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Der 34jährige Maik lebt allein im 3. Stock eines Mehrfamilienhauses. Seine Arbeit hat er verloren und seine Freundin Sandra ist vor kurzem ausgezogen. Um nicht komplett in die Antriebslosigkeit abzudriften, hat er sich ein neues "Hobby" gesucht. Er fertigt in seiner kleinen angemieteten Werkstatt aus Pappmaschee große Skulpturen. Unterstützung bekommt er dabei von dem immer hungrigen und etwas tollpatschigen Sven, der eher zufällig zu einem Helfer und später zu seinem Reise-Begleiter und Freund wird. Alles ändert sich, als er Karen auf der Geburtstagsfeier seiner Mutter kennenlernt. Nicht nur, dass er sie be-zaubernd findet, vermittelt sie ihm auch noch die Möglichkeit, seine "Kunstwerke" bei einer Galerieeröffnung im fernen München auszustellen. Nach anfänglichem Zögern nimmt er allen Mut zusammen und startet zusammen mit Sven zu einem abenteuerlichen Roadtrip. Mit seinem alten VW-Bus, einem Anhänger und seinen Kunstwerken darauf, geht es, vorerst geplant aber schnell planlos, in die Ferne. Unterwegs erleben sie viele, meist humorvolle Abenteuer und Überraschungen.
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Seitenzahl: 367
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über den Autor
André Rath wurde 1971 in Waren (Müritz) geboren, wo er auch heute noch mit seiner Frau Manja lebt.
Die Idee, diesen Roman zu schreiben, kam ihm schon vor langer Zeit. Der Ansporn und die Geduld seine Gedanken und Formulierungen zu Papier zu bringen, kamen aber erst viele Jahre später.
Fehler können passieren!
Ich bitte für eventuelle Rechtschreibfehler
um Entschuldigung. :)
André Rath
Paper Man
Camping, Kunst und Altpapier
Roman
Texte: © 2025 Copyright by André Rath
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by André Rath
Verfasser:
André Rath
Specker Straße 96
17192 Waren (Müritz)
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Hat es an der Tür geklingelt, oder war es das Handy, welches im Flur auf der Kommode liegt? Aus dem Schlaf gerissen sitze ich im Bett. Ein Sonnenstrahl, der durch eine Lücke in der Jalousie scheint, brennt in meinen verschlafenen Augen. Da, schon wieder dieses Geräusch. Jetzt wird mir klar, was es war, mein blöder Wecker. Ich lasse mich zurück ins Bett fallen und schlage dabei auf die große Taste des Weckers. Meine brennenden Augen fallen sofort wieder zu. Leider ist die Ruhe nur von kurzer Dauer, denn nach 5 Minuten piept der Wecker erneut los. Wieder ein Schlag auf die Taste. Das Ganze wiederholt sich noch einige Male, bis ich soweit wach und genervt bin, dass ich den Wecker ganz ausschalte und mich erneut im Bett aufsetze. Der Sonnenstrahl von vorhin verläuft jetzt quer über meinen nackten Bauch. Ein bisschen Sport könnte mir auch guttun, denke ich mit Blick auf meinen gewölbten Bauch, wie er in der Morgensonne strahlt. Erst mal die Gedanken ordnen. Heute ist Dienstag, es ist jetzt 8 Uhr. Irgendwelche Termine? Nein, wie auch, bin ja nun schon seit ein paar Monaten arbeitslos. Manchmal frag ich mich, warum ich mir überhaupt jeden Morgen den Wecker stelle, könnte ja bis zum Mittag im Bett bleiben. Aber na ja, gleich am ersten Tag meiner Arbeitslosigkeit habe ich mir geschworen, ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen, mich jetzt komplett gehen zu lassen. Auch wenn es manchmal schwerfällt, so wie heute Morgen. Es ist immer noch komisch aufzuwachen, zur Seite zu blicken und auf eine leere Betthälfte neben mir zu schauen. Bis vor knapp vier Wochen lag da immer noch meine große Liebe Sandra. Meistens war ich eher wach und habe sie morgens öfter beobachtet, wie sie dalag. Ganz entspannt und zufrieden, leise Geräusche beim Atmen von sich gebend. Jetzt ist, was Sandra angeht, nur noch Leere in meinem Kopf. Die Situation mit meiner Arbeitslosigkeit, die kleinen alltäglichen Streits, wobei es zum Beispiel darum ging, dass das Handtuch nicht auf die Heizung, sondern an den Haken an der Wand gehört oder warum die Tüte mit dem Toastbrot über Nacht offengeblieben ist, haben ihre Spuren hinterlassen. Sie ist dann einfach gegangen und ich habe sie ziehen lassen. Da war nur ein Zettel von ihr, »Brauche mal etwas Zeit für mich!« Noch keine endgültige Trennung, oder doch? Sie ist jetzt erst mal bei ihren Eltern, in ihr altes Kinderzimmer eingezogen. Schon komisch, eine Trennung nur wegen ein paar kleinen Streitereien? Oder war da doch mehr, hat sie einen Neuen? Ist tatsächlich meine Arbeitslosigkeit schuld? Unsere finanzielle Situation? Fragen über Fragen, auf die ich im Moment keine Antwort weiß.
Auf alle Fälle bin ich jetzt erst mal so wach, dass ich aufstehe. Ein Umweg über die Küche, um schon mal den Wasserkocher anzustellen, führt mich jetzt ins Bad. Im Spiegel schaut mich ein 34-jähriger, schläfriger 9-Tage-Bartträger in schlabbrigen bunt-gemusterten Boxershorts an. Die halblangen blonden Haare sind durch das Schlafen zum schiefen Irokesen geformt. Einmal kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht und schon und ist meine Fittheit von 50 auf 70% gestiegen. Der Kaffee nachher zum Frühstück wird mich auch noch ein paar Prozente nach oben bringen, aber die Hundert werde ich wohl heute nicht erreichen. Noch Zähne putzen, pinkeln und den Irokesen flachlegen. Jetzt bin ich bereit für meinen morgendlichen Kaffee, ohne den ein Start in den Tag undenkbar ist.
Mit dem Kaffee, einer Scheibe Toast (aus der über Nacht verschlossenen Tüte) mit Käse mache ich es mir auf meinen kleinen Balkon in der 3. Etage unseres Mehrfamilienhauses bequem. Es ist Juli und es sind jetzt um 9 Uhr bestimmt schon 20 Grad. So kann ich halbnackt, von der Balkonumrandung vor Blicken halbwegs geschützt, mit Kaffee in der Hand die Umgebung beobachten. Ich schaue auf das Haus gegenüber, wo ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen habe. Eine ältere Frau macht Frühsport am offenen Fenster. Sie macht Kniebeuge und jedes Mal, wenn sie aus der Hocke wieder hochkommt, sehe ich ihre nackten Brüste wippen. Ich frage und wundere mich, dass sie ihren Frühsport nun ausgerechnet oben ohne ausführt, staune aber auch, dass sie in ihrem Alter, ich schätze mal so Mitte 50, noch recht stramme Kurven hat. Wenn sie wüsste, dass ich sie beobachten kann, würde sie bestimmt nicht so freizügig am Fenster turnen, oder doch? Als nächstes entdecke ich Herrn Müller. Herr Müller wohnt ganz unten in unserem Aufgang. Er steht auf dem Parkplatz gegenüber und reibt sein Auto mit einem Lappen ab. Dazu muss man sagen, das Auto ist sauber. Er war gerade gestern, wie noch 2 weitere male pro Woche, in der Waschanlage. Aber es könnte sich ja über Nacht, trotz Windstille, ein Staubkorn auf seinem Wagen niedergelassen haben. Nun rennt er ums Auto und wischt hier und da und tupft sich zwischendurch mit demselben Lappen den Schweiß von der Stirn. Herr Müller ist der selbsternannte »Haus- und Hofwächter«. Egal, ob ein Stückchen Papier im Hausflur liegt, ein Nagel zu laut in die Wand geschlagen wird oder ein Fahrrad vor der Haustür schief im Fahrradständer steht, Herr Müller ist zur Stelle. Aber nicht, dass er »Den Makel« behebt, er rennt von Tür zu Tür, um den Übeltäter aufzuspüren und ihn dann aufzufordern, dieses unmögliche Verhalten zu unterlassen. Kurz gesagt: Herr Müller hat einen Knall.
Ansonsten gibt es von meinem Aussichtspunkt nichts Weiteres zu entdecken. Kein Mensch und kein Tier sind heute unterwegs. Nun ist es auch für mich Zeit, sich langsam auf dem Weg zu machen. Also schnell in bequeme Klamotten gesprungen und auf geht’s. Erst mal in den Keller. Da habe ich mit Genehmigung der Hausverwaltung und gegen den Willen von Herrn Müller eine Sammelbox für Altpapier stehen. Ein paar alte Zeitungen und Zeitschriften liegen drin. Mit dem Altpapier unterm Arm geht es weiter zu meinem Auto. Es ist ein alter VW T4. Im Gegensatz zu dem Auto von Herrn Müller ist mein Auto komplett mit einer dünnen Staub- und Dreckschicht bedeckt. Na ja, so fallen halt die kleinen vorhandenen Dellen und der an einigen Stellen beginnende Rost nicht so auf.
Erst mal geht es zum Einkaufen in den Supermarkt. Seitlich vor dem Markt stehen 3 Gestalten mit je einer Flasche Bier in der Hand und aus dem Beutel, der neben ihnen steht, ragen die Flaschenhälse noch weiterer. Vom Alter her sind die 3 so um die 40 Jahre. Genau solche Typen zeichnen das allgemein schlechte Bild von den Arbeitslosen. »Faul, aber genug Geld für Zigaretten und Bier.« Was muss eigentlich passieren, dass man sich so gehen lässt?
Ich schiebe meinen Einkaufswagen, der eine Größe hat, dass ich einen ganzen Kühlschrank rein bekommen könnte, durch die Reihen. Was brauche ich denn alles? Seit Sandra den Einkauf nicht mehr macht, fahre ich fast täglich hier her. Ich habe es einfach noch nicht hinbekommen, immer an alles zu denken. Gut, ein Einkaufszettel könnte helfen, aber dafür müsste man erst mal beim Schreiben an alles denken und ihn dann auch noch in die Tasche stecken. Da ich aber meist so konfus bin, liegen bei mir zu Hause schon etliche unerledigte und vergessene Einkaufszettel in der Küche.
Auf alle Fälle brauch ich neuen Kaffee, Toilettenpapier und neue Zahnpasta. Dazu noch 2 Fertiggerichte. Wenn man, so wie ich, mittags keine Lust zum Kochen hat, sind die eigentlich recht praktisch. Kurz in die Mikrowelle, fertig. Allerdings muss man sich schon durch etliche Gerichte probieren, bis man die 1 bis 2 Sorten rausfindet, die für den persönlichen Geschmack geeignet sind. Eigentlich müsste ich auch noch etwas Wurst und Käse kaufen, aber bei meiner Einkaufsplanung habe ich natürlich nicht daran gedacht, dass ich erst heute Abend wieder zu Hause bin und bei den heute zu erwartenden fast 30 Grad werden Wurst und Käse wohl bis dahin ein Eigenleben entwickeln. Also heißt es wieder mal auf dem Nachhauseweg nochmals hier zu halten oder es gibt heute Dosenfisch, welchen ich mir jetzt noch sicherheitshalber in meinen Einkaufswagen lege. Ab zur Kasse. Mein riesiger Wagen ist zu circa 5% gefüllt, wobei das Toilettenpapier 4% ausmacht. Nun aber schnell, es ist schon fast Mittag. Vorbei an den 3 Saufkumpanen und ab zu meiner »Künstler-Werkstatt«.
Meine Werkstatt befindet sich in einem Gebäudekomplex auf dem Hof einer großen Bäckerei und besteht aus einem rund 90 m² großen Raum und dazu noch einem kleinen Raum mit WC und Waschbecken. Mit meinem Altpapier unterm Arm betrete ich die Werkstatt. In der einen Ecke befindet sich ein großer Haufen von alten Zeitungen. Auch auf den an einer Seite stehenden Tischen befinden sich Unmengen von Zeitungen und Zeitschriften, gestapelt, aufgeschlagen, zerschnitten. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich neben einem großen Garagentor ein kleiner Tisch, mit Kaffeemaschine, Mikrowelle und 3 bequeme Sessel vom Sperrmüll. In der Mitte des Raumes steht mein neuestes Projekt, eine circa 2 Meter hohe Welle mit einer Grundfläche von ungefähr 3 x 2 Metern, so wie man sie auf Bildern mit Surfern kennt. Die Welle besteht aus einem Grundgerüst aus Holz und Draht. Überzogen ist das Gestell mit einer dicken Schicht Pappmaschee. Auf diesem hellblau gestrichenen Pappmaschee sind schon etliche aus den Zeitschriften ausgeschnittene und gerissene Bilder aufgeklebt. Da sieht man Delphine, Wale und Seevögel. Aber man sieht auch Plastikflaschen, Ölfässer und Treibholz. Nein, Nein, ich bin nicht von irgendeiner Umweltschutzorganisation ich möchte einfach meine Gedanken zu einem bestimmten Thema in Form von Bildern und Objekten ausdrücken. An der einen Wand hängt ein schon fertiges Objekt, ein riesiger, knapp 3 Meter breiter Busen. Beklebt ist dieser unter anderem mit Fotos von Babys, Milchflaschen und Silikonkartuschen. Ob meine Werke jemals diesen Raum verlassen werden, ist fraglich. Mir macht es jedoch großen Spaß, diese Objekte herzustellen und meinen Tag auf diese Weise »sinnvoll« zu nutzen.
Nachdem die Kaffeemaschine läuft, fange ich erst mal an, meine mitgebrachten Zeitungen und Zeitschriften zu sortieren. Die Tageszeitungen landen erst mal in der Ecke für Altpapier. Die Zeitschriften kommen auf die Tische. Nun gilt, es jede Zeitschrift nach möglichen Fotos für mein Projekt zu durchsuchen und betreffende Seiten rauszureißen.
Es ist schon erstaunlich, was sich bei mir im Laufe der Zeit für Zeitschriften angesammelt haben, da ist vom »Playboy« bis zur »Angelwelt« alles dabei.
Plötzlich geht die Tür auf, rein kommt Sven.
»Hallo Maik, ich habe dein Auto vor der Tür gesehen, wollte bloß mal kurz vorbeikommen.« Sven ist der Hausmeister der Bäckerei. Ende 30, bisschen einfach gestrickt, aber ein ganz angenehmer Zeitgenosse.
»Geile Möpse«, höre ich ihn mit Blick auf die Brüste an der Wand, wie immer, wenn er in die Werkstatt kommt, rufen. Bevor er sich an meinem »Kunstwerk« vorbeigehend auch noch einen Playboy greift und auf der Toilette verschwindet, biete ich ihm erst mal einen Kaffee an.
»Moin Sven, Kaffee?«
»Klar, aber mit Milch und Zucker. Weißt ja, ich bin ein Süßer.« Zumindest in Bezug auf den Zucker hat er bestimmt recht. Schon hat sich Sven in einen der Sessel fallen lassen und plappert erst mal los.
»Man, war das wieder ein Stress heut Morgen. Da fliegt dem Bernd beim Beladen doch eine ganze Palette mit Brot um. Die ganzen Kisten mit den Broten, alles auf dem Boden verteilt. Und wer kann das ganze Chaos beseitigen? Natürlich der Sven. Bernd hat ja keine Zeit, muss ja schnell Ersatz laden und dann los zum Geschäft. Ich musste die ganzen Brote einsammeln, alles für die Tonne. Na ja, 3 Brote habe ich mir abgezweigt. War ja eigentlich nichts dran. Willst du eins?«
»Nee lass mal, und jetzt brauchst erst mal eine Pause, oder was?«
»Was denkst denn du, den halben Hof habe ich noch fegen müssen, war ja alles voll mit Brotresten und so.« Na ja, wenn bedenkt, wieviel Zeit Sven in meiner Werkstatt verbringt, wundert es mich sowieso, wie er seine ganzen Aufgaben schafft.
»Brauchst du wieder neuen Leim?«, fragt er mit Blick auf einen leeren Eimer unter dem Tisch, »hab heute wieder meinen Hausmeistertreff.«
Dafür muss man wissen, Sven trifft sich einmal im Monat mit seinen 3 Kumpels. Zwei sind auch Hausmeister, der eine in der Schule, der andere im Ärztehaus. Sein dritter Kumpel arbeitet als Handlanger auf dem Bau. So haben sie Zugang zu allen möglichen Materialien und Dingen und können fast alles besorgen. Natürlich ist das alles nicht ganz legal, aber das stört die nicht besonders. Sven hat mich schon öfter mal gefragt, ob ich nicht mal zum Treffen mitkommen will, aber ganz geheuer sind mir ihre Unternehmungen nicht.
»Bisschen Leim könnte ich schon mal wieder gebrauchen«, sage ich mit einem etwas ungutem Gefühl dabei.
»OK, habe ich notiert.« Er tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. Er hat mir dann noch ein Weilchen von seinem stressigen Tag erzählt und dass die Claudia in der Warenausgabe wieder keinen BH trägt und er die halbe linke Brust gesehen hat als sie sich vorbeugte. Dabei schaut er mit kurzem, prüfendem Blick zur verschlossenen Tür, als wenn er mir ein großes Geheimnis verraten hätte.
So, nun muss ich aber loslegen, wenn ich noch bisschen was schaffen will.
»Sven, kannst du noch ein Stapel von den alten Zeitungen mitnehmen und in euren Papiercontainer schmeißen?« Irgendwie muss ich ihn ja vorsichtig zum Gehen bewegen. Nicht, dass mich seine Anwesenheit stört, aber bei seinem Gelaber kommt man einfach zu nichts.
»Klar, mach ich, kein Problem«, er greift sich ein Packen Zeitungen und verschwindet mit einem Grinsen im Gesicht.
»Hau rein, bis morgen.«
Jetzt bin ich schon wieder auf dem Weg zum Einkaufen. Viel habe ich in meiner Werkstatt nicht mehr geschafft. Mittag ist auch ausgefallen, meine Mikrowelle hat den Dienst verweigert. Aber jetzt erst mal den Einkauf von heute Vormittag beenden. Es ist ungefähr 17 Uhr, als ich beim Supermarkt ankomme. Von den drei Typen, die heute Vormittag hier rumstanden, sind zwei immer noch in der Nähe des Eingangs. So ganz standsicher scheinen sie aber nicht mehr zu sein. Der böse, verwaschene Blick, den sie jedem zuwerfen, der zu dicht an ihnen vorbeiläuft, verrät auch, dass der Pegel nun doch schon relativ hoch ist. Es landen schnell eine Packung Mettwurst und eine Packung Käsescheiben im Einkaufskorb. Ach ja, und Brot brauch ich auch noch. Hätte ich vielleicht doch das Angebot von Sven annehmen sollen? Egal. Vielleicht noch 2 Bier für den gemütlichen Fernsehabend und ein paar Chips? Der Inhalt meines Einkaufswagens sieht wieder mal sehr übersichtlich aus. Als die Kassiererin meinen kleinen Einkauf über den Scanner zieht, schaut sie mich mitleidig an. Komisch, ich habe das Gefühl, als müsste ich ihr gleich mitteilen, dass ich keineswegs mein Bier mit den beiden Saufnasen an der Ecke trinke, sondern mir doch nur einen gemütlichen Abend zu Hause machen möchte. Ich lasse es, wundere mich aber über meine merkwürdigen Gedanken.
Zu Hause angekommen sehe ich Herrn Müller wieder mal mit Lappen an seinem Auto stehen.
»Wow, Herr Müller, ihr Auto glänzt ja wieder«, sage ich mit leichtem ironischem Unterton beim Vorbeigehen.
»Da hat doch so ein blöder Vogel raufgeschissen. Abknallen müsste man die.« Ich sage nichts und gehe weiter. Ein Grinsen kann ich mir aber nicht verkneifen.
Schnell unter die Dusche. Zum Regeln der Wassertemperatur sind zwei Drehknöpfe vorhanden. Bei optimaler Einstellung sollte es angenehm warm sein. Leider treffe ich diese Einstellung nie, oder nur für kurze Zeit. Nachdem das warme Wasser auf mich einprasselt, ändert sich plötzlich, ohne mein Zutun, schlagartig die Temperatur. Hektisch geht meine Hand zum Wasserhahn. Dabei knallt mein Ellenbogen gegen die Duschabtrennung, welche fast aus der Halterung springt. Das Nachregeln der Wassertemperatur reicht auch nur für einen kurzen Moment. Nach einem Wechsel zwischen Einseifen, Abspülen und Temperatur einstellen bin ich nicht entspannt, sondern leicht gereizt. Mit dem Handtuch um die Hüfte geht’s vom Bad in die Küche und dann auf den Balkon. Wie schon heute Morgen gibt’s Toast. Statt eines Kaffees gibt es jetzt ein Bier. Als ich noch mit Sandra zusammen Abendbrot gegessen habe, war es wesentlich abwechslungsreicher. Da gab es auch immer mal Obst, Gemüse oder gekochte Eier.
Während ich mit schmerzendem Ellenbogen, einen Schluck aus der Flasche nehme, streift mein Blick umher. Außer einem herrenlosen Hund, der zwischen den auf dem Parkplatz stehenden Autos umherläuft und ab und zu an einem Autoreifen das Bein hebt, ist nichts zu sehen. Alles in allem ein Tag wie jeder andere, nichts Aufregendes. So beschließe ich auch den Abend wie üblich vor dem Fernseher. Meist schlafe ich dabei auch noch ein und quäle mich später hoch, um doch noch ins Bett zu wechseln.
Was schenkt man einer Frau zum 60zigsten Geburtstag? Meine Mutter hat heute zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um ihren Ehrentag zu feiern. Klar weiß ich von diesem Termin schon lange, aber ein Geschenk habe ich trotzdem noch nicht. Natürlich habe ich sie gefragt, was sie sich wünscht. Als Antwort kam die Standardantwort, die jedes erwachsene Kind kennt, »Du brauchst mir nichts zu schenken, ich habe doch alles, was ich brauche«. Toll, was soll ich damit anfangen? Wissen Eltern nicht, dass sie ihren Kindern mit so einer Aussage nicht helfen, sondern vor noch größere Probleme stellen? Jeder hat doch kleine oder auch größere Wünsche. Eine schöne Schachtel müsste ich ihr schenken, mit einem Zettel drin auf dem steht, »Ich erfülle deinen Wunsch nach keinem Geschenk. Du hast ja sowieso schon alles.« Ihr Gesicht würde ich dann gerne mal sehen. Gefeiert wird bei meinen Eltern zu Hause. Mit rund 20 Gästen rechnet meine Mutter.
Ich habe also noch kein Geschenk und weiß auch noch nicht, was ich anziehen soll. Sandra könnte mir sicher weiterhelfen. Sie hatte immer tolle Geschenkideen und auch, welches Outfit zu welchem Anlass mir steht, wüsste sie genau.
Zehn Minuten später als erhofft, bin ich am Haus meiner Eltern angekommen. Das Glockenspiel des Big Ben ertönt, als ich auf die Klingel drücke. Das letzte Mal war es noch die neunte Sinfonie von Beethoven. Das ist so ein Spleen meines Vaters. Alle paar Tage ändert er die Melodie und freut sich wie wahnsinnig über die erstaunten Reaktionen der Klingler. Meine Mutter öffnet mir die Tür.
»Hallo Maik, schön dass du endlich da bist.«
»Hallo Mama, alles alles Liebe zu Geburtstag.« Ich strecke ihr einen großen Blumenstrauß mit Sommerblumen entgegen, welchen ich gerade noch bei der Gärtnerei geholt habe.
»Oh, der ist aber toll.« Sie nimmt den Strauß und schaut, als warte sie noch auf irgendwas.
Also sage ich »Geschenk gibt es diesmal keins, du hast ja schon alles.« Ihr Gesichtsausdruck ändert sich sofort. Die hoffnungsvolle Erwartung wird zu einem Erschrecken und Erstaunen gleichermaßen. Ihr Mund öffnet sich leicht als wolle sie etwas sagen, aber es kommt kein Ton. Bevor die Situation unangenehm, wird sage ich:
»Da im Strauß ist noch was.« Das Gesicht meiner Mutter hellt sich gleich ein wenig auf, als sie den Umschlag aus dem Blumenstrauß zieht. Sie öffnet ihn sofort und liest laut vor.
»Gutschein für eine Ayurveda Massage, Oh.«Ihr Blick verrät wenig Begeisterung.
»Da kannst du dich mal richtig verwöhnen lassen. Kannst ja Papa auch mitnehmen.« Ihr Blick wird wieder entspannter.
»Das fehlt mir noch, das mache ich schön alleine. Aber Du sollst mir doch nichts …«.
»Mama.«
Den lauten Stimmen und dem Gelächter folgend, gehe ich ins Wohnzimmer, welches schon voller Menschen ist. Die meisten kenne ich natürlich, gehören ja auch zu meiner Familie, aber ein paar neue Gesichter sind auch dabei.
»Guckt mal, was mir der Maik mitgebracht hat«, ruft meine Mutter, die mir gefolgt ist, in den Raum und hält dabei den Blumenstrauß hoch. Die Blicke fallen auf mich und Onkel Peter ruft direkt laut zurück:
»Den hat Maik wohl noch schnell selbst gepflückt.« Er findet es lustig, ich nicht. Auch andere Gäste zeigen nur ein förmliches Grinsen. Onkel Peter ist bekannt, dass er jede Party aufmischt. Er hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und erzählt mit großer Hingabe und vollem Körpereinsatz einen Witz nach dem anderen. Ein paar davon sind sogar mal lustig. Das Problem ist aber, dass sein Repertoire an Witzen nur für eine kurze Zeit reicht. Das heißt, dass so gut wie alle Gäste jeden Witz schon gefühlt 100-mal gehört haben. Das stört Onkel Peter aber keineswegs, er haut immer wieder den ein oder anderen Kalauer raus. Dabei findet er sie so gut, dass er am lautesten darüber lacht, während die anderen verlegen schmunzeln.
»Richtig schick gemacht hast du dich ja heute«, sagt Peter, der an mich ran getreten ist und haut mir dabei grinsend auf die Schulter. Bei ihm klingt das natürlich nicht wie ein Kompliment, ist bestimmt auch nicht so gemeint, sondern eher verächtlich. Dabei finde ich mich mit heller Stoffhose und dunklem Sakko über hellem Poloshirt doch ganz passend gekleidet.
»Du siehst aber auch wieder gut aus, besonders der Schlips«, erwidere ich, meine aber das Gegenteil. Peters Anzug ist viel zu klein. Ich glaube, das ist der Anzug, den er schon seit vielen Jahren auf jeder Feier trägt. Nur hat Peter über die Jahre mächtig zugelegt und die Anzugjacke geht schon lange nicht mehr zu. Um den Hals hat er einen Schlips gebunden, der viel zu kurz und zu breit ist. So liegt er auf seinem Oberbauch auf und sieht aus wie ein zu klein geratenes Lätzchen. Noch dazu hat er als Motiv ein Muster aus gefüllten Bierkrügen. Er tritt einen Schritt zurück, breitet die Arme leicht aus und streckt sein Körpermittelteil nach vorne, um sich zu präsentieren. Zumindest schein er sich über mein Kompliment zu freuen. Wie leichtgläubig manche Menschen sind.
Ich wende mich den anderen Gästen zu, um sie zu begrüßen. In unserer Familie ist es üblich, jeden einzelnen persönlich mit Handschlag zu begrüßen. Eine ziemlich lästige Prozedur, finde ich. Da zwängt man sich durch die Leute, unterbricht Gespräche nur, um jedem Guten Tag oder Hallo zu sagen. Die haben dank Onkel Peter doch eh schon alle mitbekommen, dass ich da bin.
Eine junge hübsche Frau, mit kurzen blonden Haaren kenne ich nicht.
»Das ist Karen«, wird sie mir von Mamas guter Freundin Ute vorgestellt.
»Das ist meine Tochter. Sie ist gerade auf Besuch bei mir und da habe ich sie mitgebracht.«
»Hallo«, sie schaut mich nett an.
»Hallo, ich bin Maik, der Sohn von Martina.« Nicht schlecht, denke ich, setze aber erstmal meinen Begrüßungsmarathon fort.
Das klingende Geräusch eines Glases lässt die Gespräche verstummen. Meine Mutter bittet um Aufmerksamkeit.
»Liebe Gäste, ich möchte euch noch einmal sagen, dass ich mich ganz doll freue, dass ihr heute alle hier seid. Ja, nun bin ich auch schon sechzig Jahre alt und …«
»Siehst aber aus wie 59«, ruft Peter lachend dazwischen.
»Wie auch immer, nehmt bitte am Tisch Platz und lasst es euch gut gehen«, beendet meine Mutter ihre kurze, unterbrochene Ansprache. In der Mitte der Wohnstube ist eine große Kaffeetafel in Form eines U aufgebaut. Neben einer altmodischen Blumendekoration und mehreren Kaffeekannen stehen eine große Menge von Torten und Kuchen auf den Tischen. Von meinem Platz habe ich einen guten Blick auf die gesamte Geburtstagskaffeetafel. Während sich die ersten Gäste Kaffee einkippen, zähle ich 6 Torten und 3 Teller mit aufgeschnittenen und gestapelten Kuchenstücken. Wenn ich das zusammenzähle und überschlage, sind das in etwa 140 Stücken Kuchen. Das macht für jeden Gast also 7 Stück Kuchen. Da muss bei der Planung ja ein Rechengenie am Werk gewesen sein. Meine Gedanken kreisen um die enorme Anzahl der Kuchenstücke. Von den anwesenden 11 Frauen sind 4 dabei, von denen ich weiß, dass sie maximal ein Stück essen. Schließlich betonen diese Frauen bei jeder Gelegenheit, dass sie auf ihre Figur achten, Sport treiben, Kalorien zählen und sowieso ist Kuchen ungesund. Diese dünnen, vorbildlichen Frauen sind aber leider die mit Abstand unlustigsten Gäste in der Runde. Na ja, ich glaube sie müssen immer gegen die innere Stimme ankämpfen, die sagt, »Ich will auch was von dem leckeren Kuchen« und sind daher total verkrampft. Die anderen Frauen werden aber auch kaum mehr als 3 Stücken essen. Das heißt es bleiben, großzügig gerechnet, für die 9 Männer ungefähr 115 Stück Kuchen, knapp 13 Stück pro Person. Ich glaube der Einzige, der nur annähernd so viel Kuchen essen kann, ist Onkel Peter.
Erstaunlich schnell scheinen alle gesättigt zu sein und auch Kaffee wird kaum noch nachgeschenkt. So fängt meine Mutter mit Unterstützung einiger Gäste an, den Tisch abzuräumen. Nachdem alle Kuchen, manche noch unberührt, und der Rest der Kaffeetafel in die Küche transportiert wurden, wird auch schon wieder aufgetischt. Jetzt landen erstmal eine Menge Gläser auf dem Tisch. Saftgläser, Weingläser, Bier- und Schnapsgläser. Sekt-, Wein- und diverse andere Flaschen werden auch noch dazu gestellt. Auf einem Beistelltisch werden alkoholfreie Getränke, Saft, Wasser und Cola deponiert, daneben 2 Kisten Bier. Meine Mutter schlägt nochmal gegen ihr Glas und bittet jeden, ebenfalls ein gefülltes Glas in die Hand zu nehmen.
»Prost«, gemeinsam stoßen wir auf meine Mutter an. Nach kurzer Zeit haben sich vor jedem Gast gleich mehrere Gläser und Flaschen aufgereiht. Man könnte meinen, hier ist ein Treffen von Alkoholikern, die sich mal so richtig einen reinzwirbeln wollen. Die Stimmung und die Lautstärke der Gespräche steigen jedenfalls. Selbst unsere verkrampften Damen werden bei einem Glas Sekt lockerer. Peter ist in seinem Element, dreht immer mehr auf. Mit einer Flasche Bier in der Hand erzählt er mal wieder einen Witz. Er lacht sich schon nach ein paar Worten schlapp, erzählt etwas weiter und lacht wieder. Die Pointe bringt er auch nicht mehr zusammen, lacht aber über seinen eigenen unfertigen Witz, als wäre es das Komischste, was er je erzählt hat. Dabei läuft er so rot an und schnappt nach Luft, dass einem Angst wird.
Ich greife mir mein Bier und gehe auf die Terrasse. Die frische Luft tut gut. Kurz nach mir kommt Karen auch raus.
»Ganz schön eng und laut da drinnen«, sagt sie und atmet erstmal tief durch.
»Tja, meine Familie halt«, entschuldige ich mich.
»Oh tut mir leid, das war gar nicht böse gemeint. Bei unseren Familienfeiern ist es nicht viel anders. Ich finde eigentlich alle ganz nett und dein Onkel ist echt der Knaller.«
»Mhmm«, mache ich und wundere mich, wie unterschiedlich doch die Wahrnehmung sein kann.
»Wie kommt es denn, dass du hier bist«, frage ich.
»Mama war ja eingeladen und da ich sie gerade besuche, hat sie mich gefragt, ob ich nicht mitkommen will. Deine Mutter hatte nichts dagegen und da dachte ich mir, warum nicht.«
»Was machst du denn so, wenn du nicht deine Mutter besuchst?«
»Ich wohne in der Nähe von München und arbeite bei einem Autohaus in der Buchhaltung, und was machst du?«
»Na ja, ich bin freischaffender Künstler«, übertreibe ich nach kurzer Überlegung.
»Das ist ja cool, und was machst du künstlerisches?«
»Ich stelle Plastiken her.« Dass diese nur aus Pappmaschee bestehen und der künstlerische Wert eher Null ist, muss ich ihr ja nicht gleich auf die Nase binden.
»Echt, machst du das schon lange?«
»Erst seit ein paar Monaten, vorher war ich bei einer Werbeagentur angestellt, Web-Design und so.«
»Ach, und da hast du aufgehört, um als Künstler zu arbeiten? Das ist aber mutig.«
»Na ja, so ungefähr.« Dass ich aufgrund von Personalreduzierung gekündigt wurde, ist im Moment ja nicht so wichtig.
»Dann hast du hier wohl ein Atelier, wo du deine Plastiken herstellst? Das hört sich aber viel spannender an als mein Job als Buchhalterin. Du musst mir später unbedingt mehr erzählen. Jetzt muss ich aber erst mal woanders hin.« Sie legt dabei eine Hand auf ihren Unterbauch und macht mit entschuldigendem Blick einen leichten Knicks.
»Klar mach das, ich lauf ja nicht weg.« Sie ist ganz schön neugierig, aber eigentlich auch ganz sympathisch. Zumindest ist es angenehmer sich mit ihr zu unterhalten, als in dem lauten Stimmengewirr im Zimmer zu sitzen.
Es ist jetzt kurz vor 18 Uhr und die Lautstärke im Zimmer hat deutlich abgenommen. Es sind auch schon ein paar der Gäste gegangen. Leere Flaschen und Gläser auf dem Tisch zeugen von einer recht feuchten Geburtstagsfeier. Onkel Peter sitzt zusammengesunken auf einem Sessel in der Ecke. In der einen Hand hält er ein Bier, welches er auf seinem Oberschenkel abstützt. Er sieht erschöpft aus. Nur noch ab und zu hebt er den Kopf, grinst in den Raum und döst dann wieder weg. Mein Vater geht mit einer Flasche selbstgemachten Heidelbeerlikör von Gast zu Gast und preist ihn in den höchsten Tönen an. »Alles selbst im Wald gesammelt und mit Prima-Sprit angesetzt.« Aber nur bei Oma Lotte wird er noch ein Gläschen los. Die nimmt aber sowieso alles, was ihr angeboten wird. Wie sie es schafft, trotzdem noch gerade dazustehen, ist mir ein Rätsel.
»Wie sieht’s aus Maik, willst du auch nen Lütten?«, mein Vater hebt die Flasche triumphierend in die Höhe.
»Eigentlich gerne, aber ich muss doch noch fahren.«
»Kannst den Wagen doch stehen lassen, vielleicht nimmt dich Klaus mit, der trinkt doch nichts. Ich frag ihn mal, oder mit dem Taxi?«
»Nee, lass mal, ich will morgen früh noch was erledigen, da brauch ich den Wagen.«
»Dann eben nicht.« Schulterzuckend und etwas enttäuscht zieht mein Vater weiter. Wo ist eigentlich Karen? Vorhin saß sie noch mit ihrer und meiner Mutter zusammen in der Küche. Ihr schallendes Gelächter war bis hier zu hören. Sie haben sich anscheinend bestens amüsiert. Kaum habe ich den Gedanken beendet, kommt Karen zu mir.
»Maik, entschuldige, eigentlich wollte ich gerne mit dir noch ein bisschen quatschen, aber meine Mutter möchte jetzt los. Es waren wohl ein paar Sektchen zu viel vorhin in der Küche. Jetzt ist sie müde.«
»Schade, aber kein Problem.« So ein Mist, der einzige Grund, warum ich noch hier bin, war die Aussicht auf die Gesellschaft mit Karen. Wahrscheinlich werde ich sie so schnell nicht wiedersehen.
»Bist du morgen in deinem Atelier?« Erstaunt über die Frage, antworte ich erfreut,
»Ja, ab Mittag bin ich da.«
»Super, wenn es dir recht ist, komme ich mal vorbei. Ich fahr ja erst übermorgen wieder nach Hause.«
Schnell gebe ich Karen noch die Adresse und meine Telefonnummer. Habe ich jetzt ein Date? denke ich etwas euphorisch. Na gut, das ist wohl etwas übertrieben. Aber zumindest interessiert sie sich für meine »Kunst« oder vielleicht auch ein bisschen für mich? Zusammen mit meiner Mutter bringe ich Karen und Ute noch zur Tür. Als nur noch das Heck vom Taxi zu sehen ist, dreht sich meine Mutter um und sagt unvermittelt.
»Die Karen ist schon eine Nette, nicht?«
Ich weiß gar nicht, was ich ihr so spontan antworten soll.
»Ja ich glaube auch«, sage ich unsicher und schaue misstrauisch in das grinsende Gesicht meiner Mutter.
Nach einer weiteren Stunde sind nur noch eine Handvoll Gäste da. Abendbrot hatte meine Mutter nicht vorgesehen. Sie fängt an, die Tische von Gläser und Flaschen zu befreien und die Konfettischnipsel, welche neben einer Karte aus einem Geschenkumschlag gerieselt sind, mit einem Handstaubsauger vom Teppich zu saugen. Das Ganze dient wohl nur dazu, den verbliebenen Gästen zu zeigen, »Haut nun endlich ab«. Als mein Vater das mit den Worten
»Wollt ihr noch einen letzten Lütten auf den Weg«, beschleunigen will, erntet er einen bösen Blick von meiner Mutter. Befürchtet sie doch nicht zu Unrecht, jetzt könnte sich doch noch ein Gast festsetzen, auch wenn mein Vater das Gegenteil bewirken wollte. Aber der Satz von meinem Vater erfüllt seinen Zweck. Sein Angebot wird dankend abgelehnt und die Gäste machen sich auf den Weg.
»So, Mama, ich werde denn jetzt auch los.« Ich nehme meine Mutter in den Arm. »Es war eine schöne Feier. Hoffentlich hattest du auch deinen Spaß?«
»War schon schön, alle mal wieder zusammen zu haben, ist ja nicht so oft. Warte, ich habe noch was.« Sie geht in die Küche und kommt kurz darauf mit einem in Alufolie eingewickeltem Teller zurück.
»Ich habe dir noch ein bisschen Kuchen eingepackt. Leider hat ja kaum einer was gegessen.« Ja ja, du Rechengenie, daran wird’s gelegen haben. Einen Kommentar dazu verkneife ich mir aber lieber. »Danke.« Toll, jetzt kann ich zusehen, was ich mit diesem Kuchenberg mache. Gibt wohl die nächsten Tage zu jeder Mahlzeit was Süßes.
Heute habe ich mich früher als sonst auf den Weg in meine Werkstatt gemacht. Die Aussicht, dass mich Karen besuchen möchte, freut mich total, aber bereitet mir auch ein paar Sorgen. Karen ist ja wohl in der Annahme, dass ich ein tolles Atelier mit kunstvoll geformten Plastiken habe. Was wird sie aber sagen, wenn es sich als runtergekommener alter Raum auf dem Hinterhof einer Bäckerei entpuppt? Dann auch noch meine Kunstwerke. Wird sie mich auslachen oder dreht sich gleich wortlos wieder um und geht?
Ich werde auf alle Fälle etwas Ordnung in mein Chaos bringen. Einmal ausfegen kann auch nicht schaden.
Nun ist es schon früher Nachmittag und Karen war immer noch nicht da. Wie ein pubertierender Junge sitze ich hier und kann vor lauter Aufregung die Füße nicht stillhalten. Was erwarte ich eigentlich? Eine flüchtig bekannte Frau will mich besuchen und ich bin so aufgeregt wie vor meinem ersten Kuss. »Beruhig dich mal«, sag ich mir, es geht nur um ein ganz gewöhnliches Treffen von Mann und Frau die sich gut verstehen könnten.
Es klopft zaghaft an der Tür. Bevor ich »Herein« rufen kann, geht sie auch schon auf, es ist Karen. Im Licht der hinter ihr stehenden Sonne strahlt ihre Silhouette wie die einer Elfe. Ihr dünnes Kleid wird fast durchsichtig und man kann ihren sportlichen Körper sehen. «Geil« denke ich und hoffe das ich das eben nicht doch laut gesagt habe.
»Hi Karen, schön, dass du da bist, war sicher nicht so leicht zu finden.«
»Hallo Maik, es geht. Dein Auto vor der Tür hat dich verraten. Ich wusste ja noch von gestern, wie es aussieht.« Na toll, meine alte Kiste ist ihr also im Gedächtnis geblieben.
»Das ist also dein Atelier?« Karen schaut sich um. Ihr Blick bleibt an dem großen Busen an der Wand hängen.
»Ganz schön große Dinger, da kann ich nicht mithalten.« Karen fasst sich lächelnd mit beiden Händen an ihre Brust.
»Ja, stimmt«, sage ich, ohne nachzudenken und bin sofort erschrocken über meinen blöden, unbedachten Ausspruch. Mir ist es peinlich.
Karen lacht. Puh, sie hat es wohl nicht böse aufgefasst.
»Ja ein Atelier ist es nicht gerade«, stammele ich »eher eine Werkstatt.« Karen grinst.
»Atelier kommt ja aus dem französischen und bedeutet Werkstatt, von daher alles in Ordnung.« Oh Mann, schon wieder peinlich, sie muss ja denken ich bin ein Trottel.
»Du hast dir mein ‚Atelier‘ sicher ganz anders vorgestellt.« Sage ich und fühle mich ertappt.
»Eigentlich hatte ich keine bestimmte Vorstellung. Das sind also deine Plastiken?« sie deutet auf meine beiden Papiergebilde.
»Ja, das sind sie. Ich präsentiere, die Welle und die Möpse«, rutscht es mir raus. Verlegen deute ich mit der Hand auf meine beiden Objekte. Werde ich rot? Karen lacht und ich entspanne mich ein wenig.
»Du hast bestimmt erwartet, dass ich mit Hammer und Meißel hier tätig bin, aber die sind leider nur aus Papier und Leim«, versuche ich mich zu entschuldigen.
»Wie findest du es?«, traue ich mich sie zu Fragen.
»Ungewöhnlich« kommt über ihre Lippen. Das hört sich an, als hätte sie am liebsten ‚Scheiße‘ gesagt. Sie fügt gleich noch an. »Sowas habe ich noch nie gesehen. Also so mit Papier und den Fotos darauf.«
»Findest sie nicht so doll, oder?« frage ich direkt.
»Wie kommst du darauf?« Sie schaut mich empört an.
»Na ja, bis jetzt habe ich das noch niemanden gezeigt. Es ist halt bisschen, wie Hobby und dass es keine richtige Kunst ist weiß ich auch«, versuche ich mich zu rechtfertigen.
»Was ist Kunst?«, fragt Karen energisch. »Wird etwas nicht immer erst durch die Definition des Betrachters oder die ungewöhnliche Art der Installation zu Kunst? Ich denke da zum Beispiel an die ‚Fettecke von Beuys‘. Die hat ja bestimmt auch nicht jeder für Kunst gehalten. Zumindest meinte der Hausmeister: das kann ruhig weg.«
So habe ich das noch gar nicht gesehen. Sie hat ja recht. Kunst ist ein sehr dehnbarer Begriff. Trotzdem möchte ich meine Objekte nicht als Kunst bezeichnen.
»Da hast du allerdings recht. Tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen oder so. Wollen wir uns setzen?« ich deute auf meine rustikalen Sessel.
»Also ich find die Sachen cool, um auf deine Frage zurückzukommen.«
»Echt? ist doch nur Papier.«
»Fang nicht schon wieder an. Wenn ich es nicht gut fände, würde ich es dir, vielleicht nicht direkt, aber trotzdem verständlich sagen.«
»Möchtest du einen Kaffee und Kuchen?« Um die Situation zu entspannen, deute ich auf den Kuchenteller.
»Restbestände von gestern? Bei der Feier habe ich mir schon gedacht, wer soll bloß den ganzen Kuchen essen. Da hat sich aber einer komplett vertan.«
»Aber zumindest schmeckt er und die Auswahl ist riesig, greif zu.« Karen greift zu und nimmt auch noch ein zweites Stück. Ich bin erleichtert, dass sie nicht zu der Fraktion der »Verkniffenen Kalorienzähler« gehört.
»Schmeckt echt gut, aber jetzt reicht’s«, sie legt lachend eine Hand auf ihren Bauch.
»Hier verbringst du also deine Freizeit?« Ihr Blick geht abermals durch den Raum.
»Ja, davon habe ich ja mehr als genug, und Spaß macht es mir auch.«
»Willst du deine Werke nicht auch mal anderen zeigen?«
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber ich glaube das da wenige etwas mit anfangen können.«
»Stell dein kreatives Licht mal nicht unter den Scheffel«, macht sie mir Mut. »Denk noch mal an mein Beispiel mit der »Fettecke«.
Die Tür springt auf und stößt mit lautem Knall gegen die Wand.
»Geile Möp…« die Worte bleiben Sven im Hals stecken als sein Blick auf Karen fällt.
»Ähm…, ich…, Hallo Maik«, stammelt er sichtlich verlegen.
»Die Tür ist mir aus der Hand…, ich wusste ja nicht…« So verlegen kenne ich ihn gar nicht.
»Karen, das ist Sven.« Stelle ich ihn, nicht gerade begeistert, vor. Sven kann sich aus seiner kurzen Starre lösen.
»Hallo, ich bin Sven und wer bist du?«
»Wie Maik schon gesagt hat, ich bin Karen.« Sie nimmt lächelnd die ihr entgegengestreckte Hand und schüttelt sie leicht.
»Ich wollte nur mal kurz vorbeischauen. Oh Kuchen, kann ich ein Stück?« Noch bevor ich antworten kann, sitzt er im dritten Sessel und mampft Kuchen. Dass ich hier ein »Date« habe. scheint ihn nicht zu interessieren. Er sitzt kauend da und starrt uns mit erwartungsvollem Blick an. Da ist Sven echt schmerzfrei.
»Stör ich?« Nein Sven, überhaupt nicht. Wie kommst du bloß auf diese Idee.
»Na ja, eigentlich schon«, sage ich verärgert. Sven brauch ich jetzt wirklich nicht.
»Ach was«, beschwichtigt Karen, »Maik hat mir nur sein Atelier gezeigt.« Sven guckt, als hätte er das Wort noch nie gehört.
»Ich wollte Karen mal zeigen, was ich hier so mache«, füge ich an.
»Aha«, Sven greift sich ein weiteres Kuchenstück. »Der Maik ist schon ein Künstler. Also ich find’s toll.«
»Siehst du, Sven hat dein Talent erkannt.« Karen lächelt und Sven nickt bestätigend.
»Du Maik, ich habe den Leim für dich im Auto und auch noch ein paar Holzleisten. Hab dir ja gesagt, ich besorg das.« Stolz wird er dabei in seinem Sessel gleich ein bisschen aufrechter und hat ein Blick aufgesetzt, als wäre er der König der Hausmeister.
»Danke Sven, kann ich gut gebrauchen.« Jetzt kannst du eigentlich auch wieder los.
»Warte, ich hol schnell alles.« Sven geht nach draußen und ich schaue Karen mit hoch gezogenen Augenbrauen an.
»Tut mir leid, Sven hat auch ein Talent immer zum ungünstigsten Moment aufzutauchen.«
»Ach, macht doch nichts. Ich find Sven lustig.« Das fehlt mir noch, jetzt findet sie ihn auch noch gut. Ich muss zusehen das er wieder verschwindet.
»Hier, ein Eimer Leim und das Holz. Wenn du noch was brauchst, musst du es nur sagen.«
»Mach ich, willst du noch ein Stück Kuchen auf dem Weg?« Ich versuche den Likör-Trick meines Vaters. Sven versteht den Wink, dass er uns doch jetzt mal allein lassen soll, aber nicht.
»Ich habe noch Zeit. Den Kuchen esse ich lieber hier bei Euch, und Kaffee hatte ich auch noch nicht.« Karen sieht mein enttäuschtes Gesicht und muss lachen.
»Na dann werde ich auch mal wieder los.« Karen steht auf.
»Ach nein, bleib doch noch ein bisschen.« So ein Mist, nur wegen Sven läuft mein ‚Date‘ jetzt weg. Großartig, da trifft man mal eine tolle Frau, unterhält sich nett und dann das.
»Wegen mir musst du aber nicht los, oder stör ich euch?« Sven sitzt ganz unschuldig in seinem Sessel und schlürft am Kaffee.
»Ich bin mit meiner Mutter noch zum Shoppen verabredet. Sie möchte ein bisschen modische Beratung. War echt nett bei dir. Die Objekte finde ich wirklich cool, du solltest das unbedingt weitermachen. Darf ich noch ein paar Fotos davon machen?« Karen zückt nach meinem bestätigenden Kopfnicken ihr Handy und knipst meine beiden Werke.
»Du musst aber auch noch mal mit rauf.«
»Ach, muss doch nicht.«
»Doch, bitte, ich würde mich freuen«, sagt sie lächelnd. Na ja, da kann ich natürlich nicht abschlagen und stelle mich vor die Welle.
»Jetzt noch nett gucken …« Ich grinse und fühle mich total lächerlich.
»Wir können ja mal schreiben.« Nochmal winkend und dabei ein Luft Kuss werfend, verschwindet Karen.
»Ach man, musstest du ausgerechnet jetzt kommen?« ich schaue Sven vorwurfsvoll an. »Ich habe mich gerade bestens mit Karen unterhalten und jetzt ist sie schon wieder weg.«
»Das wollte ich nicht.« Er scheint echt betroffen. »Hab ich dir jetzt ne Nummer versaut?«
»Ach Sven, darum ging es doch nicht. Sie ist einfach nett und wer weiß, ob ich sie nochmal wieder treffe.«
»Das wird schon.« Er greift sich ein weiteres Stück Kuchen und geht Richtung Tür. »Ich werde dann jetzt auch mal los.«
»Ist das dein Ernst?« Ich kann es nicht glauben. Sitzt hier wie angewachsen, stört und kaum ist Karen weg, macht er sich auch vom Acker. Sven, du Arsch. Er zuckt nur mit den Schultern, sprechen kann er ja nicht, da das halbe Stück Kuchen in seinem Mund steckt, und ist dann auch schon zur Tür raus.
Jetzt sitze ich wieder alleine hier. Aber schön war das kurze Treffen mit Karen trotzdem. Meine Objekte haben ihr anscheinend gefallen und vielleicht auch ich ein bisschen? Für heute habe ich eigentlich keine Lust mehr, etwas anzufangen. Auf alle Fälle kann ich mit den Materialien von Sven bald ein neues »Werk« in Angriff nehmen. Eine Idee habe ich auch schon. Sie ist mir bei meinen fast täglichen Besuchen im Supermarkt gekommen. Inspiriert worden bin ich von den Saufkumpanen an der Ecke. Eine große Flasche möchte ich bauen, welche aufrecht steht. Daneben eine zweite zerbrochene Flasche. Die heile werde ich mit Bildern von Cola, Wasser, Obst usw. bekleben. Die zerbrochenen Scherben mit Bildern von alkoholischen Getränken und kaputten Autos oder anderen Unfällen. Morgen werde ich mal anfangen, die Grundkonstruktion zu planen.
Bin gerade auf dem Weg zur Werkstatt. Es regnet in Strömen, als wollte der Himmel meine traurige Verfassung bildlich darstellen. Gestern Abend habe ich mich so einsam wie lange nicht gefühlt. Schon komisch, wie mich das kurze Treffen mit Karen von hoher Erwartung über wohliges Gefühl bis enttäuschendes, weil viel zu schnelles Ende, so ins Gefühlschaos stürzt. Es hat mir wieder vor Augen geführt, wie sehr ich doch das Zusammensein mit einer Frau genieße und vermisse. Da wurden natürlich gleich verdrängte Erinnerungen an Sandra wach. Wir hatten doch schon vorwiegend tolle Zeiten miteinander.
Es regnet immer noch stark, als ich bei meiner Werkstatt ankomme. Obwohl es bis zur Tür nur ein paar Meter sind, zögere ich noch mit dem Aussteigen, muss ja nicht unnötig nass werden.