Pandora - Mila Beaufort - E-Book

Pandora E-Book

Mila Beaufort

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Beschreibung

»Ich werde dich finden, Livana Price. Und ich werde dich leiden lassen.« »Ich freue mich schon auf unser nächstes Rodeo.« Livana ist unerschrocken, stark und vor allem auf der Flucht, als sie London erreicht. Zwischen Millionen Gesichtern versteckt sie sich vor den dunklen Schatten ihrer Vergangenheit, um das, was sie liebt, zu beschützen - ihre Schwester. Bereits in ihren ersten Tagen gerät Livana mit einer Gruppe Studenten aneinander, von denen besonders einer ihre Aufmerksamkeit fesselt. »Ich werde nicht verlieren.« Trotz der Ablenkung durch neue Freunde, Partys und den mysteriösen Levin muss die 21-jährige erkennen, dass man vor den Dämonen seiner Vergangenheit nicht fortlaufen kann. Ganz besonders nicht dann, wenn einer von ihnen fest in einem selbst verankert ist. Als dann auch noch eine neue Bedrohung aus den Schatten tritt, nimmt die Teufelsspirale ihren Lauf und zieht Livana in einem unerbittlichen Strudel in die Tiefe. »Ich habe dir gesagt: Das hier ist noch nicht vorbei.«

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Seitenzahl: 628

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für alle, die nie aufhören zu kämpfen.

TRIGGERWARNUNG

(Spoilerwarnung!)

Dieses Buch enthält triggernde Inhalte.

Diese sind:

Rohe Gewalt, Erpressung, Tod, Verlust, Trauer und

Substanzmissbrauch. Außerdem dreht sich die

Handlung um verschiedene gesellschaftlich verwerfliche

Themen, die nicht für jeden geeignet sind.

Dieses Buch dient nicht als Beispiel für irgendwelche

Handlungen. Es ist reine Fiktion – bitte vergiss das

nicht, während du in diese dunkle Welt eintauchst.

Bitte lese dieses Buch nur, wenn du dich momentan

emotional dazu in der Lage fühlst. Falls es dir mit

diesen (oder anderen Themen) nicht gut geht, findest

du unter der Nummer der Telefonseelsorge rund um

die Uhr kostenlose und anonyme Hilfe:

0800-1 100 111 // 0800-1 110 222

https://www.telefonseelsorge.de/

Wenn du dich nun noch immer bereit dazu fühlst, in

die Welt des Untergrundes und die schwarzen Seelen

der Charaktere einzutauchen, wünsche ich dir dabei

viel Freude und das bestmögliche Leseerlebnis.

Mila

Playlist

Victorious – The Score

Heartless Madness – Dynazty

Far From Home – Tommee Profitt, Sam Tinnesz

Salute – Little Mix

Welcome to the Good Life – Sun Heat

First – Cold War Kids

Blood Like Gasoline – Against The Current

To The Bone – Chris Leamy

Fighter – The Score

Hey There Delilah – Plain White T's

Live Like Legends – Ruelle

One Life – Wrethov

Die gesamte Playlist findet ihr auch auf Spotify unter dem Namen:

Pandora – Mila Beaufort

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

EPILOG

KAPITEL 1

Livana

Meine Arme schmerzten bis in die Schultergelenke und ich konnte spüren, wie meine Fingerspitzen bereits taub wurden. Ich saß in der Falle und meine Aussichten waren nicht besonders rosig.

Das sagte ich nicht, weil man mir gerade unfreiwillig eine dunkelblonde Haarsträhne abgetrennt hatte und deshalb nun sicherlich zwanzig Zentimeter meiner Haare auf dem Boden lagen. Oh nein. Das sagte ich, weil in dieser Sekunde eine Faust direkt auf mein Gesicht zuraste und ich nicht in der Lage war, mich zu verteidigen.

Hart kollidierte besagte Faust mit meinem Wangenknochen. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert und mit ziemlicher Sicherheit hätte der Schlag mich zu Boden geworfen, wenn mich nicht eine zweite Person festhalten würde.

Obwohl er mir beide Arme auf den Rücken drehte, war ich Daniel noch nie so dankbar für seine Anwesenheit. Denn die Blöße, auf dem dreckigen Boden, mit dem Gesicht in der braunen Pfütze zu landen, wollte ich mir nicht geben. Ganz zu schweigen von der Genugtuung, die Walentin dann verspüren würde.

Eine Flüssigkeit vermischte sich in meinem Mund mit dem Speichel und als ich schluckte, konnte ich deutlich das eiserne Blut herausschmecken. Verdammt, ich konnte nicht schon wieder einen Zahn verlieren. Den letzten kleinen Backenzahn unbemerkt zu ersetzen, war alles andere als einfach.

Die Erinnerung daran ließ die Wut in mir noch höher lodern. So hatte ich mir meinen Spätnachmittag nicht vorgestellt. Ganz im Gegenteil. Meinen Eltern gegenüber hatte ich eine Lernsession mit meinen Kommilitoninnen als Ausrede für mein ausgedehntes Training im Fitnessstudio verwendet. Ganz sicher jedoch beinhaltete diese Ausrede nicht, auf dem Weg nach Hause verprügelt zu werden. Ich funkelte Walentin an und konnte spüren, wie sich meine Nasenflügel aufblähten, als ich zitternd ausatmete.

Noch vor fünf Minuten hatte ein höhnisches Lächeln die Lippen des Russen umspielt. Jetzt jedoch waren seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Schweiß bildete sich auf seiner hohen Stirn, obwohl er mir nur mehrmals in den Magen, die Rippen und naja … mein Gesicht geschlagen hatte.

»Ich wiederhole mich nicht gern. Aber ich frage dich nochmal: Weißt du, wo dein Platz ist?« Seine Worte wurden von einem tiefen Knurren begleitet und würde Daniel mich nicht so verflucht fest im Griff haben, würde ich sicherlich ein paar Meter Sicherheitsabstand zwischen uns bringen. In den letzten Jahren habe ich eines über Walentin gelernt: Man sollte sich besser nicht in Walentins Nähe aufhalten, wenn er wütend war. Der Russe neigte dazu, alles in Reichweite kurz und klein zu schlagen. Deshalb eignete er sich als rechte Hand des Bosses auch so gut.

Natürlich wusste ich, wo mein Platz war. Trotz meiner guten Leistungen nämlich ziemlich weit unten in der Nahrungskette. Leider nicht weit genug von den Augen der Geschäftsführenden entfernt, um unauffällig zu verschwinden. Und sei es nur für eine Nacht. Ich mochte nur ein Springer sein, aber das genügte bereits.

Die sinnvollste Antwort bestand deshalb aus einem Wort mit zwei Buchstaben. Ich sollte ihm die Antwort geben, die er hören wollte. Mein Kopf schrie mich mehr als deutlich an, es zu tun. Doch absolut alles in mir, jede einzelne Faser meines Körpers, sträubte sich dagegen. Ich hasste diese Form der Unterdrückung. Ich hasste es, auf diese Art dominiert zu werden.

Sie behandelten mich schon verflucht lange wie einen Gegenstand. Wie eine Wasserflasche, die man von einem Ort zum anderen stellen konnte. Doch genau das war ich nicht. Und es ging mir bereits seit Monaten gegen den Strich, dass es niemanden interessierte und ich weiter von einem Ort zum anderen geschoben wurde.

Genau deshalb tat ich das vermutlich Dümmste, was ich an diesem Mittag hätte tun können. Ich funkelte Walentin an und blaffte: »Es interessiert mich aber nicht!«

Wieder traf seine Faust mich in den Magen und drückte mir saure Galle die Speiseröhre nach oben. Ich biss mir auf die Lippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Niemals würde ich der rechten Hand des Bosses diese Genugtuung geben.

»Du hast uns gestern eine ganze Stange Geld gekostet«, knurrte Walentin mich an, während sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn bildete. Seine Wangen glichen überreifen Tomaten und der wilde Ausdruck in seinen hellen Augen zeigte mir, dass ich ihn mit meiner patzigen und vor allem uneinsichtigen Art bis aufs Blut reizte.

Verdammt, machte mich das glücklich. Auch wenn ich mich damit zweifelsohne noch unbeliebter machte. Da der Russe mich jedoch ohnehin noch nie leiden konnte, störte mich das nicht besonders.

Das mit uns war vom ersten Moment an schwierig. Er war es, der mich beim Spionieren entdeckt hatte und wegen dem ich heute überhaupt in der Klemme steckte. Hätte er damals nicht hinter den Stapel Paletten geblickt, wäre ich unerkannt wieder verschwunden. Doch so war es nicht. Das langweilige Leben, welches ich bis vor sechs Jahren führte, gab es nicht mehr. Livana Benett gab es nur noch am Tag. In der Nacht wurde ich zu jemand anderem. Wann immer mich Walentin zu sich rief oder mir einen seiner weiteren Lakaien auf den Hals hetzte, kramte ich das Monster aus meinen Tiefen hervor und verwandelte mich in Pandora.

»Das gefällt Ricky und mir nicht«, knurrte der Russe mich weiter an und trat einen Schritt auf mich zu. Gut, denn so schien es, als hätte er nicht mehr vor, mich wieder zu boxen. Ich wusste nämlich nicht sicher, wie lange ich seine Schläge noch aushalten konnte.

Die illegalen Kämpfe, an denen ich seit Jahren teilnahm, hatten mich zwar abgehärtet und auch das Kickboxtraining, mit dem ich an der Middle School begonnen hatte, hatte mich stärker gemacht. Doch wenn auf einen mit verdrehten Armen eingeschlagen wurde, dann konnte das niemand allzu lang aushalten.

Diese verfluchten Kämpfe. Früher hatte ich es beinahe schon geliebt, meinen Namen auf den Listen zu sehen. Ich hatte den Nächten entgegengefiebert, in denen ich mich aus meinem Elternhaus schlich und in die nächste Großstadt fuhr. Damals war ich dumm und naiv. Es ging mir nicht um das Preisgeld, über welches ich nicht klagen konnte und welches ich durchaus zu schätzen wusste. Es ging mir um den Adrenalinkick. Heute ist die Sache eine andere. Ich hatte begriffen, dass es bei alledem nicht wirklich um mich ging. Ich war nur ein kleiner Fisch in einem großen Netz. Denn das Geld, welches ich am Ende jeden Kampfes bekam, war nur ein Bruchteil von dem, welches Walentin und der restliche Haufen von Taurus mit mir verdiente. Ich war wie eine Maschine. Dazu geschaffen, ihre Gewinne zu steigern.

Und wenn die Obersten des Untergrundes eines liebten, dann war es Geld. Sie schnüffelten daran, badeten darin und putzten sich die Hintern damit. Es war das Einzige, was sie wirklich interessierte. Und ich hatte ihnen gestern einen ziemlichen Verlust beschert.

Der Gedanke, wie sie alle über der Frage brüteten, wo ich war und sie die Geldscheine förmlich vor ihren Augen schwinden sahen, ließ mich grinsen. Ich spürte, wie mir das Blut zwischen den Zähnen hervortrat und sich an meinen Lippen sammelte.

Vermutlich glich mein Gesichtsausdruck einer beängstigenden Fratze, doch Walentin ließ sich davon nicht stören. Er beugte sich noch weiter zu mir herunter, bis sein Gesicht direkt vor meinem schwebte. »Du wirst den verpassten Kampf heute Abend nachholen.« Er zischte, wie eine Schlange, wobei feine Tropfen seines Speichels die geschundene Haut meines Gesichts benetzten. Ich widerstand dem Drang mich zu schütteln, denn Daniel hielt mich so fest, dass ich Sorge hatte, mir dabei die Schulter vollends auszukugeln. Ganz besonders nach seinen Worten war dies keine ratsame Idee. »Und als Entschädigung für dein Fehlen gestern, wirst du verlieren.«

Wie bitte?

Mir entwich ein entsetztes Keuchen und ich riss die Augen auf. Was Walentin da von mir verlangte, war absolut nicht möglich. Nein, ich konnte nicht verlieren.

Seit mich Walentin vor etwas mehr als fünf Jahren hinter der Palette hervorgezerrt und mich der Boss des Untergrundes in den Ring geschickt hatte, hatte ich keinen einzigen meiner Kämpfe verloren. Meine Vita war also tadellos. Ich würde nicht damit beginnen, meine Kämpfe zu verlieren – absichtlich, wohl bemerkt.

»Vergiss es«, schnaufte ich und versuchte gar nicht, den verärgerten Ausdruck auf meinem Gesicht zu verbergen. Der Russe sollte sehen, wie wenig begeistert ich von seinem Vorschlag war. »Ich werde nicht verlieren. Nicht gegen Jacky und ganz sicher nicht gegen einen der anderen Fighter. Das kannst du vergessen!«

Das war einfach nur beleidigend.

Walentin zog die Mundwinkel ein und in seinen hellen Augen konnte ich die tiefe Schwärze seiner Seele erkennen. Er hatte kein Gewissen. Bei all den schrecklichen Taten, die auf sein Konto gingen, war das jedoch auch kein Wunder. Doch genau deshalb würde er nicht davor zurückschrecken, mir seinen Willen aufzuzwingen. Das hatte er schon früher getan.

»Du wirst heute Abend pünktlich sein. Du wirst kämpfen und du wirst verlieren. Denn wenn nicht, dann wird Blut fließen.« Es war mehr als eine Drohung, die er mir schon oft an den Kopf geworfen hatte, wann immer ich nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte. Heute war es ein Versprechen, das konnte ich an der Dunkelheit in seiner Stimme erkennen.

Und dennoch war es mir egal. Was wollten sie tun? Mich grün und blau schlagen? Da war er jetzt schon auf dem besten Wege, dass konnte ich ihm versichern. Aber es war mir egal. Ich würde keinen Kampf verlieren, vollkommen egal, was er mir versprach. Die Maske, welche ich mir für die illegalen Kämpfe und alle damit verbundenen Aktivitäten zugelegt hatte, würde keinen Riss erhalten. Das brachte ich nicht übers Herz. Zugegeben, ich liebte es als unbesiegbar zu gelten. Es verlieh mir Stärke und Macht, auch wenn beides nur meinem Ego nutzte.

»Und ich kann dir versichern, dass es nicht dein Blut sein wird.«

Übelkeit erfasste meinen Körper und mein Magen hob sich beunruhigend. Seine Worte ließen augenblicklich Angstschweiß in meinem Nacken entstehen und brachten mein Herz zum Rasen. Das hier war ohnehin schon nicht die perfekte Situation und doch ging sie noch weiter bergab. Etwas, das ich bisher nicht für möglich gehalten hatte.

Walentin richtete sich auf und ließ die Hand hinter dem Rücken verschwinden. Stumm wartete ich ab, bis er mir ein Bild unter die Nase hielt. Es war im Sonnenschein aufgenommen worden und so konnte ich bestens erkennen, was darauf zu sehen war.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, um dann doppelt so schnell zu pochen. Ein wütendes Knurren entwich mir und ich begann, mich gegen Daniels Griff zu wehren, ohne die Augen von der Fotografie abzuwenden. Es war mir egal, ob ich mir dabei die Schulter auskugelte und mich damit nur noch weiter verletzte.

Auf dem Bild sah man ein blondes Mädchen, das in einem roten Sommerkleid eine Straße überquerte. Sie trug schwarze Ballerina an den Füßen und eine Lederhandtasche über der Schulter. Ihr langes Haar wurde vom Wind über die Schulter geweht und ihre drei Begleiterinnen verblassten neben ihrer natürlichen Schönheit vollkommen. Holly Benett alias meine kleine Schwester.

Nein, das durfte nicht wahr sein. Ich hatte es geschafft, meine Familie in den letzten fünf Jahren vor Taurus zu schützen. Ich hatte es geschafft, dass niemand aus der Untergrund-Organisation sie mit mir in Verbindung brachte. Und doch hatten sie meine kleine Schwester gefunden. Das Sommerkleid war neu. Sie hatte es mir heute Morgen erst präsentiert, ehe sie sich mit ihren Freundinnen in der Stadt getroffen hatte. Sie hatten mir bereits meinen Freund genommen. Sie durften mir nicht auch noch meine Schwester nehmen.

Der Name Pandora war aus einem Geistesblitz heraus entstanden. Einzig und allein dazu gemacht, mich vor Taurus zu schützen. Es war ein Deckname, der meine Anonymität im Untergrund sichern sollte. Wir hatten im Jahr zuvor über die ›Büchse der Pandora‹ im Philosophie-Unterricht gesprochen und so war es unter Druck mein erster Gedanke.

Ich konnte spüren, wie sich alles in mir vor Panik zusammenzog und wand mich deshalb stärker in Daniels Griff.

Walentin zerriss das Bild vor mir in zwei Hälften und grinste mich über das Papier hinweg an. »Wir werden sie finden. Und wir werden keine Gnade zeigen. Verlier den Kampf heute und wir sehen weiter.«

Ich musste von hier verschwinden. Walentin, sein Boss Ricky und generell jeder aus der Organisation würde nicht damit aufhören. Sie würden immer einen Weg finden, mir ihren Willen aufzuzwingen. Egal, ob mit meinem eigenen Leben oder dem meiner Familie. Ich hatte es in den letzten Wochen zu weit getrieben. Hatte zu viele Befehle ignoriert und mich zu oft quer gestellt. Nur so konnte ich mir das plötzliche Interesse an meiner Schwester erklären. Holly war mein wunder Punkt. Mein Ein und Alles.

Es gab nur einen Weg, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Schon vor Wochen habe ich überlegt, wie ich Taurus entkommen konnte. Mein Studium gefiel mir absolut nicht, hatte es noch nie, und nach fünf Jahren gingen mir zusätzlich die Ausreden für meine plötzlichen blauen Flecke und Wunden aus. Außerdem sehnte ich mich nach Ruhe in meinem Leben. Weniger Adrenalin, weniger Kämpfe. Weniger von allem. Als hätten sich meine Prioritäten verschoben. Vielleicht wurde ich einfach erwachsen.

Bei meinem Versuch auszusteigen hatte ich schnell bemerkt, dass man der Organisation nicht so einfach entkommen konnte. Es war kein Abo, das man einfach kündigte. Oder eine Bahn, aus der man ausstieg. Der Untergrund und alles, was damit zu tun hatte, war eine einzige Abwärtsspirale. Und es gab keine Tür, durch die man sie verlassen konnte.

Walentin hatte es gerade eben erst gesagt. Ich hatte die Untergrundorganisation in der vergangenen Nacht viel Geld gekostet. Allein damit, dass ich zu dem angesetzten Kampf nicht aufgetaucht war. Sie würden mich nicht einfach aufhören lassen. Sie würden es mir niemals gestatten, zu gehen. Obwohl mir das schon früher bewusst war, hatte ich meine Augen davor verschlossen. Und nun hatte ich den Salat. Nun hatten sie meine Familie gefunden. Meine kleine Schwester, die für mich über absolut allem stand.

Tausend Gedankenblitze jagten durch meinen Kopf. Kaum einen von ihnen konnte ich lange genug greifen, um ihn zu erkennen. Doch eines war mir mehr als bewusst: Ich musste von hier verschwinden. Nur so konnte ich meine Familie, Holly, retten.

»Wir werden sie finden. Und wir werden keine Gnade zeigen. Du wirst diesen Kampf verlieren und danach wirst du deine Loyalität beweisen. Oder du wirst dafür verantwortlich sein, was wir mit diesem süßen Püppchen tun werden.« Unter den Worten des Russen bäumte ich mich auf und versuchte, Daniels Händen zu entkommen. Doch er umfasste meine Arme nur fester, völlig unbeeindruckt von meinem Versuch, gegen ihn anzukämpfen. Kein Wunder, immerhin war der Gleichaltrige beinahe zwei Meter groß und überragte mich um mehr als einen Kopf.

Eine meiner blonden Haarsträhnen fiel in mein Blickfeld, doch sie hielt mich nicht davon ab, den Russen hasserfüllt anzufunkeln. Denn genau das war es, was ich in dieser Sekunde fühlte. Wo ich sonst so kühl und unberührt blieb, war nur noch flammender Hass. Ich brannte innerlich.

»Fick dich, Walentin«, spie ich dem Mann vor mir entgegen. Er hatte mich an der Angel. Ich würde alles tun, um meine Schwester zu beschützen. Um meine Familie nicht in Gefahr zu bringen. Denn egal, wie schwierig das Verhältnis zu meinen Eltern auch war, ich würde auch sie immer beschützen. »Ich werde da sein.«

Doch ich würde nicht verlieren. Unter keinen Umständen.

KAPITEL 2

Livana

Stunden später betrat ich die stickige Halle, in der es nach einer Mischung aus Schweiß, Bier und alten Sportsocken roch. Alles hier war mir vertraut. Jede Unebenheit des Bodens, jedes flackernde Licht an der Decke und jeder Ziegelstein, aus welchen die Wände gemauert waren. Schon seit ich mit meiner Familie vor fünf Jahren von Austin (Texas), in den Großraum Stuttgart (Süddeutschland) gezogen war, kam ich regelmäßig hier her.

Auch wenn ich nichts lieber täte, als in meinem Bett zu liegen oder mit Holly eine neue Folge unserer Lieblingsserie zu schauen, war ich hier. Bereits seit Walentin mir das Foto von meiner kleinen Schwester gezeigt hatte wusste ich, dass ich heute Abend hier sein würde. Seit meinem unverhofften Aufeinandertreffen mit dem Russen und Daniel am Nachmittag wurde ich von schrecklichen Kopfschmerzen geplagt und dementsprechend war meine Laune mittlerweile auf dem absoluten Tiefpunkt angekommen.

In den letzten Stunden hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich meine Flucht von hier am besten gestalten konnte. Ich hatte einen Koffer gepackt und zwei Reisetaschen. Diese hatte ich unbemerkt zu meinem Auto geschleppt, das zwei Querstraßen von meinem Elternhaus entfernt parkte. Ich hatte meinen gefälschten Pass fünfmal mit meinem richtigen verglichen, um herauszufinden, ob ich von den Behörden an den Landesgrenzen eventuell aufgehalten werden könnte. Verdammt, ich hatte sogar einen kurzen Brief für meine kleine Schwester verfasst und an einem sicheren Ort deponiert.

Meine Muskeln waren angespannt, während ich die Halle durchquerte. Das Gespräch mit der rechten Hand des Bosses lag mir schwer im Magen. Ich wusste, wie dumm ich war, weil ich mich ihnen nicht beugte. Aber ich war hier. Das musste ihnen genügen. Denn ich würde nicht verlieren. Nicht, wenn es heute mein letzter Kampf war. Und genau das war er. Es war mein letzter Auftritt im Ring.

Ich konnte dem Untergrund nicht entkommen. Nicht, solange ich hierblieb. Und erst recht nicht, solange sie wussten, wo ich mich befand. Deshalb musste ich untertauchen. Musste all meine Brücken abbrechen. Zu meiner Familie, meinen Freunden aber vor allem zu Taurus und dem Untergrund.

Heute würde ich meinen letzten Kampf bestreiten. Und mich danach hoffentlich für immer aus den Fängen der Organisation befreien. Heute würde ich abdanken und sobald ich einen Fuß auf den Schotterparkplatz vor der Halle setzte, würde ich mich nicht mehr hier blicken lassen. Es war mein Abschied, von dem niemand in dieser Halle wusste. Denn würde ich es jemandem erzählen, würde in den nächsten fünf Minuten meine Gehirnmasse die Wände zieren.

Niemand konnte Taurus entkommen. Niemals. Doch ich war nicht niemand. Ich war eine Legende. Und ich würde nicht zulassen, dass ich oder meine Familie, insbesondere Holly, daran zugrunde ging. Genau deshalb würde ich heute Nacht das Unmögliche möglich machen.

So unbedeutend wie möglich ließ ich den Blick durch den offenen Raum wandern. Der Ring befand sich in der hinteren Hälfte der Halle. An den Seiten waren aus Paletten und alten Holzbrettern zwei Bars und ein Hot Dog-Stand aufgebaut. Aus den aufgestellten Lautsprechern drang Techno-Musik und teilweise flackerten die Neonröhren an der Decke, welche lange Schatten auf den staubigen Boden warfen.

»Pandora!«, jubelte mir Claus zu und kam mit erhobener Bierflasche auf mich zu. Mir wehte bereits zwei Meter vorher eine Alkoholfahne entgegen. Der Glatzkopf war ein relativ angenehmer Zeitgenosse, weshalb ich ihm kurz zunickte und dann selbst in der Menge untertauchte.

Schon immer war ich hier als ›Pandora‹ bekannt. Ich hatte mir den Namen selbst ausgedacht, als ich bei meinem ersten versehentlichen Ausflug hierher entdeckt wurde. Ich war froh, dass jemand wie Claus nicht meinen bürgerlichen Namen kannte. Denn obwohl die Kombination Livana Benett in den Vereinigten Staaten häufig vorkam, so würde man mich hier in Deutschland ziemlich leicht damit ausfindig machen.

Einen Decknamen zu besitzen, fühlte sich auch nach Jahren noch gut an. Bisher hatte er mir immer die Illusion von Schutz gegeben. Natürlich war ich nicht dumm. Ich wusste schon immer, seit ich von Walentin entdeckt wurde und direkt in die Mündung einer Waffe geblickt hatte, dass niemand vor Taurus sicher war. Weder seine Mitglieder noch die unschuldigen Bürger. Und heute hatte ich diese unangenehme Erfahrung selbst machen müssen.

Taurus war ein großes Unternehmen, das unter dem Deckmantel einer großen Computerfirma den Untergrund in ganz Europa kontrollierte. Und leider besaß die Organisation deshalb ihre Spitzel einfach überall.

Und genau das war es, was mir auch Stunden nach meinem Aufeinandertreffen mit Walentin noch Bauchschmerzen bereitete. Ich musste nicht nur verschwinden, sondern auch untertauchen. Ich durfte unter keinen Umständen mehr mit Pandora oder Livana Benett in Verbindung gebracht werden. Beide Hüllen musste ich hinter mir lassen und unsichtbar werden. Somit war alles, was nach der Flucht kam, der kniffligste Teil meines Planes und bei dem konnte darüber hinaus mehr als eine Menge schiefgehen.

Ich ignorierte die Menschen, welche meinen Namen riefen und marschierte direkt zu Carlos. Er war ein kleiner Italiener, der mich vor jedem Kampf kurz informierte. So auch heute. »Verdammt, da bist du ja! Wie konntest du mich gestern bloß einfach im Regen stehen lassen?«

Himmel, ich konnte nicht glauben, dass mein Aussetzer gestern für solch einen Wirbel gesorgt hatte. Andererseits war Carlos dafür bekannt, gerne bei den Wetten des Abends mitzumachen und vermutlich habe ich auch ihn gestern etwas Geld gekostet. Ich ließ ihn also reden und blickte ihn nur mit nach oben gezogenen Augenbrauen an.

»Wie immer wetten die meisten auf dich, also keine große Veränderung. Das Preisgeld liegt beim Höchstbetrag, habe ich gehört, aber das weißt du ja selbst«, brabbelte er weiter. »Deine Gegnerin ist Jacky. Also sei vorsichtig. Du weißt, wie ihre Rechte ist.«

Und wie ich das wusste. Aber ich hatte noch nie einen Kampf verloren. Weder gegen Jacky noch gegen einen anderen Fighter. Und auch wenn Ricky, der Boss des Untergrundes hier im Süden, es wollte, hatte ich nicht vor, heute damit anzufangen. Im internationalen Ranking, Taurus vergleich uns alle gern wie Zuchtpferde, gehörte ich zu den Top 25 und daran wollte ich nichts ändern.

Deshalb nickte ich nur knapp. Ich war überzeugt davon, auch heute zu gewinnen. Vollkommen egal, was Walentin mir angedroht hatte. Ich würde heute keine Show abziehen, sondern den Kampf so schnell wie möglich zu meinen Gunsten entscheiden. Dann würde ich mir das Preisgeld schnappen und auf direktem Weg von hier verschwinden. Ich brauchte das Bargeld, um nach meiner Flucht überleben zu können.

»Pandora du weißt, dass du gewinnen musst. Oder? Die Anforderungen sind hoch und es geht um den Platz. Wenn du Jacky heute schlägst, dann hast du ihren Platz und sie wandert einen nach hinten«, drängelte Carlos und fuhr sich über den kahl rasierten Kopf. Er sah mich eindringlich an und ich würde ihm am liebsten die platte Nase brechen. Er machte mich wütend. Er setzte mich unter Druck. Etwas, womit ich heute nicht gut umgehen konnte. Nicht, nachdem Walentin mir mit dem Leben meiner Schwester gedroht hatte.

Die Schwarzhaarige kämpfte öfter als ich und war deshalb im Ranking meist einen Platz über mir. Und das, obwohl ich die mehr Siege einfuhr und Jacky trotz ihrer verdammten Rechten das ein oder andere Mal verlor.

Carlos atmete viel zu schnell und rieb die Hände aneinander. Er klang gerade so, als würde er selbst jede Sekunde in den Ring steigen. Vollkommen lächerlich. Der etwas untersetzte Mann würde darin vermutlich keine halbe Minute überleben. Doch das hielt ihn nicht davon ab, mir Druck zu machen. Wie immer. Und genau das ließ mein Blut kochen.

»Pandora.«

Ich funkelte ihn an und schnauzte: »Halt deine scheiß Fresse! Ich weiß, worum es geht!«

Und wie ich das tat. Jacky war der einzige Fighter aus Deutschland, die im internationalen Ranking neben mir in den besagten Top 25 stand. Außerdem war sie im deutschen Ranking bisher auf Platz 1. Und wenn ich gewann, dann gehörte dieser Posten von nun an mir. Schade nur, dass daraus keiner mehr Profit schlagen konnte.

So wie ich diese giftspritzende Schlange kannte, dürfte ihr das dennoch nicht gefallen. Allein das war ein Grund, diesen bevorstehenden Kampf zu gewinnen. Ich würde niemals freiwillig verlieren, denn das konnte mein Stolz einfach nicht zulassen. Und wegen dem, was sie vor mehr als zwei Jahren getan hatte und weshalb ich seither die mir zugewiesenen Schulden abarbeitete. Sie würde dafür bezahlen. Heute, bei meinem letzten Kampf. Eine letzte Abrechnung.

Also tat ich, was ich musste und begann, mich mit verschiedenen Übungen aufzuwärmen. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Fighter im Ring ihren Kampf beendet hatten. Dem Johlen der Menge nach zu urteilen, hatten sie eine großartige Show geliefert.

Während Walentin in den Ring kletterte, um den Sieger des Kampfes zu verkünden, schlüpfte ich aus dem Trainingsanzug. Darunter kam eine enge Sportleggings und ein Sport-BH, welcher meine Oberweite an Ort und Stelle hielt, zum Vorschein. Beim Anblick des Russen wurde mir noch eine Spur übler und ich biss die Zähne zusammen.

Wie bei jedem Kampf half mir Carlos in die Bandagen, die unser einziger Schutz waren. Dabei entging mir nicht, wie er den Blick über meinen Körper wandern ließ. Er musterte mich oder sollte ich eher sagen, die blauen Flecke, welche Walentin mir vor wenigen Stunden verpasst hatte. Die Haut über meinen Rippen glich beinahe einer verfärbten Leinwand und von dem überschminkten Veilchen in meinem Gesicht wollte ich gar nicht erst anfangen.

Ich wandte den Blick wieder in Richtung des Rings. Dort wurde dem Verlierer gerade von Rickys rechter Hand herausgeholfen, während sich der Sieger noch von den herumlungernden Leuten feiern ließ. Ein paar der Zuschauer steuerten bereits den Palettentisch auf der linken Seite des Rings an. Dort wurden die Wetten für die einzelnen Kämpfe angenommen und im Anschluss daran auch das Geld ausgezahlt.

Meine Aufmerksamkeit galt jedoch viel eher dem Treiben auf der anderen Seite des Rings. Denn von dort aus schenkte mir meine heutige Gegnerin Jacky einen bitterbösen Blick. Wie ich, bekam sie gerade mit Hilfe von Daniel ihre Bandagen umgelegt. Natürlich, das Wiesel stand wieder einmal bei ihr.

Sie wusste genau, worum es heute ging. Sie wusste genau, was das Gewinnen für mich bedeutete und was sie dadurch verlieren würde. Wir beide hatten einen bestimmten Wert für die Organisation und ein Sieg meinerseits machte mich natürlich gleichzeitig auch wertvoller.

Ich kam nicht darum herum, ihr ein gehässiges Grinsen zu schenken und dem aufgeregten Klopfen meines Herzens zu lauschen. Vorfreude durchströmte meinen Körper und mein Plan, von hier zu verschwinden, rückte in die hinterste Ecke meines Kopfes. Jetzt musste ich mich zuerst auf etwas Wichtigeres konzentrieren.

Als ich mit meinen Kämpfen hier begonnen hatte, hatte ich Angst. Ich wusste nichts von dieser Welt und war von anderen abhängig, um zu überleben. Doch heute war das anders. Mittlerweile wusste ich zu viel über die Machenschaften von Taurus. Ich wusste, warum sie mich mit dem Leben meiner Schwester erpressten, weiter für sie zu kämpfen und mich ihnen zu unterwerfen.

So sehr ich den Untergrund und alles, was damit zu tun hatte, verabscheute, so sehr liebte ich auch den Nervenkitzel vor jedem Kampf. Das Adrenalin, welches durch meine Adern rauschte, machte mich beinahe high. Es war wie eine Sucht.

Doch wenn man stark genug war, konnte man jede Sucht bekämpfen. Meine Sucht könnte mich das Leben kosten. Vielleicht nicht bei einem Kampf, aber bei einem schieflaufenden Drogendeal zum Beispiel. Vielleicht wurde ich auch nur von der Polizei geschnappt und ins Gefängnis gesperrt. Dann würden meine strengen und konservativen Eltern mich zweifelsohne enterben. Das fände ich nicht einmal schlimm, aber orange stand mir einfach nicht.

»Und nun kommen wir zu dem Kampf, auf den wir alle den gesamten Abend gewartet haben!« Walentin begann mit seiner Ankündigung, sobald der Sieger des vorherigen Kampfes endlich den Ring verlassen hatte. »Zwei Giganten und ein Kampf, bei dem es um mehr geht als nur um den Sieg!«

Ich konnte über diese Worte nur die Augen verdrehen. Jeder wusste, dass die Schwarzhaarige und ich keine besten Freundinnen waren. Niemand wusste, was vor über zwei Jahren passiert war und woher unsere tiefe Abneigung zueinander kam. Niemand, außer Ricky und der oberste Rat von Taurus, vor denen ganz besonders ich mich verantworten musste.

»Du musst gewinnen!«, zischt Carlos mir ein weiteres Mal ins Ohr, ehe er mich auf den Ring zuschob. »Ich habe auf dich gesetzt!«

Natürlich. Eigennützig wie immer. Genau so kannte ich den Italiener.

In einer Mischung aus genervt und wütend blickte ich ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Leider blieb mir jedoch keine Zeit, ihn nochmal darauf hinzuweisen, dass er doch endlich die Klappe halten möge.

»Hier haben wir Jacky und Pandora!«, johlte Rickys rechte Hand im Ring und breitete die Arme lächerlich aus, während die Menge vor Begeisterung johlte.

Ohne eine Miene zu verziehen, kletterte ich in den Ring, während meine Gegnerin es mir auf der anderen Seite gleichtat. Wir trafen uns mit einem Abstand von etwa einem Meter in der Mitte und während unser Möchtegern-Ringrichter eine große Show für den Kampf ankündigte, musterte ich die Schwarzhaarige mir gegenüber.

Ihre Augen waren dunkel umrandet, während ich beinahe komplett auf Make-up verzichtet hatte. Außerdem trug sie eine kurze Sporthose, während ich wie immer eine lange Leggings gewählt hatte. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns war derselbe Sport-BH, den wir trugen. Aber außer mir würde das vermutlich niemandem auffallen. Ihre schulterlangen Haare waren wie immer am Kopf entlang nach hinten geflochten, während ich meine hellblonden Haare einfach nur zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. So konnte ich passenderweise auch die von Walentin abgeschnittene Haarsträhne kaschieren. Wir waren wie Tag und Nacht. Sie war die Dunkelheit, ich das Licht.

»Lasset den Kampf beginnen!«

Es waren die ersten Worte, die ich aus dem Monolog von Walentin heraushörte und automatisch richteten sich all meine geschärften Sinne auf meine Gegnerin.

Ihre Atmung ging ruhig und flach, während sie unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Für jeden mochte es so aussehen, als würde sie sich nur warmhalten, doch ich konnte hinter ihre Maske blicken. Die vor Anspannung zusammengezogenen Augenbrauen sowie die verkniffenen Mundwinkel verrieten sie. Sie hatte Angst und das zu Recht.

Ich hatte noch nie einen Kampf verloren und ich würde heute auch nicht damit anfangen. Bei diesen illegalen Kämpfen war alles erlaubt. Es gab keine Regeln und ganz gewiss keinen Richter, der den Schwächeren davor bewahrte, in Ohnmacht geprügelt zu werden.

Deshalb verließ Rickys rechte Hand auch schnellstmöglich den Ring, um uns beide unserem Schicksal zu überlassen. So mächtig sich Walentin auch fühlte, hier wollte er nicht zwischen die Fronten geraten.

»Verabschiede dich schonmal von deinem Platz.« Amüsiert grinste ich meine Gegnerin an. Im Gegensatz zu ihr war ich die Ruhe selbst, ganz wie mein Kickbox-Trainer in den USA es mir vor so vielen Jahren beigebracht hat. »Denn heute wirst du fallen.«

Jacky schnaubte höhnend auf, doch auch hier verriet ihre Mimik sie wieder. Eine Sorgenfalte hatte sich bei meinen Worten auf ihrer Stirn gebildet und strafte ihre Worte eindeutig mit dem Wort ›Lüge‹. »Sei dir da mal nicht so sicher. Du bist eine Prinzessin, keine Königin. Wenn ich mit dir fertig bin, dann wirst du dir wünschen, mich niemals hintergangen zu haben.«

Wut waberte wie rauchiger Nebel durch meinen Körper und erstickte die Vorfreude im Keim. Ganz genau wegen solcher Behauptungen würden wir beide niemals beste Freundinnen werden. Denn ich ließ mir nicht gerne Dinge unterstellen, die ich nicht getan hatte. Für meine Fehler geradezustehen, war kein Problem. Das hatte ich schon mein Leben lang getan. Doch ich ließ mir nicht etwas unterschieben, das nicht auf meinen Mist gewachsen war.

»Ich habe dich nicht hintergangen und das weißt du genau. Aber wir können das jetzt gerne ein für alle Mal klären. Möge die Ehrlichere gewinnen.«

Es waren meine Worte, die den Startschuss für den Kampf gaben und ehe ich mich versah, stürzte sich die Schwarzhaarige bereits auf mich. Ich wehrte ihren Angriff ab und holte direkt zum Gegenschlag aus.

Es würde kein leichter Kampf werden, das war uns beiden mehr als klar. Deshalb versuchten wir zuerst, mit Hilfe von verschiedenen Schlägen, die Grenzen der anderen auszutesten.

Ihre Rechte war unheimlich stark und ihre Technik hatte sich seit dem letzten Mal erheblich verbessert. Ihre Schläge waren präziser und so überraschte es mich nicht, dass ihr Treffer in meinen Rippen mir tatsächlich die Luft aus den Lungen drückte. Zusammen mit den Verletzungen von Walentin, machte der Schlag meinem Körper sofort zu schaffen.

Schmerz durchzog meinen Oberkörper, doch ich hatte keine Zeit nach Luft zu japsen, denn meine Gegnerin warf sich ein weiteres Mal auf mich. Ich konnte ihren Angriff auf mein Gesicht nur mit Mühe abwehren und würde mich das Atmen nicht so viel Kraft kosten, würde ich sofort zu einem Gegenschlag ausholen.

Doch erst als ich die Schwarzhaarige von mir stoßen konnte und tatsächlich mehr als nur ein halber Atemzug Sauerstoff in meinen Lungen ankam, konnte ich selbst zu einem Angriff übergehen. Während ihre Rechte besonders stark war, war ihre Beinarbeit noch immer eher schwach und ihre untere Körperhälfte generell meist ungeschützt. Dort war der beste Punkt, um sie anzugreifen.

Ehe Jacky sich ein weiteres Mal auf mich stürzen konnte, drehte ich mich einmal um mich selbst. Die Bewegung würde meinem Tritt den nötigen Schwung geben. Mein Fuß hob sich automatisch auf Höhe ihres Rumpfes und tatsächlich traf ich nur eine Sekunde später den Unterbauch meiner Gegnerin.

Sie taumelte durch meinen Treffer mehrere Schritte nach hinten und strauchelte, bis die Seile des Rings sie auffing. Ihr Stöhnen konnte ich sogar von meiner Position aus vernehmen, doch ich hatte keine Zeit mich an meinem Treffer zu erfreuen, denn die Schwarzhaarige war ebenso zäh wie ich und ließ sich davon nicht lange zurückhalten.

Um einem Angriff ihrerseits vorzubeugen, hechtete ich ihr also hinterher und während ich erneut mit der Rechten auf ihren unteren Bauch zielte, um den Schmerz zu verschlimmern, landete ihre Rechte so kraftvoll in meinem Gesicht, dass ich augenblicklich Sterne sah.

Das wurde eindeutig kein leichter Kampf.

KAPITEL 3

Livana

Über das kleine Waschbecken gebeugt und den Blick fest auf meine Augenbraue gerichtet, zog ich vorsichtig das erste Klammerpflaster von meinem Gesicht. Wenn ich nach meinem Aufeinandertreffen mit Walentin bereits verprügelt aussah, dann war meine heutige Verfassung nochmal um einiges schlimmer.

Jacky hatte bei unserem Kampf vor drei Tagen ganze Arbeit geleistet. Die Haut meines Körpers war in einer Mischung aus grün, blau und lila verfärbt und eine frische Wunde zierte mein Gesicht. Sie zog sich direkt unter meinem Auge über meinen Wangenknochen und ich konnte nur hoffen, dass sie schnell wieder verschwand.

Ich warf die Klammerpflaster in den Mülleimer, der zwischen Waschbecken und Toilette stand. Dann musterte ich mein Gesicht, das noch immer von einem Veilchen geziert wurde. Ich sah aus wie eine verprügelte Ehefrau und mit meinem Aussehen würde ich zweifelsohne alle Blicke auf mich ziehen.

Nach dem Kampf hatte ich Deutschland auf dem schnellsten Weg verlassen. Ich war durch Frankreich gefahren, um eines der Schiffe in Calais zu erreichen. Es hatte mein Auto und mich über das Wasser in das Vereinigte Königreich nach Dover transportiert. Bei sämtlichen Grenzüberfahrten war mir regelrecht schlecht gewesen. Denn in meinem Kofferraum befand sich nicht nur mein spärliches Gepäck, sondern auch ein paar versteckte Waffen und gefälschte Nummernschilder sowie Ausweise. Ich hatte ganze drei Identitäten, zwischen denen ich nach Belieben wechseln konnte. Für den Moment hatte ich mich für den Namen Livana Price entschieden. Mit ihm würde ich im englischsprachigen Raum kein Aufsehen erregen.

Nach einer kalten Dusche versorgte ich notdürftig meinen geschundenen Körper mit Cremes und versuchte das Veilchen an meinem Auge abzudecken, ehe ich wieder vier Klemmpflaster über der Wunde auf meiner Wange anbrachte und mit einem die winzige Wunde an meiner Augenbraue fixierte.

Gestern Abend hatte ich in einem kleinen, etwas heruntergekommenen Motel eingecheckt. Die Nachtbesetzung am Empfang hatte mir trotz meiner offensichtlichen Verletzungen keine Fragen gestellt und damit genau das getan, was ich wollte. Hier konnte ich mich für einige Zeit aufhalten, ohne aufzufliegen. Das Zimmer hatte ich vorerst für eine Woche angemietet, um mich in London zurecht zu finden.

Ich fuhr mir mit meinem Handtuch durch die Haare, während ich das kleine Badezimmer verließ und aus der Tasche vor dem Bett frische Klamotten zog. Nachdem Walentin mir eine meiner vorderen Haarsträhnen gekürzt hatte, musste ich mir auf der Toilette eines Rasthofes die Haare schneiden. Nun waren sie kaum mehr länger als meine Schultern. Dazu hatte ich sie vor zwei Tagen nach einem Besuch im Supermarkt mit brauner Farbe versehen. Von dem vorherigen blond war nichts übriggeblieben.

Bei jedem Blick in den Spiegel brauchte ich einen Moment, um mich an mein verändertes Aussehen zu erinnern. Mich äußerlich soweit neu zu erfinden, erschien mir ein nötiges Übel dafür, unerkannt ein neues Leben zu beginnen. Nach über drei Tagen war ich mehr als 900 Kilometer von meiner Familie getrennt. Mein Smartphone hatte ich noch in Stuttgart vernichtet, indem ich die SIM-Karte entfernt und über das kleine Gerät gefahren war. Keiner durfte Wissen, wo ich mich befand. Nur so konnte ich meine Familie schützen. Walentin würde sich nicht an meiner kleinen Schwester vergreifen, wenn er erfuhr, dass ich nicht einmal mehr in der Stadt war. Und genau das musste er mittlerweile bemerkt haben und damit hatte er jetzt wirklich größere Probleme.

Ich verließ das kleine Motelzimmer, um meine Pläne für den heutigen Tag zu verfolgen. Das Geld aus meinen Kämpfen hatte ich zwar gespart und nur für den Audi in meinem Besitz, sowie ein paar andere Kleinigkeiten ausgegeben. Aber es würde mich nicht ewig über Wasser halten. Also würde ich mir schleunigst einen Job suchen müssen. Außerdem konnte ich nicht für immer in dem Motel wohnen. Doch eine dauerhafte Bleibe stand erst weiter unten auf meiner Prioritätenliste.

Auf dem Weg zur nächsten Underground-Station besorgte ich mir in einem Bäcker einen Milchkaffee und eine Zimtschnecke. Wir hatten Ende August und die verkauften dort tatsächlich noch, oder schon, dieses Weihnachtsgebäck. Allerdings war das nicht wirklich verwerflich, denn es gab Menschen wie mich, die Zimt das ganze Jahr lang essen konnten.

In den letzten drei Tagen hatte ich kaum einen Bissen herunterbekommen. Ich hoffte, mein Frühstück würde das heute ändern. Doch so lecker das Gebäckstück auch war, ich hing mit meinen Gedanken bei meiner kleinen Schwester fest und das verdarb mir jeden Appetit. Ich konnte es nicht leugnen, aber ich vermisste Holly schrecklich. Wir hatten eine sehr gute Beziehung zueinander und ich wollte mir überhaupt nicht ausmalen, was sie nun von mir denken musste. Immerhin war ich einfach verschwunden.

Die Underground-Station lag nur fünfzehn Minuten von meinem Motel entfernt und nachdem ich mir eine wiederaufladbare Ticketkarte gekauft hatte, machte ich mich auf den Weg zu den Gleisen. Während meiner langen Fahrt hierher, hatte ich viel Zeit zu überlegen, was ich mit meinem Leben nun tun wollte. Mein BWL-Studium war zwar interessant gewesen, aber ich zweifelte daran, ob es das Richtige war. Eigentlich hatte ich den Studiengang nur gewählt, um überhaupt die Uni zu besuchen und nicht mit 18 Jahren bereits von meinen Eltern enterbt zu werden.

Gestern Abend hatte ich mir auf dem Tablet, das ich gerade in meinem Rucksack herumtrug, ein paar der Colleges und Universitäten in der Stadt angesehen. Dabei war ich auf die University of London gestoßen, welche während des nächsten Semesters einige weitere Kurse, die nichts mit dem üblichen Studienangebot zu tun hatten, anbot. Es waren Kurse, zu denen sich alle Interessenten kostenfrei anmelden konnte. Und genau das würde ich heute auch tun. Ich hätte bereits damals gerne dort studiert, doch für meine Eltern kam nur eine Universität in Deutschland in Frage. Also hatte ich meinen Traum begraben.

Während ich in der seicht schwankenden Underground von einer Station zur nächsten fuhr und dabei an meinem heißen Kaffee nippte, las ich mir nochmal die Beschreibung der verschiedenen Kurse durch. Vielleicht würde ich in einem von ihnen tatsächlich auch Anschluss und ein paar Freunde finden. Es konnte nicht schaden, sich in London etwas zu vernetzen.

Vielleicht würde ich mich in einem Fotografiekurs einschreiben. Einer der drei angebotenen Tanzkurse stand absolut außer Frage, denn mein Taktgefühl war definitiv nicht vorhanden. Allerdings klang der Kurs über Kriminalität in und um London der letzten Jahrhunderte auch ziemlich interessant. ›Jack the Ripper‹ und ähnliche Gestalten mit ihren verdrehten Gehirnen weckten ebenfalls die Neugierde in mir. Abgedrehter Horror, spannende Krimis und nervenaufreibende Thriller zogen mich wesentlich mehr an, als seichte Romanzen aus egal welcher Alterskategorie.

Auf meinem Weg zur Universität musste ich nur einmal umsteigen, was mir sehr gelegen kam. Zu den Stoßzeiten war es sicherlich schwierig, in den vollen Wagons einen Sitzplatz zu bekommen. Und etwas, das ich noch mehr hasste als angerempelt zu werden, war das Stehen in den Zügen. Nicht umsonst war ich bisher immer mit dem Auto zur Uni gefahren. London war jedoch nochmal eine vollkommen andere Hausnummer als Stuttgart. Und davon abgesehen machte mich das Fahren auf der linken Seite wirklich wahnsinnig. Es fühlte sich einfach grundlegend falsch an.

Sobald ich meine Endstation erreicht hatte, entsorgte ich meinen Einmal-Becher im nächsten Mülleimer und fuhr mit einer der Rolltreppen nach oben ans Tageslicht. Dort orientierte ich mich an den Straßenschildern, die mir freundlicherweise den Weg zur nahegelegenen Universität zeigten.

Da ich zwar ein Smartphone besaß, dieses jedoch noch nicht mit einer SIM-Karte, geschweige denn einer Internetverbindung ausgestattet war, musste ich mich auf dem Campus wie im letzten Jahrhundert zurechtfinden. Ich hielt mich also an die Beschilderung und folgte ihnen bis zum Verwaltungsgebäude, welches sich zwei Querstraßen weiter befand. Es war nicht so imposant wie das größte Gebäude, auf welchem auch der Name der Universität prangte und welches aus weißem Stein mit hohen Säulen errichtet wurde. Dennoch stach es aufgrund des einfachen Baus inklusive der großen bürotypischen Fenster zwischen den anderen, architektonisch aufwändig errichteten Gebäuden deutlich hervor.

Ich betrat das Gebäude und begab mich zu dem Büro, in welchem laut der Internetanzeige die Anmeldung stattfinden sollte. Auf dem Weg dorthin begegnete ich einigen Studenten, die sich entweder in Grüppchen oder allein durch das Gebäude bewegten. Vermutlich waren sie alle auf dem Weg zur hier ansässigen Studentenzeitung, einem Sachbearbeiter der Studentenverwaltung oder sie hatten mittlerweile bereits Schluss und machten sich auf den Heimweg. Wirklich ein Wunder wäre dies nicht, da wir bereits frühen Nachmittag hatten und ich beinahe den gesamten Vormittag verschlafen hatte.

Die Anmeldung war innerhalb von fünf Minuten erledigt. Zwar wurde ich von der Dame hinter dem Tresen etwas seltsam angestarrt, doch ihren Kommentar bezüglich der Online-Anmeldung tat ich einfach nur mit einem Achselzucken ab. Ich hatte gestern versucht, mich online für einen der kostenlos angebotenen Zusatzkurse einzuschreiben, doch dann war das sowieso schon langsame Internet im Motel zusammengebrochen und ich hatte aufgegeben.

Ich durchquerte das Gebäude auf dem Weg nach draußen. Mit meinen 21 Jahren fiel ich zwischen den übrigen ›echten‹ Studenten nicht auf, denn trotz meiner offensichtlichen Verletzung im Gesicht, sah mich keiner von ihnen ein zweites Mal an. Es war überraschend ruhig auf den Fluren, nicht wie ich erwartet hatte. Nur das Quietschen der Sneaker, Klappern der Absätze und Tuscheln der Studenten war zu hören. Ich hielt mich eher an den Wänden, die mit den Portraits ehemaliger Universitätspräsidenten und Würdenträger gepflastert waren.

Vermutlich hörte ich auch genau deshalb das wütende Zischen aus einem der Seitengänge, als ich diesen passieren wollte. »Nein verdammt! Da mach ich nicht mit!«

Augenblicklich blieb ich stehen und schob mich noch dichter an die Wand. Ich sah mich um, doch außer mir waren nur ein paar weitere Studenten im Korridor unterwegs. Deshalb zog ich mein Smartphone aus der Hosentasche und tat so, als würde ich darauf gerade eine Nachricht tippen. Dass mir das Ding zurzeit nur die Uhrzeit anzeigen konnte, weil ich weder eine Telefonnummer noch Freunde, die mir hätten schreiben können, besaß, wusste schließlich niemand.

Ich verfluchte meine Neugierde, doch es war meine angeborene Schwäche und so lauschte ich dem Gespräch, das in dem angrenzenden Flur geführt wurde.

»Du hast keine Wahl. Wir haben keine Wahl«, gab eine tiefere Stimme genervt zurück. Sie war etwas rauer und jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. »Es ist nur einmal. Mach dir nicht ins Hemd.«

Was war nur einmal? Verdammt ich konnte es nicht leiden, wenn mir die Hälfte der Informationen fehlte. Das nervte mich auch bei Telefonaten fremder Menschen in der Öffentlichkeit. Man teilte sein halbes Leben auf den sozialen Medien und deshalb erwartete ich auch die vollen Informationen.

»Ich mach mir nicht ins Hemd!«, fauchte die erste Person wieder, woraufhin ich ein höhnisches Schnauben vernehmen konnte.

Nachvollziehbar, denn ohne eine Ahnung zu haben, was da wirklich abging, schloss auch ich auf Panik. Die Stimme des Typen klang nämlich verdächtig schrill.

»Es ist nur eine Lieferung, Nox«, kommentierte nun eine dritte Stimme. Sie war sanfter und etwas heller als die ersten Beiden. Außerdem hatte sie etwas seltsam Beruhigendes an sich. »Da wird schon nichts passieren. Und es springt eine nette Summe dabei heraus. Komm schon, gib dir einen Ruck.«

Ich wollte nicht vorschnell urteilen, aber meistens nahm es nie ein gutes Ende, wenn man zu etwas überredet wurde. Vor allem nicht, wenn man dies offensichtlich so gar nicht wollte. Dieser Nox sollte definitiv auf sein Bauchgefühl hören und die Finger von der Lieferung lassen, um was auch immer es sich dabei handelte. Ich schätzte jedoch, dass es in dem Gespräch nicht um fettige Pizza ging. Andererseits hatte ich auch keine Ahnung. Die einzigen Lieferungen, mit denen ich jemals zu tun hatte, waren die Lieferungen von Drogen und Pizza.

»Verfluchte Scheiße, Lian! Mein Vater ist ein Minister! Ich bin tot, wenn das rauskommt!«, keifte die erste Stimme wieder und ich konnte den zerknirschten Ausdruck auf seinem Gesicht deutlich heraushören.

Dieses Detail sagte noch deutlicher, dass dieser Nox die Finger von dem kleinen Geschäftchen lassen sollte. Ich hoffte, er war schlau genug, das selbst zu erkennen.

»Und mein Vater ist Dekan an dieser Uni. Hält mich das auf?«, gab der Kerl mit der rauen Stimme wieder seinen Senf dazu.

Meine Nackenhaare stellten sich auf und mein Bauchgefühl gab mir zu verstehen, dass ich von hier verschwinden sollte. Egal worum es hier ging, ich wollte davon nichts mitbekommen. Keine Ahnung, was genau es war, aber mein Bauchgefühl warnte mich davor. Und dennoch schaffte ich es nicht, mich von dem Fleck, an dem ich stand, zu lösen.

»Das kann man jetzt nicht wirklich miteinander vergleichen, Williams. Aber gut«, brummte die sanftere Stimme wieder und ich konnte förmlich das Augenrollen aus den Worten des Jungen herhören. Lian, wenn ich mir den Namen richtig gemerkt hatte. »Also was ist jetzt? Mir behagt die ganze Sache auch nicht, aber einmal ist keinmal.«

Um es zusammenzufassen: Wir hatten hier drei Typen, die sich über eine Lieferung unterhielten und bei der einer sehr offensichtlich nicht allzu gern mitmachen wollte.

Das schrie geradezu nach etwas, wovon ich mich sehr weit fernhalten sollte. Denn als ich das letzte Mal jemandem nachspioniert und denjenigen bei einem Gespräch über eine anstehende Drogenübergabe belauscht hatte, bin ich in den fettigen Fingern von Walentin und damit auch den Fängen von Taurus gelandet.

Und das war auch der Grund, weshalb ich nun hier in einer fremden Uni stand und nicht mit meiner Schwester auf dem Sofa lümmelte oder bereits jetzt für die Abschlussklausuren meiner Kurse lernte. Das war der Grund, weshalb ich über 900 Kilometer von zu Hause entfernt war. Allein. Um keinen Preis der Welt wollte ich nochmal in dieselben Schwierigkeiten geraten. Ich musste hier verschwinden, solange ich noch konnte.

»Na schön. Ziehen wir es durch«, stimmte Nox seinen vermeintlichen Freunden zu.

Ich gab mir einen Ruck und drehte mich auf dem Absatz herum, nur, um direkt gegen andere Person zu knallen. Verdammt, das konnte auch wieder nur mir passieren. Man sollte mir einfach das Handy aus der Hand nehmen, wenn ich irgendwohin spazierte. Das konnte nur böse enden.

Eine Entschuldigung auf den Lippen hob ich den Kopf und sah der fremden Person ins Gesicht. Der Kerl war etwa einen Kopf größer als ich, an seinem Hals konnte ich ein Tattoo erkennen und sein Kiefer war aufeinandergepresst, als würde er jede Sekunde mit den Zähnen knirschen. Seine Lippen waren nicht mehr als eine schmale Linie und in seinen moosgrünen Augen konnte ich Wut aufblitzen sehen.

Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich schluckte die Entschuldigung herunter. Wer auch immer der Fremde war, er sah alles andere als freundlich aus. Warum hatte ich nicht bemerkt, dass er auf einmal hinter mir stand? Ich war doch sonst nicht so nachlässig.

»Na sieh einer an.« Seine Stimme war leise, als wolle er keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Sie war etwas kratzig und ließ mich förmlich erschaudern. »Wen habe ich denn da beim Spionieren erwischt.«

Fuck. Ich saß schon wieder in der Scheiße.

KAPITEL 4

Livana

Sekundenlang gaffte ich den Kerl an und ging gleichzeitig jede erdenkliche Ausrede durch, die auch nur halbwegs Sinn ergab. Es war kaum realistisch, dass der Junge vor mir nichts mit den Dreien im angrenzenden Korridor zu tun hatte. Warum sollte er sich ansonsten für mich oder eher mein Lauschen interessieren? Er war ungefähr so alt wie ich, doch der verkniffene Ausdruck ließ ihn sicherlich fünf Jahre älter wirken.

»Gelauscht? Wobei?«, gebe ich zurück und ziehe unschuldig eine Augenbraue nach oben.

Von allen Ausreden, die in meinem Kopf existierten, wählte ich ausgerechnet die Unschuldsnummer. Ich konnte es selbst nicht fassen. Das würde mir der große Typ garantiert nicht glauben. Dafür legte ich meine Hand ins Feuer.

An seinem Hals trat kaum merklich eine Ader hervor, doch ich bemerkte sie sofort. Meine Sinne waren vollkommen auf ihn fixiert und ich atmete tief ein. Er roch nach Kiefer und frischer Seife. Würde er nicht so grimmig dreinblicken, würde ich ihn vermutlich ganz attraktiv finden. Denn gut sah der er definitiv aus.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, doch ich zuckte nicht einmal mit der Wimper, während er den Blick über mich wandern ließ. Er stand so dicht vor mir, dass er sich dabei hauptsächlich auf mein Gesicht beschränkte.

»Verarsch mich nicht«, knurrte der Fremde tief und ich sah seine Nasenflügel beben, wobei ein Piercing-Ring an seinem linken Nasenflügel glitzerte. »Was hast du gehört?«

Gut, dass mein Plan tatsächlich sofort gescheitert war. Ganz, wie ich es erwartet hatte. Es machte mich zwar nicht glücklich, aber es verriet mir ein entscheidendes Detail über den Jungen: Er ließ sich nicht leicht hinters Licht führen. Das musste ich für die Zukunft bedenken. Aber jetzt sollte ich erst einmal von hier verschwinden.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippe und befeuchtete sie etwas. Dann schnalzte ich mit der Zunge und hob das Handy, welches ich noch immer in der Hand hielt, sichtbar in die Höhe. »Ich war beschäftigt. Hast du das beim Stalken vielleicht auch bemerkt?«

Herausfordernd hob sich nun auch meine zweite Augenbraue, während ich leicht den Kopf schieflegte. Er wollte dieses Spiel spielen, dann spielte ich mit. Ich ließ das Smartphone in der Hosentasche meiner schwarzen Jeans verschwinden, als ich hinter mir das Quietschen von Gummisohlen auf den Fliesen hörte.

Mit den drei Meter hohen Decken und ebenso hohen Türen wirkte das Gebäude der University of London trotz seiner modernen Bauart mehr als einschüchternd. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die Büsten großer Dichter und Decker in den Korridoren.

Auch ohne mich umzudrehen und um die Ecke in den angrenzen Flur zu blicken wusste ich, dass seine Freunde in jeder Sekunde hinter mir auftauchen würden. Ich musste hier weg, wenn ich nicht gleich große Probleme bekommen wollte. Ich wusste, wie Menschen reagierten, die sich bedroht fühlten. Nicht selten kam es vor, dass ich für Ricky und Walentin als Spion tätig war. Gerade in meiner Anfangszeit war ich mehr als einmal aufgeflogen und musste mich, ähnlich wie heute, aus der Sache herauslügen.

Die geraden Augenbrauen des Jungen waren so stark zusammengezogen, dass sich eine steile Falte dazwischen bildete. Prüfend musterte er mich und ich konnte in seinen grünen Augen erkennen, dass er mir kein Wort glaubte. Doch das musste er, denn ich war gerade dabei mich an ihm vorbeizuschieben.

»Und fürs nächste Mal würde ich mich mit meinen Anschuldigungen zurückhalten, wenn ich sie nicht zuvor lückenlos und wasserdicht überprüft habe.« Es war ein nett gemeinter Tipp, doch meine Stimme strotze nur so vor Überheblichkeit.

Ich konnte es einfach nicht lassen und musste ihm förmlich unter die Nase reiben, dass ich die Oberhand in diesem Gespräch hatte. Nicht nur indem ich es beendete, sondern auch, indem ich ihn als dumm darstellte. Obwohl eigentlich ich die Dumme von uns beiden war, denn ich habe mich schließlich beim Lauschen erwischen lassen. Etwas, das mir nicht hätte passieren dürfen. Ich war selbst schuld daran.

Seine Hand schnellte nach vorn und umfasste meinen linken Oberarm mit festem Griff. Wie er, trug ich eine schwarze Lederjacke, doch die Hitze seiner Hand brannte sich förmlich durch das Material. Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich musste den Drang, mich zu schütteln, mit zusammengebissenen Zähnen überwinden.

So hatte ich mir meinen Abgang ganz und gar nicht vorgestellt.

»Drohst du mir gerade?« Seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen, wobei sein Atem direkt auf mein Gesicht traf. Er roch nach Pfefferminzkaugummi. »Wenn ja, dann sollte ich dich eines Besseren belehren.«

Wieder legte ich den Kopf etwas schief und ließ den Blick für eine Sekunde über sein Gesicht gleiten. Ich prägte mir jedes Detail ein, sogar die verblasste Narbe rechts unter der Lippe.

»Ich drohe dir nicht«, korrigierte ich den Unbekannten. »Ich bringe dir nur Manieren bei.«

Damit packte ich mit der rechten Hand sein Handgelenk und drückte zu. Wie ich es bereits in der Vergangenheit bei so vielen anderen getan hatte, erwischte ich dabei mit den Fingerspitzen exakt seine Muskeln. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Griff noch etwas fester, doch als ich sein Handgelenk wieder losließ, lockerten sich auch seine Finger um meinen Arm.

Mit einem triumphierenden Grinsen prägte ich mir seinen Gesichtsausdruck ein, während ich seine Hand von mir schob. In seinen Augen war Überraschung, Unglaube und … Entsetzen … zu erkennen.

Mein Herz machte einen glücklichen Sprung, denn ich liebte es einen gelungenen Überraschungsmoment hinzulegen. Und das war mir soeben mehr als gelungen.

»Also dann, bye.«

Auf dem Absatz wirbelte ich herum und ergriff förmlich die Flucht. So schnell ich konnte, ohne zu rennen und damit ungewollte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, lief ich zurück in die Richtung, aus der ich zuvorgekommen war. Ich würde einen anderen Ausgang aus dem Gebäude nehmen. Das musste ich, denn ich wollte ungern auch noch den drei anderen Typen begegnen, die ich tatsächlich belauscht hatte.

Meine Ausrede war ohnehin nicht die Beste und hätte ich dem Fremden mehr Zeit gegeben sich zu verteidigen oder gar zu denken, hätte er meine Lüge sicherlich als eine solche enttarnt. Etwas, das ich wirklich vermeiden wollte.

London sollte ein Neuanfang für mich werden. Doch das ging nicht, wenn ich mich nach kaum mehr als 24 Stunden hier im Land bereits mit irgendwelchen Studenten anlegte, nur weil ich meine Neugierde nicht zügeln konnte.

Holly hatte Recht. Mein intuitiver Drang, alles herausfinden zu wollen, brachte mich noch in ernsthafte Schwierigkeiten.

Hart pladderte der Regen gegen das Fenster und ich strich mir eine feuchte Haarsträhne über die Schulter, während ich die Regentropfen auf der anderen Seite der Scheibe auf ihren Wegen mit den Augen verfolgte. England hatte seinem Ruf alle Ehre bereitet und mich, kaum dass ich den Campus der Universität verlassen hatte, mit einem Platzregen überrascht. Gerade noch konnte ich mich in ein kleines, beinahe schon unscheinbares Café retten und so einer unfreiwilligen Dusche entgehen.

Nun saß ich also hier und starrte melancholisch aus dem Fenster, während vor mir eine Tasse Früchtetee dampfte und im Hintergrund leise der aktuelle Sommerhit aus den Lautsprechend dudelte. Diese ganze Situation war so verquer, dass ich mich unwohl mit ihr fühlte. Mein Plan war es nicht, hier herumzusitzen und Löcher in die Luft oder auch das Fenster neben mir zu starren. Ganz im Gegenteil. Ich wollte den restlichen Nachmittag dazu nutzen, die Gegend um mein Motel herum zu erkunden. Es schadete nicht zu wissen, wo genau man sich befand. Außerdem konnte ich nicht ewig an diesem Ort bleiben. Auch wenn es mich ziemlich wenig kostete.

Abgesehen davon wollte ich auf dem Weg zurück nach Croydon, wo sich mein Motel befand, nach einer funktionierenden Prepaid-SIM-Karte Ausschau halten. Noch war es nicht schlimm, dass ich nicht erreichbar war, aber die Universität würde mir per Mail wichtige Änderungen oder sonstige Meldungen zukommen lassen. Außerdem sollte ich zumindest eine Telefonnummer nachweisen können, wenn ich hier Fuß fassen wollte. Im 21. Jahrhundert war es seltsam zu jemandem zu sagen, man hätte kein Handy oder eine entsprechende Nummer, um zu simsen.

Ich zog das schwarze Tablet aus meinem Rucksack, den ich neben mir auf der schwarzen Lederbank platziert hatte, und klappte die Hülle auf. Es war eine der Anschaffungen, die ich von meinem illegal verdienten Geld getätigt hatte. Zu Hause musste ich es immer vor meiner Familie verstecken und so hatte ich es nur in der Uni genutzt, um darauf meine Notizen zu machen. Bei der Digitalisierung war ich ganz vorn dabei, abgesehen von meinen Eltern, die nichts von diesem neumodischen ›Zeug‹ hielten und die beide ein über sieben Jahre altes Smartphone besaßen.

Auf der Rückseite der kleinen Speisekarte des Cafés befand sich ein QR-Code, mit dem ich mich in dem bereitgestellten WLAN einloggen konnte. Während der zweistündigen Schifffahrt von Calais nach Dover hatte ich die Zeit genutzt und das Gerät entmüllt. Abgesehen von ein paar Offline-Spielen, einem leergefegten Kalender und sehr wenigen Fotos war nichts mehr darauf zu finden. Keine Spuren auf meine alten Uni-Notizen, die dem Betrachter verraten konnten, woher ich eigentlich kam. Und das war nicht Montana, wie ich es jedem glauben machte.

Meinen amerikanischen Akzent konnte ich nicht verleugnen. Als meine Familie vor sechs Jahren nach Deutschland gezogen war, hatte ich zwar versucht ihn mir abzugewöhnen, doch ich war kläglich daran gescheitert. Heute nutzte ich ihn, um als meine Herkunft ein kleines Dorf im Bundesstaat Montana nennen zu können. Keiner durfte jemals erfahren, dass ich von Austin über Stuttgart hier gelandet war. Das würde meine halbes Lügengerüst zum Einstürzen bringen.

Während ich meinen Tee schlürfte und der Regen draußen immer stärker auf die Welt traf, machte ich mich daran, meine falsche Identität weiter auszubauen. Profile in den sozialen Medien legte ich direkt als erstes an. Und um kein Null-Account zu sein, postete ich zwei Fotos, auf denen tatsächlich ich zu sehen war. Naja, fast. Denn auf dem ersten Bild lag der Fokus auf meinem Körper, den ich in einem runden Spiegel fotografiert hatte und in dem mein Gesicht nicht zusehen war. Auf dem zweiten hielt ich mir in einer lässigen Pose den Unterarm vor den Großteil meines Gesichts und der Schatten des Schwarz-Weiß-Bildes erledigte den Rest. Einzig meine leicht geöffneten Lippen waren zu sehen.



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