Paris und die Mörder der Liebe - Frédéric Breton - E-Book + Hörbuch

Paris und die Mörder der Liebe E-Book und Hörbuch

Frédéric Breton

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  • E-Book-Herausgeber: GMEINER
    Hörbuch-Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Paris bei Nacht. Ein Partyboot kracht gegen einen Brückenpfeiler am Pont Neuf. Die Gäste, alle Mitarbeiter eines Social-Media-Konzerns, der sich durch eine Dating-App am Markt etabliert hat, wurden offenbar durch Liquid Ecstasy betäubt. Auch ein Todesopfer ist darunter: die Lobbyistin Laetitia Vicault - ein Versehen? Als kurz darauf sämtliche User-Daten und Chatverläufe der Dating-App veröffentlicht werden, kommen verheimlichte Affären, verschwiegene Seitensprünge und Sexbeziehungen der Pariser Bevölkerung ans Tageslicht. Ein Fall, der für Kommissar Lafargue zu einem persönlichen Albtraum wird.

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Seitenzahl: 305

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Zeit:7 Std. 19 min

Sprecher:Sebastian Dunkelberg

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Frédéric Breton

Paris und die Mörder der Liebe

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Beboy / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7154-4

1

Es ist verboten, Träume zu zertrampeln. Laetitia Vicault wusste nicht, weshalb sie ausgerechnet jetzt an das selbst gemalte Schild denken musste, das all die Jahre an ihrer Kinderzimmertür gehangen hatte. »Il est interdit de piétiner les rêves.« Damals hatten sich die meisten Menschen in ihrem Umfeld brav an diese Aufforderung gehalten. Doch in der sogenannten Erwachsenenwelt scherte sich niemand mehr darum.

Laetitia trank einen letzten Schluck aus ihrem Glas und analysierte die tanzende Menge. Es waren nur wenige Frauen an Bord. Umso geballter drängten sich die männlichen Mitarbeiter beim Tanz um die wertvolle Ware.

Hemingway blieb von dem Treiben unbeeindruckt. Stoisch lag der Pudel zu ihren Füßen auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Laetitia lächelte zufrieden. In seiner Authentizität verkörperte das Tier für sie das komplette Gegenteil der Businessmenschen um sie herum.

Laetitia wusste, dass es eine kleine Provokation gewesen war, ihren Hund mitzunehmen, doch sie war inzwischen in einer Position, in der sie sich solche Dinge erlauben konnte. Außerdem sollte man in einem Unternehmen, in dem es ein Bällebad, einen Kickertisch und eine Carrera-Bahn gab, auch mit einem Pudelmischling klarkommen.

Wie sehr sie damals von diesen Dingen fasziniert gewesen war. Von dem Fitnessstudio, den Meditationskursen, den Power-Nap-Kabinen und den Mittagsdiscos.

Heute fand sie die Tatsache, dass das Unternehmen, für das sie arbeitete, über eine eigene »Happiness-Abteilung« verfügte, die ausschließlich für das Wohlbefinden der Angestellten zuständig war, reichlich absurd. Die Menschen hier waren vielleicht happy, aber glücklich waren sie nicht. Von dem erhabenen Gefühl, Teil einer digitalen Avantgarde zu sein, war kaum mehr etwas übrig geblieben. Alle Träume zertrampelt. Und jetzt war auch noch das Weinglas leer. Vorsichtig schaute Laetitia hinüber zur Bar. Von den Blicken, die Dominique ihr schon den ganzen Abend zuwarf, fühlte sie sich nahezu physisch bedrängt. Weshalb musste dieser Typ ausgerechnet hier als Servierkraft arbeiten? War seine Anwesenheit Zufall, oder hatte er sich nur deshalb diesen Job zuweisen lassen, weil er wusste, dass sie hier sein würde? Er trug mal wieder einen seiner schwarzen Rollkragenpullover. Eine existenzialistische Anmutung, wie er wahrscheinlich dachte. Dabei waren die 60er Jahre längst vorbei.

Laetitia stellte sich unauffällig in die Schlange. Bisher hatte sie eine direkte Konfrontation mit dem verkappten Schriftsteller vermeiden können, doch diesmal drängte er sich forsch an den anderen Servicekräften vorbei, um sie persönlich zu bedienen.

»Magst du noch einen Muscadet?«

Dominique sah schlecht aus. Sein Gesicht war fahl, seine Haut wirkte seltsam übersäuert. Laetitia hielt ihm schweigend ihr Glas hin und nickte. Woher auch immer er wusste, dass sie Muscadet getrunken hatte.

Während Dominique einschenkte, scannte er sie von oben bis unten ab. Er zog sie förmlich mit seinen Blicken aus. Zumindest fühlte es sich so an. Sie musste dringend hier weg. Wie konnte man nur so grausam sein und eine Party auf einem Schiff veranstalten? Ein Ort wie in einem Horrorfilm. Niemand konnte fliehen. Wieso tat man so etwas? Nur um hinterher stolz verkünden zu können, dass die Feier so gut gewesen war, dass alle bis zum Schluss geblieben waren?

»Wie geht’s dir denn?«

»Gut«, log Laetitia knapp, nahm Dominique das Glas aus der Hand und drehte ihm direkt wieder den Rücken zu. Und das, obwohl sie eigentlich früher eine Meisterin des Small Talks gewesen war.

»Lass dir den Wein schmecken«, rief er ihr hinterher, »ich habe ihn mit Liebe eingeschenkt!« In seiner Stimme lag etwas Wahnsinniges. In der Spiegelung der Fenster konnte sie sehen, wie er sich den Schweiß von der Stirn tupfte.

Sie wollte gerade zurück zu ihrem Tisch, als plötzlich die Musik verstummte. Sie blickte zum DJ-Pult, hinter dem gerade noch ein junger Mann mit großen Kopfhörern gestanden hatte. Jetzt lag er am Boden. Offenbar war der DJ ohnmächtig geworden und hatte bei seinem Sturz die Plattennadel vom Teller gerissen. Blut sickerte aus einer Platzwunde. Paralysiert sah Laetitia zu, wie einige ihrer Kollegen zu dem reglosen Körper eilten. War es die Sorge um ihren Mitmenschen oder vermissten sie schlicht die Musik?

Aus dem Stimmengewirr hörte sie immerhin heraus, dass der Mann noch lebte.

Laetitia wollte helfen, doch sie konnte nicht. Sie versuchte, das Deck zu überqueren, aber der dichte Wald aus Anzugmenschen erschien ihr undurchdringlich. Am liebsten hätte sie sich eine Machete genommen, um sich ihren Weg durch die schwitzende Menge zu bahnen. Laetita wunderte sich noch über ihre absonderlichen Gedanken, als sie plötzlich von einem heftigen Schwindel ergriffen wurde. Sie hätte den letzten Joint nicht anrühren sollen, dachte sie, und trank einen großen Schluck von dem kühlen Muscadet, in der Hoffnung, das süffige Getränk würde vielleicht ihren Kreislauf ankurbeln, doch das Gegenteil war der Fall.

Laetitia verspürte das unbändige Verlangen, sich zu setzen. Sie drehte sich um sich selbst und hielt Ausschau nach einem freien Stuhl. Aber da war kein Stuhl. Da war überhaupt nichts mehr. Die Konturen der Dinge verloren ihre Form und damit ihre Bedeutung. Ihr Gehirn war offenbar nicht mehr in der Lage, die Informationen des Lichts, das Millisekunde für Millisekunde auf ihre Netzhaut prallte, in ein verständliches Bild ihrer Umwelt zu verwandeln. Sie senkte den Kopf und versuchte, einen konkreten Punkt zu fixieren, der ihr Halt geben würde. Doch ein schmerzhaft lauter Knall, der das ganze Schiff erschütterte, hielt sie sogleich davon ab. Laetitia stürzte. Das Glas zersprang. Der Hund bellte. Erschöpft krabbelte sie über die Planken, und auf einmal tat sich ein Loch vor ihren Augen auf. Sie blickte in die Dunkelheit. War das etwa ein Kaninchenbau? Neugierig kletterte sie hinein. Ein Stück weit verlief der Gang geradeaus, wie ein Tunnel, aber dann senkte er sich so plötzlich nach unten, dass sie nicht mehr anhalten konnte. Laetitia befand sich nun im freien Fall. Sie fiel tief und immer tiefer. Krampfhaft versuchte sie, sich selbst und die Wirklichkeit festzuhalten, doch es wollte ihr nicht gelingen. Wie gut, dass Hemingway ihr nicht hinterher gesprungen war, dachte sie noch. Schließlich kannte er die ganze Wahrheit.

2

Nur weil allen bekannt war, dass Gustave Lafargue kein Privatleben hatte, war das noch lange kein Grund, ihn zu behandeln wie den personifizierten Kriminaldauerdienst. Er hatte einen festen Schlafrhythmus und reagierte äußerst sensibel, wenn er vor dem planmäßigen Weckerklingeln von irgendjemandem oder irgendetwas zum Aufstehen genötigt wurde. Zumal er mit seinen 54 Jahren auch nicht mehr das war, was man gemeinhin das »blühende Leben« nannte. Nachdem er am frühen Morgen vom schrillen Klang seines Mobiltelefons aus seiner heiligen Tiefschlafphase gerissen worden war, wusste er also, dass dies unmöglich ein guter Tag werden würde.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich Henri Le Rouge, ein kleiner, etwas übergewichtiger Streifenpolizist, der dem Alkohol nicht abgeneigt war und stets Lafargue privat anrief, wenn er während seiner nächtlichen Fahrten durch Paris auf irgendeine Bagatelle gestoßen war, die er für ein großes Verbrechen hielt.

»Ein Schiff hat einen Brückenpfeiler touchiert. Unten am Pont Neuf.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Sieht nach einem Mordanschlag aus.«

»Was? Wieso? Ist die Brücke tot?« Lafargue schämte sich für seinen müden Witz.

»Da waren jede Menge Menschen an Bord. Das war eines dieser Partyschiffe. Irgendwelche Internet–Freaks haben da ihr Betriebsfest gefeiert. 85 Verletzte und eine Tote.«

»Wie bitte?« Lafargue fragte sich, ob Henri Le Rouge mal wieder seinem Namen alle Ehre gemacht und ein Glas Rotwein zu viel getrunken hatte, der seine Nase in einer gewissen Regelmäßigkeit bordeauxrot leuchten ließ, oder ob doch etwas Wahres in diesen wirren Worten lag.

»Ja. Wenn ich’s doch sage!«, raunzte er.

»85 Verletzte und eine Tote, weil das Schiff einen Brückenpfeiler touchiert hat?«

»Nein, die sind vergiftet worden. Meinen die Rettungssanitäter.«

Die Welt wurde immer verrückter. Inzwischen analysierten also schon die Rettungssanitäter den Tathergang.

Trotz aller Unlust zog sich Lafargue an und fuhr hinunter zur Seine, wo bereits drei Krankenwagen mit Blaulicht im morgendlichen Raureif standen und in der Kälte auf weitere Verletzte warteten. Der Pont Neuf, die neue Brücke, war in Wahrheit die älteste Brücke von Paris. Irgendein Henri hatte sie erbauen lassen. Lafargue wusste nicht mehr genau, welcher. Henri Le Rougewar es jedenfalls nicht gewesen.

An Deck der beschädigten Saint Amour bot sich dem Kommissar ein bizarres Bild: Zahlreiche Businessleute lagen regungslos auf dem Boden herum. Scherben zersprungener Weingläser reflektierten ihre bunten Spektralfarben in einer unangebrachten Heiterkeit in das gräuliche Entsetzen des Todes hinein. Irgendwo bellte ein Hund.

Männer in Anzügen hatten Lafargue eigentlich noch nie sonderlich interessiert. Er konnte nicht verstehen, was an Uniformität so reizvoll sein sollte. Doch in dem Moment kam auch schon Henri mit der roten Nase auf ihn zu und wollte wissen, wo denn die Kollegen von der Spurensicherung blieben.

»Das sind keine Kollegen!«, schimpfte Lafargue. Der Kommissar hatte noch nie die Spurensicherung gerufen, bevor er nicht selbst den Tatort in aller Ruhe inspiziert und sich ein adäquates Bild vom Ort des Geschehens gemacht hatte. Nicht selten hatte ihm sein Chef für dieses Vorgehen einen heftigen Einlauf verpasst. Lafargue hasste das Wort »Einlauf«, da es ihn jedes Mal wieder an eine unangenehme Darmspiegelung erinnerte, die er vor einiger Zeit über sich hatte ergehen lassen müssen. So oder so hatten die regelmäßigen Standpauken eines wütenden Monsieur Cavallet jedenfalls keinerlei Auswirkungen auf Lafargues Verhalten.

Um nicht ein einzelnes Krankenhaus einer Überlastung auszusetzen, hatte man sich entschieden, die zahlreichen Verletzten auf mehrere Krankenhäuser aufzuteilen. Für eine junge Frau, die laut Ausweis Laetitia Vicault hieß, kam jede Hilfe zu spät.

Unwillkürlich dachte Lafargue über mögliche Motive für einen solchen Anschlag nach, auf ein Unternehmen, das sich selbst den sprechenden Namen Zukunftsagentur gegeben hatte. Die L’agence pour l’avenir, die, wie Henri Le Rouge berichtete, im Februar ihr alljährliches Betriebsfest auf der Seine abhielt, hatte vor einigen Jahren ein soziales Netzwerk an den Start gebracht, das sich primär über den regionalen Charakter definierte. Das Netzwerk richtete sich unter dem Slogan »Nous Sommes Paris« ausschließlich an Pariserinnen und Pariser und setzte damit einen seltsamen Kontrapunkt zur global vernetzten Welt. Die dazugehörige Dating-App, die angeblich die halbe Stadt benutzte, beruhte auf demselben Prinzip: Dating Paris. In einer globalisierten Welt, deren Komplexität niemand mehr durchdringen konnte, sehnten sich die Menschen offenbar nach lokaler Bindung. Sie identifizierten sich mit der Lebenswelt ihres Wohnortes. Auf diese Weise bekam das Netzwerk in Abgrenzung zu den großen amerikanischen Konkurrenzunternehmen einen handgemachten Touch. Die Leute glaubten wohl, Mitglied in einem regionalen Netzwerk zu sein, sei in etwa so, wie im Buchladen um die Ecke einzukaufen anstatt beim Internetgroßkonzern. Dass die Firma in Wahrheit in jeder französischen Großstadt ein »rein lokales« Netzwerk betrieb und damit langsam, aber sicher auf dem besten Weg war, ebenfalls zum Global Playerheranzuwachsen, wurde schlichtweg ignoriert.

Lafargue konnte soziale Netzwerke nicht besonders gut leiden. Hin und wieder schaute er bei Nous Sommes Paris vorbei, um zu sehen, was seine Tochter Capucine so trieb, damit er wenigstens das Gefühl hatte, ein wenig an ihrem Leben teilhaben zu können, doch ansonsten war er in der digitalen Welt ein eher selten gesehener Gast. Er bekam ja noch nicht einmal sein Leben in der realen Welt in den Griff, wieso sollte er sich also ein zweites Leben im Cyberspace zulegen?

Dabei war es nicht so, dass Lafargue dem technischen Fortschritt gegenüber generell abgeneigt gewesen wäre. Die Vorzüge der frei zugänglichen Pornografie kamen ihm durchaus gelegen. Nur ungern dachte er an die Tage zurück, in denen er sich heimlich in der Nacht und möglichst unbemerkt in eine der Schmuddel-Videotheken auf dem Boulevard de Clichy hatte schleichen müssen, um sich die eine oder andere abgenutzte VHS-Kassette auszuleihen, die bereits zahlreiche Männer vor ihm in ihren Händen gehalten hatten. Die Angst, beim routinierten Besuch der Pornovideothek von einer ihm bekannten Person beobachtet zu werden, hatte ihm jedes Mal starke Kopfschmerzen bereitet. Nicht, dass ihm sein Pornokonsum peinlich gewesen wäre, aber er hasste es grundsätzlich, sich vor irgendjemandem für irgendetwas rechtfertigen zu müssen. Schließlich hatte er nicht ohne Grund mit 16 Jahren sein konservatives Elternhaus in der Vendée verlassen, um nach Paris zu ziehen. Seitdem war er im Grunde das, was man einen freien Menschen nannte.

»Fischvergiftung!«, grunzte ein pickeliger Rettungssanitäter, der untätig in der Gegend herumstand und gerade genüsslich in ein Schinken-Käse-Baguette biss. Ein Klecks Mayonnaise hing an seiner bärtigen Oberlippe. Lafargue ekelte sich. Ihm war es über die Jahre immer seltener gelungen, seine Empfindungen für sich zu behalten: Ekel, Missgunst, Wut. Während er früher hatte freundlich aussehen können, obwohl es innerlich in ihm tobte, drang seine Stimmung inzwischen völlig ungefiltert nach außen. Als der Rettungssanitäter merkte, dass Lafargue ihn verständnislos anstarrte, wenn auch weniger wegen der Fischvergiftung als wegen der Mayonnaise, führte er seine Gedanken weiter aus. »Das Buffet war voller Austern und Meeresgetier.«

Es war nur die Mutmaßung eines jungen Rettungssanitäters, doch an die Möglichkeit, es könne sich bei dem »Anschlag« auch um einen mehr oder weniger harmlosen Unfall handeln, hatte Lafargue noch gar nicht gedacht. Nicht zuletzt deshalb, weil Henri Le Rouge den Fall ja bereits automatisch auf die Ebene von Mord und Totschlag gehoben hatte, indem er im Rahmen seiner üblichen Kompetenzüberschreitung ihn angerufen hatte, der nun einmal für die Brigade Criminelle tätig und dort für Tötungsdelikte zuständig war. Sicher wird die Forensik in ein paar Stunden einiges zur Klärung der Umstände beitragen, dachte Lafargue. Er musste sich allerdings ein wenig in Geduld üben, einer Tugend, die er nicht allzu gut beherrschte.

Im nächsten Augenblick wurde er von einem aufgewühlten Pudelmischling aus den Gedanken gerissen, der wie ein junger Wolf in die Nacht hinaus heulte. »Hemingway« stand in geschwungener Schreibschrift auf dem gelben Kunststoffanhänger, der am Halsband hing. Wie eine Angestellte des Unternehmens bestätigte, war es der Hund von Laetitia Vicault gewesen, der nun ein neues Frauchen würde finden müssen. Lafargue hatte sich, sah man von seiner Schwäche für Wildgulasch ab, nie sonderlich für Tiere interessiert, doch dieser kleine Hund mit dem literarischen Namen tat ihm irgendwie leid.

Sein Blick fiel auf den fahlen Leichnam. Er glaubte, die Angst in den Augen der jungen Frau sehen zu können, die ihm von ihrer Ahnung erzählte, im nächsten Augenblick sterben zu müssen. Der Tod hatte nichts Gutes an sich, fand er. Schon gar nicht, wenn ein Gewaltverbrechen ihn verursacht hatte.

Lafargue stand mal wieder inmitten einer menschlichen Tragödie, auch wenn er noch nicht viel über deren Entstehung wusste. Trotz allem versuchte er, irgendeinen positiven Gedanken zu fassen. Und es gelang ihm tatsächlich. Der Kommissar freute sich, bei diesem Fall endlich wieder mit Jinjin zusammenarbeiten zu dürfen.

Offiziell war seine Kollegin gerade für drei Monate beurlaubt und auf einer Weltreise gewesen, doch die Wahrheit sah anders aus. Es war nicht das erste Mal, dass die zerbrechliche Frau in einer Fachklinik für Psychosomatik gelandet war, doch um ihre Karriere im Staatsdienst nicht zu gefährden, wusste bei der Brigadeniemand davon. Außer Lafargue.

3

Als sie Lafargues Namen auf dem Display ihres Smartphones aufleuchten sah, ließ Jinjin Villebert es einfach klingeln. Am Montag würde es wieder losgehen. Aber heute war erst mal das chinesische Neujahrsfest, das neue Mondjahr begann, und das wollte sie sich auf keinen Fall wegen irgendwelcher Tötungsdelikte verderben lassen. Sie wollte sich »ein Stückchen Egoismus« gönnen, so, wie es ihre Therapeutin empfohlen hatte. »Der kleine alltägliche Hedonismus wirkt manchmal Wunder«, hatte sie gesagt. Sollten sich die Menschen doch gegenseitig umbringen, wenn sie unbedingt wollten. Nichts war in Jinjins Augen gerade wichtiger, als den Tag zu genießen und anständig feiern zu gehen. Nach Wochen der Traurigkeit, der Leere und der Lethargie hatte sie das dringende Bedürfnis, sich endlich wieder zu spüren, sich ins Getümmel zu werfen, ein paar Gläser zu viel zu trinken und vielleicht sogar von einem Typen angeflirtet zu werden.

Ihre Dating-Paris-App hatte sie in der Klinik gelöscht. Diese Form des Männer-Shoppings hatte ihr nicht gutgetan. Überhaupt hatte sie alle sozialen Netzwerke auf ihrem Smartphone eliminiert. Es war ihr einfach zu viel geworden: Facebook, Twitter, Instagram, Dating Paris. Sie hatte sich gefühlt wie die personifizierte Profilneurose. Nein, sie wollte mal wieder jemanden im echten Leben kennenlernen, einem Menschen direkt analog in die Augen schauen und ihn nicht anhand eines schnöden Fotos bewerten. Jinjin wollte zurück ins echte Leben, sie wollte sich selbst und der Welt beweisen, dass sie wieder da war, dass sie wieder intakt war, dass die ermattende Traurigkeit endgültig gegen sie und ihren unbändigen Lebenswillen verloren hatte und nun machtlos die weiße Fahne schwang. Dieser Tag war positiv aufgeladen mit der Symbolik des Neuanfangs nach einer langen Phase der Erschöpfung. Morgen würde sie Lafargue zurückrufen und reumütig behaupten, das Handy zu Hause vergessen gehabt zu haben. Doch heute war ein anderer Tag.

Vielleicht wollte der Kommissar aber auch einfach nur wissen, wie es ihr ging, wie sie den Klinikaufenthalt verkraftet hatte, und ob sie nun, frisch entlassen, guten Mutes in die Zukunft blicken würde. Jinjin war es durchaus bewusst, dass sie diesem Mann viel zu verdanken hatte. Vertrauensvoll hatte Lafargue nicht nur ihr zuliebe den Mantel des Schweigens über »die Sache« gelegt, um ihre berufliche Zukunft nicht zu gefährden, er hatte ihr sogar mit Geld ausgeholfen, um den heimlichen Klinikaufenthalt privat finanzieren zu können, damit der Amtsarzt davon nichts erfuhr. Das alles wusste sie sehr zu schätzen. Doch das Risiko, sich an diesem Tag nicht, wie geplant, dem Hedonismus hingeben zu dürfen, war Jinjin einfach zu groß, und so ließ sie ihr Telefon auch beim zweiten Anruf klingeln.

Während Jinjin im Badezimmer stand und sich vor dem Spiegel eine passende Unterwäsche für den Abend auswählte, schämte sie sich ein wenig dafür, dass sie es nicht einmal geschafft hatte, Nicolas die Wahrheit zu sagen. Dem Mann, der ihr seine unbedingte Liebe geschenkt, der sie vergöttert und alles für sie getan hatte.

Weshalb genau sie sich von ihm getrennt hatte, konnte Jinjin kaum noch sagen. Der Anfang vom Ende war wahrscheinlich eine fahrlässige Unterlassung gewesen. Die Unterlassung des Ja-Sagens hatte letztlich alles ins Rollen gebracht. Dieser dämliche Heiratsantrag.

Jinjin schaute ihrem Spiegelbild in die Augen und beschloss, sich von dem Ende dieser Liebe nicht verrückt machen zu lassen. Schließlich war es genau das, was ihr Leben ausmachte: verschiedene Abschnitte, die sich gegenseitig ablösten und dadurch für die nötige Abwechslung sorgten. War nicht alles andere ohnehin spießig und langweilig? Ihr Leben war eben nicht leise und unscheinbar. Ihr Leben war Rock ’n’ Roll, verdammt noch mal. Und das war auch gut so. Höhen und Tiefen waren aufregender als eine gerade Linie. Wenn man sich den Verlauf des Lebens zwischen Anfang und Ende als Faden vorstellte, war doch jener mit den kurvigen Aufs und Abs wesentlich länger als die Ideallinie eines stramm gespannten Fadens. So viel hatte Jinjin aus dem Mathematikunterricht noch behalten: Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten war eine gerade Linie. Wer also Höhen und Tiefen durchmachte, lebte eindeutig länger als der Mensch im linearen Mittelmaß. Und Heiraten war lineares Mittelmaß. Wie war Nicolas nur auf diese fixe Idee gekommen? Merkte er denn gar nicht, dass das alles nur Klischees waren? Heiraten. Ringe. Weiße Kleider. Paris. Immer wieder diese ewige Faszination für diese dreckige Stadt.

Nicolas, der in einem kleinen Dorf fernab der Hauptstadt aufgewachsen war, liebte und lebte diesen albernen Mythos. Das Flanieren durch die Straßen. Das Licht auf dem regennassen Pflaster der Künstlerviertel. Nichts als Kitsch und tote Gefühle. Das konnte man doch heute nicht mehr aufrichtig ernst nehmen.

Andererseits konnte man heute eigentlich überhaupt nichts mehr ernst nehmen. Das war ja vielleicht Teil des Problems. Immer wieder diese ironische Distanz zu allem und jedem, die sämtliche Chancen auf Wahrhaftigkeit tötete.

Manchmal glaubte Jinjin, ihr ursprünglich romantisches Weltbild, das sie sich in Kindheitstagen aus zahlreichen Disney-Filmen zusammengezimmert hatte, für immer am Bahnsteig von Bordeaux zurückgelassen zu haben, gemeinsam mit ihrem kleinen Mickey Mouse-Köfferchen, das sie im Alter von sieben Jahren versehentlich dort hatte stehen lassen.

Jinjin war sich sicher, dass sich Nicolas bald bei ihr melden würde, unaufdringlich und unverbindlich, einfach aus einem ehrlichen und höflichen Interesse heraus, um zu erfahren, wie die Weltreise gewesen war.

Die Gedanken an die Weltreise machten Jinjin Angst. Wahrscheinlich würde Nicolas Fotos sehen wollen. Kurz durchfuhr sie das ungute Gefühl, sich aus dem statisch fragwürdigen Lügengerüst, das sie sich so mühsam aufgebaut hatte, nie wieder würde befreien können. Sie hatte sich ein mehrstöckiges Kartenhaus errichtet, das eines Tages definitiv einstürzen würde.

Jinjin ärgerte sich über sich selbst, über Nicolas und ein wenig auch über ihre toten Eltern, die sie vor über 30 Jahren völlig ungefragt in diese unperfekte Welt geworfen hatten. Dann entschied sie sich für die fliederfarbene Spitzenunterwäsche, die sie für besonders aufreizend hielt. Wer immer sie heute zu Gesicht bekommen würde, sollte es nicht bereuen. Jinjin begehrte schließlich nichts mehr als das Gefühl, begehrt zu werden.

4

Als Nicolas Mercier die Schädeldecke aufsägte und das Blut seine Latexhandschuhe benetzte, musste er an seine Ex-Freundin denken. Keine einzige Karte hatte Jinjin ihm geschrieben, während sie durch die Länder dieser Erde gestreift war. Insgeheim hatte er gehofft, dass sie auf diesem Selbstfindungstrip nicht nur zu sich, sondern auch zurück zu ihm finden würde, doch alle bisherigen Zeichen sprachen dagegen.

Bereits vor einer Stunde hatte Nicolas der Toten eine reichliche Menge Blut und Urin entnommen und seine Assistentin Mademoiselle Merque gebeten, die Proben mikrobiologisch zu untersuchen und sie toxikologisch zu bestimmen. Leider war Mademoiselle Merque weder die Schnellste noch die Hellste, und so spürte er bereits einen Hauch von Ungeduld in seinem Innern aufsteigen, zumal sich inzwischen herausgestellt hatte, dass Herz, Lunge und Hirn in Form, Farbe und Konsistenz auf den ersten Blick eher unauffällig waren und keinerlei Licht ins Dunkel zu bringen versprachen.

Fast beiläufig, aber mit präzisen Stichen, nähte Nicolas den Brustkorb der Toten wieder zu. Dann tastete er in seiner Tasche nach dem Telefon. Sollte er Jinjin anrufen und sie zum Abendessen einladen? Er war sich immerhin sicher, dass sie seinen Spaghetti Vongole nicht würde widerstehen können. Das hatte sie noch nie gekonnt. Oder sollte er lieber abwarten, ob sie sich bei ihm melden würde? Vielleicht war das weniger aufdringlich?

Oder aber feige. Wenn Nicolas eines hasste, dann waren es Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Menschliche Beziehungen unter Lebenden kamen ihm so unendlich viel komplizierter vor als die wenigen Dinge, die es in der Welt der Toten noch zu klären galt.

Das Absurde war, je wissenschaftlicher er die Frage anging, die ihn am meisten quälte, desto weniger konnte er sie beantworten. Was hatte ihre Liebe zerstört? Woran war sie zerbrochen? Wie genau lautete die Todesursache?

»Sie wurde vergiftet«, erklärte Mademoiselle Merque, die gerade aus dem Labor kam. War es tatsächlich möglich, dass ihre Liebe vergiftet worden war? Aber von wem? Von ihm selbst? Von Jinjin? Oder vom Zeitgeist? Mademoiselle Merque wedelte mit einem Zettel vor seinem Gesicht herum. »Die toxikologische Untersuchung. Das Blut von Laetitia Vicault. Darum hatten Sie mich doch gebeten. Die Frau wurde vergiftet.«

5

Während Zoé Arquette schnellen Schrittes das Ufer der Seine entlang lief, vorbei an der Place de la Concorde, dem Grand Palaisund dem Palais de Tokyo, ging sie in ihrem Kopf wieder einmal ihre lange Liste der Krebstoten durch: Maman, Grand-mère, Patrick Swayze, Onkel Olivier, Monsieur Vidal, Luciano Pavarotti, der Nachbar von obendrüber, der junge Kneipenbesitzer aus der Rue Lamarck, David Bowie, der Bruder von Franck, die Mutter von Franck, Alan Rickman, Susan Sontag. Zoé hasste den Krebs.

Wie konnten die Menschen das Unaufhaltsame nur ignorieren? Manchmal glaubte Zoé, die Einzige auf diesem Planeten zu sein, die der Verdrängung des Todes nicht mächtig war. Weshalb fehlte ihr dieser essentielle Überlebensmechanismus? Es schien ihr, als würden alle um sie herum stets nur tanzen und lachen, ihr Leben lang. Doch Zoé konnte das nicht. War sie denn wirklich die Einzige, die sich in aller Konsequenz vergegenwärtigen konnte, dass sie eines Tages sterben würde? Die Hybris ihrer Freunde, die glaubten, sie würden mindestens 80 Jahre alt, kotzte sie an. Immer wieder schlug der Tod allzu früh zu, und immer wieder traf er die Falschen.

Außer bei Laetitia.

Zoé merkte, wie sie immer schneller wurde. Als Kind hatte sie gelesen, dass Menschen, die schnell liefen, länger lebten. Es war kalt in Paris und Zoé vergrub ihre Hände tief in ihren Manteltaschen. Handschuhe hatte sie noch nie sonderlich gemocht. Sie mussten unnötig mitgeschleppt werden, störten meist nur und waren doch im Grunde vom Beginn ihrer Existenz an dazu verdammt, eines Tages verloren zu gehen.

Der karge Holzstuhl im Besprechungszimmer der Terre Vierge war hart. Für eine Firma, die »Neuland« hieß, war das eine ganz schön altbackene Sitzgelegenheit. Von Ergonomie keine Spur. Nervös wippte sie mit ihrem Fuß auf und ab. An der Wand hingen die hellblauen Werbeplakate des Unternehmens, von denen Ella Campbell herablächelte, die Leiterin des Instituts. Dann endlich kam der Humangenetiker, der mit Zoé vor acht Wochen das Aufklärungsgespräch geführt hatte. Behutsam hatte er sie in die Technologie und Terminologie der Genomanalyse eingeweiht. Sie solle sich für ihre Entscheidung Zeit nehmen, hatte er gesagt. Heute, am Tag des Abstrichs, wirkte er ungemütlicher.

Er gab ihr eilig ein steriles Wattestäbchen, das sie sich in den Mund stecken und über ihre Zunge reiben sollte. Zoé war fasziniert von der Tatsache, dass alles, was den Menschen ausmachte, in irgendwelchen Aminosäure-Sequenzen gespeichert war. Doch so richtig begreifen, dass diese ganzen Informationen auf ein einziges Wattestäbchen passen sollten, konnte sie bis heute nicht. Daran sollte sich die Computerindustrie mal ein Beispiel nehmen, dachte sie. Deren Datenträger waren zwar auch nicht mehr so groß wie in den 90ern, aber bei Weitem nicht so klein wie eine Körperzelle vollgestopft mit DNA.

»Das war’s auch schon«, sagte der Humangenetiker, lächelte sie väterlich an und steckte das Wattestäbchen in einen laminierten Briefumschlag.

»Sie hören dann von uns.«

»Danke.«

Fast eine Stunde hatte das Einführungsgespräch vor acht Wochen gedauert, und die eigentliche DNA-Abgabe war nun in weniger als zehn Minuten abgehandelt worden. Zoé war sich noch immer nicht sicher, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. Was, wenn der Test ihr klarmachen würde, dass sie tatsächlich ein erhöhtes Brustkrebsrisiko in sich trug? Alles war besser als diese ewige Ungewissheit, dachte sie dann, zog ihren Mantel an und verließ das Gebäude.

6

Gute Gene sind nicht alles, dachte ich, während das Wasser auf meinen Körper niederprasselte. Es gehörten auch Disziplin und Training dazu. Mit dieser Rezeptur war es gar nicht so schwer, die psychologischen Mechanismen der interpersonalen Attraktion für sich nutzbar zu machen. Der Mensch war ein ziemlich unterkomplexes Wesen. Was so ein bisschen Sport doch ausmachte. Lediglich zwei Stunden hatte ich heute trainiert. Die Bauchpartie war das Wichtigste. Ein bisschen Bizeps schadete auch nicht, aber in Relation zu den Muskelpartien an Bauch, Rücken und Schultern waren die Oberarme fast zu vernachlässigen. Als Kind hatte ich Sport verabscheut. In der Schule war ich immer einer von denen gewesen, die als Letzter in die Mannschaft gewählt worden waren. Klein und dick. Heute sah die Welt anders aus. Nicht ohne Stolz schaute ich an meinem Körper herunter. Die Selbstoptimierung hatte sich gelohnt. Eigentlich war die Sache mit dem Abnehmen trivial. Man musste einfach nur mehr Energie verbrauchen, als man zu sich nahm. Messen und handeln.

Ich liebte diese hochentwickelte Zeit, in der man sein ganzes Leben in Zahlen ausdrücken konnte. Die Vermessung der Welt und die Vermessung des Selbst waren einfacher als je zuvor: »Quantify Your Life!«, war für mich der Schlachtruf einer Revolution. Wir konnten alle besser werden. Wir mussten es nur wollen. Eine Welt ohne Fitnesstracker konnte ich mir kaum mehr vorstellen.

Beim Gedanken daran, was ich heute noch so treiben würde, bekam ich eine Erektion und musste mich zwingen, an etwas anderes zu denken. Ich wusch mir das Shampoo aus dem Haar und rasierte mir die Stoppeln unter den Armen, auf der Brust und im Schambereich. Ich konnte Haare an meinem Körper nicht ertragen. Alles sollte glatt sein. Ich machte die Dusche aus und trocknete mich ab. Natürlich hatten es meine Altersgenossen mit ihren Dating-Apps deutlich leichter als ich, der dazu verdammt war, sich im Real Life umzusehen. Digitale Spuren zu hinterlassen, war keine Option. Das war manchmal anstrengend und ärgerlich, aber so lauteten eben die Regeln des Spiels, die ich zu akzeptieren hatte.

Ich achtete stets darauf, Kleidung zu tragen, die meine Muskeln zur Geltung brachte, damit die Frauen keine Angst haben mussten, die sprichwörtliche Katze im Sack zu kaufen. Sie sollten sehen, was ich zu geben in der Lage war. Ich konnte es mir inzwischen leisten, meine Kleidung stets eine Nummer zu klein zu tragen, sodass sich die relevanten Muskelpartien unaufdringlich, aber doch deutlich, in den Textilien abdrücken konnten.

Ich hatte noch nie Sex mit einer Asiatin gehabt, doch ich war mir sicher, dass heute, beim chinesischen Neujahrsfest, der Tag gekommen war. Chinesinnen hatten wenigstens noch Schamgefühl, und glaubte man den zahlreichen Pornovideos, auch die gleichnamige Behaarung.

Kurz fragte ich mich, ob solche Gedanken rassistisch waren, legitimierte sie dann aber sogleich, indem ich mich auf die vorgegebenen Kategorien diverser Pornoplattformen berief, die mein Denken eben prägten. Was sollte ich dagegen tun?

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Während Lafargue aus seinem kleinen Bürofenster blickte und den roten Drachen am Ufer der Seine entlang schreiten sah, glaubte er für einen Augenblick zu träumen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass das Fabelwesen wohl in Richtung des zwölften Arrondissements unterwegs war, wo die asiatische Community heute den Jahresbeginn feierte.

Lafargue konnte mit dem menschlichen Bedürfnis, sich zu verkleiden, nicht allzu viel anfangen. Für ihn strahlten verkleidete Leute eine tiefe Traurigkeit aus. Vielleicht, weil die Menschen ohnehin jeden Tag Masken trugen. Lafargues Job war es, ihnen diese Masken Stück für Stück zu entreißen, um zum wahren Kern vorzudringen, und nicht dabei zuzusehen, wie sie sich noch weiter von einem authentischen Selbst entfernten, indem sie unter irgendwelchen Kostümen verschwanden.

Im Versuch, seine Gedanken zu sortieren, starrte er auf die Raufasertapete seines Büros. Lafargue verabscheute diesen Anblick. Er hatte einmal gelesen, dass es ein Deutscher gewesen war, der die Raufasertapete erfunden hatte. Das wunderte ihn nicht. Das Nachbarland war schließlich noch nie für sein sonderlich ausgeprägtes Stilbewusstsein bekannt gewesen. Aber wieso, um alles in der Welt, hing diese verschissene deutsche Tapete an den Wänden einer französischen Behörde und machte ihm damit das Leben schwer?

Wenigstens hatten sich alle Mitarbeiter der Brigade Criminelle, die über ein eigenes Büro verfügten, im letzten Jahr in der städtischen Artothek einen hochwertigen Kunstdruck als Dauerleihgabe aussuchen dürfen, um die Arbeitszufriedenheit und damit wohl auch die Effizienz zu steigern, weshalb nun ein Gemälde von Salvador Dalí in seinem Zimmer hing. Lafargue hatte schon immer ein Faible für die surrealistischen Künstler des 20. Jahrhunderts gehabt, für die Welt der Träume und des Unbewussten. Manchmal überlegte er, wie es wohl wäre, wenn man während der Ermittlungsarbeit nicht nur die Wohnungen und Büros der verdächtigen Personen betreten könnte, sondern auch deren Träume. Eine Spurensicherung im Unbewussten würde die Wahrheit sicher schneller an die Oberfläche befördern als so manche DNA-Analyse.

Doch Lafargue mochte nicht nur das Bild, sondern auch den Titel des Werkes, über den sich sein Chef immer wieder so köstlich aufregen konnte. »Der große Masturbator« stand in schwarzen Lettern auf dem kleinen Messingschild, das an dem vergoldeten Holzrahmen angebracht war. Die kleinen Provokationen des Alltags bescherten ihm immer wieder eine fast kindliche Freude.

Wie zur Strafe klopfte es in dem Moment an seiner Tür, und Monsieur Cavallet zitierte ihn in den Besprechungsraum. Sein Chef hatte inzwischen eine Ermittlungskommission einrichten lassen, die Lafargue leiten sollte, und der neben allen möglichen Erkennungsdienstlern, Kriminaltechnikern und Cybercrime-Freaks auf Lafargues Wunsch hin auch Jinjin angehören würde.

Im Besprechungsraum fiel sein Blick auf den Tageskalender, der an der Wand hing. Die fett gedruckte Zahl, die dort stand, setzte ihn umgehend unter Druck. In fünf Tagen war er mit seiner Tochter verabredet. Das hatten sie bereits vor Monaten vereinbart. Der Urlaub war längst eingereicht, doch Lafargue wusste genau, wenn es ihm nicht gelingen würde, das Verbrechen, das auf dem Schiff begangen worden war, rechtzeitig aufzuklären, würde er als Leiter der Ermittlungskommission unmöglich auf seinen Urlaub bestehen können. Mühsam hatte er Capucine überredet, gemeinsam ein paar Tage in seinem Elternhaus in der Vendée zu verbringen, um sich endlich wieder anzunähern. Viel zu lange hatte er darum gebettelt. Eine Absage würde sie in ihrer Antihaltung gegenüber ihrem Vater, der in ihren Augen niemals Zeit für sie hatte, nur bestätigen, und das durfte auf keinen Fall passieren.

Monsieur Cavallet fasste die ersten Erkenntnisse zusammen. Offenbar war Laetitia Vicault, das kollaterale Opfer des Anschlags, eine aufstrebende Mitarbeiterin der L’agence pour l’avenir gewesen, die bei Berufseinsteigern inzwischen unter den Top Ten der beliebtesten französischen Arbeitgeber rangierte. Auf ihrem Blog Laetitia im Wunderland hatte sie Anekdoten aus ihrem Berufsalltag geschildert. Auch wenn der letzte Eintrag schon ein paar Monate alt war, schien sie stolz zu sein auf das, was sie da tat. Laetitia hatte in nur wenigen Jahren eine beachtliche Karriere hingelegt und es vom Volontariat über die Pressesprecherin bis hin zur Lobbyistin gebracht, die bis zuletzt auch in Brüssel unterwegs gewesen war, um dort Einfluss auf Datenschutzrichtlinien zu nehmen.

Laetitia starb mit 34 Jahren. Viel zu jung, wie Lafargue fand, auch wenn er gar nicht so viel für das Leben im Allgemeinen übrig hatte.

Laetitia hinterließ weder Mann noch Kind. Die Karriere hatte ihr Leben dominiert. Monsieur Cavallet hatte bereits ihre Eltern vom Tod der Tochter in Kenntnis gesetzt, und Lafargue war froh, dass ihm diese Aufgabe erspart geblieben war. Er begriff sich selbst als nicht besonders geschickt im zwischenmenschlichen Umgang mit unschönen Wahrheiten. Manche hielten das für mangelnde Sensibilität, doch das Gegenteil war der Fall.

Wieder dröhnte sein Smartphone. Er musste unbedingt herausfinden, wie man diesen grässlich scheppernden Klingelton änderte. Auf dem Display stand allerdings nicht »Jinjin«, wie er es sich erhofft hatte, es war die Nummer vom Institut Médico-Légal.

»Gamma-Hydroxybuttersäure«, erklärte Nicolas am anderen Ende der Leitung.

Im Kopf des Kommissars ratterte es. Liquid Ecstasy wurde wegen seiner sedierenden Wirkung häufig jungen Frauen ins Getränk gemischt, um sie gefügig zu machen. Meist erinnerten sich die Betroffenen am nächsten Tag nicht einmal mehr an den Sex, sodass sie die Vergewaltigung äußerst selten überhaupt zur Anzeige brachten. Manchmal schämten sie sich für ihren Blackout, den sie auf ihren übermäßigen Alkoholgenuss zurückführten, und beschuldigten sich selbst eines unbedachten One-Night-Stands, wenn sie am nächsten Morgen durch Unterleibsschmerzen, Spermareste oder andere Indizien feststellten, dass sie in der Nacht Sex gehabt haben mussten. Zumal die Symptome nach dem Konsum von Liquid Ecstasy denen eines heftigen Katers glichen, was vielen Frauen ein vermeintlich schlüssiges Bild der vergangenen Nacht vermittelte. Die Dunkelziffer der auf diese Weise vergewaltigten Frauen war enorm hoch. Vielleicht hatte der Tod von Laetitia Vicault also gar nichts mit der Ohnmacht der anderen Gäste zu tun? Hatte einer ihrer Kollegen sie gefügig machen wollen und die Dosierung falsch eingeschätzt?

»Ich habe auch schon mit den Krankenhäusern telefoniert«, zerstörte der Rechtsmediziner seinen Gedanken sofort. »Deren Laboranalysen decken sich mit meinen: Sämtliche Mitarbeiter, die dort behandelt wurden, haben Gamma-Hydroxybuttersäure im Blut. Hat sich Madame Campbell von der Terre Vierge denn schon gemeldet?«

»Leider nein.« Lafargue ärgerte es, dass die kriminaltechnische Laboranalyse der Speisen und Getränke so lange dauerte. Schließlich war es sehr wahrscheinlich, dass die Gäste die toxische Säure über die Nahrung aufgenommen hatten. Das fehlende Ergebnis hinderte ihn am Weiterdenken, und der Kommissar hasste es, daran gehindert zu werden. Er schob die zunehmende Langsamkeit auf die neoliberale Privatisierung einzelner kriminaltechnischer Dienstleistungen, die Paris aus Gründen der Haushaltskonsolidierung im vergangenen Jahr outgesourcedhatte. Die Police Nationale vergab nun Aufträge an private Labors wie der Terre Vierge, die durch das Streben nach Gewinnmaximierung Geld und damit Mitarbeiter einsparten und in seinen Augen aus diesem Grund schlampig arbeiteten. Lafargue missfiel diese Art der Politik, und er machte keinen Hehl daraus. Aber was hatte er als kleiner Kriminalkommissar schon zu sagen? Auch wenn er es in seinen 30 Berufsjahren zu einer mehr oder weniger beachtlichen Karriere in der Brigade Criminelle gebracht hatte, war er doch im Grunde ein kleines Licht. Er hatte es nie darauf angelegt, sich übermäßig politisch zu engagieren. Nun musste er eben mit den politischen Entscheidungen anderer fertig werden, so, wie die meisten Menschen es ebenfalls taten.

»Hast du was von Jinjin gehört?«, wollte Nicolas unvermittelt wissen, »Ist sie in der Ermittlungsgruppe?«

»Ich will sie auf jeden Fall drin haben. Offiziell beginnt sie ihren Dienst aber erst am Montag. Soweit ich weiß, ist sie gestern … gelandet.« Fast hätte er sich verhaspelt.

»Grüß sie, wenn du sie siehst.« Die Stimme des Rechtsmediziners wurde leiser.

»Mach’ ich«, antwortete Lafargue und legte auf.