Paris, die Liebe und andere Lügen - Claire Morin - E-Book

Paris, die Liebe und andere Lügen E-Book

Claire Morin

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Stell dir vor, du verliebst dich - in den Schwarm deiner besten Freundin… Paris im Mai und endlich das lang ersehnte Wiedersehen mit ihrer besten Freundin Laura, die vor einem Jahr in die Stadt der Liebe gezogen ist. Anna kann es kaum erwarten! Tatsächlich geht die Reise schon gut los: Auf der Zugfahrt lernt Anna Joe kennen, mit dem sie sich für die nächsten Tage verabredet. Den vielen Nachrichten zufolge, die Joe ihr nach der Ankunft in Paris schickt, scheint es bei Joe mindestens so gefunkt zu haben wie bei ihr. Doch noch bevor das ersehnte erste Rendezvous stattfinden kann, kommt das böse Erwachen: Auf einer Party von Lauras Klasse lernt Anna endlich »Einstein« kennen, den Jungen, von dem Laura ihr seit Wochen vorschwärmt und mit dem sie anscheinend seit kurzem zusammen ist. Der jedoch ist kein anderer als Joe!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 301

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über das Buch

Stell dir vor, du verliebst dich – nur leider in den einen, in den du dich nicht verlieben solltest …

Paris im Mai und endlich das lang ersehnte Wiedersehen mit ihrer besten Freundin Laura, die vor einem Jahr dorthin gezogen ist. Anna kann es kaum erwarten! Tatsächlich geht die Reise schon gut los: Im Zug lernt Anna Jo kennen. Es funkt so richtig – anscheinend auch bei ihm, denn sie verabreden sich gleich für die nächsten Tage.

Anna kann ihr Glück nicht fassen: ein Date in der Stadt der Liebe!

Doch noch bevor es dazu kommt, wird ihr klar: Jo ist genau der Junge, von dem ihr ihre beste Freundin seit Wochen vorschwärmt …

1DIE REISE

ANNA

Der ICE nähert sich dem Bahnhof, ich trete von einem Bein aufs andere und taste zum x-ten Mal nach dem Ticket in meiner Jacke.

Hendrik legt mir seine Pranke auf die Schulter. »Nur keine Hektik.«

»Ich bin die Ruhe selbst.«

Die Waggons donnern an uns vorbei. »Mist, das war der Wagen 10!«

Hendrik schnappt sich meinen Koffer, ich sprinte los, er hinterher. Allerdings hätten wir uns die Rennerei sparen können: Eine gut gelaunte Seniorengruppe drängelt sich vor dem Einstieg, das kann dauern.

»Melde dich daheim, wenn du angekommen bist, sonst drehen sie durch.«

»Mach ich.«

»Und bau keinen Scheiß, ja? Sonst muss ich nachkommen.«

Wie bitte, Mr Obercool sorgt sich um seine kleine Schwester? Das sind ja ganz neue Töne.

»Du kennst mich, ich werde mit dem erstbesten Straßenmaler vom Montmartre durchbrennen.«

»Es ist immerhin das erste Mal, dass du allein wegfährst.«

Stimmt, und bis zum allerletzten Tag habe ich befürchtet, dass etwas dazwischenkommen könnte: eine Krankheit, eine Naturkatastrophe, ein Terroranschlag – irgendetwas, das meine Eltern veranlassen könnte, mir die Reise doch noch zu verbieten. Jetzt, wo es endlich so weit ist, kann ich es selbst kaum glauben. Ich, Anna Cornelius, Sternzeichen Waage, sechzehn Jahre und sieben Monate alt, Schülerin der 10. Klasse des Goethe-Gymnasiums, fahre nach Paris, um meine Freundin Laura zu besuchen.

Die Tür ist endlich frei. »Danke fürs Herbringen.« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke meinem Bruder einen Kuss auf seine unrasierte Wange. Ich bin wirklich froh, dass er mich zum Bahnhof begleitet hat. Meine Mutter oder mein Vater hätten mich bis zur allerletzten Minuten mit gut gemeinten Ratschlägen und Warnungen überschüttet, es war schon während der letzten Tage kaum zu ertragen.

Ich steige ein und Hendrik reicht mir mit viel Geächze und Gestöhne meinen Koffer hinauf. »Hast du deinen ganzen Kleiderschrank dabei?«

»Stell dich nicht so an.«

»Grüß Laura von mir.«

Ich ziehe fragend meine Augenbrauen hoch. Hendrik hat Lauras Namen nie mehr erwähnt, seit er vor zwei Jahren von zu Hause ausgezogen ist. Warum sollte er auch, sie ist ja meine beste Freundin.

»Ausnahmsweise«, grinst er verlegen.

»Okay, ausnahmsweise grüße ich Laura von dir.« Ich werfe ihm eine Kusshand zu, dann drehe ich mich um und zerre meinen Rollkoffer durch den engen Gang. Ich habe zu spät reserviert, es gab keinen Platz mehr im Großraumwagen, also muss ich in ein Abteil. Es ist noch leer, aber wohl nicht mehr lange, die anderen fünf Plätze sind ebenfalls ab Stuttgart reserviert.

Ich versuche, den Koffer auf die Gepäckablage zu hieven. Keine Chance, das Ding ist wirklich sauschwer. Aber hey, eine Woche Paris, die Hauptstadt der Mode, da muss man schon ein bisschen auf sein Erscheinungsbild achten. Bestimmt hat sich Laura zwischenzeitlich die irrsten Klamotten zugelegt und mir wird man die schwäbische Landpomeranze schon von Weitem ansehen.

Erschöpft sinke ich auf den Sitz am Fenster. Der Zug rollt an, ich sehe Hendrik auf dem Bahnsteig winken. Erst Grüße an Laura, jetzt winken, der lässt heute wirklich nichts aus. In meinem Übermut ziehe ich ein zerknülltes Tempotaschentuch aus der Tasche meiner Jeans und wedle damit vor der Scheibe herum. Hendrik schüttelt grinsend den Kopf und zeigt mir den Vogel. Wir sind noch nicht ganz aus dem Stuttgarter Bahnhof raus, da schicke ich Laura eine WhatsApp: Geschafft. Bin unterwegs!

 

Müsste ich die Geschichte meines bisherigen Lebens erzählen, würde ich an dem Tag beginnen, an dem ich Laura Kessel begegnet bin. Denn davor ist, soweit ich mich erinnern kann, nichts groß Aufregendes passiert.

Es war im letzten Kindergartenjahr und Laura kam als Neuzugang in unsere Gruppe. Sie wurde uns in der Morgenrunde vorgestellt. Ich an ihrer Stelle wäre vor Schüchternheit vergangen, aber nicht Laura: In ihrem knallbunten Kleid, das rötliche Haar zu einem dicken Zopf geflochten, stand sie so aufrecht da, als würde sie eine Parade abnehmen. Der Reihe nach scannte sie die Maikäfergruppe ab, gerade so, als denke sie darüber nach, ob es sich lohne, sich überhaupt mit uns abzugeben. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie das Schwimmbad, in dem ich in diesem Sommer mein Seepferdchen gemacht hatte. Für eine Fünfjährige war Laura eher klein und auch ziemlich dünn, aber dennoch kam es mir vor, als würde sie den ganzen Raum einnehmen und für den Rest von uns bliebe kaum noch Luft zum Atmen. Irgendwann blieb ihr Blick auch an mir hängen und ich konnte gar nicht schnell genug den Kopf senken und die aufgestickten Kätzchen auf meinen Hausschuhen betrachten.

Ich rede mir gern ein, dass Laura in diesem Augenblick beschloss, mich zu ihrer besten Freundin zu erwählen, aber ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob wir jemals Freundinnen geworden wären, wenn wir nicht zufällig denselben Nachhauseweg gehabt hätten – und wenn Lauras Mutter nicht gewesen wäre.

Mittags stand sie vor dem Eingang, in einem eng geschnittenen, knöchellangen schwarzen Mantel. Laura stürmte auf sie zu, warf sich in ihre Arme und wurde so wild herumgewirbelt, dass mir schon vom Zusehen ganz schwindlig wurde.

Da ich mit fünf inzwischen zu den »Großen« gehörte, durfte ich allein vom Kindergarten nach Hause gehen, und so lief ich in einigen Metern Abstand hinter Laura und ihrer Mutter her. Klack, klack, klack machten ihre Absätze. Mir gefiel dieses Geräusch. Wenn ich erwachsen sein würde, beschloss ich, würde ich auch immer solche Schuhe tragen. Einmal drehte sich Frau Kessel um und lächelte mir mit ihren knallrot geschminkten Lippen zu, aber ich schaute ganz schnell weg und verlangsamte meine Schritte. Trotzdem hörte ich die beiden miteinander reden. Sie sprachen wohl absichtlich so laut, dass ich es verstehen konnte.

»Dreh dich nicht um, ich glaube, wir werden verfolgt.«

»Bist du sicher, maman?« Laura hatte mir dennoch einen raschen Blick über die Schulter zugeworfen.

»Was meinst du, chouchou, ist sie eine Spionin?«

»Sie ist auch ein Maikäfer«, hörte ich Laura sagen.

Plötzlich, wie auf ein stummes Kommando, hielten sie beide an und wandten sich abrupt um. Erschrocken blieb ich vor ihnen stehen, unfähig, mich zu rühren.

»Wie ’eißt du, kleine Agentin?«, fragte Frau Kessel.

Ich verstand kein Wort und mir wurde angst und bange.

»Dein Name«, half mir Laura auf die Sprünge.

»Anna Cornelius«, stieß ich hervor.

»Anna«, wiederholte Lauras Mutter, und es verwirrte mich sehr, dass sie meinen Namen auf der zweiten Silbe betonte. »Eine schöne Name.«

Am liebsten wäre ich weggerannt. Die Frau war mir unheimlich. Wie seltsam sie redete! Vielleicht war sie eine böse Fee. Oder eine Hexe. Vor Feen und Hexen wegrennen bringt allerdings gar nichts, so viel wusste ich schon.

»Wo wohnst du?«, fragte nun Laura, und im Gegensatz zu ihrer Mutter redete sie ganz normal.

»Bachstelzenweg vier«, presste ich hervor.

»Dann komm!« Lauras Mutter streckte mir ihre freie linke Hand entgegen und ich ergriff sie. Dachte ich dabei an die elterlichen Warnungen, nicht mit Fremden mitzugehen? Nicht die Bohne! Denn das war ja keine Fremde, das war die Mutter des neuen Mädchens aus dem Kindergarten. Trotzdem hatte ich dabei ein schlechtes Gewissen. Da spazierte ich an der Hand einer wildfremden Frau durch unser Viertel, gerade so, als sei ich ihr Kind. Das würden meine Eltern gar nicht gut finden.

Nach einer Weile stimmte Lauras Mutter ein Lied in einer fremden Sprache an.

 

Frère Jacques, Frère Jacques,

dormez-vous, dormez-vous?

Sonnez les matines, sonnez les matines,

Ding, ding, dong. Ding, ding, dong.

 

Ich hatte die Melodie schon einmal gehört, aber vom Text verstand ich natürlich kein Wort. Trotzdem sang ich nach einer Weile lautstark und vermutlich in falschen Tönen mit – Singen, so sollte sich im Lauf der Jahre herausstellen, gehörte nun wirklich nicht zu meinen Stärken. Aber es war meine erste Lektion in Französisch.

An der Ecke Sperlings- und Bachstelzenweg musste ich mich verabschieden. Lauras neues Zuhause lag nur ein paar Geh-minuten von unserem entfernt.

»Ihr könnt in Zukunft zusammen gehen«, sagte Lauras Mutter und es klang wie ein sanfter Befehl.

Ich nickte.

Laura grinste mich an.

So begann unsere Freundschaft.

 

Natürlich hatten wir im Lauf der Jahre auch andere Freundinnen, und wenn ich wir sage, meine ich vor allen Dingen Laura, die immer und überall rasch zu den Beliebtesten zählte. Manchmal fühlte ich mich deswegen zurückgesetzt, aber Laura schaffte es immer wieder, mich aus meiner Schmollecke zu locken. Allerdings verging manchmal ganz schön viel Zeit bis dahin. Zeit, die sie mit ihrer neuen besten Freundin verbrachte, während ich stumm vor mich hin litt.

Andererseits hatte es natürlich auch Vorteile, die Freundin eines umschwärmten Mädchens zu sein: Kaum jemand wagte es, mir dumm zu kommen, und allmählich stieg auch ich in der Achtung meiner Klassenkameradinnen. Irgendetwas, so dachten sie wohl, musste an mir dran sein, wenn eine wie Laura so große Stücke auf mich hielt.

Mit der Zeit prägte mich der Umgang mit Laura. Immer häufiger gelang es mir, das Schneckenhaus meiner Schüchternheit zu verlassen. Anna Cornelius, die Stille, Brave, Unauffällige, die nur allzu rasch verlegen wurde, gewann mit der Zeit an Selbstsicherheit und Schlagfertigkeit. Bisweilen verspürte ich sogar eine gewisse Leichtlebigkeit, die jedoch noch weit entfernt war von Lauras Esprit und Charme.

Meine Mutter hingegen sah es nicht gern, wenn ich allzu oft mit »dieser Laura« zusammen war. »Nicht unser Stallgeruch, diese Familie«, pflegte sie zu sagen.

Deshalb war ich häufig gezwungen, Ausreden zu erfinden, um mich mit Laura treffen zu können. Irgendwann sah meine Mutter dann wohl ein, dass es zwecklos war, uns auseinanderbringen zu wollen, und ließ mich gewähren.

 

Es ist jetzt ein Jahr her, seit Laura eines Morgens auf dem Weg zur Schule aus heiterem Himmel verkündete, ihr Vater, der für eine große Unternehmensberatung arbeitete, habe das Angebot bekommen, in Paris ein Projekt zu leiten. Ihre Mutter sei total aus dem Häuschen wegen der Aussicht, ein Jahr in ihrem Heimatland zu verbringen.

Es war bestimmt ein Zufall, aber wir befanden uns kurz hinter der Bushaltestelle, genau dort, wo mir Catherine Kessel zehn Jahre zuvor ihre Hand entgegengestreckt hatte. Ohne es zu merken, war ich stehen geblieben. Endlich, dachte ich, endlich kann ich einmal etwas für Laura tun. Also sagte ich: »Du kannst so lange bei uns wohnen, in Hendriks Zimmer. Meine Eltern kriege ich schon irgendwie rum.«

Laura fing prompt an zu lachen.

»Quatsch, du Dummerchen«, sagte sie dann. »Ich gehe natürlich mit nach Paris. Denkst du, das lasse ich mir entgehen?«

»Aber die Schule«, stotterte ich, während sich eine Klaue in mein Herz bohrte.

Hinter uns hielt der Bus mit zischenden Türen und spuckte eine Ladung Schüler aus.

»Es gibt dort auch Schulen, weißt du!« Ihre Augen leuchteten. »Ach, Paris! Ich werde es lieben!« Sie breitete die Arme aus und drehte sich, den Blick zum Himmel gerichtet, mitten auf dem Gehsteig im Kreis, sodass die Schüler, die eben ausgestiegen waren, vorsichtig um sie herumgingen, als wäre sie eine gefährliche Irre.

Ich dagegen hätte sie am liebsten geschüttelt, damit sie damit aufhörte und das eben Gesagte zurücknahm, es aus der Welt schaffte, mir sagte, dass es ein Witz war, dass sie mich nur verarschen wollte, meine Reaktion testen, irgendetwas in der Art.

Aber das passierte nicht.

Und was ist mit mir? Verschwendet sie bei alledem auch nur einen einzigen Gedanken an mich?

Machte es ihr gar nichts aus, dass wir uns ein Jahr lang nicht sehen würden? Mit wem sollte ich über YouTube-Clips, Filme, Musik, Bücher und Jungs reden, mit wem über Mitschüler und Lehrer lästern, bei wem sollte ich mich über meine Eltern beklagen? Wer würde mein Haar zu einem französischen Zopf flechten?

»Mach nicht so ein Gesicht, Anna. Wir können doch skypen.«

Ich nickte. Sagen konnte ich nichts.

»Hey, es sind von Stuttgart aus nur dreieinhalb Stunden mit dem TGV oder dem ICE. Du kannst mich ganz oft besuchen.«

Als ob Laura meine Eltern nicht kennen würde!

Ich würde allein sein. Mutterseelenallein.

Ich würde allein zur Schule und wieder nach Hause gehen, allein Aufsätze schreiben, allein Netflix-Serien gucken, allein … ALLES.

Für mich brach eine Welt in Stücke und ich hatte eine Wahnsinnsangst vor dem Tag des Abschieds.

Laura hingegen, das wusste ich, würde sofort neue Freunde finden und mit ihnen würde sie aufregende Dinge in Paris erleben. Und ich, ich würde es höchstens erzählt bekommen, über Skype. Wenn überhaupt. Bald würde sie eine neue beste Freundin finden und mich vergessen oder, noch schlimmer, den Kontakt mit mir lästig finden. Ich wäre nur noch eine Altlast aus einem grauen, faden Leben, das sie längst abgestreift hatte.

Das Schlimmste aber war: Ich durfte ihr in den folgenden Wochen meine Angst und meine Traurigkeit nicht zeigen und auch nicht meinen Ärger darüber, dass sie fast nur noch von Paris redete. Denn sonst, das ahnte ich, würde ich sie garantiert noch schneller verlieren. Ich wollte nicht neidisch oder missgünstig wirken. Ich sollte mich vielmehr aufrichtig mit ihr freuen, denn das taten gute Freundinnen doch, oder?

Aber sosehr ich das auch wollte, ich brachte es einfach nicht fertig.

Im Geheimen, auf dem Grund meiner schwarzen Seele, wünschte ich mir, dass etwas dazwischenkommen und sie hierbleiben würde. Zugleich konnte ich ihre Vorfreude gut nachempfinden. Ich würde auch gern abhauen aus diesem Stuttgarter Vorort, in dem nie, nie, nie irgendetwas Aufregendes passierte. Paris dagegen … Ja, natürlich gönnte ich Laura ein tolles, aufregendes Jahr. Ich wäre nur gerne auch dabei gewesen.

In meinen besseren Momenten redete ich mir selbst zu, »dass ein Jahr doch schnell vorbeigeht« – O-Ton meiner Eltern –, und die Zeit würde ich schon irgendwie rumkriegen. Die Schule verlangte schließlich auch ihren Tribut.

Ja, ich werde es durchstehen, dachte ich dann tapfer. Wenn Laura mich nur nicht vergessen würde.

 

An unserem letzten Abend übernachtete ich bei Laura. Wir heulten beide Rotz und Wasser und schworen uns, dass wir für immer und ewig beste Freundinnen bleiben würden. »Du musst mich ganz oft besuchen«, verlangte Laura erneut, aber mir war klar: Ich würde von Glück sagen können, wenn meine Eltern mich in diesem Jahr ein Mal nach Paris lassen würden.

 

Dann war sie fort. Ich fühlte nur Leere, nichts als Leere. Am liebsten wäre ich in einen einjährigen Dornröschenschlaf versunken. Die ersten Wochen in der Schule waren schrecklich. Ich war nicht unbeliebt, man mobbte mich nicht, aber ich hatte auch keine Vertrauten. Die meisten erinnerten sich nur dann an meine Existenz, wenn sie in Mathe oder Physik nicht klarkamen. Ich kam mir vor wie ein Hund, der seinen Besitzer verloren hat.

»Dem Himmel sei Dank, vielleicht schließt du jetzt endlich einmal andere Freundschaften. Du und Laura, ihr wart ja wie siamesische Zwillinge«, streute meine Mutter, zartfühlend wie immer, noch Salz in meine Wunde.

LAURA

Von: Hendrik Cornelius <[email protected]>

An: Laura Kessel <[email protected]>

Hi Laura,

gerade habe ich mein Schwesterchen zum Zug gebracht und sitze in der Bahn zurück zur Uni.

Sie war ganz schön aufgeregt, ich dachte, sie macht sich noch am Bahnsteig in die Hose. ☺ (Erzähl ihr bloß nicht, dass ich das geschrieben habe!) Sie freut sich seit Wochen tierisch auf Paris. Würde ich auch an ihrer Stelle. Ich wünsche euch beiden auf jeden Fall eine tolle Zeit. Pass mir auf unser schwäbisches Landei gut auf, nicht dass sie im Großstadtsumpf verloren geht. Sorry, ich weiß, ich hör mich an, als wäre ich euer Vater. Egal …

Have fun, Hendrik.

 

Er hört sich nicht nur an wie Annas Vater, er kommuniziert auch so, denke ich und muss dabei grinsen. Offenbar hat es Annas Bruder nicht so mit WhatsApp, er schreibt lieber Mails. Nun ja, jedem das seine, unsereins ist da ja flexibel.

Ich habe ewig nichts von Hendrik gehört, aber seit klar ist, dass Anna mich nun endlich mal besuchen darf, schreiben wir uns hin und wieder. Wobei er angefangen hat, wohlgemerkt. Es ist wirklich nichts Weltbewegendes, mehr so Small-Talk-Niveau. Er war noch nie in Paris und ich habe ihm ein bisschen was über die Stadt erzählt und ein paar Fotos geschickt.

Ich habe ihn schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen, weil er bei seinen Eltern ausgezogen ist, kaum dass er achtzehn war. Er war damals schon ein Lulatsch, bestimmt eins neunzig, und zuletzt hatte er so einen ausgefransten Ziegenbart, und Anna und ich habe immer gemeckert, wenn er uns über den Weg gelaufen ist.

Hendrik bräuchte nur ein bisschen Schliff, dann sähe er bestimmt ganz passabel aus. Jetzt gerade sehe ich ihn vor mir, sein schiefes Grinsen und die hohe Stirn, die er immer gekräuselt hat wie ein Dackel, wenn wir Blödsinn geredet haben. Was ja wohl ziemlich oft der Fall war.

Wenn ich zurückdenke, muss ich sagen, dass Hendrik ganz schön was auszustehen hatte mit uns. Aber er hat das immer gelassen weggesteckt, wie ein gutmütiger Bär, den ein paar übermütige Äffchen zu nerven versuchen.

Er hat mich manchmal Pumuckl genannt, wegen meiner rötlichen Haare und weil meine Stimme angeblich so dröhnt.

Inzwischen fühlt es sich an, als wären wir entfernte Verwandte, die sich ab und zu schreiben, damit der Faden nicht ganz abreißt. Ich finde es im Grunde okay, aber ich komme mir dabei auch ein bisschen komisch vor. Immerhin ist er Annas Bruder.

Vielleicht liegt es daran, dass Anna für mich so eine Art Schwester ist, und damit wäre ihr Bruder … Aber das ist ja völliger Quatsch.

Ich wüsste wirklich gerne, ob Anna das weiß, das mit den Mails. Aber irgendetwas hat mich bisher davon abgehalten, sie danach zu fragen. Gerade so, als hätten Hendrik und ich etwas Verbotenes getan. Was ja nun total daneben ist, ich weiß.

Wenn Anna erst hier ist, wird sich schon eine Gelegenheit ergeben, das Thema anzuschneiden.

Ich sitze noch beim Frühstück, und weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe, als auf Anna zu warten, beantworte ich die Mail ihres Bruders.

Von: Laura Kessel <[email protected]>

An: Hendrik Cornelius <[email protected]>

Hey, Alter ☺,

das hast du gut gemacht, fettes Lob und ein Fleißbildchen. Wir holen sie natürlich ab, nur das mit der Blaskapelle am Bahnsteig zum Empfang hat nicht so ganz hingehauen. Wenn du noch nie in Paris warst, solltest du dringend auch mal hinfahren, um deine Bildungslücken zu schließen.

Au revoir, Laura!

P. S.: Ich sag dir Bescheid, wenn der Adler gelandet ist.

Noch ein P. S.: Für Nerds wie dich: Au revoir heißt auf Wiedersehen. ☺

 

Da ich ihm ein Fleißbildchen versprochen habe, hänge ich ein Foto an, das Papa von mir auf dem Eiffelturm gemacht hat, bei dem meine Haare herumflattern, als wär’s ein Werbespot für einen Föhn. Ich gefalle mir gut auf diesem Bild, und kaum habe ich es abgeschickt, überlege ich, ob das jetzt nicht vielleicht ein bisschen zu … zu … ach, keine Ahnung! Und jetzt ist die Mail weg, ich kann sie nicht wieder einfangen.

Ich bin ein bisschen durcheinander. Das liegt aber nicht an Hendrik, das hat ganz andere Gründe.

ANNA

Laura hielt Wort. Wir skypten und chatteten ziemlich oft und sie schickte viele Fotos. Ihre neue Internationale Schule fand sie anfangs ziemlich gut. Sie mochte ihre Fächer, die Lehrer, die gute Ausstattung und die vielen unterschiedlichen Nationalitäten der Schüler. Echt, Anna, an unserer Schule kommt man sich manchmal vor wie bei der UNO.

Aber ich merkte rasch, dass etwas nicht stimmte. Es fehlte die für Laura typische Begeisterung, der gewohnte Überschwang. Vielleicht, spekulierte ich, war der Neuanfang für sie doch schwieriger, als sie erwartet hatte. Laura spricht zwar perfekt Französisch, aber beherrschte sie auch den Pariser Jugend-Jargon? Wusste sie, was in Paris gerade angesagt war, musik- und klamottenmäßig und überhaupt?

Dann tauchten die ersten Namen auf und immer öfter fielen die Worte »Freunde«, »Kumpel«, »Freundin«. Ich zuckte jedes Mal zusammen wie unter einem Nadelstich und wusste nicht, was schlimmer war: die Tage, an denen ich nicht mit Laura redete, oder die, an denen sie mir erzählte, was sie alles erlebt hatte mit ihrer neuen, bunt gemischten Clique.

Alldem hatte ich wenig entgegenzusetzen. Klatsch und Tratsch aus der alten Schule schienen Laura immer weniger zu interessieren, und aus meinem Privatleben gab es wenig Aufregendes zu berichten. Zwar gab es eine Clique von Leuten, mit denen ich immer mal wieder abhing, aber insgesamt war alles eher eintönig. Eintönig und anstrengend zugleich.

Meine Eltern hatten mir nämlich eine Bedingung gestellt: Wollte ich Laura in den Pfingstferien besuchen, so der Deal, durfte ich im Zwischenzeugnis keine Drei haben.

Das war mal wieder typisch für sie. Warum konnten sie mir nicht ein Mal, ein einziges Mal nur, etwas, das ich gerne wollte, einfach erlauben, ohne Wenn und Aber? Wo sie mich doch angeblich sooo lieb haben und immer nur mein Bestes wollen. Aber so läuft das nicht bei uns. Man kriegt nichts umsonst in dieser Familie, man muss es sich verdienen. Um mir ein gebrauchtes Smartphone kaufen zu können, musste ich in der Nachbarschaft Babysitten und Rasen mähen, und das Geld für die Fahrkarte nach Paris habe ich mir selbst zusammengespart, denn inzwischen bin ich so weit, dass ich von ihnen am liebsten gar nichts mehr geschenkt haben will.

Nicht, dass wir arm wären. Mein Vater hat einen Posten im mittleren Management bei Mercedes Benz – beim Daimler, wie man hierzulande sagt –, meine Mutter arbeitet halbtags bei einer Versicherung. Wir haben zwei Autos, wir fahren zweimal im Jahr in den Urlaub und die Doppelhaushälfte ist abbezahlt. Nein, es liegt nicht am Geld, sondern an der festen Überzeugung unserer Eltern, dass man Kinder nicht verwöhnen oder gar verziehen darf.

Einmal hat Hendrik meine Mutter gefragt, wie sie und unser Vater eigentlich zu zwei Kindern gekommen seien. Sie hat ihn angeschaut, als befürchtete sie, gleich einen schlüpfrigen Witz zu hören zu kriegen, aber Hendrik sagte: »Ich frage mich nur manchmal, wie wir es uns verdient haben, geboren zu werden.« Ich habe meiner Mutter angesehen, dass sie Hendrik dafür am liebsten eine gescheuert hätte und mir auch, weil ich unverhohlen gekichert habe.

Eins weiß ich: Wenn ich mal Kinder haben sollte, verwöhne ich sie nach Strich und Faden! Ich werde nur dann streng sein, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Manchmal jedoch geschehen noch Zeichen und Wunder. Gestern Abend hat mir Papa sage und schreibe hundert Euro als Taschengeld für Paris zugesteckt. Das kann man mit einem fetten Rotstift im Kalender anstreichen.

 

Um das Ziel »keine Drei im Zwischenzeugnis« zu erreichen, musste ich mich in den Laberfächern voll reinhängen, und so führte mein Weg nach Paris über die LiteratuR-AG, wo ich mich mit Droste-Hülshoff und Büchner herumschlagen musste. Aber es hat etwas gebracht: eine satte Zwei in Deutsch und in Englisch, und in Latein bin ich sogar haarscharf an einer Eins vorbeigeschrammt. Meine Eltern zeigten sich beeindruckt und gratulierten sich im Stillen zu ihren raffinierten Erziehungsmethoden.

 

Der Zug fährt schon seit ein paar Minuten, noch immer ist mein Abteil leer. Plötzlich wird es Nacht. Ein Tunnel. In der Fensterscheibe sehe ich ein schmales Gesicht mit großen Augen. Sie sind blaugrau, was man jetzt gerade nicht erkennen kann. Auch die Sommersprossen sieht man nicht, dafür ist es zu dunkel. Das Haar … immer noch ungewohnt. In unserem Viertel hat ein neuer Friseur aufgemacht und vor drei Tagen habe ich in einem Anfall von Verwegenheit meine lange Mähne ein gutes Stück kürzen lassen. Dadurch komme mein Hals viel besser zur Geltung, hat der Figaro behauptet und auch noch hinzugefügt, ich hätte tolle Augenbrauen und ein elegantes Profil. Ich war hin und weg, und nun weiß ich auch, warum Frauen so gerne Schwule als Freunde haben.

Jetzt sind da auf einmal Wellen, wo vorher keine waren, und ein paar hellbraune Strähnen beleben das Bitterschokoladenbraun. Strähnen und Wellen, lieber Himmel, auf meinem Kopf ist auf einmal ganz schön was los. Sogar meine Mutter hat eingeräumt, dass mir die neue Frisur gut steht. Was Laura wohl dazu sagen wird? Sie hat die Frisur nämlich noch gar nicht gesehen, wir haben vergangene Woche nur gechattet, und dabei gab es – so wie in den vorangegangenen zwei Wochen auch – mal wieder nur ein einziges Thema: Einstein.

 

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und horche in mich hinein. Eigentlich müsste ich doch vor lauter Vorfreude kurz vorm Platzen sein. Doch ich fühle mich hauptsächlich müde. Es hat mich viel Energie gekostet, jetzt hier im Zug nach Paris zu sitzen.

Vielleicht könnte ich mich unbeschwerter freuen, wenn ich nicht so sehr für diese Reise hätte kämpfen müssen. Wenn man für eine Sache allzu viel bezahlt hat, macht sie einem oft gar nicht mehr so viel Spaß.

Nein, sei ehrlich, Anna, das ist es nicht!

Es ist dieser Junge. Der Junge aus Lauras Schule, mit dem sie schon zwei Dates hatte. Oder waren es drei? Einstein, wie sie ihn nennt. Er ist der wahre Grund für mein Unbehagen. Keine Ahnung, wie er aussieht, ein Foto von ihm hat sie mir noch nicht geschickt und ich habe sie nicht danach gefragt.

Hat mich einfach nicht interessiert.

Du wirst ihn ja kennenlernen, hat Laura gesagt.

Ich seufze. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, ob es mir nun passt oder nicht. Und nein, es passt mir nicht.

Ich gönne Laura das Herzklopfen, die Schmetterlinge im Bauch und all diesen Romantik-Kitsch. Soll sie haben. Es überrascht mich auch nicht, dass es so gekommen ist. Laura ist bildhübsch und lebhaft und bestimmt sind die Jungs in Frankreich viel charmanter als die Büffel an unserer Schule. Es war abzusehen, dass sie sich in der Stadt der Liebe verlieben wird, und ich hoffe, dass dieser Einstein nett ist und dass sie zusammen glücklich werden, bis dass der Tod sie scheidet. ABER … hätte der Wunderknabe nicht ein paar lausige Wochen später in ihr Leben treten können, nach den Pfingstferien, nach meinem Besuch bei ihr?

Wochenlang habe ich mich auf die Zeit mit Laura in Paris gefreut. In diesen knapp zehn Tagen, die ich in Paris verbringen werde, möchte ich mit Laura Paris erobern, mit ihr die Sehenswürdigkeiten abklappern, in Cafés rumhängen, shoppen gehen und alberne Dinge machen. Es soll wieder so sein wie früher, oder sogar noch besser. Zwei Freundinnen in Paris. Klingt wie ein Filmtitel, und wie wunderbar könnte das sein!

Aber nun ist da dieser Einstein.

Mit sehr gemischten Gefühlen denke ich an jenes Skype-Gespräch vor gut zwei Wochen zurück, in dem sie den Typen zum ersten Mal erwähnte. Wobei erwähnte es nicht wirklich trifft. Schmachtend und seufzend hat sie ohne Punkt und Komma von ihm geschwärmt:

»Er ist so cool, ich meine, wirklich cool, keiner von diesen Posern, die in Wahrheit nur eingebildet sind. So was hat er gar nicht nötig, denn er ist verdammt schlau, eine echte Intelligenzbestie. Deswegen nenne ich ihn auch Einstein. Er gibt sogar Nachhilfe in Mathe, genau wie du, ist das nicht irre? Nein, nein, er ist keiner von diesen verklemmten Nerds, die nur über komisches Zeug reden, das außer ihnen keiner versteht, so einer ist er nicht. Er interessiert sich für alles, auch für Kunst und Philosophie, er ist … ach, er ist einfach süß! Richtig süß und dabei echt heiß! Aber das Gute daran ist: Er weiß das nicht mal. So ein stilles Wasser, verstehst du? Wir waren zusammen in einem Café, und ich sag dir, da sind Funken geflogen zwischen uns und ich hatte auf einmal das große Flattern und so ein ganz komisches Gefühl im Bauch, wenn ich ihn nur angeschaut habe, und ich habe ihn eigentlich die ganze Zeit angeschaut, ich musste einfach, es war wie ein innerer Zwang …«

So ging das wie ein Wasserfall, ich kam gar nicht zu Wort, was egal war, denn ich hätte sowieso nichts dazu zu sagen gewusst.

Wenn er auf ihre Schule geht, denke ich jetzt, warum ist er ihr dann nicht schon am Anfang des Schuljahres aufgefallen? Dann wäre der Sturm der Gefühle inzwischen vielleicht schon etwas abgeflaut.

Jetzt weiß ich nicht, was mich in Paris erwartet. Ich habe das Gefühl, dass ich zum ungünstigsten Zeitpunkt komme. Wäre es Laura vielleicht sogar lieber, wenn ich zu Hause geblieben wäre? Wird sie mich während der nächsten Tage als lästiges Anhängsel betrachten? Das würde sie natürlich nie zugeben, aber wie kann ich sicher sein, dass sie nicht genau das denkt? Was immer wir unternehmen werden, ich werde mich stets fragen müssen: Wäre sie jetzt lieber mit ihm zusammen? Vielleicht ist er aber auch die meiste Zeit dabei und dann werde ich ihn als lästig empfinden und er mich ebenso. Oder die beiden werden pausenlos Händchen halten und Rumknutschen und ich werde mir vorkommen wie das fünfte Rad am Wagen. Es wird furchtbar werden. Zum Teufel mit diesem Einstein!

Ich merke, wie ich mich innerlich aufrege, mir steigen sogar Tränen in die Augen. Gott sei Dank sieht es keiner.

Mein Handy piept. Eine Nachricht von Laura.

Eeeeeeendlich, ich raste gleich aus! Fahr schneller,

Zug! ☺☺☺☺ Mama freut sich auch schon

tierisch, wir werden am Bahnsteig sein.

♥♥♥♥♥♥♥♥♥♥ xxx

Ich blinzle die Tränen weg und ein Lächeln huscht mir übers Gesicht.

Anna Cornelius, was bist du nur für eine dumme, eifersüchtige Kuh!

Die trüben Gedanken sind wie weggewischt. Wie konnte ich mich nur so reinsteigern in meine Ängste? Was habe ich mir nur gedacht? Kein Junge wird es je schaffen, sich zwischen Laura und mich zu stellen. Nie, nie, nie!

2DER JUNGEAUS DEM ZUG

ANNA

Noch immer ist niemand in meinem Abteil aufgetaucht, abgesehen vom Schaffner, der mein Ticket abgestempelt und mir eine gute Reise gewünscht hat. Vielleicht hat eine ganze Gruppe den Zug verpasst oder ihre Pläne geändert. Mir soll das nur recht sein, ich genieße den Luxus, das Abteil ganz für mich zu haben. So kann ich mir in Ruhe den Reiseführer anschauen, den mir meine Mutter heute früh noch in die Hand gedrückt hat. Ich fand es nett von ihr, deshalb habe ich darauf verzichtet, sie darauf hinzuweisen, dass wir Digital Natives so etwas wie Reiseführer in Papierform nicht mehr benutzen.

Ah, Paris! Diese schönen Bilder. Montmartre, der Louvre, Notre-Dame, der Blumenmarkt, der Eiffelturm, das Seineufer … Nach ein paar Seiten merke ich, dass ich das alles gar nicht lesen will. Nicht jetzt. Laura wird mir schon die tollsten Orte zeigen. Obwohl unsere Interessen bisweilen recht verschieden sind. Die Interessen, aber vor allen Dingen auch unser Temperament.

»Wir sind wie Yin und Yang.« Lauras Worte und da ist was dran. Sie singt im Schulchor, ich bringe nur schräge Töne hervor. Sie ist unglaublich hübsch, mit ihrem herzförmigen Gesicht, den türkisfarbenen Augen, dem kleinen Schmollmund und ihren tollen, rötlichen Haaren. Ich dagegen bin eher Durchschnitt, da muss man sich nichts vormachen. Ich bin in diversen naturwissenschaftlichen AGs, Laura spielt Theater und lernt Klavier. Laura ist impulsiv und aufbrausend, ich eher besonnen und planend. Laura ist der Prototyp eines verwöhnten Einzelkindes, mein Bruder und ich werden kurz gehalten und wir müssen uns alles erkämpfen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Laura und ich überhaupt miteinander befreundet sein können. Manchmal kommt es mir auch eher so vor, als wären wir Schwestern. Und gerade weil wir in der Schule nicht alles zusammen gemacht haben, hatten wir uns immer so viel zu erzählen.

Es gibt natürlich auch Gemeinsamkeiten. Wir hören dieselbe Musik und lieben dieselben Filme und Serien und wir hassten oder mochten dieselben Leute an der Schule.

Ob ich ihren Freund wohl nett finde? Bestimmt, wir haben ja auch meistens denselben Jungs-Geschmack.

 

Ich muss eingeschlafen sein, denn ich werde wach, als jemand mit einem Rums die Abteiltür öffnet. Ein riesiger Rucksack schiebt sich herein und eine männliche Stimme fragt. »Excusez-moi, est-ce que c’est libre ici?«

»Bitte?«

»Oh, Verzeihung. Ist hier noch ein Platz frei?«, tönt es in leicht schwäbisch eingefärbtem Deutsch, und hinter dem Riesenrucksack kommt ein schmales, blasses Gesicht zum Vorschein. Ein Junge, etwa so alt wie ich.

»Sieht so aus«, murmele ich, wenig begeistert, nun doch noch Gesellschaft zu bekommen.

»Ausgezeichnet. Ich bin nämlich auf der Flucht.«

»Vor dem Schaffner? Der war schon hier«, sage ich. »Aber sein französischer Kollege wird sicher auch noch vorbeischauen, also versteck dich lieber auf dem Klo.«

»Was? Nein!« Er schüttelt den Kopf und lacht. »Ich bin kein Schwarzfahrer. Ich flüchte vor der fröhlichen Rentnertruppe in Wagen 9, die schon einiges intus hat, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Alles klar.« Mein Mitgefühl hat er. Ich deute auf die Plätze mir gegenüber. »Freie Auswahl. Und ich lärme und trinke nicht. Jedenfalls nicht in Zügen.«

»Indianerehrenwort?«

Ich hebe zwei Finger und grinse. Der scheint ja ganz okay zu sein.

»Wunderbar!« Er stellt seinen Rucksack neben meinen Koffer, lässt sich auf den mittleren Sitz fallen und seufzt erleichtert auf.

»So schlimm?«, frage ich.

»Schlimmer!«

Es gibt ein dankbares Lächeln für die edle Retterin, die ihn möglichst unauffällig von oben bis unten mustert.

Schwer zu glauben, dass der Typ aus Wagen 9 kommt. Wenn man mich fragen würde, würde ich sagen, der kommt direkt aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Diese Klamotten! Grau kariertes Tweedsakko mit ledernen Flicken an den Ellbogen, darunter ein leicht vergilbtes Leinenhemd mit abgewetztem Kragen, senffarbene, an manchen Stellen ebenfalls schon leicht fadenscheinige Cordhosen, die ohne diese unsäglichen Hosenträger bestimmt an ihm herabrutschen würden. Bloß das nicht! Man mag sich nicht ausmalen, was für ein bizarres Textil der Herr Zeitreisende wohl darunter trägt. Fehlt eigentlich nur noch die Pfeife im Mundwinkel, und fertig ist die Karikatur des englischen Landadeligen. Oder habe ich was verpasst? Ist Retro gerade ganz groß angesagt, ganz Paris läuft so herum und nur ich habe nichts davon mitgekriegt? Denkbar ist das. Denn mal ehrlich, was verstehe ich denn schon von Mode?

Da ich ihm Ruhe versprochen habe, beschließe ich, stillschweigend mein Gehirn zu füttern. Ich hole das Magazin, das ich mir am Bahnhof gegönnt habe, aus dem Außenfach meines Koffers.

Mein Gegenüber fischt ebenfalls Lesestoff aus den Tiefen seines Rucksacks hervor und wuchtet diesen dann auf die Gepäckablage.

Ob mein Koffer auch da rauf soll?

Sehr aufmerksam, der junge Lord. »Ja. Warte ich helfe dir.«

»Lass nur, ich hab’s gleich«, ächzt er. Schon passiert. Dabei sieht er gar nicht aus wie ein Muskelprotz. Sicher alles nur eine Frage der Technik.

Ich bedanke mich, er setzt sich wieder hin und fährt sich mit den Händen ein paarmal ordnend durch sein Haar, was allerdings nicht viel bringt, seine Frisur erinnert immer noch an einen Wischmopp. Irgendwie riecht das Abteil seltsam, seit er hier ist. Es riecht wie … es riecht … ich komm gleich darauf … es riecht so ähnlich wie der Schrank auf unserem Dachboden, wenn man ihn öffnet.

Er pflanzt sich einen Kopfhörer zwischen sein Haargestrüpp. Hört sich nach monotonem Elektro an. Und was lesen Euer Lordschaft denn so? Ich schiele neugierig hinter meinem Heft hervor: The Quantum Theory of Light.

Das ist ja interessant.

Ich widme mich nun ebenfalls wieder meiner Lektüre.

Neue Galaxien hinter der Milchstraße gefunden Forscher finden 100 Milliarden Sterne

Bislang hat der Staub der Galaxien die Sicht behindert. Nun jedoch ist es Wissenschaftlern von der Universität Western Australia in Perth gelungen, durch den Sternennebel hindurchzusehen, den die Milchstraße verursacht. Mithilfe des Teleskops CSIRO Parkes gelang es, die noch völlig unentdeckte Region, die hinter unserer Milchstraße liegt, näher zu erforschen. Die 883 Galaxien sind nur 250 Millionen Lichtjahre entfernt, was eine für astronomische Verhältnisse eher geringe Entfernung darstellt. Mit ihrem Fund können die Forscher ein Phänomen aufklären, das sich der Große Attraktor nennt.

Der Große Attraktor. So, so.

Konzentration, wenn ich bitten darf!

Gar nicht so einfach. Ich spüre, wie er mich ansieht. Als ich ohne Vorwarnung aufschaue, kreuzen sich unsere Blicke.

Gerade, dichte Wimpern. Bernsteinfarbene Pupillen.

Der Anstand verlangt es, beizeiten wieder wegzusehen, aber es vergehen zwei, drei Sekunden, ehe ich mich wieder um die jüngsten Erkenntnisse der Astrophysik kümmern kann. Das Weltall tanzt mir vor den Augen herum. Durchatmen!Dir wird doch jetzt nicht schlecht werden?