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Mysteriöse Dinge passieren in einer Privatklinik im mediterranen Nizza: Patienten werden heimlich operiert, eine junge Ärztin verschwindet und mehrere Personen werden Opfer von Mordanschlägen. Als der Klinikchef Hals über Kopf flieht, macht sich sein bester Freund Charly zusammen mit der quirligen Psychologin Cathy auf die Suche nach ihm. Beide geraten in den Strudel eines amourösen Abenteuers sowie in das Fadenkreuz zwischen Geheimdiensten und russischer Mafia. Quer über das Mittelmeer beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit. Wer wird als Erster das dunkle Geheimnis der Klinik lüften? Warum musste Patient Nr. 11 sterben?
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Seitenzahl: 518
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sämtliche geographischen Örtlichkeiten, die in diesem Roman genannt werden, sind real und authentisch. Das gilt auch für die Personen, auf die ich namentlich Bezug nehme, ohne dass diese selbst am Handlungsgeschehen teilnehmen.
Im Übrigen sind die Namen, Identitäten sowie Handlungen der agierenden Personen und Institutionen Gegenstand meiner ganz persönlichen „Fiktion“.
Das heißt allerdings nicht, dass ich garantieren könnte, dass die Geschehnisse dieses Romans ausschließlich von mir „erfunden“ und somit „fiktiv“ sind.
Vielleicht entspringen sie auch einer „realen“ Welt, die lediglich zum jetzigen Zeitpunkt für mich – und damit auch für Sie als Leser – entweder nicht mehr oder noch nicht wahrnehmbar ist...
Deshalb erfolgt die Lektüre dieses Romans auf absolut eigene Gefahr...
„Wunderbar mitgenommen auf eine fantastische Reise zwischen New York, Paris und dem mediterranen Süden“
(Astrid, Husum/Nordsee)
„Ein Potpourri überraschender Wendungen bis zum Schluss“
(Birgit, Hamburg)
„Aufregend, spannend, sexy – Charaktere und Handlung werden schon nach den ersten Seiten zum packenden Thriller auf der inneren Leinwand und lassen einen bis zur letzten nicht mehr los. Ein neuer Stern am Thriller-Himmel“
(Claudia, Malaga/Spanien)
„Witz, Gefühle, Spannung und Erotik - ein gelungener und höchst lesenswerter Roman“
(Dietmar, Bamberg)
"Intelligent und packend geschrieben, voller Überraschungen bis zum Schluss – ein „pageturner“, den man nur ungern aus den Händen legt.“
(Günter, Hamburg)
„Eine vielschichtige Erzählung - wer einmal mit der Lektüre begonnen hat, kann einfach nicht mehr aufhören“
(Harald, Freiburg/Breisgau)
„Perfekte Lektüre zum Abtauchen in die magische Welt des Abenteuers“
(Hilde, Berlin)
„Natürliche Harmonie zwischen mitreißendem Thriller und einfühlsamer Romantik“
(Stefan, Koblenz)
Prolog
Erster Teil - Wie alles begann
Zweiter Teil - Wie es danach weiterging
Dritter Teil - Wie es dann weiterging
Vierter Teil - Wohin das führen musste
Fünfter Teil - Ob es danach noch weiter gehen kann
Epilog
Für Laurence
Die Zufahrtstraße zu dem hinteren Teil des dreistöckigen Gebäudes war nur dürftig beleuchtet. Lediglich in der Linkskurve ganz am Ende des parkähnlichen Grundstückes gab es eine Außenleuchte, die mit einer Lichtschranke verbunden war. Als die Limousine mit Pariser Kennzeichen in Richtung Lieferantenrampe abbog, erstrahlte das Fahrzeug kurzzeitig im grellen Scheinwerferlicht. Dann wurde es wieder von der Dunkelheit verschluckt...
Die Nacht war erdrückend schwarz ohne Mondschein. Die Wolken hingen tief und die Temperaturen erreichten in dieser Nacht keine zweistelligen Werte. Für den mediterranen Süden war dies auch Ende November ungewöhnlich. Dazu hatte es den ganzen Tag immer wieder heftig geschüttet, so dass sich an mehreren Stellen großflächige Wasserlachen gebildet hatten. Da der Untergrund Schlaglöcher und Unebenheiten aufwies, konnte man nur schwer abschätzen, wie tief man im Wasser versinken würde.
Nach einem Zick-Zack-Kurs durch das unwegsame und durchnässte Gelände hielt das Fahrzeug abseits von der Lieferantenrampe mit den beiden rechten Reifen in Fahrtrichtung außerhalb der befestigten Fahrbahn. Dann verstummte der Motor und das Abblendlicht erlosch.
„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder“, fragte der jugendliche Beifahrer gereizt. Er trug einen brandneuen Versace-Anzug und dunkelbraune Berluti-Stiefeletten aus Krokodilleder. „Mitten in einer riesigen Wasserpfütze? Wie soll ich hier aussteigen, ohne mir nasse Füße zu holen?“
„Gar nicht!“, erwiderte der deutlich ältere Fahrer sichtlich amüsiert. Er war mit einem alten Trainingsanzug, einem wasserdichten Regenmantel und einer bulligen Wollmütze witterungstechnisch wesentlich besser ausgestattet.
„So hatten wir das aber nicht abgesprochen“, protestierte der Beifahrer mit jugendlichem Eifer und öffnete vorsichtig die Wagentüre, um sie danach gleich wieder zu schließen.
„Korrekt! Aber sonst wärst du ja auch nicht bereit gewesen, die Videoanlage zu manipulieren und mir deinen Kartenchip für die magnetische Öffnung sämtlicher Türen zu überlassen.“ Der Fahrer holte die Karte aus seiner Hosentasche und hielt sie wie eine Siegestrophäe in die Höhe.
Der Beifahrer tat so, als gäbe er sich geschlagen, bevor er mit einer abrupten Armbewegung plötzlich versuchte, seinem Gesprächspartner den Gegenstand aus den Händen zu reißen. Doch er scheiterte an dessen Reaktionsfähigkeit und manueller Geschicklichkeit. Wie schon so oft in seinem Leben...
„Nein, im Ernst. Ich muss das allein erledigen. Es ist mein Job.“
„Ist es eben nicht, und du weißt das ganz genau. Du bist auf mich angewiesen. Ohne mich kannst du gar nichts erreichen.“
„Du bist noch jung und hast dein ganzes Leben vor dir. Ich darf dich hier in Nizza deshalb keinesfalls in den Auftrag hineinziehen. Bitte vertraue mir!“
Der jüngere Mann musterte schweigend seinen älteren Kompagnon. Als Anfangsfünfziger schaute dieser noch verdammt gut aus. Wie einer dieser smarten Hollywood-Schauspieler aus einer Pay-TV-Ärzteserie: glatte, gleichmäßig gebräunte Haut ohne Altersfalten, feurigglitzernde Augen, mit denen er perfekt zu kommunizieren verstand, eine harmonische Nasenführung und ein fast feminin anmutender Mund, der stets ein sympathieeinflößendes Lächeln auf den Lippen hatte.
Werde ich mich mit diesem Aussehen jemals abfinden können?
Der ältere Mann versuchte, die von ihm vorgegebene Aufgabenteilung weiter zu rechtfertigen: „Jeder hat seine Methoden: ich hier auf dem Terrain und du in Paris. Es ist dann dein Job, das alles im Ministerium zu erklären.“
„Was alles? Ich weiß ja absolut von gar nichts...“, protestierte der jüngere der beiden Männer und aus seiner Stimme war nicht klar erkennbar, ob er gekränkt oder vielleicht doch erleichtert war.
„Das ist auch besser so“, antwortete der Fahrer mit ernster Miene. Er zog seine Handschuhe an und die Mütze tiefer ins Gesicht. „Ich steige jetzt aus. Du wartest hier. Klar?“
Sein Beifahrer nickte schweigend.
„In weniger als einer Stunde ist der Spuk erledigt. Dann erkläre ich dir alles bis ins letzte Detail“, bestimmte der ältere der beiden Männer. „Es wird alles absolut friedlich verlaufen, das verspreche ich dir!“
Ohne zu ahnen, dass dieses Versprechen nicht haltbar war, verließ der Fahrer behutsam das Fahrzeug und schloss die Fahrertüre leise hinter sich. Der Regen hatte deutlich nachgelassen. Es tröpfelte nur noch vereinzelt, doch die gesamte Atmosphäre war unfreundlich und nasskalt.
Der Mann beeilte sich, das schwere Lieferantentor zu entriegeln und zur Seite zu schieben, um in das Gebäudeinnere zu gelangen. Im Vorfeld hatte er die Pläne der Klinik akribisch studiert und sich die genaue Position der Überwachungskamera sowie den Funktionsmechanismus der Türöffner von seinem jüngeren Compagnon erklären lassen.
Außerdem trug er eine Fernbedienung bei sich, mit der er das Videoüberwachungssystem nach Belieben ganz oder in Teilen deaktivieren oder erneut aktivieren konnte.
Nach wenigen Minuten war der Mann im dritten Stock angekommen. Er hatte plangemäß das für die Mitarbeiter bestimmte hintere Treppenhaus benutzt und war dort niemandem begegnet. Kein Wunder! Der nächste Schichtwechsel würde erst in gut sechs Stunden erfolgen...
Auf Zehenspitzen schlich der Mann sich an den verschiedenen Ärztebüros und Behandlungszimmern vorbei. Am Ende eines langen und nur spärlich beleuchteten Ganges erreichte er schließlich den Umkleideraum für die Ärzte auf der rechten Seite. Vorsichtig öffnete er die Glastür, auf der die Hinweisschilder „Privat“ und „Kein Zutritt für Unbefugte“ angebracht waren.
Mit meinem Doktor-Face bin ich hier sicherlich kein Unbefugter...
Nachdem der Mann sich grinsend vergewissert hatte, dass er allein war, suchte er zielstrebig nach dem Kleiderspind für die externen Mitarbeiter. Er legte seine Straßenkleidung bis auf die Unterwäsche ab und wühlte sich durch mehrere Ärztekittel durch, bis er den richtigen mit der Aufschrift „Dr. Jacques“ fand und sich überzog. Dann öffnete er den Hygieneschrank und entnahm eine der FFP2-Masken. Eine bessere Tarnung konnte es in einem Krankenhaus nicht geben.
Selbstbewusst und mit forschem Schritt verließ der Mann das Ärztezimmer und hängte sich protokollmäßig das Stethoskop um den Hals, das er aus einer der beiden Seitentaschen des Kittels herausgekramt hatte.
Er begab sich erneut an den Behandlungszimmern und Ärztebüros vorbei auf die gegenüberliegende Seite des Kliniktraktes, nicht jedoch ohne zuvor mit einem zufriedenen Lächeln zu bemerken, dass in dem ehemaligen Aufenthaltsraum für die Krankenschwestern Licht brannte.
Das können nur die beiden sein! Er schaut auf die Uhr: nur noch knapp eine Viertelstunde bis Mitternacht. Perfekt! Alles verläuft haargenau nach Plan...
Der Mann näherte sich der Intensivstation und erkannte durch die Glastür die gedämmt leuchtenden Orientierungslampen. Die Vollbeleuchtung war ausgeschaltet. Klar! Die beiden sind anderweitig beschäftigt... Der Mann konnte sich ein genüssliches Grinsen nicht unterdrücken.
„Letztes Zimmer rechts am Ende der Abteilung“, murmelte der Mann vor sich hin und betrat kurze Zeit später den hintersten Raum der Intensivstation.
„Da ist er ja unser Kandidat“, sprach der Mann weiterhin halblaut vor sich. „Schwere unfallbedingte Kontusionen und Verbrennungen zweiten und dritten Grades im gesamten Kopf- und Gesichtsbereich sowie den oberen Extremitäten – multiple plastische Eingriffe zur Rekonstruktion des Nasen- und Kieferbereichs sowie autoplastische Hauttransplantationen“, las er aus der Patientenkartei, die in einer dafür vorgesehenen Hülle am unteren Bettende angeheftet war.
„Die Beschreibung passt perfekt“, nickte der Mann mit einem zynischen Grinsen. „Das ist Patient Nr. 11“. Wie aus dem Effeff kannte der Mann die genaue Formulierung dieses pathologischen Befundes und war sich deshalb absolut sicher, dass vor ihm der mittlerweile elfte Patient der Klinik mit absolut identischem Krankheitsbild lag.
Es kam zwar nur selten vor, dass so schlimme Unfallopfer in der Privatklinik behandelt wurden, aber bei schwerwiegenden Unfällen mit einer Vielzahl von Verletzten waren die Notaufnahmen der staatlichen Krankenhäuser überfüllt.
Der gesamte Kopfbereich sowie beide Hände und Arme des Unfallopfers steckten in dicken weißen Verbänden und Bandagen, die nur winzige Öffnungen für die Augen, Nase und Mund ließen.
Der Mann wusste, dass der Patient erst am gleichen Morgen in die Klinik eingeliefert und über mehr als sieben Stunden operiert worden war. Er erkannte im Mund und Rachenraum des Patienten zwei Schläuche, über die das Unfallopfer im künstlichen Koma beatmet wurde. Rechts daneben stand ein ständig aufflackerndes und in unregelmäßigen Abständen piependes Monitoring-Gerät, das den Blutdruck, die Herzfrequenz sowie die Sauerstoffsättigung fortlaufend aufzeichnete.
In der Patientenkartei gab es zwar keinerlei Fotos von dem körperlichen Zustand und Aussehen des Patienten unmittelbar nach dem Unfall. Dafür befanden sich zum Erstaunen des Mannes in einem kartonierten Innenumschlag der Akte zwei Fotographien, die den Patienten vor dem Unfall zeigten. Das größere der beiden Fotos war etwas abgegriffen, das andere Foto ein Passbild jüngeren Datums. Zwischen beiden Fotos mochten gut zwanzig, vielleicht sogar dreißig Jahre liegen. Doch ohne jeglichen Zweifel handelte es sich auf beiden Fotos um ein und dieselbe Person... Und diese Person war dem Mann mit dem weißen Arztkittel bestens bekannt!
Wie nach einer brutalen Panikattacke ließ er die Patientenkartei und die beiden Fotos zu Boden fallen und erstarrte am ganzen Körper. Dann spürte er Übelkeit und Brechreiz in sich hochkommen.
Unter größter Anstrengung versuchte der Mann, sich zu beherrschen und seine Gedanken neu zu ordnen. Er wusste, dass er eine wichtige Mission zu erfüllen hatte, durch die möglicherweise Tausende von Menschenleben gerettet werden konnten...
Doch mit dieser Identität des Patienten hatte er nicht gerechnet. Niemand konnte doch damit gerechnet haben! Oder vielleicht doch?
Voller Entsetzen bückte er sich und hob mit zitternden Händen die Patientenkartei mit den beiden Fotos auf. Fieberhaft blickte er in immer kürzer werdenden Abständen von einem Foto auf das andere und wünschte sich sehnlichst, dass durch sein hartnäckiges Anstarren der beiden Bilder sich das Aussehen des Patienten doch noch verändern würde.
Doch an der Identität des Patienten gab es keinen Zweifel. Selbst der Name auf der Patientenkartei, den er erst jetzt entzifferte, passte in das Puzzle. Damit war für ihn die Entscheidung getroffen: Der Auftrag, den er hier eigentlich auszuführen hatte, wurde plötzlich zweitrangig. Er wusste genau, dass er nicht mehr anders konnte. Die Gelegenheit war einzigartig! ER MUSSTE TÖTEN!
Aber nicht einfach so. Im Affekt und auf die Schnelle. Nein! Ich möchte jede Sekunde seines Todeskampfes genießen...
Der Mann drehte an dem Ventil der Sauerstoffflasche, um die künstliche Sauerstoffversorgung des Patienten sukzessive herunterzufahren. Er wusste, dass bei einem Sauerstoff-Partialdruck von weniger als 130 Millibar ein Tod durch Ersticken unausweichlich war.
Wie im Wahn verfolgte er auf dem Monitoring-Gerät die herabstürzenden Druckwerte für die Sauerstoffsättigung und wartete gespannt auf eine entsprechende Reaktion des Verletzten. Diese ließ nicht lange auf sich warten: Nach nur wenigen Sekunden wich der gleichmäßige und ruhige Atem einem immer heftiger werdenden Röcheln, Gurgeln und Hüsteln des Patienten.
Obwohl der Gesichtsbereich des Verletzten fast vollständig von den weißen OP-Bandagen bedeckt war, hatte man den Eindruck, als würde der Kopf des Patienten zunehmend dunkelrot anlaufen und zu platzen drohen. Der Mann mit dem weißen Ärztekittel genoss es, die Sauerstoffversorgung des Patienten ganz kurz vor dessen sicheren Exitus wieder zu erhöhen und den Verletzten dadurch wieder ins Leben zurückzuführen. Natürlich nur vorläufig!
Ein zweites und drittes Mal wiederholte der Mann sein sadistisches Spiel, wobei die Abstände zwischen den „Behandlungen“ immer kürzer wurden. Der Mann erkannte sich selbst nicht mehr. Er spürte, wie er sich an dem Prozess des Todeskampfes ergötzte, dessen point of no-return augenscheinlich überschritten war. Von dem ursprünglich vertrauenserweckenden und freundlichen Gesichtsausdruck war nur noch die verzerrte Fratze eines Amokläufers übriggeblieben.
„Verrecke!“, zischte er mit knirschenden Backenknochen. Konnte es einen schrecklicheren und schmerzhafteren Tod geben als den durch bestialisches Ersticken?
Ja, einen Tod auf Raten: wenn ein teuflisches Gift sich über Wochen und Monate durch sämtliche Zellen eines gesunden Körpers von innen nach außen frisst und nur noch tote Substanz hinter sich lässt.
Nach dem dritten Mal wartete der Mann mehr als eine Minute, bis er die Sauerstoffzufuhr wieder auf den Normalwert einstellte. Erwartungsgemäß ohne jeglichen Einfluss auf die Auswertungen des Monitoring-Gerätes, dessen visuelle und akustische Signale weiterhin den sicheren Hirntod des Patienten anzeigten.
Erst dann erinnerte der Mann sich wieder an seine ursprüngliche Mission und aktivierte mit der Fernbedienung die Videoaufzeichnung sowie die akustische Alarmüberwachung. Letztere würde bis ins ehemalige Schwesternzimmer zu hören sein...
Einige Jahre zuvor
New York Anfang September
Die Cafeteria der Rockefeller University von New York City war brechend voll und die Klimaanlage schien dem Ansturm an Besuchern nicht richtig gewachsen zu sein. Das Publikum hätte nicht unterschiedlicher sein können: Männer und Frauen der verschiedensten Altersstufen und aus den unterschiedlichsten Ländern - ein wahrhaftiger Melting Pot der Hautfarben und ethnischen Abstammungen.
Dazu eine schillernde Vielfalt an Farben und Stoffen in Sachen Kleidung - vom Business-Look mit Anzug und elegantem Cocktail-Kleid bis hin zu einem überraschend legeren Auftreten in Jeans und T-Shirt. Gleichwohl gab es etwas, das all diese Menschen verband: ihre Liebe zur Medizin und ihr wissenschaftliches Interesse an dem Phänomen exzessiver Narbenbildung – oder in der Fachsprache „Keloidose“.
Denn genau um dieses Thema ging es bei der ersten Jahrestagung „Celoid Symposium“, zu der mehrere hundert Ärzte, vor allem praktizierende Chirurgen und Forscher aus der ganzen Welt in New York zusammengekommen waren.
Eine der an dem Symposium teilnehmenden Personen hieß Aurélie. Für die junge Französin war diese brodelnde Atmosphäre eines medizinischen Welt-Kongresses etwas völlig Ungewohntes. Das scheinbar ziellose Hin- und Herlaufen der Teilnehmer zwischen den verschiedenen Konferenzsälen, das hektische Treiben und Drängen von einzelnen Gruppen sowie das permanente Raunen und Rauschen zahlloser Einzelgespräche wirkte auf sie faszinierend und betörend.
Aurélie war in ihrem Leben noch nie zuvor in den USA gewesen. Sie hatte überhaupt nur sehr selten die französischen Landesgrenzen hinter sich gelassen. Nach ihrem Abitur als Jahrgangsbeste hatte sie sofort mit dem Medizinstudium in Paris begonnen und dort die schwere Aufnahmeprüfung auf Anhieb mit Bravour bestanden.
Es gab in ihrem bisherigen Leben wohl nichts, das sie mit mehr Stolz und Genugtuung erfüllte. Auch und gerade ihrer Mutter wegen, die als Studentin diesen Concours im dritten Anlauf endgültig verfehlt und daraufhin eine Ausbildung zur Krankenschwester begann.
Dabei hatten die Natur und die Lebensumstände es mit Aurélie als Kind nicht gerade gut gemeint. Gleich zu Beginn ihrer Pubertät hörte ihr Körper einfach auf, weiter zu wachsen. Mit ihren nicht einmal ein Meter sechzig Körpergröße und einem deutlich sichtbaren Hang zu Übergewicht wurde sie in den ersten Jahren ihrer Schulzeit im Collège häufig als die „petite grosse“ gehänselt und ausgegrenzt.
Aber sie ließ sich nicht unterkriegen. Dank ihrer positiven Lebenseinstellung und einer bewundernswerten Auffassungsgabe konnte sie sich bei Lehrern und Mitschülern schnell den nötigen Respekt verschaffen. Zentrale Stütze in ihrem Leben war dabei die bedingungslose Liebe von und zu ihrer Mutter. Diese von grenzenlosem Vertrauen geprägte Mutter-Tochter-Beziehung war einzigartig und ließ sich nicht nur dadurch erklären, dass Aurélie ohne Vater aufwuchs und erst viele Jahre später erfahren musste, dass ihr leiblicher Vater von der Polizei erschossen worden war.
Aurélie war im letzten Jahr ihres regulären Medizinstudiums an der Universität Paris Descartes und hatte sich auf plastische Chirurgie spezialisiert. Seit einigen Monaten arbeitete sie – besessen - an ihrer Doktorarbeit über das Thema „Alternative chirurgische Therapiemethoden bei Narbenkeloiden“.
Auf diesem Gebiet gab es bis dato keinen nennenswerten wissenschaftlichen Austausch auf internationaler Ebene. Doch Aurélie war sich sicher, dass sich dies in Zukunft ändern würde: Die im Jahr 2011 von dem amerikanischen Chirurgen und Krebsspezialisten Dr. Michael H. Tirgan gegründete Keloid Research Foundation hatte sich zum Ziel gesetzt, die diversen Forschungsaktivitäten auf diesem bislang stiefmütterlich behandelten Gebiet der Medizin weltweit zu koordinieren und durch jährliche Kongresse zu fördern. Im September 2016 war es soweit: Das erste internationale „Celoid Symposium“ fand in New York an der Rockefeller University statt.
Für Aurélie war diese Veranstaltung ein Geschenk des Himmels. Sie hatte sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um nach New York reisen zu können. Ihre Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft waren erfolgreich: Nach mehreren Anhörungen vor dem Dekan und dem Wissenschaftsrat ihrer Heimatuniversität hatte die gerade 24-jährige Doktorandin für ihr Forschungsprojekt ein – wenn auch bescheidenes - Stipendium erhalten, Dadurch wurde ihr als mittelloser Nachwuchswissenschaftlerin immerhin finanziell ermöglicht, an dem Symposium teilzunehmen. Sie war eine der ganz wenigen französischen Teilnehmer.
Obwohl sie erst am Vortag auf dem John F. Kennedy Flughaften in New York angekommen war und fast die ganze Nacht aufgrund des Jetlags kein Auge zugetan hatte, fühlte sie sich während der Vortragsreihen am Vormittag erstaunlicherweise frisch und hellwach.
Auf keinen Fall wollte sie in fachlicher Hinsicht irgend etwas von dem Symposium verpassen, sondern jeden kostbaren Augenblick ihres Forschungsaufenthaltes in vollen Zügen genießen. Lediglich den Sonntag hatte sie sich freigehalten, um New York etwas kennenzulernen. Am Montag würde sie dann bereits wieder im Flieger in Richtung Europa sitzen.
Aurélie saß im hinteren Teil der Cafeteria an einem der letzten noch freien Tische und aß genüsslich ihren Triple-Cheeseburger mit einer Extraportion Cheddar-Sauce und öligen Industrie-Pommes. Durstig nippte sie immer wieder an ihrem XXL-Plastikbecher, der zur Hälfte mit Cola-light und zur anderen Hälfte mit Eiswürfeln gefüllt war...
☆☆☆
„Excusez-moi Mademoiselle, cette place serait-elle encore libre?“, ertönte eine männliche Stimme in französischer Sprache aus dem Laptop mit der Frage, ob hier noch ein Platz frei sei. Der Computer stand - keine hundert Meter von der Cafeteria entfernt - in einem der Verwaltungsbüros des Universitätsgebäudes auf einem kleinen Schreibtisch.
„Ja das ist unser Mann. Ich erkenne genau seine Stimme“, meldete der jüngere der beiden Männer sich sofort zu Wort und wirkte dabei ganz aufgeregt. Er schaute zu seinem Sitznachbarn hinüber. Dieser hielt seinen fettigen Bauch gegen die Tischplatte und war in erster Linie damit beschäftigt, wahllos völlig unterschiedliche Süßigkeiten aus einer Plastiktüte mit dem grün-rot-organgenfarbigen „7 Eleven“-Logo kommentarlos in sich hineinzustopfen. Seine einzige Reaktion war ein desinteressiertes Achselzucken.
„Er fragt gerade eine junge Frau, ob er sich neben sie setzen darf“, beeilte der junge Mann sich, für seinen amerikanischen Kollegen zu übersetzen.
„Frogs! You are so crazy! Wir liefern euch den Typen - wie auf dem Silbertablett. Und was macht ihr? Anstatt ihn sofort in die Mangel zu nehmen, wollt ihr ihn erst einmal ausspionieren.“ Der dickleibige Amerikaner hob seine Arme in die Höhe: „But as you like guys! ... Wir haben diese Nacht sein Handy gehackt und können ab sofort sowohl das Mikro als auch die Kamera für uns aktivieren.“
„Und warum haben wir dann kein Bild?“, fragte der jüngere Mann, der fließend Französisch sprach.
„Ganz einfach. Das Handy steckt sicherlich in seiner Jacken- oder Hosentasche, so dass das Kamerabild noch schwarz ist“, schloss der amerikanische Gesprächspartner seine Erklärungen. „Aber das wird sich ja hoffentlich noch ändern.“ Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem obszönen Grinsen, bevor es von einer Sekunde auf die andere wieder völlig ernst wurde. Danach waren im Gesicht erneut nur rhythmische Kaubewegungen zu sehen.
☆☆☆
Aurélie vernahm hinter sich die männliche Stimme in akzentfreiem Französisch genau in dem Augenblick, als sie gerade herzhaft in ihren Burger gebissen hatte. Die junge Frau zuckte zusammen, denn der Mann hatte sich für einige Sekunden zu ihr nach unten gebeugt mit seinem Kopf nur wenige Zentimeter von ihrem linken Ohr entfernt. Sie konnte seinen frischen Atem im Nacken spüren. Er roch nach Minze und war eine willkommene Abwechslung zu dem nur schwer zu ertragenden Mix an Gerüchen aus Frittüre und schwitzenden Menschen.
Aurélie drehte sich völlig überrascht um und blickte auf zu einem schlanken, sportlich-muskulösen Mann mit südländischem Flair. Sie schätzte ihn auf Ende vierzig. Je weiter ihr Blick sich nach oben arbeitete und in - gefühlt – ungefähr zwei Metern Höhe auf die freundlich strahlenden Augen ihres Gegenübers stieß, desto verlegener wurde sie. Sie versuchte dabei, den viel zu großen Bissen, den sie in den Mund genommen hatte, durch noch energischeres Kauen und Schlucken herunterzuwürgen.
Aber es half nichts: Sie war lediglich zu einem heftigen Nicken und einer hilflosen Geste auf ihren Cheeseburger in der Lage, dem Mann zu verstehen zu geben, dass sie aufgrund ihres vollen Mundes gerade am Sprechen gehindert war, er sich aber sehr gerne zu ihr setzten dürfe.
Sie untermauerte ihre Gestik und Mimik durch einige subgutturale Laute, die allerdings nur wenig geeignet waren, eine vernünftige Kommunikation herzustellen. Dafür verliehen sie der Situation einen gewissen Touch an Peinlichkeit.
Doch es entsprach nicht dem Charakter von Aurélie, sich durch solche banalen Umstände aus der Fassung bringen zu lassen. Sie erhob sich langsam und fixierte dabei voller Bewunderung das Tablett des Mannes, auf dem neben einem kleinen Caesar Salad lediglich eine Flasche Perrier-Mineralwasser mit Plastikglas sowie eine gelb-grüne Banane lagen. Verdammt vorbildlich für einen Arzt, dachte Aurélie bei sich, und ärgerte sich insgeheim darüber, dass sie sich bereits am ersten Tag ihres USA-Aufenthaltes den Fast Food-Reizen hemmungslos hingegeben hat. Da die junge Frau keine Anstalten machte sich wieder zu setzen, war es auch für den Mann ein Gebot der Höflichkeit, zunächst stehen zu bleiben.
Allerdings trennten die beiden mindestens zwei bis drei Kopfgrößen, so dass eine längere Konversation im Stehen auf die Dauer sehr anstrengend werden musste.
Die junge Frau starrte den Mann auf Brusthöhe an und versuchte, das am Revers seiner Anzugjacke befestigte Namenschild zu entziffern.
„Professor Filipetti von der Universität Nice Sophia Antipolis“, kam ihr Gesprächspartner der jungen Frau zuvor. „Daneben praktiziere ich als Chirurg in der Privatklinik St. Jean in Nizza.“
Aurélie lächelte verlegen und streckte dem Mann selbstbewusst ihre Hand entgegen, während sie die letzten Speisereste hinunterschluckte. „Aurélie Blanc, freut mich Sie kennenzulernen. Ich bin Doktorandin an der Universität Paris Descartes und schreibe gerade an meiner Dissertation über alternative Behandlungsmethoden bei Keloidose.“
„Darf ich?“, fragte Professor Filipetti und deutete auf den freien Stuhl.
„Aber natürlich, sehr gerne“, antwortete die Französin und freute sich, einen Landsmann gefunden zu haben.
Professor Filipetti setzte sich zu der jungen Frau an den Tisch und die beiden begannen sich zu unterhalten. Sehr schnell zeigte sich, dass auch Aurélie Blanc ursprünglich aus dem mediterranen Süden stammte. Sie war bei ihrer Mutter in Cannes – nur einige Kilometer von Nizza entfernt - aufgewachsen.
„Aber eines müssen Sie mir noch erklären“, bat Aurélie plötzlich, denn diese Frage brannte ihr bereits seit dem Beginn der Begegnung auf der Zunge: „Sie haben mich auf Französisch angesprochen. Wie konnten Sie ahnen, dass ich Französin bin?“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, dämmerte es ihr. Oh, wie peinlich. Natürlich musste er mich heute Vormittag bei mehreren Vorträgen gehört haben, wie ich Fragen in englischer Sprache – aber mit meinem unüberhörbaren französischen Akzent - gestellt habe. Und ich stelle auch noch so eine blöde Frage...
Doch der Mann hatte eine viel schmeichelhaftere Erklärung: „Eine so hinreißende junge Frau, wie Sie es sind“, Professor Filipetti machte eine kleine Kunstpause und blickte die junge Frau mit durchdringenden Augen an, „mit einem derart charmanten Lächeln und solch wunderschönen grünen Augen konnte in meiner Vorstellung einfach nur eine Französin sein“. Aurélie spürte, wie sie leicht errötete, und presste ein geschmeicheltes „Merci!“ heraus.
☆☆☆
Die Konferenzen des Symposiums hatten bereits seit mehr als zwei Stunden wieder begonnen. Die beiden saßen – sie waren mittlerweile die letzten Gäste – noch in der Cafeteria, als diese am Spätnachmittag geschlossen wurde. Aurélie konnte es nicht fassen: Sie hatte – und das bereits am ersten Tag – zwei interessante Vorträge verpasst, auf die sie sich seit Monaten gefreut hatte. Und das Schlimmste daran, sie konnte es noch nicht einmal ernsthaft bereuen. Zu sehr genoss sie die anregende Unterhaltung und Nähe zu Professor Filipetti.
Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihren um 25 Jahre älteren Gesprächspartner schon seit Jahren kennen. Wie eine wissbegierige Medizinstudentin im ersten Semester hing sie gebannt an seinen Lippen und lauschte begeistert den Anekdoten und Geschichten, die der erfahrene Mediziner aus seiner Praxis zum Besten gab.
„Impossible! Das gibt’s doch nicht!“, rutschte ihr des Öfteren heraus und sie musste sich mehrfach die Hand vor den Mund pressen, um nicht mit einem schallernden Lachen herauszuplatzen.
Als die beiden zögernd die Räumlichkeiten der Cafeteria verließen, schaute Aurélie erschrocken auf ihre Uhr. Es war weit nach 17 Uhr. Die Abschlusskonferenz zum ersten Kongresstag, die vor einigen Minuten im Auditorium Maximum begonnen haben musste, wollte sie sich keinesfalls entgehen lassen.
Das war das erste große Highlight des Kongresses, da alle Vortragenden zu einer Podiumsdiskussion zusammengekommen waren, um gemeinsam eine Art vorläufige Synthese der bislang vorgestellten Forschungsergebnisse zu erarbeiten. Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte in Richtung Auditorium Maximum, wurde jedoch in ihrem spontanen Elan durch den langen Arm ihres männlichen Begleiters zurückgehalten.
„Willst du dir“ – man war unter Kollegen sehr schnell dazu übergegangen, sich zu duzen – „das wirklich antun?“, fragte Professor Filipetti und versuchte dabei, ein besonders unschuldiges Lächeln aufzusetzen. „Da will doch nur wieder jeder Redner mit seinen Ansichten Recht bekommen und wird versuchen, sich mit allen Kräften ins beste Licht zu setzen. Eine solche Selbst-Beweihräucherung können wir uns doch sparen, oder?“
Aurélie blickte ihren Gesprächspartner zunächst erstaunt, dann herausfordernd an. Sie spürte, dass sie argumentativ nicht in der Lage war, Recht zu bekommen. Geschweige denn, dass sie den Herrn Professor verbal dazu hätte bringen können, seinen Willen zu ändern und sich die Abschlusskonferenz anzuhören. Sie kaute instinktiv auf ihrer Unterlippe und überlegte eine Sekunde. Dann zückte sie ihren Geldbeutel.
„Pile ou face? Kopf oder Zahl?“. Sie warf eine Ein-Dollar-Münze in die Höhe und fing sie mit der Hand wieder auf.
„Kopf!“, schoss es aus dem Mund von Professor Filipetti, siegessicher und ohne zu zögern.
Eine Minute später saßen die beiden in einer der letzten Reihen des übervollen Auditorium Maximums: Professor Filipetti schaute missmutig drein und begann damit, seine E-Mails auf seinem Smartphone zu checken. Aurélie triumphierte innerlich, wollte sich nach außen jedoch nichts anmerken lassen.
Sie hörte den teilweise polemisch geführten Diskussionsbeiträgen mit einer beeindruckenden Aufmerksamkeit zu und nickte von Zeit zu Zeit gut sichtbar mit dem Kopf, als wollte sie den jeweiligen Redner durch ihre zustimmende Geste ermutigen.
Nur ab und zu schielte sie neugierig zu ihrem Begleiter hinüber, der eine immer ernstere Miene zog und völlig in der Lektüre seiner elektronischen Nachrichten versunken war.
Die junge Frau nahm die Rückseite des Programms zur Hand und schrieb mit großen Buchstaben darauf: „Was für eine Trauermiene! Bist du mir ernsthaft böse? “. Doch selbst als sie mit dem Stück Papier direkt das Display des Smartphones verdeckte, reagierte Professor Filipetti nicht.
Aurélie zuckte innerlich mit den Achseln und konzentrierte sich wieder auf die Diskussionen der Podiumsrunde. Doch der plötzliche Gemütswandel von Professor Filipetti wollte ihr keine Ruhe lassen. Sie fragte sich, ob er wirklich so sehr in seinem Stolz getroffen sein konnte. Nach nur wenigen Minuten suchte sie nach einem weiteren Blatt leerem Papier und beschrieb es: Tut mir leid! Wie kann ich es wieder gut machen? Ein gemeinsames Abendessen?
Ganz behutsam und mit einem schelmischen Lächeln schob sie das Papier – Zentimeter für Zentimeter – nach rechts. Sie war auf die Reaktion von François mehr als gespannt. Dieses Mal warf Professor Filipetti zumindest einen Blick auf das Geschriebene. Doch anstatt seinen angespannt-verkrampften Gesichtsausdruck in ein erlösendes Lächeln zu überführen, erhob er sich plötzlich von seinem Platz und verließ ohne jegliche Entschuldigung den Saal.
Aurélie blieb wie versteinert sitzen und wusste nicht, was sie von dem Verhalten ihres älteren Kollegen halten sollte. Sie konnte sich bei bestem Willen nicht erklären, wie der gleiche Mann, der sie über zwei Stunden lang auf wunderbar-magische Weise so perfekt unterhalten hatte, auf einmal ein völlig irrationales und verstörtes Verhalten an den Tag legen konnte. Der ist doch krank, eitel und narzisstisch. Ein richtiger Ego-Macho. Aber so richtig glaubte sie dann doch wieder nicht daran.
Die junge Frau hatte weder Lust noch Energie, weiterhin die verbalen Gefechte auf der Podiumsdiskussion zu verfolgen. Umgekehrt wagte sie es auch nicht, den Saal vorzeitig zu verlassen. Zu sehr befürchtete sie, dort auf Professor Filipetti zu stoßen.
Zeitgleich in Paris
Während über der französischen Hauptstadt seit einigen Tagen eine für Mitte September ungewöhnliche spätsommerliche Hitze mit Temperaturen über 30°C brütete, herrschte in dem abgedunkelten Konferenzraum eine frostige Atmosphäre bei gerade einmal 18°C. Aus den zentralen Öffnungen der Klimaanlage blies ein eisiger Luftstrom von der Decke herab. In dem Besprechungssaal saßen fünf Männer in dunklen Anzügen im Alter von vierzig bis sechzig Jahren.
„Meine Herren, wir müssen unseren modus operandi umstellen“, begann der Minister, der an der Stirnseite des Glastisches Platz genommen hatte. Er blickte abwechselnd zu seinen Gesprächspartnern links und rechts vom Tisch, so als ob er von ihnen irgendeine Antwort oder Reaktion erwarten würde.
Doch die Männer kannten ihren Vorgesetzten zu gut, um zu wissen, dass es sinnvoll war, ihn zunächst einmal zu Ende referieren zu lassen. Sie blickten sich lediglich gegenseitig fragend an, zogen es jedoch vor, zu schweigen.
„Es geht um das Projekt mit dem Geheimcode „The Bull“. Wir werden bei der Umsetzung des Projekts in Europa die medizinischen Fazilitäten unserer amerikanischen Kollegen voraussichtlich nur noch wenige Monate nutzen können. Unser Präsident trifft sich mit seinem US-amerikanischen Kollegen in wenigen Tagen hier in Paris. Eine Änderung der amerikanischen Haltung in dieser Frage ist allerdings nicht absehbar. Für uns besteht die oberste Priorität deshalb darin, von den USA so schnell wie möglich unabhängig zu werden und unser eigenes Netz in Europa aufzubauen.“
Die übrigen Männer nickten vorsichtig zustimmend und sahen ihren Vorgesetzten erwartungsvoll an.
„Geographisch ist unser Ministerium federführend für Südeuropa zuständig. Wir haben deshalb bereits gute Kontakte zu unseren italienischen und spanischen Kollegen geknüpft. Sie werden mit uns kooperieren. Es laufen derzeit an verschiedenen Orten Tests durch unsere V-Leute. In Frankreich geht es ganz konkret um eine Privatklinik in Nizza. Der Klinikchef – ein gewisser Professor Filipetti – befindet sich derzeit auf einem Ärztekongress in New York. Wir gehen davon aus, dass wir ihn für unser Projekt gewinnen können. Außerdem wollen die amerikanischen Kollegen uns dabei unterstützen“, der Minister lächelte süffisant, „den Klinikchef von der Notwendigkeit einer absoluten Kooperation mit uns zu überzeugen. In den USA hat man auf diesem Bereich ganz wirkungsvolle Methoden, die wir hier in Europa so leider nicht einsetzen können.“ Der Minister blickte erwartungsvoll in die Runde.
Doch die Mitarbeiter vermieden den direkten Blickkontakt mit ihrem Vorgesetzten und enthielten sich jeglichen Kommentars. Sie tauschten dafür untereinander vielsagende Blicke aus.
„Na ja, Sie haben ja Recht. So ganz freiwillig wird das wohl nicht gehen. Aber das finanzielle und persönliche Profil von Filipetti wird uns sicherlich helfen. Die Klinik steckt in ernsten finanziellen Schwierigkeiten und wir haben dafür gesorgt, dass die Banken ihm sehr kurzfristig den Geldhahn zudrehen werden. Dann wird diesem Filipetti gar nichts anderes übrigbleiben, als mit uns zusammenzuarbeiten. Wir möchten uns über einen Strohmann mehrheitlich am Kapital der Klinikgesellschaft beteiligen. Sobald wir dann über die Stimmenmehrheit verfügen, haben wir den Klinikchef völlig in unserer Hand!“ Die Augen des Ministers strahlten vor Begeisterung.
Die vier Männer nahmen – ohne aufzuschauen - schweigend Notizen und warteten ganz offensichtlich auf weitere Einzelheiten.
„Ein Problem gibt es allerdings“, fuhr der Gesprächsführer fort, ohne einen gewissen Missmut in der Stimme zu verhehlen. „Auch wenn dieser Filipetti in absehbarer Zeit mit seiner Klinik von uns finanziell abhängig sein wird, kann er im schlimmsten Fall die Klinik opfern und im Wege der Insolvenz aus dem Projekt aussteigen. Das wäre dann das Ende für unser leadership in Sachen „The Bull“. Unsere europäischen Freunde würden sich über unseren Dilettantismus lustig machen und verlangen, dass das Projekt von Frankreich abgezogen wird. Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, was das an Prestigeverlust für uns bedeuten würde. Von den finanziellen Auswirkungen einmal ganz abgesehen. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen. Wir müssen deshalb unbedingt nach einem Mittel suchen, um Filipetti auch auf andere Weise für unsere Zwecke jederzeit unter Druck setzten zu können.“
Die anwesenden Gesprächsteilnehmer, die sich bislang noch nicht geäußert hatten, schauten den Minister fragend an. Der Minister legte eine längere Gesprächspause ein und genoss das Schweigen seiner Mitarbeiter.
Genüsslich zündete er sich eine kubanische Zigarre an und fuhr dann fort: „Wir müssen einfach nur an der persönlichen Schwachstelle von Filipetti ansetzen: Und das sind die Frauen. Wir haben eine Strategie in Absprache mit den Kollegen des Geheimdienstes ausgearbeitet. Einzelheiten hierzu erfahren Sie in Kürze. Aber strikte Geheimhaltung versteht sich von selbst“, schloss der Minister seinen Monolog ab.
Die vier Männer nickten und verließen schweigend das Besprechungszimmer.
New York in der Rockefeller University
„Das ist doch das Allerletzte!“, brüllte Professor Filipetti in sein Handy und lief dabei in der menschenleeren Haupthalle vor dem Auditorium Maximum nervös auf und ab. „Ihre Bank kotzt mich an. Und Ihr E-Mail von soeben können Sie sich sonst wohin stecken. Ich bin gerade in den USA und werde das Einschreiben sowieso erst nach meiner Rückkehr erhalten.“
„Jetzt beruhigen Sie sich doch wieder, François. Lassen Sie mich Ihnen doch erklären“, versuchte sein Gesprächspartner zu beschwichtigen. „Ich hatte hier auf regionaler Ebene keine andere Wahl, als sämtliche Kredite mit sofortiger Wirkung zu kündigen. Es gab eine klare Anweisung von oben. Von ganz, ganz oben, wenn Sie verstehen... Aber das haben Sie nicht von mir.“
Professor Filipetti beruhigte sich etwas. „Tut mir leid, Philippe. Ich weiß, dass Sie zu mir und der Klinik immer loyal waren und Ihr Bestmöglichstes getan haben. Aber ohne die zusätzliche Finanzierung bin ich ruiniert. Ich werde die Klinik schließen müssen. Ist das Ihrem Vorstand eigentlich klar?“
„Naja, unter uns, die haben auch nicht so richtig freiwillig gehandelt.“
„Was heißt das nun wieder?“
„François, die genauen Hintergründe kenne ich nicht. Aber ich soll Ihnen von ganz oben mitteilen, dass es da vielleicht doch noch eine Lösung gibt. Gewissermaßen im Sinne einer „Win-Win-Situation“, bei der wir alle profitieren würden.“
Professor Filipetti war erstaunt über diese plötzliche Wendung des Gesprächs, verkniff sich aber jeglichen abfälligen Kommentar. „Ich höre“.
„Wie gesagt, die Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Aber ich kann Ihnen eine E-Mail weiterleiten. Die ist aus Sicherheitsgründen verschlüsselt, aber Sie können Sie mit Ihrem normalen Passwort öffnen, das Sie von uns bekommen haben. Mehr weiß ich auch nicht.“
Noch bevor das Telefonat beendet war, hörte Professor Filipetti das akustische Signal, das den Erhalt einer neuen E-Mail ankündigte. Mit Hilfe des Passworts konnte er sie mühelos öffnen. Der Inhalt war überraschend kurz. Er wurde aufgefordert, ein Prepaid-Handy zu kaufen und eine französische Mobil-Nummer anzurufen. Unterzeichnet war die Nachricht nur mit einem Vornamen: Mikhail.
Professor Filipetti war nicht wirklich daran gewohnt, fremden Anweisungen zu folgen. Und schon gar nicht, ohne den genauen Kontext zu kennen. Aber er sah keine andere Wahl, als auf die Nachricht einzugehen und möglichst schnell mit diesem mysteriösen Mikhail Kontakt aufzunehmen.
Dieser hatte den Anruf offenbar bereits erwartet, als Professor Filipetti eine halbe Stunde später – er befand sich mittlerweile auf offener Straße in der Nähe eines Drugstores, in dem er das Prepaid-Handy gekauft hatte – die ihm genannte Telefonnummer gewählt hatte.
„Vielen Dank für Ihren schnellen Rückruf. Wie geht es Ihnen?“ antwortete sein Gesprächspartner als Begrüßung. Auch wenn die jugendliche Stimme des Mannes ausgesprochen höflich und respektvoll klang, war es Professor Filipetti nicht wirklich nach Small Talk zu Mute.
„Wer sind Sie?“, entgegnete der Arzt schroff.
„Nennen Sie mich einfach Mikhail.“
„Für wen sind Sie tätig?“
„Ach, wissen Sie, das ist derzeit doch ohne Bedeutung.“
„Was wollen Sie dann von mir?“ Der Mann senkte plötzlich seine Stimme: „Ich kann nicht lange sprechen, ich befinde mich nämlich gerade in einer dienstlichen Besprechung.“
„Ach hören Sie doch auf, Professor Filipetti! Ich kann Sie doch genau sehen: Sie laufen hier im Freien auf und ab direkt vor dem Einkaufszentrum.“
Erschrocken blieb der Arzt stehen und blickte sich nach allen Seiten um, konnte jedoch nichts Merkwürdiges entdecken. Nach einer Weile fragte er erneut: „Sagen Sie mir jetzt verdammt noch mal, was Sie wollen, oder...“
„Ist es nicht eher so, dass Sie etwas von uns wollen – oder besser gesagt – etwas brauchen?“
Professor Filipetti reagierte nicht, sondern blieb stumm.
Mit salbungsvoller Intonation fuhr sein Gesprächspartner fort: „Sehen Sie, wir wissen um die finanziellen Schwierigkeiten Ihrer Klinik und würden Ihnen einfach nur gerne helfen.“
„Wie und warum?“
„Wir bieten Ihnen einen fairen Deal an. Könnte Sie das interessieren?“
„Und wenn nicht?“
„Dann passiert gar nichts. Fühlen Sie sich in Ihrer Entscheidung völlig frei.“
Professor Filipetti mochte diese Art von Gesprächsführung überhaupt nicht. Aber er wollte wissen, um welche Art von Deal es sich handelte. „Was würde mir der Deal konkret bringen?“
Der Mann namens Mikhail mit der jugendlichen Stimme lachte kurz auf. Er wusste, dass Professor Filipetti angebissen hatte. „Das ist ganz einfach: Ihre Klinik bekommt von uns fresh money und Sie bleiben erfolgreicher Klinikchef. Niemand wird entlassen und Ihre Patienten werden noch viele glückliche Jahre in den Genuss Ihrer Operationskünste kommen.“
„Und was erwarten Sie von mir als Gegenleistung?“, fragte Professor Filipetti zögernd.
„Das würden wir Ihnen gerne in einem persönlichen Gespräch unterbreiten.“
„Wann?“
„Am Montag um 20 Uhr.“
Professor Filipetti runzelte die Stirn. „Jetzt überraschen Sie mich aber, Mikhail“, sagte Professor Filipetti nicht ohne eine gewisse Süffisanz in der Stimme. „Wissen Sie denn nicht, dass ich erst am Mittwoch nach Paris zurückfliege?“
„Natürlich wissen wir das. Deswegen wollen wir uns ja auch hier vor Ort in New York treffen.“
„Ah, so ist das? Okay, warum nicht. Aber ich muss erst checken, ob ich am Montag nicht bereits verplant bin.“
„Sind Sie nicht. Sie werden Ihre reizende Kongressbekanntschaft namens Aurélie nach einem letzten gemeinsamen Lunch bis zum JFK-Flughafen begleiten und sich dort von ihr verabschieden. Der Flug geht bereits um 17 Uhr 35. Da bleibt Ihnen genügend Zeit, wieder in die City zurückzukehren, um sich mit uns dort zum Abendessen um 20 Uhr zu treffen.“
Professor Filipetti war sprachlos und blickte unwillkürlich erneut nach allen Seiten, um zu checken, ob er beobachtet würde.
„Wir werden übrigens zu dritt sein, mein Lieber. Sie werden nämlich sofort ihren ersten Patienten kennenlernen. Er kann Ihnen dann alles viel besser persönlich erklären. Und wir suchen noch nach einem geeigneten „Spender“ für die Operation. Aber wir haben da schon eine Vorauswahl getroffen. Die wird Ihnen sicherlich gefallen.“
Da als einzige Reaktion des Chirurgen nur dessen schweres Atmen zu hören war, fuhr der junge Mann mit beruhigender Stimme fort: „Seien Sie ganz relaxed, Professor Filipetti. Der Deal wird klappen. Da bin ich mir ganz sicher. Und jetzt kümmern Sie sich doch endlich um Ihre charmante Begleitung, die Sie heute Nachmittag – nun sagen wir - nicht gerade gentlemanlike behandelt haben.“
Professor Filipetti spürte, wie ihn diese letzte Bemerkung in seinem männlichen Stolz bis ins Mark traf. Er war doch überall als talentierter Charmeur und unverbesserlicher Frauenliebhaber bekannt. Wie konnte ich Vollidiot mich nur gegenüber Aurélie so daneben benehmen und ohne eine Erklärung einfach davon machen?, dachte er innerlich betroffen und voller Wut auf sich selbst. Er blickte auf die Uhr. Die Abschlusskonferenz war mit Sicherheit bereits zu Ende und Aurélie auf dem Weg in ihr Hotel. Er würde also nicht einmal mehr die Möglichkeit bekommen, sich noch heute Abend bei ihr zu entschuldigen. Wenn er zumindest ihr Hotel kennen würde oder nach ihrer Handy-Nr. gefragt hätte...
„Sind Sie überhaupt noch dran, Professor Filipetti? Sie sind so schweigsam“, führte der junge Mann namens Mikhail seinen Gesprächspartner wieder in die Realität zurück. Professor Filipetti reagierte nicht.
„Mein lieber Professor Filipetti, kennen Sie eigentlich das Restaurant Sandro’s in Manhatten?“,
„Soll dort etwa unser Meeting am Montag stattfinden?“
„Sehr witzig. Nein, für unsere Besprechung brauchen wir vor allem Ruhe und Diskretion.“
„Dann hören Sie doch verdammt noch mal auf, solche ... deplatzierten Fragen zu stellen“, begann Professor Filipetti sich zu echauffieren. „Ja natürlich, ich kenne das Sandro’s in Manhatten sogar sehr gut. Ein Spitzenitaliener mit exquisiter mediterraner Küche und best romantic atmosphere. Aber da geht man eben nur mit topp weiblicher Begleitung hin. Und dafür wird es - selbst für mich - heute Abend zeitlich wohl etwas knapp werden.“
„Ich teile Ihren Pessimismus nicht. Sie haben zu wenig Fantasie!“
„Was soll das nun schon wieder heißen?“, antworte Professor Filipetti sichtlich gereizt.
„Das liegt doch auf der Hand: Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass Aurélie just in diesem Restaurant auf Sie wartet.“
„Hellseher sind Sie jetzt vielleicht auch noch. Oder einfach nur Klugscheißer? Was soll der Quatsch! Das Sandro’s ist ein Gourmet-Tempel. Da würde Aurélie doch nie von sich aus hingehen.“
„Außer... sie wäre von Ihnen dazu eingeladen worden.“
„Liebend gerne“, seufzte Professor Filipetti, „aber so ist es halt leider nicht!“
Sein Gesprächspartner seufzte übertrieben und schnalzte mehrfach mit der Zunge. „Sie machen es mir aber wirklich nicht einfach! Haben Sie doch einfach etwas mehr Mut und Selbstvertrauen!“
„Wie bitte?“
„Ja, checken Sie doch einfach mal Ihre SMS von heute Nachmittag.“
Professor Filipetti atmete tief durch und wusste nicht, was er von dem Ganzen halten sollte. Seitdem er in den USA war, hatte er SMS weder verschickt noch erhalten. Da war er sich ganz sicher.
Missmutig holte er nach einigem Zögern sein Privathandy hervor. Er hatte es nach dem Erhalt der verschlüsselten Botschaft bewusst ausgeschaltet, um nicht gestört zu werden.
Es dauerte mehr als eine Minute, bis er wieder Empfang hatte. Unmittelbar danach erschien das SMS-Symbol auf seinem Display.
Er konnte es kaum glauben. Sein Gesprächspartner hatte Recht. Auf dem Handy war zwischenzeitlich eine neue SMS eingegangen. Allerdings nur eine einzige. Sie stammte von einer ihm völlig unbekannten französischen Handy-Nummer und antwortete kurz auf eine augenscheinlich von ihm zuvor versandte längere SMS:
Aurélie, tausendmal sorry für soeben! Wie kann ich das nur wieder gutmachen? Mit einem gemeinsamen Abendessen? Ein Tisch wartet auf uns beide im Sandro’s um 19 Uhr 30. Ich werde dich direkt von der Uni abholen lassen. Freue mich! François.
Professor Filipetti war hin und her gerissen: Er hasste es abgrundtief, die Kontrolle zu verlieren. Aber seitdem er mit Aurélie die Cafeteria verlassen hatte, war nichts mehr wie zuvor. Sie hat es doch tatsächlich geschafft, mich in die Abschlusskonferenz zu schleppen. Danach das Katastrophen-E-Mail seiner Bank und zum krönenden Abschluss ein völlig abgedrehtes Telefonat mit einem mysteriösen Unbekannten namens Mikhail, der ihn offenbar nicht nur vor dem sicheren finanziellen Kollaps der Klinik bewahren, sondern darüber hinaus auch noch bei seinen amourösen Aktivitäten unterstützen wollte.
Der Arzt saß im Taxi und fuhr in Parallelrichtung zum East River auf der dicht befahrenen 2nd Avenue. Gedankenversunken ließ er die schrill beleuchtete Straßenkulisse aus roten Backsteinbauten und bunten Geschäftsfassaden an sich vorbeirauschen.
„Tausendmal sorry für soeben“, murmelte Professor Filipetti kopfschüttelnd vor sich hin. Niemals würde er sich mit einer derart plump-erbärmlichen Wortwahl bei einer Frau entschuldigen, die er erobern wollte. Aber will ich das überhaupt? stutzte Professor Filipetti einen Augenblick. Objektiv betrachtet entsprach die junge Frau absolut nicht seinem Typ: Er hatte doch zumeist nur hochgewachsene, flachbrüstige Mannequin-Typen mit naturblonder oder entsprechend gefärbter Haarespracht im Visier.
Die maskulin anmutende Silhouette dieser Frauen ließ sich dabei weniger auf deren vegane Lebenseinstellung zurückzuführen, sondern war zumeist Anzeichen einer latent vorhandenen Anorexie einschließlich der damit einhergehenden psychischen Probleme. Dazu im diametralen Gegensatz Aurélie: klein, brünett, kompakt und mit weiblichen Rundungen. Diese Frau hatte ein lebensbejahendes Naturell und eine selbstbewusste, lustbetonte Einstellung zu jeder Art des Genusses. Dieses Bild von Aurélie hatte er zumindest nach seiner Nachmittagsbegegnung mit der jungen Frau gewonnen. Und er lag dabei wahrlich nicht völlig falsch.
Und wenn sie mich anlächelt, dann...! Doch Professor Filipetti zog es vor, diesen Gedanken vorläufig nicht zu Ende zu denken. Das Taxi hatte mittlerweile die Straßenkreuzung zur East 81st Street erreicht und bog nach rechts ab. Nach nicht einmal 100 Metern hielt es an. Professor Filipetti bezahlte das Taxi und stieg aus. Zum Teufel mit der Kontrolle – den heutigen Abend will ich einfach nur genießen, dachte er und betrat das Restaurant. Er fragte sich dabei insgeheim, ob er sich nicht bereits von Aurélies optimistisch-positiven Ausstrahlung ein wenig hatte anstecken lassen.
Als er die junge Frau nur wenige Sekunden später mit elegant überkreuzten Beinen an einem romantisch gedeckten Einzeltisch mit dezent flackerndem Kerzenlicht sitzen sah, verschlug es ihm endgültig die Sprache: Die Verwandlung von der lernbegierigen Doktorandin mit gebleichten Jeans und ausgetragenen Turnschuhen zu einer attraktiven Lady im sexy körperbetonten Cocktailkleid war perfekt.
Während der gesamten Fahrt im Taxi hatte Professor Filipetti angestrengt darüber gegrübelt, ob Aurélie ihm trotz der angenommenen Einladung ins Restaurant noch Vorhaltungen wegen seines Verhaltens vom Nachmittag machen würde. Doch das strahlend-umwerfende Lächeln der jungen Frau ließ keinen Platz für eine derartige Reaktion.
Professor Filipetti schluckte innerlich und begrüßte Aurélie mit einem Küsschen links und rechts auf die Wange.
„Ma chère Aurélie! Meine liebe Aurélie! Ich bin untröstlich wegen...“ begann Professor Filipetti sich zu entschuldigen.
„Pschttttt!, entgegnete die junge Frau und legte ihren linken Zeigefinger neckisch auf den Mund von Professor Filipetti, so dass dieser jegliche Bewegung seiner Lippen einstellen musste. Er hatte dabei das Gefühl, als spürte er einen süßen Kiwi Geschmack auf seiner Zunge.
„Due bichieri de Prosecco con l’attenzione della casa“, meldete sich der herbeieilende Kellner zu Wort und überreichte jeweils ein gut gefülltes Sektglas mit grüner Limone. Die beiden nahmen die nette Aufmerksamkeit – sie ging offenbar ebenfalls auf das Konto des ominösen Organisators des heutigen Abends – gerne an.
„Auf uns...“, schlug Professor Filipetti herausfordernd vor.
„Auf unsere Begegnung hier in New York“, antwortete Aurélie mit weiblicher Intuition.
Den wortreich dargebotenen Empfehlungen des Cameriere folgend bestellten sie als Vorspeise Prosciutto San Daniele (für sie) und Mozarella di Buffala (für ihn) und freuten sich, dass die im Handumdrehen servierten Antipasti eine - mehr als willkommene - solide Grundlage für den im Eifer des Gefechtes wohl etwas zu schnell auf nüchternen Magen geleerten Aperitif bildeten.
Auf die Vorspeise folgten dann als weitere exquisite Spezialitäten des Hauses pikant in Butter herausgebackenes Hühnchen Alla Diavola (für sie) und getrockneter Stockfisch Alla Moda Di Sandro (für ihn). Dazu genossen sie eine gut gekühlte Flasche Weißweins Frascati Superiore.
Professor Filipetti war überrascht und gleichzeitig erleichtert, dass der Vorfall vom Nachmittag überhaupt keine Rolle mehr in den Gesprächen spielte. Aurélie wurde – mit jedem Schluck Weißwein – redseliger, während Professor Filipetti sich amüsiert zurückhielt und nur durch ein gelegentliches „Ah ja“, „Natürlich“ oder „Du hast Recht“ an der immer stärker monologhafte Züge annehmenden Unterhaltung teilnahm.
Es gefiel ihm zunehmend, sich in die Rolle des stillen Genießers und souveränen Beobachters zurückzuziehen. Denn während die junge Frau – sie hatte die Wartezeit bis zur Ankunft von François im Restaurant offenbar sehr effizient mit der Lektüre des Touristikführers „Un Grand Weekend à New York“ genutzt – die verschiedenen Sehenswürdigkeiten und touristischen Geheimtipps durchdeklinierte, die sie sich unbedingt am Sonntag vornehmen wollte, begnügte sich Professor Filipetti damit, die junge Frau einfach anzuschauen: Zentimeter für Zentimeter, von oben nach unten, von links nach rechts.
Aurélie war ausschließlich damit beschäftigt, eine möglichst sinnvolle Route auszuarbeiten, bei der selbstverständlich ein Besuch des Ground Zero eben so wenig fehlen durfte wie eine romantische Kutschenfahrt im Central Park sowie eine berauschende Promenade auf der 5th Avenue ... Ihr fiel deshalb nicht auf bzw. sie tat zumindest so, als fiele es ihr nicht auf, dass François sie permanent mit seinen Scanner-Augen von allen Seiten und Winkeln musterte.
Und Professor Filipetti entging nichts, als ob er die menschliche Morphologie einer Patientin im Hinblick auf einen bevorstehenden chirurgischen Eingriff inspizieren müsste: Aurélies natur-brünette Haarfarbe, ihr gleichmäßiger Haaransatz an der Stirn und die geschmeidige Form ihrer Augenbrauen, ihre Augen selbst (von den dezent geschminkten Augenlidern bis zur smaragdgrünen Kolorierung der Iris), die zierliche Stupsnase und deren neckische Sommersprossen sowie der rot-sinnliche Mund, der sicherlich nur danach verlangte, leidenschaftlich geküsst zu werden...
Als Aurélie mit begeisterter Gestik und Mimik plötzlich die Frage aufwarf, ob man die Hafenbootsfahrt auf dem Hudson River bis zur Freiheitsstatue mit dem unvergesslichen Blick auf Manhatten’s Skyline lieber am Tage oder by night unternehmen sollte, wurde das Dessert serviert: hausgemachte Tiramisu mit Mascarpone (für sie) und ein doppelter Espresso (für ihn).
Nachdem die beiden das Restaurant verlassen hatten, genossen sie die laue Abendluft als willkommene Abwechslung zu der kühlen Atmosphäre der Klimaanlage im Gebäudeinneren. Das vom Restaurant bestellte Taxi wartete bereits.
„Hast du noch Lust auf einen letzten Drink?“, übernahm Professor Filipetti plötzlich die Gesprächsführung.
„Aber wir kommen doch gerade aus dem Restaurant?“ entgegnete Aurélie mit entwaffnender Ehrlichkeit und Logik.
Professor Filipetti tat so, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. „Ich bin dieses Mal im Hotel The Peninsula New York untergebracht“, bemerkte er beiläufig – in Wirklichkeit logierte er bei jedem seiner Aufenthalte in NYC in diesem Hotel, das ihm als Korsen bereits wegen des Namens so imponierte. „Es ist nicht sehr weit von hier. Die Bar in der Hotellounge hat sicher noch bis Mitternacht geöffnet.“
„Und danach?“, fragte Aurélie für François völlig überraschend.
„Wonach?“
„Nach Mitternacht, wenn die Hotelbar geschlossen ist.“
Professor Filipetti zögerte etwas. „Äh... wir finden dann sicherlich noch etwas zu trinken in der Zimmerbar.“
„Und wenn wir dann auch diese geleert haben?“, bohrte Aurélie hartnäckig nach.
„Das sehen wir dann schon, oder?“
„Was sehen wir dann schon?“
„Was wir machen.“
„Du meinst, ob ich bei dir im Hotel über Nacht bleibe und wir miteinander schlafen? Unkomplizierten Sex haben, das ist es doch, was du dir wünscht.“
„Natürlich nicht“, widersprach Professor Filipetti sichtlich verlegen. „Oder zumindest nicht unbedingt.“
„Aber du musst doch deshalb nicht rot werden, François“
„Werde ich doch gar nicht. Und selbst wenn, würde man das in der Dunkelheit auf keinen Fall sehen“, antwortete François trotzig.
„Mon cher François! Ich habe zusammen mit dir einen tollen Kongresstag und einen noch schöneren Abend verlebt. Wir kennen uns seit nunmehr“, Aurélie blickte kurz auf ihre Uhr, „sagen wir, knapp zehn Stunden und haben vielleicht drei oder vier Stunden davon intensiv miteinander gesprochen.“
Professor Filipetti hörte der jungen Frau zu, ohne etwas zu sagen.
„Aber ich bin kein Fan abgedroschener Gender-Klischees. Wenn wir beide Lust haben, miteinander zu schlafen, warum nicht? Aber lass es doch einfach geschehen, spontan und zwanglos. Und versuche nicht, im Voraus alles selbst zu bestimmen. Das geht bei mir nämlich gar nicht! Sorry...“ Sie schaute François tief in die Augen und hoffte, ihn durch diese Worte nicht verletzt zu haben.
Als der Arzt nicht reagierte, fuhr sie fort: „Ich brauche die Freiheit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und für mich entscheiden zu können. Und ich habe keine Lust, in einem fremden Hotelzimmer aufzuwachen, wenn ich das nicht von mir aus so gewollt habe. Ist das so schwer zu akzeptieren? Wir leben doch im 21. Jahrhundert, oder?“
Professor Filipetti nickte mit vertrockneter Kehle. In Wirklichkeit fragte er sich, ob er nicht doch massiv in die Jahre gekommen sei. Denn früher war es ihm in vergleichbaren Situationen niemals passiert, dass eine jüngere Frau seinem Charme widerstanden hätte
„Kann ich das noch irgendwie gut machen?“, fragte François schließlich kleinlaut und ärgerte sich sofort über sich selbst, diese Frage gestellt zu haben.
„Ich glaube nicht. Aber wenn es dich beruhigt: Es liegt nicht an deiner Attraktivität als Mann, wenn ich so reagiere. Ich möchte mich nur nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen lassen, sondern selbst Initiative ergreifen können.“
Klasse! Die Frau von heute will modern sein und selbst die Initiative ergreifen. Von mir aus sehr gerne!! Aber wenn ich in meinem Leben immer nur auf die weibliche Initiative gewartet hätte, wäre ich doch heute noch Jungfrau, oder? versuchte der gekränkte Arzt in Gedanken den Rest seiner männlichen Logik zu retten.
Als Professor Filipetti immer noch schwieg, schloss Aurélie ihren Monolog: „Und deshalb nehme ich jetzt das Taxi und fahre in mein Hotel. Und zwar allein“,
Die Stimme der jungen Frau zitterte etwas. Sie ergriff ganz langsam die beiden Hände des Mannes und drückte sie fest an sich. Dann zog sie dessen Oberkörper etwas nach unten und stellte sich selbst auf ihre Zehenspitzen. Die beiden Köpfe näherten sich allmählich und Aurélie begann, mit ihren Fingerspitzen zärtlich das Gesicht von François zu liebkosen. Die beiden schlossen die Augen. Sie spürte, wir ihr eigener Atem schneller wurde. Doch das Ganze dauerte nur wenige Bruchteile von Sekunden...
Danach stieg die junge Frau in das wartende Taxi und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Sie hinterließ einen Mann, der bis zu diesem Tag felsenfest davon überzeugt war, dass er sowohl sein berufliches als auch sein privates Leben absolut unter Kontrolle haben würde. Doch das stimmte von nun an nur noch sehr bedingt.
Als Professor Filipetti ungefähr eine halbe Stunde später in der fast menschenleeren Lounge seines Hotels ankam, ließ er sich missmutig und abgeschlagen an der Bar auf einem der zahlreichen Hocker nieder und bestellte wortkarg den „ältesten und teuersten Whiskey“, den der Barkeeper zu dieser Zeit noch auftreiben könnte.
„Excusez-moi Monsieur, cette place serait-elle encore libre?“, fragte auf einmal eine junge Frau in perfektem Französisch von der Seite und küsste den völlig überraschten François. Zunächst nur auf die Lippen. Doch dann suchte sich ihre Zunge den Weg und spielte tänzelnd mit dem Mund des Mannes.
„Also was ist? Gehen wir auf Dein Zimmer? Die Hotelbar wird doch sicherlich gleich schließen.“ Aurélie zwinkerte dem Barkeeper kurz zu und nahm François am Arm.
Mehrere Jahre später in Nizza kurz vor Weihnachten
Bereits zum dritten Mal hatte der aggressive Klingelton des Handyweckers seine terrorisierende Wirkung gezeigt. Mit einem letzten Kraftakt streckte Dahlia ihren linken Arm aus und ertastete das auf dem Fußboden vibrierende Smartphone. Als sie es endlich schaffte, die „Aus“-Taste zu drücken, leuchtete kurzzeitig das Display auf: „7 Uhr 45“ wurde ihr als Uhrzeit gnadenlos entgegengeschleudert und eine Überdosis an Adrenalin schoss durch ihren Körper bis in die entferntesten Zellen ihres Gehirns. Sie war plötzlich hellwach und erinnerte sich daran, warum sie den Handywecker programmiert hatte: Obwohl sie sich für das Wochenende fest vorgenommen hatte, nicht zu arbeiten, musste sie in letzter Sekunde ein angeblich unaufschiebbares VIP-Rendezvous akzeptieren. Um Punkt acht Uhr am Strandcafé Blue Beach direkt an der Promenade des Anglais.
Dahlia war eine Vollblut-Journalistin und wurde vor sechs Monaten zur leitenden Chefredakteurin der renommierten Tageszeitung Le Monde am Standort Nizza ernannt. Seitdem hatte sie kein freies Wochenende mehr und pendelte ständig zwischen der Zentrale in Paris und ihrer neuen Wirkungsstätte am Mittelmeer.
Doch der Beruf war ihr Leben und so hatte sie sich gleich zu Beginn ihrer Karriere ganz bewusst gegen ein konventionelles Familienleben entschieden. Wie hätte sie auch eine feste Beziehung aufbauen können, nachdem sie die letzten zehn Jahre als Auslandskorrespondentin für verschiedene Print- und TV-Medien ständig im Einsatz außerhalb Frankreichs war und sich deshalb nie länger als einige Monate am gleichen Ort aufhielt.
Mit 39 Jahren war sie trotz ihres Single-Daseins nicht unglücklich darüber, sich in geographischer Hinsicht nunmehr doch etwas stabilisiert zu haben. Und das dazu noch in Nizza, ihrer über alles geliebten Heimatstadt. Hier war sie als Kind tunesischer Immigranten der zweiten Generation aufgewachsen.
Neben ihr im Bett lag Tom und schlief fest und friedlich vor sich hin. Von der Weckaktion hatte er nichts mitbekommen. Ein gleichmäßiges leichtes Schnarchen war Beweis dafür, dass er sich in einer Phase des Tiefschlafes befinden musste. Kein Wunder, denn die beiden hatten in der Nacht nur wenig geschlafen.
Tom war US-amerikanischer Staatsbürger und absolvierte als Stipendiat seiner Journalistik-Schule in Atlanta ein dreimonatiges Praktikum in Frankreich, um dort Französisch zu lernen. Über irgendwelche Umwege war er dann in Nizza gelandet und wurde Dahlia als Betreuerin zugeordnet, da sie mit Abstand am besten Englisch sprach.
Bereits in der ersten Woche ist es dann passiert. Dahlia hatte Tom gebeten, ihr noch spät in der Nacht bei wichtigen Recherchen für eine Reportage zu helfen, und dabei jeglichen Sinn für Zeit und Raum verloren. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Praktikant bereits in den frühen Morgenstunden – einerseits völlig übermüdet, andererseits über den schier unbezwingbaren Arbeitseifer seiner Chefin sichtlich amüsiert - die entscheidende Frage stellte: „Do you want to fuck?“
Obwohl Dahlia im ersten Augenblick sichtlich überrascht war und lautstark protestieren wollte, musste sie schließlich über die ehrlich-entwaffnende Art des jungen Mannes lachen. Nur kurze Zeit später - sie befanden sich immer noch in den zu dieser Zeit menschenleeren Räumlichkeiten der Redaktion - wälzten und liebten sie sich hemmungslos auf dem flauschigen Teppichboden des großen Besprechungszimmers. Seitdem waren sie zusammen, achteten jedoch peinlich darauf, dass niemand in der Redaktion etwas von ihrer Affäre mitbekommen würde.
Dahlia streichelte Tom liebevoll über das Gesicht und spürte an ihren Fingerspitzen den gleichmäßigen Atem des jungen Mannes. Wehmut kam kurzzeitig in ihr auf, da sie wusste, dass die Tage ihrer Liaison gezählt waren. Tom hatte sein Praktikum diese Woche offiziell beendet und würde gleich zu Beginn der nächsten Woche zurück in die USA fliegen, um dort Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen.
Sie hatte geplant, vielleicht im März in die USA nachzureisen und als Springbreaker mit Tom eine Woche Frühlingsferien in Florida zu verbringen – falls es bis dahin überhaupt noch eine Beziehung gab. Dahlia seufzte innerlich, nahm sich jedoch vor, bis zum unvermeidlichen Abschied das Leben zu zweit in vollen Zügen zu genießen. Carpe diem!
Insgeheim hoffte sie, dass ihr Freund vielleicht noch schlafen würde, wenn sie nach dem morgendlichen Interviewtermin mit frischen Croissants in sein Appartement zurückkommen würde. Sie würden zunächst ausführlich frühstücken, dann gemeinsam duschen und schließlich genau dort weitermachen, wo sie irgendwann in der Nacht nach mehrfachem leidenschaftlichem Wiedersehens-Sex – Dahlia war erst nach Mitternacht mit der letzten Maschine von Paris aus in Nizza angekommen - völlig erschöpft aufeinanderliegend eingeschlafen waren.
Vorsichtig tastete Dahlia – auf allen Vieren kniend - den Teppichboden neben dem Bett ab, um ihre im ganzen Zimmer verstreuten Kleidungsstücke zu finden. Aus Angst, Tom aufzuwecken, verzichtete sie darauf, das Licht anzuknipsen. Selbst die Taschenlampen-Funktion ihres Handys wollte sie nicht aktivieren.
Mit kreisförmigen Bewegungen erfühlten ihre Hände im Dunkeln des Schlafzimmers die knöchelhohen Stiefel und die schwarzen Wetlook Leggings, die sie sich noch am Vortag in Paris unmittelbar vor dem Abflug gekauft hatte. Als sie zwei Hemden ertastete, schnupperte sie kurz an beiden Kleidungsstücken und konnte am Duft des Dior-Parfums ihre Bluse identifizieren.
Sie war immer noch völlig nackt und suchte weiterhin auf dem Boden kriechend nach ihren Strümpfen sowie ihrem Slip und BH. Ohne Erfolg! Dann erinnerte sie sich daran, dass sie beide sich erst im Bett zu Ende ausgezogen haben. Doch Dahlia hatte nicht mehr die Zeit, die Kleidungsstücke irgendwo zwischen den Bettlaken und –decken zu suchen. Auch in ihrem Koffer würde sie auf die Schnelle keine frische Unterwäsche finden. Kurzentschlossen verzichtete sie auf Slip und BH und schlüpfte barfuß in die kalten Lederstiefel.
Als sie sich mit den Händen abstützten wollte, um vom Boden aufzustehen, spürte sie plötzlich unter ihrer rechten Hand etwas Glitschiges und zog instinktiv ihre Hand wieder zurück. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn sie hatte verstanden: Offenbar lag da noch ein Kondom auf dem Boden, das bei ihren nächtlichen Aktivitäten mit Tom nicht mehr zum Einsatz gekommen war.
Sobald sie fertig angezogen war, verließ sie auf Zehenspitzen Toms Wohnung, ohne jedoch es zu versäumen, ihrem schlafenden Freund einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gegeben zu haben. Sie nahm den Aufzug und erreichte nach fünf langen Etagen das Erdgeschoss. Als sie aus der großen Eingangstür des Wohngebäudes trat, fuhr gerade die Limousine vor, die sie noch im Appartement mit der Uber-Applikation geordert hatte
Knapp zehn Minuten später stieg Dahlia auf der Promenade des Anglais auf der Höhe des Kasinos aus dem schwarzen Peugeot 508 aus. Ihr Handy zeigte mittlerweile 8 Uhr 17 an. Die frostige Meeresbrise an diesem Dezembermorgen verschlug ihr den Atem und ließ ihre Arme und Beine vor Kälte erstarren. Ihre nackten Füße fühlten sich in den knöchelhohen Stiefeln wie Eiszapfen an.