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Seit seiner Pensionierung vor wenigen Wochen sucht Hans Tietge nach Gründen, morgens aufzustehen. Erste Experimente scheitern und nerven die Familie. Sie befürchtet weitere Eskapaden. Doch der einst selbstständige Steuerberater lässt sich nicht bremsen. Seine eigenwilligen Scherze kommen nicht immer gut an.
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2018
Harald J. Krueger
Papas Eskapaden
für Wiebke
Harald J. Krueger
Papas Eskapaden
Roman
1. Fassung
©2018 Harald J. Krueger www.haraldjkrueger.de
Titelbild Aquarell von Wiebke Krüger
Autorenfoto von Alla Sommermeier www.alla-sommermeier.de/
ISBN
978-3-7469-5912-2 (Paperback)
978-3-7469-5913-9 (Hardcover)
978-3-7469-5914-6 (E-Book)
1
Seit seiner Pensionierung vor 121 Tagen begannen für Hans Tietge ereignisarme Wochenenden bereits am Montag. Das änderte nichts am täglichen Morgenritual. Nach dem Frühstück mit Radionachrichten schaltete er immer das Smartphone ein. Das Startprogramm lud stets als erstes den Tagesterminplan aus dem Internet. Allerdings drängelten sich nur noch selten Einträge in dem Stundenplan. Die üppige Leere verhieß Rast und Muße. Bei zuviel Rast droht Rost. Den fürchtete der unerfahrene Ruheständler. Wohingegen es bei reichlich Muße am Müssen mangelt. Deshalb suchte er neue Aufgaben, um nicht einzurosten.
Heute, am Freitag, den 29. April 2016, stutzte er über das Tagesmotto:
Geb. Fr. Schröder
Hans Tietge übersetzte die Abkürzungen:
Fräulein Schröder hat Geburtstag.
Ihn überraschte nicht nur, dass überhaupt etwas im Tagesplan auftauchte, sondern das ›Fr.‹. Das stände an sich für ›Frau‹. Dass es sich gewiss um das Fräulein Schröder handelte, bezweifelte er nicht. Immerhin hatte sie sich dreißig Jahre für ihn als Sekretärin aufgeopfert. Seit rund sechzig Jahren wiederholte sich Ende April ihr Ehrentag. Seit der Firmenübernahme diente die Perle seinem Sohn Lars. Normalerweise hätte Papa telefonisch gratuliert, zumal er sich auf Lars` Bitte Bürobesuche möglichst verkneifen sollte. Unter diesen Umständen begründete allerdings die unklare Lage, persönlich zu prüfen, ob sich die alte Jungfer doch noch vermählt hatte.
Den Himmel über Hamburg bedeckte eine graue Wolkenschicht. Sie hielt das Wasser. Mit dünnem Regenmantel ohne Regenschirm marschierte er los. Für den Fußweg von seiner Wohnung in der Dorotheenstraße bis zur Firma in der Gertigstraße brauchte er nach wie vor eine Viertelstunde, auch wenn er nicht mehr im täglichen Training stand.
Das Messingschild am Eingang glänzte neu. Das alte war in fünfunddreißig Jahren stumpf geputzt worden. Statt
Steuerberater Hans Tietge
war jetzt
Steuerberater Lars Tietge
eingraviert.
Ansonsten fielen dem Senior keine Veränderungen auf. Fräulein Schröder saß an ihrem angestammten Platz und strahlte ihren ehemaligen Chef an. Er fokussierte seinen Blick auf ihre Finger. Sie waren unberingt. Erst beim Gratulieren bemerkte er, dass kein Blumenstrauß den Schreibtisch schmückte.
»Wo haben Sie Ihren Geburtstagstrauß versteckt?«
Sie kniff die ohnehin schmalen Lippen zusammen, schloss die Augen und wisperte: »Der wurde abgeschafft.«
Er schämte sich seiner leeren Hände. Was für eine missachtende Undankbarkeit!
Aus dem Chefzimmer stöckelte Frau Warnke, eine langjährige Mitarbeiterin: »Oh, Hallo Herr Tietge.« An die Sekretärin gewandt sagte sie: »Ingrid, bringst du bitte Lars die Akte ›Dorman‹.«
Der Pensionär schnappte nach Luft und verabschiedete sich.
Draußen nieselte es. Auf dem Heimweg wog er ab, was ihn mehr entsetzte. Der gestrichene Geburtstagstrauß oder das Duzen. Letzteres ließe sich schwerlich zurückdrehen. Lars duldete offenbar, selbst geduzt zu werden. Papa schüttelte vor Missfallen den Kopf.
Beim Mittagessen im Sushi-Express im Mühlenkamp beschloss der Entrüstete, Fräulein Schröder nachmittags einen Blumenstrauß auf den Schreibtisch zu stellen. Auf dem Weg zur Firma erwarb er einen fertiggebundenen und verpackten Strauß bunter Tulpen mit grünem Spargelkraut. Trotz der transparenten Plastikumwickelung bekam er feuchte Finger. Er hatte gehofft, die Verpackung würde das verhindern. Jetzt befürchtete er fauligen Geruch an der Hand.
Fast hätte er sich den Kopf an der abgeschlossenen Bürotür gestoßen. Verwundert drückte er den Klingelknopf. Das Schellen hörte er zwar, es öffnete nur niemand. Ebenso bewirkte Klopfen und Hämmern nichts außer Lärm. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Armbanduhr zeigte 14:45 Uhr an. Letztes Jahr endeten die Bürostunden auch am Freitag um 17:00 Uhr. Kopfschüttelnd stand er mit den Tulpen vor dem abgesperrten Büro.
Den Gedanken, sie mit nach Hause zu nehmen, verwarf er sofort. Seit Anna, seine Frau, vor sechszehn Jahren nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war, hielt er die Wohnung blumenfrei. Früher hatten oft dekorative Pflanzen die Zimmer geschmückt, mitunter sogar beduftet. Jetzt verzichtete er wegen des Geruchs beim Entsorgen darauf.
Er entschied sich, Fräulein Schröder den Strauß nach Hause zu bringen. Seines Wissens wohnte sie fußläufig entfernt. Das Smartphone verriet ihm ihre Adresse und den kürzesten Weg dorthin. Leider warnte das allwissende Kästchen nicht vor dem heftigen Regenschauer. Da der nicht vorhergesagt war, hatte Hans Tietge keinen Schirm mitgenommen. In der Jarrestraße triefte sein graues Resthaar. Bei Nummer siebenundvierzig las er auf einem der zahlreichen Namensschildchen neben den Klingelknöpfen ›Schröder‹. Die Haustür lehnte an. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Im Treppenhaus wetteiferten die Gerüche Kohl gegen Bohnerwachs. Aus der Schröderwohnung im dritten Stock dröhnte ein Staubsauger. Der verstummte nach dem Schellen. Die Tür öffnete sich. Die Frau im karierten Kittelkleid mit enggeschnürtem Kopftuch erkannte er nur als Fräulein Schröder, weil sie ihn, wenn auch überrascht, mit vertrauter Stimme begrüßte. Er überreichte ihr die Blumen. Sie bedankte sich und bedauerte: »Das passt mir jetzt leider gar nicht.« Er strich sich das nasse Haar nach hinten und wischte sich die buschigen Augenbrauen trocken.
»Oh, Sie sind ja klitschnass geworden. Dann kommen Sie einen Moment herein.«
Sie standen wortlos im schmalen Flur. Der Staubsauger hielt die Tür ins Schlafzimmer offen. Die Bettdecke war aufgeschlagen. Ein züchtiges Nachthemd lag zerknautscht am Fußende.
Er brach das verlegene Schweigen: »Ist das Büro freitagnachmittags jetzt immer geschlossen?«
»Ja, aber wir arbeiten dafür von Montag bis Donnerstag länger.«
Er verbot sich, das zu kommentieren, und hoffte, dass seine Miene kein Missfallen verriet. »Na, da können Sie ja nun freitags den ganzen Nachmittag putzen.«
Sie schnaubte: »Mir war es vorher lieber. Da machte ich jeden Tag nach der Arbeit ein bisschen sauber. Jetzt komme ich so spät nach Hause, dass ich dafür zu schlapp bin und freitags alles machen muss. Das ist viel anstrengender.«
»Das kann ich mir vorstellen. Sie werden ja auch nicht jünger.«
Sie presste die Lippen, bis sie verschwanden, und nickte kaum erkennbar.
Er fragte: »Wissen Sie, warum heute in meinem Terminplan ›Fr.‹ statt ›Frl. Schröder‹ steht?«
Sie errötete und druckste: »Ihr Kalender ist mit dem des Büros verbunden. Dort habe ich mir erlaubt, das ›Frl.‹ in ›Fr.‹ zu ändern.«
»Aber wieso das denn?«
Sie holte tief Luft: »Sie waren der Letzte, der mich so anredete. Man benutzt seit Jahrzehnten nicht mehr Fräulein als Anrede.« Sie schlug die Augen nieder.
»Das hätten Sie mir längst sagen können. Ich soll Sie also lieber mit Frau ansprechen.«
Sie nickte: »Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Ich werde mir Mühe geben, Frau Schröder.« Er wandte sich zur Tür.
»Leider kann ich Sie nicht gebührend empfangen. Nachher erwarte ich eine Nachbarin zum Geburtstagskaffee. Dafür habe ich aller Hand vorzubereiten, und adrett angezogen bin ich auch noch nicht.«
»Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Entschuldigen Sie die Störung. Feiern Sie schön!«
»Vielen Dank für die Blumen. Das ist ganz rührend von Ihnen.«
Auf dem Nachhauseweg goss es anfangs weiterhin ergiebig. Das brachte die Wut über den Sittenverfall im Büro zum Überlaufen. In der Gertigstraße verminderte sich der Niederschlag langsam in seichten Dauerregen. Die Empörung köchelte auf kleinerer Flamme. In der Dorotheenstraße kurz vor seiner Wohnung tröpfelten nur noch die Bäume. Sein Groll war weichgespült. Darum griff er nicht sofort zum Telefon, um Lars anzublaffen, sondern fragte per E-Mail: Wann kannst Du am Wochenende vorbeikommen? Habe einige Fragen.
Damit sie nicht durch Enkel und Schwiegertochter gestört würden, bevorzugte er seine Wohnung als Austragungsort. Wenig später traf die Zusage ein:
Bin Samstag gegen 11:00 bei Dir.
2
Am Samstag tigerte Hans Tietge fünf Minuten vor 11 Uhr ungeduldig durch die Zimmer. Zehn nach 11 grübelte er über mögliche Erziehungsfehler für Lars` Unpünktlichkeit. Das vorbildliche Elternhaus schloss er aus. Um 11:18 Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Papa öffnete und grüßte: »Ich wollte dich just als vermisst melden und eine Suchaktion starten.«
Lars kannte das und grinste nur. Papa verging das Grinsen wegen des neonfarbenen gelbgrünen T-Shirts und der knapp knielangen lila Turnhose mit Seitenstreifen und Raubtieremblem auf einem Bein. »Schreibt der Deutsche Sportbund für Stadtjogger diesen peinlichen Dress Code vor?«
»Ja, aber nur für die Hamburger Außenalster.«
»Du hast allerdings die Altersbeschränkung ›nur für Minderjährige‹ missachtet.«
»Die wurde bereits 1969, zehn Jahre vor meiner Geburt, ersatzlos gestrichen. Wolltest du sonst noch etwas mit mir besprechen?«
»Ja, komm rein. Ein Glück, dass du noch trocken bist.«
»Ich hoffe, du hältst mich nicht zu lange auf, sodass ich mich danach nass joggen kann.«
Auf dem Weg ins Wohnzimmer fragte Papa: »Warum hat Fräulein Schröder gestern keine Blumen zum Geburtstag bekommen?«
»Was geht es dich an?«
»Zu meiner Zeit bekamen die Mitarbeiter immer einen Geburtstagsstrauß.«
»Diese Tradition wurde vor einigen Wochen abgeschafft.«
»Weshalb? Das war doch ein netter Brauch.«
»Du weißt, die Mehrheit der zehn Angestellten sind Frauen. Die meisten von ihnen haben ein vermeintlich unerwünschtes Alter erreicht. Das wollten sie nicht jedes Jahr für alle sichtbar mit Blumen feiern.«
»Ja, wenn die das so sehen. Schade ist es trotzdem.«
Lars zuckte mit den Schultern.
»Warum ist das Büro am Freitagnachmittag geschlossen?«
»Was kümmert es dich?«
»Entschuldige, dass ich mich für die Firma interessiere, die ich aufgebaut und dir vor kurzem übergeben habe.«
Lars holte tief Luft: »Wir haben ab Februar die Gleitzeit eingeführt. Das haben sich alle gewünscht. Im Laufe der Wochen verschoben sich die Freitagnachmittagsstunden auf Montag bis Donnerstag.«
»Was sagen die Mandanten dazu?«
»Viele arbeiten auch nicht am Freitagnachmittag. Für dringende Fälle habe ich allen meine Mobilfunknummer gegeben.«
»Haben sie das akzeptiert?«
»Gemeckert hat keiner. Einige begrüßten, die Nummer zu kennen.«
»Bekommst du nun störende Anrufe zu unpassenden Zeiten?«
»Ich kann mich nicht beklagen, schon gar nicht, wenn Kunden mit Aufträgen drohen. Außerdem sind die Geräte abschaltbar.«
»Aber eine weitere Neuerung ist kaum wieder abschaltbar.«
Lars schaute seinen Vater fragend an.
»Ich meine das Duzen. Entschied das auch die Mehrheit?«
Er schüttelte den Kopf: »Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Mir war aufgefallen, dass sich alle per du mit Vornamen ansprachen. Deshalb reihte ich mich ein. Das kannte ich aus meiner Zeit bei der vorherigen Kanzlei. In vielen Firmen ist das heutzutage üblich.«
Papa seufzte: »Leidet dadurch nicht der Respekt dir gegenüber?«
»Bisher ist niemand frech geworden. Alle arbeiten exakt und speditiv, wie die Schweizer sagen. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen um den Betrieb machen. Ich mache mir allerdings Sorgen um dich.«
»Wieso das denn?«, brauste Papa auf.
»Nach deiner Pensionierung tauchtest du anfangs fast jeden Tag in der Firma auf. Deshalb bat ich dich, das zu unterlassen und dir neue Aufgaben zu suchen.«
»Ich habe seit dem nur einmal kurz reingeschaut.«
»Ja, aber irgendwie mischst du dich immer noch ein.«
»Stimmt doch gar nicht!«
»Na, deine Fragen eben erwecken bei mir schon den Eindruck. So war das nicht abgemacht.«
Papa schwieg mit finsterer Miene. Lars hatte nicht ganz unrecht. Sie hatten lange über Sohnemanns Eintritt und Papas Austritt gesprochen. Dabei hatten sie vereinbart, keine Palastrevolution vorher und keine Einmischung oder gar Verlängerung nachher.
Lars fuhr fort: »Du hast offenbar noch kein neues Betätigungsfeld gefunden.«
»Leider nicht. Das ist gar nicht so einfach. Das hatte ich mir viel leichter vorgestellt.«, murrte er.
»Du hast ja auch jahrzehntelang nur gearbeitet und dir für Hobbys und Sport keine Zeit genommen, noch nicht einmal für die Familie.« Papa schnaubte: »Und jetzt hast du den Nutzen und ich habe das Nachsehen.«
»Freu dich, dass du körperlich, geistig und finanziell in der Lage bist, Neues anzupacken. Du könntest es dir ja auch mal ein bisschen gemütlich machen.«
Papa schwieg und nickte mit gesenktem Blick.
Lars wartete. Er kannte diese minutenlange Sprachlosigkeit seiner Eltern seit seiner Kindheit. Schließlich stand er auf: »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät zum Mittagessen.«
»Grüße Frau und Kind.«, rief er dem Hinausjoggenden hinterher.
3
Das restliche Wochenende räumte Hans Tietge weiter um und auf. Damit beschäftigte er sich seit Januar. Im Keller hatte er angefangen. Ausrangierte Möbel und reparaturbedürftige Geräte lagerten dort seit Jahren nur, weil der Platz da war. Nun entrümpelte er erbarmungslos. Den Freiraum belegte er mit Entbehrlichem und Unnützem aus der Wohnung. Viele Aktenordner mit persönlicher Ablage, nie benutzte Küchenwerkzeuge und selten aufgestellte Dekorationen wanderten in die leeren Kellerregale. Die Aktion war in dem an sich ordentlichen Haushalt seit Jahren aufgeschoben worden, weil es Dringenderes zu erledigen galt. Am Sonntagnachmittag strich er durch die Vierzimmerwohnung und fand nichts Verbesserungswürdiges. Grübelnd setzte er sich an seinen Schreibtisch in Lars` ehemaligem Kinderzimmer. Er freute sich. Das Werk war vollbracht. Gleichzeitig bedauerte er, dass er nicht wusste, was er ab Montag anstellen sollte. Davor fürchtete er sich. Schon immer brauchte er morgens beim Aufwachen zu erledigende Aufgaben, um aufzustehen. Ohne imaginäre To-do-Liste drohte Langweile, der Nährboden für Depression. Bislang hatte er vermieden, den Wahrheitsgehalt dieser Theorie zu prüfen. Der Gedanke, mit Anna, der Dauerurlauberin, wäre er sorgenfreier, erschien ihm zu hypothetisch.
Sein Blick fiel auf den offenen Karteikasten neben dem Festnetztelefon. Zwischen den Buchstabenreitern steckten Visitenkarten. Tatendurstig flöhte er die Sammlung vieler Jahrzehnte durch. Karteileichen beerdigte er sofort im Papierkorb. Die meisten stellte er wieder hinein. Ein Kärtchen erregte seine Aufmerksamkeit. Es war merkwürdigerweise nicht alphabetisch beim Namen platziert, sondern bei ›St‹, vermutlich weil unten dem Namen, Kurt Knudsen, ›Steuerberater‹ stand. An den Namen und die Adresse erinnerte er sich nicht. Da keine Website und E-Mailanschrift aufgedruckt waren, schlummerte der Pappkamerad schon eine Ewigkeit in der Sammlung. Im Internet fand er ihn sofort. Auf dessen Homepage entdeckte er einen Hinweis auf Aktivitäten für die Hamburger Steuerberaterkammer. Hans Tietge schwante, um wen es sich handelte. Vor fünfunddreißig Jahren hatte er sich selbstständig gemacht. Dadurch wurde er Zwangsmitglied der Kammer. Sie schröpfte ihn nicht nur mit Kammerbeiträgen, sondern bot auch Informationsabende an. Damals besuchte er sie zum Thema ›Selbstständigmachen‹. Diese unerwartet launigen Referate hielt Herr Knudsen. Der war zwar mit neunundzwanzig zwei Jahre jünger als er, hatte aber vier Jahre Vorsprung mit der Selbstständigkeit. Als völlig nutzlos hatte er die Vorträge nicht in Erinnerung.
Er fragte sich, ob Herr Knudsen ihm auch in seiner aktuellen Lage helfen könnte. Am Montag wollte er mit ihm telefonieren. Da heutzutage spontane Anrufe von vielen als Belästigung empfunden werden, nicht zuletzt wegen der unerwünschten Telefonverkäufer, kündigte er sich per E-Mail an:
Hallo Herr Kollege,
Gern würde ich Sie am Montag, den 2. Mai 2016, um 10:00 Uhr anrufen. Bei Unpässlichkeit schlagen Sie bitte eine Alternative vor. Keine Sorge, ich will Sie weder anpumpen, noch Ihnen etwas aufschwatzen.
MfG
Hans Tietge
4
Am Montagmorgen e-mailte Herr Knudsen:
Hallo Herr Kollege,
Ich werde Sie zwischen 10:30 und 11:00 Uhr anrufen.
MfG
Kurt Knudsen
Um 10:45 kam das fernmündliche Gespräch zustande. Nach der Begrüßung schleimte Hans Tietge: »Ihre Vorträge zum Selbstständigmachen waren damals, vor fünfunddreißig Jahren, sehr nützlich für mich.«
»Diese Infoabende veranstaltet die Steuerberaterkammer nach wie vor.«
»Sind Sie noch aktiv für die Kammer tätig?«
»Ja, allerdings nicht hauptberuflich. Ich bin Mitglied des Verwaltungsrates. Vorträge halte ich schon lange nicht mehr.«
»Könnten Sie mich trotzdem noch einmal unterstützen, diesmal beim Berufsausstieg?« Da Herr Knudsen schwieg, fuhr er fort: »Ich brauche die Namen von Kollegen, die vor Kurzem aufgehört haben oder demnächst aufhören werden.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich vermute, dass viele von ihnen das gleiche Problem haben, und hoffe, dass einige bereits Lösungen gefunden haben.«
»Welches Problem?«
»Womit beschäftige ich mich künftig den lieben langen Tag?«
»Verstehe. Gute Idee. Ich befürchte, dass der Datenschutz das verbietet.«
»Deshalb wende ich mich auch nicht direkt und offiziell an die Kammer. Heute wird man vorsichtshalber vor seinen eigenen Daten geschützt, während hackende Spitzbuben damit ungehemmt Schindluder betreiben.«
Herr Knudsen lachte: »Da ist etwas dran. Ich denke darüber nach und melde mich wieder bei Ihnen.«
»Ich brauche nur die Namen, idealerweise mit E-Mail-Adressen, vom Baujahr 1950 plus, minus ein Jahr. Quelle und Überbringer werde ich nie preisgeben. Darauf gebe ich Ihnen mein großes Kohl-Ehrenwort.«
»Sie hören von mir in ein paar Tagen.«
Hoffnungsfroh schlenderte Hans Tietge durch die Wohnung und rieb sich die Hände. Später ermahnte er sich, dass die Zusage, sich wieder zu melden, nicht viel versprach.
5
Zwei Tage später, am Mittwochvormittag, rief Herr Knudsen an und fragte: »Können Sie eine Exceltabelle von einem USB-Speicherstick auf Ihrem Computer öffnen und damit umgehen?«
»Das war mein täglich Brot.«
»Können Sie mit einem jungfräulichen Speicherstick zu mir ins Büro kommen?«
»Wann passt es Ihnen am besten?«
»Heute Viertel nach fünf wäre optimal.«
»Ist Hegestraße 27 noch richtig?«
»Hochparterre rechts.«
Beglückt trommelte Hans Tietge mit den Fingern auf dem Schreibtisch und fragte sich, ob er einen leeren USB-Speicherstick vorrätig hatte. Im Büro hätte Fräulein Schröder ihm sofort einen gegeben, auch wenn sie jetzt mit Frau betitelt werden wollte. Er fand einen in der Muskiste. So nannte er den flachen Holzkasten, in dem er Kleinteile sammelte, die sich mal als nützlich erweisen könnten. Den Memorystecker mit einem rätselhaften Firmenlogo hatte er vor Jahren als Werbegeschenk überreicht bekommen. Die gespeicherte Reklamedatei löschte er mit wenigen Mausklicken.
Knudsens Büro schmückten gerahmte Hamburgposter, Hafen mit Michel, Alster mit Rathaus. Auf dem Schreibtisch stand neben dem Bildschirm ein in die Jahre gekommenes Foto mit Frau und Tochter. Zur Begrüßung tauschten sie Visitenkarten aus. Hans Tietge opferte eine alte aus seinem Firmenrestbestand. Neue private wollte er sich erst bei Bedarf anfertigen lassen. Kurt Knudsen stöpselte den Speicherstecker in den PC und überzeugte sich, dass er leer war. Dann kopierte er eine Exceldatei darauf. Beim Überreichen stand er auf und sagte: »Warten Sie bitte einen Moment. Ich muss nur meinem besten Freund kurz die Hand geben und bin gleich zurück.«
Papa ermahnte ihn: »Danach aber ordentlich abschütteln und Hände waschen!«
Erst blieb er geduldig sitzen. Dann trat er ans Fenster und schaute in den Hinterhof. Dort quetschten sich verschiedenfarbige Mülltonnen zwischen dunkle Mittelklasseautos. Nach zwei Minuten kehrte der Hausherr zurück und erklärte: »In der Tabelle werden Sie mehr finden, als Sie wollten. Wie Sie an die Daten gekommen sind, ist mir schleierhaft, von mir jedenfalls nicht.«
»Das stimmt, vielen Dank für den freundlichen Empfang.«
Auf dem Nachhauseweg kam er zu dem Schluss, dass die fingierte Pinkelpause nur dazu diente, einem etwaigen Beobachter eine Gelegenheit vorzutäuschen, in der er unbemerkt die Datei hätte kopieren können. Was für ein Schisser! Als ob ich eine Rentnerterrorzelle für den Heiligen Krieg gegen die Finanzbehörde gründen will.