die Crows nun immer den Überblick über ihre Einkünfte!

Die vertikale Linie zwischen der Einnahmen- und der Ausgabenspalte in seinem Kassenbuch zog Mo gewissenhaft und mit dem Lineal. Dabei kroch seine Zungenspitze in den linken Mundwinkel und sorgte dafür, dass die schwarze Linie auch ja nicht verrutschte. Wie ein aufmerksamer Wächter verließ sie ihren Posten erst, wenn der Strich exakt in der Mitte der Seite saß und auf dem Weg dorthin nirgendwo ausgefranst war. Das interessierte wirklich niemanden, auch Zachy nicht, aber Mo machte es glücklich. Es brachte einen Schimmer von Sinn in dieses elende Leben.

Alles zusammen gab Mo so viel Kraft, dass er angesichts der Tatsache, dass Zachy und Oke so plötzlich verschwunden waren, ruhig bleiben konnte. Er fühlte sich sogar richtig wichtig. Die anderen mochten ihn zwar für einfältig und faul halten, aber er besaß etwas, das mit seiner Ordnungsliebe und Genauigkeit in engem Zusammenhang stand: Überblick und Weitsicht.

Mo spürte die Gefahr, die nun drohte, sollten Zachy und Oke sich tatsächlich aus dem Staub gemacht haben: Der totale Zusammenbruch all dessen, was sie im vergangenen Jahr aufgebaut hatten. Das Besuchsnetzwerk, den Einkaufssupport, die Kellerwacht – alles Aktivitäten, mit denen sie sich Achtung und Wertschätzung auf dem Koberg verschafft hatten! Und was noch wichtiger war: Vertrauen. Denn dieses Vertrauen verschaffte den Crows Aufträge und ungehinderten Zugang zu Schränken und Schubladen, zu legalen und illegalen Geheimnissen jeglicher Art, die sich im Handumdrehen – und falls sich jemand traute – in bares Geld verwandeln ließen. Die Crows waren eine Größe auf dem Koberg, an der niemand vorbeikam, nicht mal Perschau, der Hausmeister (der schon gar nicht!).

Der Koberg mit seinen beiden Hochhauskomplexen, den neun Aufzügen und vier Terrassen, den vertrockneten Rasenflächen, dem Müll im Gebüsch und den nie endenden Sperrmüllhaufen war ihr Crowland.

Mo wandte sich um. Das war absolut kein Tag wie jeder andere! Nicht nur, weil er bei der heutigen Zusammenkunft so besonders schlecht weggekommen war. Mo kam wieder die Frage in den Sinn, die Oke in der letzten Versammlung gestellt hatte, als alles noch normal gewesen war. Normal, bis auf diese Frage. Mo hatte deutlich gefühlt, wie vorsichtig Oke sie formuliert hatte. Wie er sich bemühte, nur ja keinen Vorwurf darin aufkommen zu lassen. War diese Frage der Grund, warum Oke und Zachy nun verschwunden waren? Aber diese Frage hatte eher das Potenzial, die beiden auseinanderzubringen, als sie noch enger zusammenzuschweißen! Warum waren trotzdem beide verschwunden? Ließen sie die Crows einfach im Stich? Fingen sie woanders ein neues Leben an? Das gab es doch nur im Film und nicht auf dem Koberg.

Mo konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Aber es war ihm klar, dass an diesem Punkt nur eines half, damit nicht alles auseinanderbrach: Sie mussten noch intensiver arbeiten als sonst. Niemand auf dem Koberg sollte auf die Idee kommen, dass die Crows ein Problem haben könnten. Sie mussten zusammenhalten.

4

Oke hob den Kopf, schlug die Augen auf und blickte die staubigen Wände entlang. Wofür dieser halb unter der Erde liegende Betonbunker einmal gebaut, dann aber nicht mehr benutzt worden war, wusste niemand. War das ein Sprengstofflager gewesen oder sollte hier einmal gefährlicher Müll aufbewahrt werden? Offenbar hatte sich keiner dafür verantwortlich gefühlt und das Ganze sich selbst überlassen.

Zachy und Oke hatten den Bunker zufällig entdeckt, als sie einmal in das nahegelegene Wäldchen gegangen waren, um ihre Ruhe zu haben. Die Leute vom Koberg erzählten sich Schauermärchen über dieses grüne Fleckchen, das kaum größer war als ein Fußballplatz, aber voller Bäume und Gestrüpp stand. Nichts davon glaubten Oke und Zachy.

Als sie allerdings plötzlich dieses merkwürdige Pfeifen gehört hatten, das überhaupt keinen Anlass zu haben schien und wie ein gespenstisches Jammern klang, konnte sich selbst Zachy den Gedanken an einen Geist nicht verkneifen. „Ghost, du Penner, verzieh dich, oder meinst du, du könntest uns Angst machen?“, hatte er gerufen und Oke geraten, sich ruhig zum Pinkeln hinter einen Busch zu verziehen. Es reichte ihm, wenn er Okes Pissen hören musste, er wollte es nicht auch noch sehen.