#PAY. Wer stirbt, entscheidest du! - Hendrik Klein - E-Book

#PAY. Wer stirbt, entscheidest du! E-Book

Hendrik Klein

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Beschreibung

Ein grausamer Serienmörder, ein zwielichtiger Kommissar und ein Wettlauf gegen die Zeit. Ein nervenaufreibender Thriller für alle Leser:innen von Jussi-Adler Olsen und Lee Child »Willst du mir sagen, dass nicht nur jeder diese Seite aufrufen kann, um einen Mord zu beobachten, sondern jeder auch Geld an diese E-Mailadresse überweisen kann, damit der Mann stirbt?« Kriminalhauptkommissar Albert Zeiler war einst ein Mann mit klaren Prinzipien und einem unerschütterlichen Glauben an Gerechtigkeit. Sein neuer Fall ist nicht nur äußerst brutal, er bringt ihn auch persönlich an seine Grenzen: Die Ermittler müssen live verfolgen, wie ein Mann durch eine Stahlkugel erschlagen wird, als die festgesetzte Summe von 100.000 Euro erreicht ist, die von anonymen Zuschauern gespendet wird. Kurz darauf taucht die zerstückelte Leiche des Opfers auf. Es folgen weitere Videos und Morde. Die Ermittler kommen dem Mörder jedoch mit jeder Tat näher und finden heraus: Die Opfer wurden nicht zufällig ausgewählt und auch mit Albert Zeiler hat der Täter noch eine Rechnung offen. »Dieses Buch ist so spannend geschrieben, dass ich es nicht weglegen konnte. Der Inhalt dieses Buches ist sehr brutal und braucht starke Nerven. Von mir erhält dieses Buch eine klare Kauf- und Leseempfehlung.« ((Leserstimme von wodisoft)) »Das perfide Spiel des Täters ist gekonnt aufgebaut. Man konnte fleißig miträtseln. Die Auflösung konnte mich persönlich absolut überraschen und passt auch ins Bild. Das Buch ist ein fesselnder Thriller, der von mir eine klare Leseempfehlung bekommt!« ((Leserstimme von Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

DANKSAGUNG

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Es roch verbrannt, und Albert wusste, was das bedeutete. Mit schweren Beinen, und mit einem großen Kloß im Hals, ging er über die asphaltierte Straße. Im Bankett standen seine Kollegen. Sie hatten bereits eine breite weiße Plane errichtet …

Der Wecker klingelte wie aus dem Nichts. Kriminalhauptkommissar Albert Zeiler wollte es nicht wahrhaben. Ein leichter, bohrender Kopfschmerz machte sich hinter seiner rechten Schläfe breit – wie er es immer tat, wenn der Wein am Vorabend zu lecker geschmeckt hatte. Ihm war bewusst, dass er zu viel trank. Aber letztlich hatte er nur dieses eine Leben, darum war es ihm herzlich egal, wenn er mal zu tief ins Glas schaute. Lieber starb er glücklich und verlebt mit siebzig, anstatt als Langweiler im Alter von hundert Jahren. Gestern Abend hatte es an seiner Wohnungstür geklingelt, und seine Nachbarin, Gretchen Lorenz, stand mit einer Flasche Rotwein auf dem Flur, um mit ihm ihre Beförderung zu feiern. Im Grunde hatte er nie wirklich verstanden, was genau Gretchen eigentlich beruflich machte. Irgendwas bei einem Energiekonzern, die Pipelines mit Molchen reinigten. Sie hatte es ihm mehrfach erklärt, doch seine Gedanken schweiften irgendwann ab, weil ihm ihre Ausführungen einfach zu langweilig waren. Zu der einen Flasche gesellten sich zwei weitere hinzu, die er selbst in seinem Weinregal gelagert hatte. Wenn er sich richtig erinnerte, war es halb zwei in der Nacht, als Gretchen wieder rüber in die 4B ging und seine 4A verließ. Es war nichts zwischen ihnen gelaufen, was Albert mittlerweile nicht mehr ärgerte. Er hatte sie nie nach ihrem Beziehungsstatus gefragt. Falls Gretchen etwas zu erzählen hätte, würde sie das machen. Also warum das Risiko eingehen, sie auf ein Thema anzusprechen, das sie verletzen könnte? Sie war vierundvierzig Jahre alt, und damit knapp über zwanzig Jahre jünger als er. Sie liebte ihr Junggesellinnendasein. Dennoch trank sie wie ein Bergarbeiter, und das war vielleicht der Grund, warum sie beide immer mal wieder Zeit miteinander verbrachten.

Er drückte den Wecker aus, schlug seine Bettdecke zur Seite und sah von seinem Bett aus in Richtung Wohnzimmer. Da standen die drei leeren Übeltäter und außerdem eine Flasche Ramazzotti, die noch fast bis zum Hals gefüllt war. Schläfrig und ohne Eile wankte er in die offene Küche und nahm sich zwei Ibuprofen aus seiner Hausapotheke, spülte sie mit einem Glas Milch hinunter und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Seine Zunge fühlte sich pelzig an, und seine Augen waren durch Schlafsand verklebt. Der Blick in den Spiegel machte es nicht besser. Grau melierte Haare, ein Fünftagebart, eine breite Narbe am Ohr, die aus seiner Kindheit stammte, und blutunterlaufene Tränensäcke, die ihn jetzt um Jahre älter wirken ließen. Seine Schultern, einst straff und breit, wirkten mittlerweile schmaler und kraftloser. Außerdem spannte fast seine gesamte Kleidung am Bauch – egal welches Oberteil oder welche Hose er anzog. Auf ein Meter fünfundachtzig ließen sich ein paar Kilogramm leicht verstecken. Jedoch musste er sich langsam eingestehen, dass seine Körpergröße sein Konsumverhalten nicht länger tarnen konnte. Verdammt, er musste weniger trinken! Eine Dusche und seine Zahnbürste halfen ihm, die Überreste des gestrigen Abends zu beseitigen. Zwanzig Minuten später war er frisch gekleidet und räumte seinen Wohnzimmertisch auf. Seine Putzkraft, die im Laufe des Vormittags kommen würde, musste ja nicht sehen, dass er schon wieder getrunken hatte. Wobei sie die Flaschen in seinem Abstellraum sowieso bemerken würde.

Albert warf einen Blick aus seinem Wohnzimmerfenster auf die Straße. Gegenüber war die verführerische Weinhandlung, die er später sicherlich wieder aufsuchen würde. Es regnete, und die Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Sein dickes Haar war noch nass von der Dusche, und so ging er zurück ins Bad, um es zu föhnen. Er stand gerade im Türrahmen, als sein Handy klingelte. Es ertönte die Melodie Killer von George Michael.

»Albert Zeiler, hallo?«, meldete er sich.

»Albert, ich bin’s, Michael.«

Michael Schreiber. Das war für einen Dienstagmorgen kein wirklich guter Anruf, glaubte er. Michael war Erster Kriminalhauptkommissar der Stadt Lingen und somit sein Vorgesetzter. Er war ein fülliger Mann, der nicht mal ganz ein Meter siebzig klein war. Sein blondes Haar war im Lauf seines Lebens mittlerweile sehr ausgedünnt, aber seine grauen Augen umso stechender geworden. Das lag daran, dass auch seine Augenbrauen dünner wurden. Michael wusste seinen strengen und bohrenden Blick stets gut einzusetzen, sodass Albert auch jetzt das Gefühl hatte, er würde ihn durch das Telefon anstarren. Außerdem rauchte er wie ein Schlot, was Albert, als Verfechter des Nichtrauchens, schon immer gestört hatte. Doch Michael war nicht umsonst sein Vorgesetzter. Neben seinen körperlichen Mängeln war er ein begnadeter Polizeibeamter, der seine Stellung verdient hatte. Albert respektierte ihn. Sie hatten seit jeher eine ganz besondere Beziehung zueinander. Manchmal vergaß er, dass er Michael unterstellt war und nicht andersherum. Dies war jedoch okay – für beide.

»Michael. Was ist los?« Er schlenderte zurück in die Küche, um sich etwas zum Frühstück vorzubereiten. Seine Haare konnten warten.

»Wir haben ein Problem«, meinte Michael.

»Und zwar?« Er klemmte sich sein Handy zwischen Hals und Schulter, während er eine Packung Müsli aus einem Regal angelte.

»Es wird einen Mord geben, wenn kein Wunder geschieht.«

»Wie meinst du das, es wird einen Mord geben?«

Er nahm sein Handy wieder richtig in die Hand und lehnte sich gegen die Küchenzeile.

»Hast du einen Laptop parat?«, fragte Michael.

Albert sah zu seinem Schreibtisch im Wohnzimmer. Neben Türmen aus Papier, alten Büchern und CD-Hüllen stand sein alter Computer von DELL. Er hatte ihn vor einigen Jahren von seiner Tochter geschenkt bekommen, nachdem sie sich für ihr Biologiestudium einen neuen Laptop gekauft hatte.

»Ja, hab einen PC da.«

»Geh hin, mach ihn an und öffne folgende Adresse.«

Albert tat, wie ihm geheißen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er drückte den Knopf an der rechten Seite und wartete, bis er sein Passwort – Passwort123 – eingeben musste. Schon immer war er leichtsinnig und bequem gewesen, was seinen Datenschutz anging. Damit er die Log-in-Daten nicht vergaß, stand das Passwort sogar unter seinem Bildschirm auf einem Klebezettel geschrieben.

»Ich bin so weit«, sagte Albert.

»Gut. Öffne www.pay2.kill.to«, sagte Michael.

»Pay … was?«

»W-w-w-P-A-Y-Zwo-Punkt-K-I-L-L-Punkt-T-O«, buchstabierte Michael.

»Wofür zum Teufel steht denn to?«

»Das steht für Tonga. Das ist ein polynesisches Königreich im Südpazifik. Das, was du gleich sehen wirst, läuft über einen Server, der in diesem Land steht. Das heißt, wir kommen da nicht ran.«

Albert wartete, bis sich das Bild vor ihm aufgebaut hatte, und sog angespannt seine Atemluft ein. »Was soll das denn sein?«

Er erkannte, dass in ganz kleiner Schrift und in kleinen Symbolen Einblendungen in der unteren linken Ecke des Videos zu sehen waren. Ein Auge mit der Überschrift Viewer (332.051 und weiter steigend), eine E-Mail-Adresse ([email protected]) und ein Eurozeichen (61.122,59 Euro und weiter steigend). Neben der Geldsumme stand in roter Schrift 100.000 Euro. Offenbar sahen sie ein Livevideo. Ein Mann war in einem dunklen Raum auf einem Stuhl festgebunden. Seine Augen waren panisch weit aufgerissen und offensichtlich versuchte er zu schreien.

»Ich höre nur komische Hochtöne«, meinte Albert und drückte auf den Lautstärkeregler seines Computers. Der Ton wurde lauter, aber anscheinend war die Signalquelle manipuliert worden. Er konnte den Mann zwar schreien hören, jedoch war die Aufnahme total verzerrt. Fast so, als würde eine Roboterstimme jaulen oder ein Schlumpf rückwärts reden.

»Das Video ist tonverändert. Wir hören hier auch nichts Konkretes. Nur Abstraktes.«

Albert sah genauer hin.

Ein Holzstuhl, ein Mann mit Jeanshose und braunem Pullover und … Was war da? In der oberen Bildschirmmitte sah er eine dicke Stahlkugel. Sie war über eine Öse mit einem Seil verbunden, das aus dem Sichtbild verschwand. Wie aufs Stichwort zoomte die Kamera ein Stück zurück. Das gespannte Seil führte über einen Bunsenbrenner, der ganz leicht loderte. Die Stahlkugel wog mindestens hundert Kilogramm, schätzte er.

»Siehst du die Viewer, die E-Mail-Adresse und das Eurozeichen?«, wollte Michael wissen.

»Erklär mir das hier«, forderte er ihn auf.

»Wir haben heute Morgen mehrere Anrufe erhalten. Ein Mann wäre gefesselt und jedermann könne per Internet zusehen, wie dieser auf einem Stuhl sitzen würde. Der entsprechende Link dazu repliziert sich selbst und verbreitet sich per Spammails und über Social-Media-Kanäle. Außerdem wäre da ein Schriftzug, der sich alle zwei Minuten wiederholt. ›Erreichen wir die 100.000 Euro, wird dieser böse Mann sterben. Er ist ein böser Mann, der den Tod verdient hat.‹ Er wird auch auf Englisch eingeblendet.«

»Und wieso sind wir für ein Video zuständig, das in Tonga aufgenommen wird?«

»Es wird nicht in Tonga aufgenommen.«

»Woher wissen wir das?«, fragte Albert erstaunt.

Michael fuhr fort. »Der Mann auf dem Stuhl heißt Simon Fietz, kommt aus Laxten und ist Zahntechniker. Und woher wir das wissen? Er wurde von seiner Frau als vermisst gemeldet. Kam nach der Arbeit nicht nach Hause. Sie hat deshalb einen Aufruf bei Facebook gestartet. ›Wer hat meinen Mann gesehen?‹ Du weißt schon, was ich meine. Ein anonymer Account hat nun unter exakt diesem Aufruf auf Facebook den Link zu diesem Livestream geteilt. Der Account hat eine deutsche Kennung – wurde also hier in Deutschland angelegt. Zumindest sagt Alex das.« Kriminaloberkommissar Alex Covtic war ihr IT-Spezialist. Wenn er das sagte, stimmte das auch. »Deshalb konnte der Mann dort wiedererkannt werden, und unserer Notrufzentrale wurde nun mehrfach sein Name gemeldet. Und nicht nur hier glühen die Leitungen. In ganz Deutschland gehen bereits Meldungen bei den Polizeistationen ein, Albert. Ist dir klar, was hier gerade passiert?«

Ja, ihm dämmerte langsam, was hier vor sich ging.

»Willst du mir sagen, dass nicht nur jeder diese Seite aufrufen kann, um einen Mord zu beobachten, sondern jeder auch Geld an diese E-Mail-Adresse überweisen kann, damit der Mann stirbt?«

Albert warf einen Blick auf den aktuellen Betrag in der unteren linken Ecke. Mittlerweile standen dort 70.944,16 Euro.

»Je mehr Geld über das Darknet oder per Kryptowährung bei den Machern des Videos eingeht, desto höher steigt die Flamme des Bunsenbrenners. Wenn die Flamme hoch genug ist, wird sie das Seil durchtrennen.«

Albert meinte auch, dass die Flamme ein wenig größer geworden war.

»Warum schalten wir die Seite nicht ab?«, wollte er wissen und sprang auf. Sein Stuhl kippte nach hinten weg und knallte gegen den Wohnzimmertisch.

»Können wir nicht. Wir können sie nicht abschalten, weil die Domain über mehrere IP-Adressen quer über den ganzen Kontinent verschickt wird. Es ist das gleiche Prinzip wie bei den illegalen Kinofilmen im Netz. Wir haben nur Zugriff auf deutschem Hoheitsgebiet.«

»Können wir nicht doch irgendwie herausfinden, wo zum Teufel sich dieser Mann befindet?«

»Nein«, sagte Michael nur, als müsste das als Antwort reichen.

Erreichen wir die 100.000 Euro, wird dieser böse Mann sterben. Er ist ein böser Mann, der den Tod verdient hat, flimmerte nun als Textband über das Livevideo. Einen Moment später verschwand die Ansage wieder. Mittlerweile sahen über vierhunderttausend Menschen zu, und der Geldbetrag stieg weiter an. Die Flamme, die zu Anfang noch nicht einmal richtig zu erkennen gewesen war, zündelte bereits hell leuchtend an dem Seil. Albert nahm sein Handy und öffnete willkürlich einige seiner vielen Nachrichten-Apps. Alle Seiten waren bereits voll davon.

Mann wird live im Internet gerichtet!, titelte eine. Durch Geldzahlung zum Mörder! Gefesselter Mann wartet live auf seine Hinrichtung!, hieß es bei einer anderen.

»Verdammt, was sollen wir machen?«, rief Albert und raufte sich die Haare. »Was ist das für eine E-Mail-Adresse? Können wir die zurückverfolgen?« Er spürte förmlich, wie Michael den Kopf schüttelte.

»Das tv in der Mail steht für Tuvalu, wieder ein Inselstaat im Pazifik. Wir bräuchten Wochen, um die britische Regierung um Hilfe zu bitten. Tuvalu ist eine parlamentarische Monarchie, verwaltet durch Großbritannien. Und auch wenn sie uns sofort helfen, diese E-Mail-Adresse ist nicht zurückzuverfolgen. Da ist sich Alex sicher.«

»Was ist mit den Überweisungen? Kommen wir da irgendwie ran?«, wollte Albert wissen.

Aber es war zu spät.

Plötzlich stieg der Betrag auf 100.000 Euro, und auf dem Video ploppte ein digitales Feuerwerk auf. Die Flamme des Bunsenbrenners schnellte nach oben, und binnen weniger Momente war das Seil durchtrennt. Albert wollte nicht hinsehen, wandte seinen Blick dennoch nicht ab. Er hoffte, dass sich dieses ganze Schauspiel als schlechter Scherz entpuppen würde. Dass der Mann gleich aufstand und in die Kamera lachte, weil er mit wenig Aufwand viel Geld verdient hatte. Doch das Gegenteil war der Fall. Die wuchtige Stahlkugel löste sich aus ihrer Position und fiel hinab. Albert war kein Arzt, und er musste auch keiner sein, um zu wissen, dass Simon Fietz diesen Aufschlag nicht überleben konnte. Die Kugel krachte auf seine Schädeldecke und drückte den Kopf um ein Drittel ein. Blut und Hirnmasse platzte gegen die hintere Wand. Dann wurde das Bild schwarz und ein roter Schriftzug erschien, den Albert nie wieder vergessen würde.

Erik bedankt sich.

Kapitel 2

Schweiß sammelte sich auf Amiras Stirn. Der Waldboden unter ihren Füßen gab sanft nach, während sie versuchte, das Stirnband zu richten. Immer wieder verrutschte es, und sie ärgerte sich, dass sie sich kein kleineres gekauft hatte. Vor wenigen Monaten hatte Amira das Laufen für sich entdeckt. Erst war es nur ein Versuch, jetzt war es eine Sucht. Eine Freundin hatte sie eines Tages gefragt, ob sie sie beim Joggen begleiten möchte. Amira hatte widerstrebend zugesagt. Doch wenn sie etwas in Angriff nahm, dann auch gleich richtig. Sie hatte sich für viel Geld neue Schuhe, eine Laufhose, eine Sportjacke und atmungsaktive Socken gekauft. Auf keinen Fall wollte sie vor ihrer Freundin wie eine Anfängerin wirken, obwohl sie genau das war. Zu Anfang hatte sie sich verflucht, zugesagt zu haben. Bei den ersten Waldläufen schaffte sie nicht einmal zwei Kilometer, ohne eine Pause einzulegen. Die Füße zwickten, sie bekam eine Blase am kleinen Zeh und ihre Knie taten in der Nacht weh. Amira war eine vitale junge Frau, keine Frage. Mit Mitte zwanzig war sie topfit. Außerdem konnte sie essen wie eine Löwin und nahm trotzdem kein Gramm zu. Ihre beste Freundin Dela warf ihr immer wieder vor, dass sie verschlingen konnte, was sie wollte, während sie selbst nur das Wort Eiscreme lesen musste, um zuzunehmen. Trotz ihrer körperlichen Veranlagung war Amira nie eine begnadete Sportlerin gewesen. Joggen jedoch verlieh ihr nach einiger Zeit ein ganz neues Wohlbefinden. Waren die ersten Wochen durch Muskelkater und den Wunsch nach Aufgeben gezeichnet, schlugen diese Gefühle plötzlich ins Gegenteil um. Auf einmal zeigte ihr Training Erfolg. Aus zwei Kilometern wurden drei, später fünf und bald schon zehn.

Ihre Armbanduhr zeigte 17:28 Uhr.

»Yes!«, japste sie und rang nach Luft.

Die kommende Kurve wollte sie um 17:30 erreichen, und jetzt war sie zwei Minuten eher da. Eine erneute Steigerung, und Amira wusste, dass sie es in der nächsten Woche bereits um 17:27 Uhr schaffen wollen würde.

Da ist sie, dachte er. Sie war noch schöner als beim letzten Mal. Erik lag mit Tarnkleidung unter einer mächtigen Linde, während er durch seinen Feldstecher sah. Ein Dutzend Mal hatte er hier bereits ausgeharrt und auf sie gewartet. Die Müdigkeit, die er nach dem langen Arbeitstag in der Firma verspürt hatte, war verschwunden. Seine Gier wuchs mit jedem Schritt, mit dem sie sich ihm näherte. Er konnte die Adern an ihrem Hals erkennen, den wippenden, straffen Pferdeschwanz ihrer zusammengebundenen Haare und die makellose Haut. Seine Erregung ließ seinen Körper beben und seinen Puls in die Höhe schnellen. Erik wusste jetzt nur noch eines: Er musste sie besitzen!

Amira genoss die Sonne in ihrem Gesicht. Die Strahlen stachen durch die saftig grünen Baumkronen, und die Insekten und Pollen veranstalteten ein glitzerndes Lichterspiel in der Luft. Es war ein herrlicher Tag und sie hatte das Gefühl, sie würde noch fünfzig Kilometer laufen können.

Doch das Gefühl verschwand schlagartig.

Plötzlich schlug ihr Herz schneller, und in ihrem Steißbein machte sich ein Kribbeln breit, das ihren ganzen Rücken hinauflief. Sie konnte gar nicht genau sagen, was es war, was ihr solch eine Angst einjagte. Irgendetwas in ihrem Innern hatte das Kommando übernommen, und all ihre Sinne waren geschärft. Amira nahm das Stirnband ab, um besser hören zu können. Kein Vogelgezwitscher, keine anderen Geräusche. Nur das Rauschen von Blut in ihren Ohren und dem Wind zwischen den Blättern.

Sie pustete ganz leise die Luft aus und atmete wieder tief ein.

»Du bist bescheuert«, sagte sie und versuchte zu lächeln. Sie hatte einfach zu viel ferngesehen, und die Krimis in ihrem Bücherregal ließen sie vermutlich überreagieren. Mit einem trotzigen Pusten lief sie weiter und ärgerte sich nun, dass sie ihre Laufzeit durch ihr Anhalten verzerrt hatte. Sie spurtete an einer kräftigen Eiche vorbei und blickte nach links.

Und auf einmal ging alles furchtbar schnell …

Kapitel 3

Sieben Tage waren vergangen. Albert saß in seinem Büro und knüllte einen Notizzettel zusammen, auf dem eine Kollegin Anrufer notiert hatte, die zurückgerufen werden wollten. Alles Leute von der Presse. Alles Leute, mit denen Albert im Leben nicht reden würde. Neben einer halb vollen Tasse Kaffee lag sein Bericht. Wobei das Wort Bericht völlig deplatziert war. Alex Covtic hatte zusammen mit einer ganzen Expertenkommission das Video analysiert. Geistesgegenwärtig hatte er es am Dienstagmorgen aufgezeichnet, nachdem die Polizei über den Mordanschlag auf Simon Fietz informiert worden war. Die Website www.pay2kill.to war nicht mehr zu erreichen, um sich das Video erneut anzusehen. Es war ja auch eine Liveschaltung gewesen, dennoch hatte die Polizei gehofft, durch die Website mehr ermitteln zu können. Im Grunde genommen hatte auch die Aufzeichnung von Alex nichts Konkretes ergeben. Der Standort des Mordes war nicht auffindbar. Dunkle Wände, Simon Fietz, der Bunsenbrenner und die Stahlkugel samt Konstruktion waren alles, was man sehen konnte. Sie hatten versucht, den Bildausschnitt des Brenners zu vergrößern. Vielleicht hätte sich so eine Marke oder gar eine Seriennummer erkennen lassen. Aber sosehr sich die IT-Experten auch bemüht hatten, sie konnten nichts erkennen. Alex hatte Albert versucht zu erklären, dass die Website nur ein Link-Portal war. Der Server, ein sogenannter One-Klick-Hoster, stand in Tonga, vielleicht auch in Russland, das konnte man einfach nicht genau ermitteln. Und auch wenn die Polizei wüsste, in welchem Land der Server nun wirklich stand, gab es ein ausgeklügeltes System an Verschlüsselungstoren, sodass man den Standort der Aufnahme niemals genau bestimmen konnte.

»Was ist mit den Zuschauern, die zugesehen haben? Kommt man an diese ran?«, hatte Albert gefragt.

Doch auch hier eine Sackgasse. Das Video wurde als Stream angesehen, sodass die User keinen Film heruntergeladen hatten. Ohne einen Download war es nicht möglich, den Standort eines Nutzers festzulegen. Und was hatten sie sich eigentlich genau vorgestellt? Hätten sie fast vierhunderttausend Personen ins Kreuzverhör nehmen sollen?

»Was ist mit dem Geld? Da sind doch hunderttausend Euro geflossen«, hatte Albert eingeworfen.

Doch eine Zahlung, die über Kryptowährung und über das Darknet gelaufen war, war ebenso unmöglich zu ermitteln.

»Wie zum Teufel ist das denn möglich? Wo leben wir denn?«, hatte er Alex wütend angebellt, was er sogleich bereut hatte.

»Das Darknet ist ein Peer-to-Peer-Overlay-Netzwerk. Die Verbindung unter den Nutzern wird damit manuell hergestellt. Ein Eindringen oder Beobachten von außen ist somit nicht möglich, außer du bist ein Superhacker. Das bin ich leider nicht, Albert. Durch die E-Mail-Adresse [email protected] konnten die Einzahler diese Direktverbindung eingehen, ohne dass wir sie verfolgen können. Wir haben jährlich für die IT-Sicherheit in Deutschland dreihundert Millionen Euro an finanziellen Mitteln, während im Darknet mehrere Milliarden umgesetzt werden. Was glaubst du, wer ist die Katze und wer die Maus in diesem ganzen Spiel? Wer auch immer diesen armen Kerl ermordet hat, kennt sich verdammt gut aus. Das sag ich dir.«

Also hatten sie nichts in der Hand. Einen Toten, dessen Körper sie nicht hatten, einen Tatort, der nicht aufzufinden war, einen Mörder, der tausendfach zum Mord angestiftet hatte, indem er Zuschauer hatte bezahlen lassen, um die Flamme des Brenners zu erhöhen, und eine Pressemeute, die sich vor Sensationslust beinahe überschlug. Zu allem Überfluss war Albert nun als leitender Ermittler auserwählt worden, nachdem dies Michael Schreiber zusammen mit ranghöherem Personal entschieden hatte. Was kein Wunder war, schließlich war er erfahren, und die Polizei konnte den Zusammenhang zwischen dem Mordvideo und der Stadt Lingen durch das Opfer – Simon Fietz – sowie durch den geteilten Link unter seiner Vermisstenanzeige auf Facebook schnell herstellen. Zudem hatte Alex Covtic recht behalten. Die zuständige deutsche Stelle bei Facebook hatte bestätigt, dass der anonyme Account in der unmittelbaren Nähe oder gar direkt in Lingen erstellt wurde. Eine genauere Verortung konnte man der Polizei nicht geben – außerdem war das entsprechende Profil bereits wieder gelöscht worden. Hinzu kam da diese schlimme Sache, die Albert bereits hinter sich gebracht hatte: die Witwe aufsuchen und ihr berichten, dass sie einen Scheißdreck hatten, um den Mörder ihres Mannes dingfest zu machen. In der Sonderkommission Video, die er nun anführte, waren acht Polizeibeamte eingeteilt sowie der Staatsanwalt und, falls sie jemals eine Leiche finden würden, ein Gerichtsmediziner.

Kriminalkommissar Dirk Sauer stand in seiner Tür. Er war einer der beteiligten Ermittler. Dirk war gerade dreißig Jahre alt geworden, war eher klein und drahtig, sein borstiges Haar war weißblond. Das Markanteste an seinem Aussehen war allerdings die Iris-Heterochromie. Zwei verschiedene Augenfarben. Das eine blau, das andere braun. Dirk würde sicherlich Karriere machen. Ein ehrgeiziger Typ, den Albert nicht mochte, den man jedoch gebrauchen konnte.

»Wir haben alle Anrufer gelistet, die landesweit bei der Polizei angerufen haben. Es sind tausendvierhundertzweiundvierzig. Das erste Ergebnis unserer Recherche war, dass zweiundsiebzig von ihnen vorbestraft sind. Trunkenheit am Steuer, Rauschgiftdelikte, Scheckbetrug und so weiter. Nichts Weltbewegendes. Sie alle haben ein Alibi. Keiner war in den letzten Monaten im Ausland und schon gar nicht im Königreich Tonga. Entweder der Täter befindet sich nicht unter denen, die uns angerufen haben, oder er hat es irgendwie anders hinbekommen und täuscht uns. Wir wissen ja noch nicht mal wirklich, ob es ein Täter, eine Täterin oder eine Gruppe ist.«

»Also auch hier Fehlanzeige. Kamen Anrufer aus Lingen?«, wollte Albert wissen. Er nahm einen Schluck Kaffee, der bereits kalt war, aus seinem Becher und verzog das Gesicht.

»Ja, einer. Derjenige, der auch unser Opfer erkannt hat. Heißt Jürgen …«, er blätterte in einem Notizheft, »… Nolte. Ist Rechtsanwalt in Osnabrück, Hauptwohnsitz hier. Sein Sohn Leon war auf das Video gestoßen, weil es von Freunden über Social-Media-Kanäle geteilt wurde. Sohn und Vater können es nicht gewesen sein. Herr Nolte war frühmorgens in einer Telefonkonferenz und der Junge ist elf Jahre alt. Wieso so ein junges Kind schon ein Handy hat, um von Freunden über solch ein grausames Video unterrichtet zu werden, weiß ich nicht. Der Vater kannte Simon Fietz vom Sehen, weil seine Tochter, Marina Nolte, eine Zahnspange in der Praxis erhalten hatte, in der Simon als Zahntechniker arbeitete.«

Ein Desaster. Keine Spur, nichts.

»Okay, machen wir Schluss für heute. Es ist spät«, meinte Albert und stand auf. Er würde Michael sicherlich nicht einen Bericht übergeben, in dem nichts Konkretes stand. Er stapfte aus seinem Büro, warf sich seine Jacke über und ging den Flur des Polizeipräsidiums hinunter. Helle Fliesen, warme Wände, vernünftiges Licht. Vor zwei Jahren war dieses Gebäude renoviert worden. In seinen Augen allerdings zwanzig Jahre zu spät.

Wie es der Zufall wollte, kamen ihm auf dem Weg zum Ausgang Michael Schreiber und eine junge Frau entgegen, die Albert noch nie zuvor gesehen hatte. Feine Gesichtszüge, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, vielleicht neunundzwanzig. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie vierunddreißig wäre, aber auch nicht, wenn sie noch keinen Führerschein besäße. Ihr Alter war schlichtweg nicht zu erkennen. Da er keine Zufälle mochte und einfach keine Lust mehr hatte, über diesen Fall zu sprechen, ging er stumm nickend an ihnen vorbei.

»Albert, warte mal …«, begann Michael.

»Nein, keine Zeit, keine Lust. Ich bin morgen wieder hier. Es war ein Scheißtag, Michael. Verschon mich jetzt bitte. Tschüss.«

Er hatte im Augenwinkel wahrgenommen, dass ihm die junge Frau die Hand entgegenstrecken wollte, allerdings fegte er an ihr vorbei. Ihm fehlte es jetzt noch, eine neue Kollegin kennenzulernen oder einer Reporterin Rede und Antwort stehen zu müssen.

Albert konnte in diesem Moment nicht wissen, wer die Frau war.

Kapitel 4

Der Regen hatte nachgelassen, und die Dämmerung setzte bereits ein. Albert stellte sein Fahrrad vor dem Gebäude, in dem sich seine Wohnung befand, ab. Er erkannte von hier unten, dass er das Licht in seinem Wohnzimmer hatte leuchten lassen, und das Fenster war gekippt. Vermutlich tummelten sich wieder ein Dutzend Mücken in seiner Bleibe, die ihn heute Nacht nicht in den Schlaf kommen lassen würden. Sein Magen knurrte, und er fühlte sich müde. Lust zu kochen hatte er keine, also machte er vor der Eingangstür kehrt und lief die Straße hinunter. Neben ihm leuchtete das Schild der Agentur für Arbeit auf, dessen rotes Neonlicht sich in den Pfützen auf dem Gehsteig spiegelte. Er umrundete einen Kreisverkehr und öffnete die Tür seines chinesischen Lieblingsrestaurants. Gebratener Reis mit Hühnchen und ein großes Bier waren jetzt genau das Richtige. Das Lokal wirkte schummrig, und nur wenige Tische waren besetzt. Der Raum wurde in der Mitte durch Aquarien getrennt, in denen sich bunte Fische tummelten. Alles wirkte schwungvoll, golden und rot. Aus den Lautsprechern in der Decke ertönte leise asiatische Musik, und die Wände waren mit rotem Vlies behangen und kunstvoll bemalt.

Albert mied die ersten Tische an der Fensterfront, weil es ihm nicht behagte, wenn vorbeigehende Fußgänger durch das Fenster auf seinen Teller sahen und ihn anschließend selbst musterten. Er wollte seine Ruhe haben – auch vor fremden Blicken. Er hatte in der hinteren linken Ecke bereits einen Stammplatz, den er immer auswählte. Die Küche im Rücken über der linken Schulter, den Haupteingang vor sich fest im Blick. Deswegen fiel ihm auch direkt ein bekanntes Gesicht auf, als er sich gerade hingesetzt hatte und sich die Tür öffnete. Feine Gesichtszüge, vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, vielleicht neunundzwanzig. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie vierunddreißig wäre, aber auch nicht, wenn Sie noch keinen Führerschein besäße. Ihr Alter war schlichtweg nicht zu erkennen. Sie hatte kurzes schwarzes Haar, das gerade so über ihre Ohren reichte. Sie war gertenschlank, sportlich, wesentlich kleiner als Albert und hatte einen ansprechenden Blick. Ihre braunen Augen glitzerten förmlich, sodass sie übergroß wirkten. Vielleicht waren sie auch tatsächlich übergroß und glitzerten deshalb so auffällig.

Die fremde Frau kam schnurstracks auf ihn zu und setzte sich an seinen Tisch, ihm direkt gegenüber. Sie schmunzelte knapp, und Albert bemerkte, dass ihr vorderer linker Schneidezahn an einer Ecke ganz minimal abgebrochen war. Sicherlich hatte sie diesen Schönheitsfehler absichtlich nicht korrigieren lassen, weil er sie tatsächlich noch etwas interessanter machte.

»Kenn ich Sie?«, wollte Albert wissen und sah demonstrativ in seine Speisekarte.

»Sicher nicht. Emine Laub.«

»Hören Sie, Frau Laub. Ich habe kein Interesse an einem Interview. Egal was Michael Schreiber Ihnen schuldet. Ich schulde ihm nichts und Ihnen auch nicht. Ich habe Feierabend, und es würde mich freuen …«

»Seien Sie bitte mal still«, unterbrach sie ihn, was er nicht fassen konnte.

»Wie bitte?«

»Sie sollen einfach mal still sein. Herr Schreiber hat mich bereits vorgewarnt. Sie wären ein netter Mensch, aber nur zu Personen, die Sie kennen oder die Sie für etwas benötigen. Sie kennen mich nicht, also werde ich das ändern. Ich heiße Emine Laub, und ich bin Kriminaloberkommissarin aus Osnabrück.«

Sie ist seit mindestens vier oder fünf Jahren bei der Polizei, dachte Albert. Ansonsten würde sie noch keine Oberkommissarin sein. Und auch dann wäre sie verdammt schnell aufgestiegen. Wahrscheinlich war, dass sie seit mindestens sechs Jahren den Dienst bei der Polizei ausübte.

»Aus Osnabrück? Was wollen Sie hier in Lingen?«

»Ich wurde versetzt.«

»Versetzt? Soso. Freiwillig?«

»Ja, freiwillig. Ich habe früher im Ortsteil Darme gewohnt, nachdem mich mein Polizeistudium nach Oldenburg geführt hatte. Ich habe ausdrücklich um die Versetzung gebeten, und das nun seit fast zwei Jahren. Jetzt bin ich hier.«

Albert bestellte bei dem Kellner, der soeben lautlos aufgetaucht war, gebratenen Reis mit Huhn und ein großes Bier. Bevor er es verhindern konnte, bestellte sich auch Emine Laub eine Cola.

»Frau Laub …«

»Emine«, warf sie ein.

»Frau Laub, es freut mich ja, dass Sie sich versetzen lassen konnten, doch was wollen Sie jetzt genau von mir?«

»Mit Ihnen arbeiten. Ich wurde Ihnen als Partnerin zugeteilt.«

Albert sah sie sekundenlang an. Er glaubte, Emine Laub würde jeden Moment grinsen und beichten, dass sie ihn nur auf den Arm genommen habe. Aber sie schwieg und blickte ihm, ohne zu blinzeln, in die Augen. Sie erinnerte ihn an seine Tochter. Diese Sturheit, auch ein mächtiges Portfolio an Intelligenz, die ihr aus den Poren schien.

»Was soll das? Ich habe keine Partnerin und brauche auch keine.«

»Michael Schreiber hat es bereits abgesegnet. Morgen habe ich einen Schreibtisch in Ihrem Büro. Es ist sowieso viel zu groß …«

»Hören Sie mal. Es ist ja ganz nett, dass Sie sich die Mühe machen, mich nach Feierabend in meinem privaten Bereich aufzusuchen, ich habe allerdings kein Interesse daran, eine junge Frau einzuarbeiten. Nicht falsch verstehen. Auch einen Kerl möchte ich nicht einarbeiten.«

»Herr Schreiber hatte mir bereits mitgeteilt, dass Sie so reagieren würden«, entgegnete sie kühl. »Sie sollen ihn anrufen.«

»Jetzt?«, wollte Albert wissen.

»Nein, an Ostern gegen Mitternacht. Natürlich jetzt.«

Zögernd holte er sein Handy heraus, weil er immer noch hoffte, sie veralberte ihn. Mit dem Daumen entsperrte er sein Handy und wählte die Nummer. Es klingelte nicht, da umgehend die Mailbox von Michael ansprang. Er wollte bereits auflegen, als er hellhörig wurde.

»Dies ist die Mailbox von Michael Schreiber. Albert, leg nicht auf, wenn du es bist. Du wirst mich hundertprozentig anrufen, weil du mit Frau Laub nicht einverstanden bist. Bestimmt, weil du denkst, du würdest weder ihr noch mir etwas schulden. Dem ist nicht so. Sie ist deine neue Partnerin, und darüber kannst du froh sein. Sie wurde uns wärmstens empfohlen, und die Kollegen in Osnabrück haben um sie gekämpft. Zu unserem Glück vergebens. Jetzt stell dich nicht so an und sei erwachsen! Ach ja: Ich habe ihr gesagt, wo sie dich finden wird. Guten Appetit. Und lade sie als älterer Kollege gefälligst ein.«

Eine Frauenstimme sagte, er könne nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen, aber Albert legte auf.

»Möchten Sie etwas essen?«, fragte er sie und winkte den Kellner heran.

Emine Laub zögerte kurz und bestellte sich gebratene Nudeln mit knuspriger Ente. Ihre Getränke wurden ihnen bereits an den Tisch gebracht, und beide nahmen einen tiefen Schluck. Albert spürte, dass er sich durch den Alkohol etwas entspannte.

»Herr Zeiler, es tut mir leid, dass unsere Dienstzeit so anfängt. Ich bin die Letzte, die sich einen Partner wünscht, der keine Lust hat, mit mir zu arbeiten. Herr Schreiber hat es so verfügt. Er denkt, es würde Ihnen und mir helfen.«

Albert schwieg kurz und beobachtete den Schaum auf seinem Bier.

»Wollen wir von vorn anfangen?«, fragte sie.

»Ich habe Sie bereits zum Essen eingeladen. Das ist doch was.«

»Nein, sie haben nur gefragt: Möchten Sie etwas essen? Das ist keine Einladung.«

»Gut, damit sind Sie eingeladen.«

»Einverstanden.«

Sie aßen, ohne dabei zu sprechen, und bestellten sich ein neues Getränk. Albert ein Bier, Emine eine Apfelschorle.

»Trinken Sie immer unter der Woche?«, wollte sie wissen.

»Nur in geraden und ungeraden Kalenderwochen.«

»Das ist nicht sonderlich gesund.«

»Ihr Zuckerkonsum mit Cola und Apfelschorle aber schon? Autofahren ist es auch nicht. Man könnte einsteigen, und es ist die letzte Fahrt, die man in seinem Leben macht. Und dennoch tun auch Sie das jeden Tag, oder?«

»Man kann es sich auch schönreden.«

»Man muss gar nicht reden, das wäre doch auch okay.«

»Warum sind Sie so? Ich meine, so negativ? Mürrisch? Oder ist das heute einfach ein schlechter Tag?«

Albert legte sein Besteck quer über den Teller, tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Sie sind sehr neugierig, was? Ich meine, was mich betrifft. Ich lebe mein Leben, das ich ungern mit Fremden teile. Wenn Sie Fragen haben, nur zu. Doch dann will ich auch mehr über Sie erfahren.«

»Und das wäre?«

»Warum sind Sie wirklich hier? Osnabrück ist jetzt nicht sonderlich weit weg. Sie hätten sich nicht versetzen lassen müssen. Schon gar nicht vehement zwei Jahre lang den Versuch starten, sich versetzen zu lassen.«

Sie überlegte, ob sie wahrheitsgemäß antworten sollte. Albert sah ihr förmlich an, wie sie mit sich rang. Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden und öffnete sie wieder.

»Familiensache. Ich fühlte mich verpflichtet, wieder herzukommen.«

»Sie haben Familie in Darme?«

»Hatte. Meine Mutter. Sie ist vor drei Monaten gestorben. Deswegen bin ich auch immer gependelt. Ich wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Jetzt ist sie tot, und ich habe dennoch weiterhin versucht, hierherzukommen. Ich ziehe in ihre Wohnung.«

»Das tut mir leid mit Ihrer Mutter.«

»Muss es nicht. Sie kennen mich nicht und ich Sie nicht.«

Damit stand sie auf, schob den Stuhl zurück und blieb vor dem Tisch stehen.

»Seien Sie mürrisch und schlecht gelaunt. Von mir aus. Es ist Ihr Leben, und ich mische mich nicht ein. Respektieren Sie mich. Ich bin kein Schulmädchen und keine Anfängerin mehr. Ich heiße Emine und du Albert. Das wäre doch schon mal ein Anfang gewesen, wenn der Ältere von uns das Du anbietet. Danke für das Essen. Du hast übrigens was zwischen den Zähnen. Sieht nicht schön aus.«

Sie verließ das Restaurant und Albert blickte ihr hinterher. Es war das erste Mal seit Wochen, dass er lächelte.

Kapitel 5

Amira hatte keine Zeit, um zu reagieren. Plötzlich stand ein großer Mann vor ihr und schlug ihr von der Seite gegen den Kopf. Sternchen machten sich vor ihren Augen breit, und sie musste sich auf den Knien fast übergeben. Auf einmal stand der Mann neben ihr, injizierte ihr etwas in den Oberschenkel und die Welt fuhr plötzlich Karussell.

Wie viel Zeit vergangen war, konnte Amira unmöglich sagen. Als ihre Gedanken wieder halbwegs intakt waren, erkannte sie nur ein Auto, einen Kofferraum, einen Mann, der sie in ein Haus trug, Lampen ohne Schirm an der Decke, eine Treppe, die in einen Keller führte, und dann war wieder alles schwarz.

»Pssst! Hey, du!«, hörte sie plötzlich.

»Was?«, fragte Amira mit heiserer Stimme.

Sie konnte rein gar nichts erkennen. Es war stockfinster um sie herum. Irgendetwas umklammerte ihren Knöchel, und sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und Durst.

»Ist da jemand?«, rief sie.

»Nicht so laut! Sonst kommt er noch runter«, antwortete eine weibliche Stimme.

»Was? Wer kommt runter? Wo bin ich hier?«, wollte sie wissen. »Hilfe!«, schrie sie noch lauter.

»Amira, richtig? Ich heiße Nasrin. Bitte sei leise. Du musst mir vertrauen. Bitte!«

»Woher kennst du meinen Namen? Ich sehe nichts. Bin ich blind? Wo bist du, und wo sind wir hier?«

»Deinen Namen habe ich von ihm. Das Licht ist ausgeschaltet. Deinen Augen geht es gut. Du bist in seinem Reich. So nennt er es.«

Amira zitterte am ganzen Körper. »Wer bist du? Was wollt ihr von mir?«

»Ich bin wie du«, antwortete die Frau namens Nasrin. »Ich wurde auch hierhergebracht.«

»Was soll das denn bedeuten? Wer bringt uns hierher? Ich war joggen, als plötzlich …«

Sie stoppte mitten im Satz. Ihr fiel wieder ein, was passiert war. Der Wald, der fremde Mann, der plötzlich vor ihr auftauchte und sie geschlagen hatte, die Spritze, die Fahrt im Kofferraum, der Gang in den Keller durch ein Haus, das sie nie zuvor gesehen hatte.

»Wurde ich entführt?«, wollte sie wissen.

Nasrin schwieg.

»Hallo? Bist du noch da? Wurde ich entführt? Antworte!«

»Ja. Ja, du wurdest entführt. Genau wie ich.«

Panik brach in Amira aus, und sie versuchte aufzustehen. Aber etwas hielt sie eisern an ihrem Knöchel fest. Sie griff danach.

Kettenglieder!

Sie fuhr mit ihren Fingern über das kalte Metall und ertastete, wohin sie führten. Das letzte Glied der Kette verschwand durch eine kleine Öffnung, die in einer massiven Wand eingelassen war.

»Nein, nein, nein, das kann nicht sein!«, rief sie panisch.

Mit aller Kraft zog sie an ihrer Fessel, doch sie hatte keine Chance. Sie brach sich nur einen Fingernagel bei dem Versuch ab und stürzte zu Boden. Sie landete auf etwas Weichem. Es war eine Matratze.

»Hilfe! Hilfe! Bitte, mir muss jemand helfen!«, brüllte sie jetzt.

»Hör auf, er hört dich doch!«, rief Nasrin, was Amira völlig egal war.

Panik hatte das Kommando übernommen, und sie schlug wild um sich. Plötzlich …

Ein lauter Knall!

Als wäre ein schwerer Schutzschalter eingerastet, knallte es durch den Raum und rotes Licht durchflutete ihre Umgebung. An der Decke hingen lange Röhren, die auf einmal eingeschaltet waren. Amira erkannte einen Ort, der einem Verlies glich. Eine tief hängende Decke, gemauerte Wände und ein Betonboden, der hier und da mit alten, ausgetretenen Teppichen ausgelegt war. Es gab nur einen Ausgang, der mit einer schweren schwarzen Metalltür versperrt war. Sie befand sich angekettet in der hinteren linken Ecke. Unter sich eine alte Matratze mit Flecken. In der rechten saß eine Frau, ebenfalls auf einer alten Matratze, die sie nicht kannte. Trotz des roten Lichtes erahnte Amira, dass Nasrin schwarze Haare haben musste. Sie war wunderschön, hatte große Augen und wirkte orientalisch. Sie hielt ihre Beine eng umschlungen, und Tränen flossen ihr aus den Augen.

»Warum hast du das getan? Warum warst du so laut?«

Amira antwortete ihr nicht. Sie sah sich weiter um. Suchte einen Fluchtweg. Die Kette an ihrem Fuß war sehr lang und schwer. Damit konnte sie fast ganz bis zum Ausgang gehen, wenn sie die derben Glieder mit beiden Händen hinter sich herschleifte. Es war mehr als mühsam, jedoch kam sie vorwärts. Einen Meter vor der Tür war Schluss. Sie streckte sich, aber erreichte mit ihrer Hand nicht mal die Nähe der Türklinke. Sie drehte sich wieder zu Nasrin um und entdeckte, dass an der rückseitigen Wand ihres Gefängnisses eine Toilette, eine Duschwanne ohne Vorhang, ein Duschkopf darüber und ein Waschbecken angebracht waren. Direkt neben den Matratzen der beiden Frauen. Außerdem waren in den beiden hinteren Ecken zwei Kunststoffvorhänge bis neben das Waschbecken und die Dusche zurückgezogen, die sich durch eine Laufschiene in L-Form um die beiden Matratzen herumziehen ließen.

»Wir müssen hier raus. Wie können wir das schaffen?«, fragte sie, aber Nasrin wippte nur vor und zurück, ohne etwas zu sagen.

Die Arme hielt sie weiterhin um ihre Beine geschlungen. Sie wirkte apathisch, ihr Gesicht war verschmutzt, und sie trug eine Art Schlafanzug, der verdreckt und an manchen Stellen aufgerissen war. Er wirkte alt. Sehr alt.

»O Gott, wie lange bist du schon hier unten?«, fragte Amira.

Doch Nasrin kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten. Wie aus dem Nichts wurde Amira nämlich von den Füßen gerissen, weil sich ihre Kette ratternd einzog und in der Wandöffnung verschwand. Amira wurde über den Boden geschleift, riss ein paar alte Teppiche mit sich und rutschte gegen ihre Matratze, die sich durch die Wucht ihres Körpers aufrichtete und Amira unter sich begrub. Sie krabbelte unter der Matratze wieder hervor, nachdem das Rattern der Kette aufgehört hatte.

»Was war das denn?«, stöhnte sie und hielt ihren Knöchel, der durch den plötzlichen Zug furchtbar schmerzte.

»Er kommt«, antwortete Nasrin. »Und er wird böse sein.«

Kapitel 6

Es roch verbrannt, und Albert wusste, was das bedeutete. Mit schweren Beinen, und mit einem großen Kloß im Hals, ging er über die asphaltierte Straße. Im Bankett standen seine Kollegen. Sie hatten bereits eine breite weiße Plane errichtet, damit schaulustige Autofahrer, die unregelmäßig vorbeifuhren, keinen Blick auf den Tatort werfen konnten.

Die Luft war kühl und der Himmel sternenklar. Hier draußen gab es kaum Lichtverschmutzung, sodass der Große Wagen kaum zu erkennen war, weil die leuchtschwachen Sterne dahinter plötzlich ebenfalls sichtbar waren und die Konturen des Sternbildes verwischten …

 

»Nein!« Albert fuhr hoch und war plötzlich hellwach. Sein T-Shirt war von Schweiß durchnässt und sein Herz raste. Er hatte wieder einen Albtraum gehabt. Wie jede Nacht, seit siebzehn Jahren.

Sein Wecker strahlte in grünen Ziffern.

2:14 Uhr.

Ihm kam es vor, als hätte er bereits zehn Stunden tief und fest geschlafen. Er fühlte sich hellwach und wusste, es würde ewig dauern, bis er wieder einschlafen würde. Deshalb warf er die Bettdecke zur Seite und richtete sich auf. Seine Haare waren ganz feucht und er fror. Eine Grippe konnte er aktuell nicht gebrauchen, also beschloss er, keine zu bekommen. Er wechselte die Bettwäsche, schmiss sein T-Shirt in den Wäschekorb, warf sich einen Bademantel über und ging anschließend in die Küche. Dort füllte er sich ein großes Glas Leitungswasser ein, widerstand der Versuchung, ein Glas Wein hinterherzukippen, und schaltete den Fernseher im Wohnzimmer an. Es lief auf keinem Sender etwas, was ihm gefiel. Mit der Fernbedienung öffnete er seine Mediathek und startete den Film Contact mit Jodie Foster. Er liebte diesen Streifen. Er verdeutlichte ihm, wie klein und unwichtig die Menschheit war. Nach zwanzig Minuten konnte er nicht widerstehen und schaltete seinen Computer ein. Den Film ließ er auf seinem Fernseher leise weiterlaufen. Albert klickte sich durch Nachrichtenseiten, die offensichtlich langsam das Interesse an dem Mord verloren, der sich live im Internet zugetragen hatte. Mittlerweile musste er schon weit scrollen, um einen entsprechenden Artikel zu finden.

Menschen sind widerlich, dachte er. Waren sie zuvor alle noch so bestürzt gewesen, war es jetzt schon wieder wichtiger, welcher Promi gerade seine Ehefrau betrogen hatte und ob der Bundestrainer sein Amt nicht längst hätte abgeben sollen.

Albert checkte irgendwann noch seine Mails, die zum größten Teil aus Werbung und Spam bestanden, bis er es nicht mehr aushalten konnte, nachzusehen, was seine Tochter gerade so trieb.

Sie wird schlafen, du Idiot. Hör auf mit dem Scheiß, sagte eine Stimme in seinem Kopf.

Er ignorierte sie.

Mit der Maus öffnete er das Programm, das er brauchte. Ein Fenster öffnete sich, und Albert sah im Nachtsichtmodus einen Flur. Er war quadratisch, rechts eine Kommode, links eine Garderobe und ein mannshoher Spiegel. Die Kamera war in einem Rauchmelder montiert, direkt über der Eingangstür der Wohnung, die er aus diesem Winkel allerdings nicht sehen konnte. Albert sah drei weitere Türen. Eine führte in die Küche, die andere in ein Badezimmer und die dritte in ein Wohnzimmer. Er klickte auf ein Symbol und die Kameraperspektive veränderte sich. Wieder Nachtsichtmodus, wieder eine kleine Spionagekamera in einem Rauchmelder, aber dieses Mal sah er das Wohnzimmer seiner Tochter. Links eine Tür, die in den quadratischen Flur führte, geradeaus eine Schiebetür, die eine Terrasse ausschloss, und rechts einen Durchgang, der in das Schlafzimmer seiner Tochter führte.

Albert hatte nicht wirklich Ahnung von Technik. Diesen Absprung hatte er verpasst – und auch nie Interesse daran gezeigt, Technologie, bis auf ein Handy und den alten Computer auf seinem Schreibtisch, in sein Leben zu lassen. Als seine Tochter Marie ihre Wohnung in Bremen bezogen und sich – in seinen Augen – aus seiner sicheren Obhut entfernt hatte, wusste er, er musste etwas unternehmen, um sie zu schützen. Sie weiterhin im Auge zu behalten. Nur wie? Es dauerte nicht lange, da hatte er den Entschluss gefasst, ihre Wohnung mit Überwachungsausrüstung bestücken zu lassen. Sein Arbeitskollege, Alex Covtic, war derjenige, der ihm dabei helfen musste. Alex stand in Alberts Schuld und hatte bei mehreren Gelegenheiten angeboten, auch ihm eines Tages zur Seite zu stehen, falls er mal Hilfe benötigen sollte. Dieser Tag war mit Maries Umzug gekommen. Albert hatte Alex erklärt, dass er in einer inoffiziellen Ermittlungssache Überwachungstechnik in einer Wohnung benötigte. Er hatte ihm allerdings nicht erzählt, dass es die Wohnung seiner Tochter war, die präpariert werden musste. Natürlich hatte Alex gemerkt und geahnt, dass Alberts dürftige Erklärung überhaupt nicht stimmig erschien – schließlich gehörte Bremen nicht zu Niedersachsen. Dass ein Kriminalbeamter aus Lingen dort Überwachungstechnik installieren ließ, ohne dabei den korrekten Dienstweg einzuhalten, war bei Alex schon auf Irritationen gestoßen. Zu seiner Überraschung hatte Albert auch noch das Schlafzimmer und das Badezimmer aussparen wollen, was ihn noch stutziger gemacht hatte. Andererseits stand er in seiner Schuld. Mehr musste er nicht wissen.

Albert selbst war klar, Marie würde ihn verstoßen, wenn sie von diesem Vergehen erfahren würde. Deshalb wollte er sich wenigstens selbst sagen können, dass er ihre intimsten Bereiche, das Schlafzimmer und das Badezimmer, nicht videoüberwachte.

Er erkannte eine Sofareihe, die als U angelegt war. Davor ein Fernseher, eine Schrankwand, auf der sich jede Menge Bücher sowie auch ein paar Weinflaschen befanden, laminierter Fußboden, ein Schreibtisch mit Laptop, der nun zugeklappt war, und ein kleiner Esstisch mit vier Stühlen. Auf dem Sofa lag Kleidung, die definitiv nicht ihr gehören konnte. Sie gehörten zu einem Mann.

Du bist widerlich, dachte er, ignorierte allerdings erneut seine Stimme im Kopf.

Ein dritter Klick und das Bild zeigte die kleine Küche. Ein Tisch, zwei Stühle, Herd, Kühlschrank und zwei Mülleimer, die überfüllt wirkten. Keine Gourmetküche, gleichwohl für eine Studentin, die hier lediglich Nudeln und Tee kochte, völlig ausreichend. Er vermisste seine Tochter, und wie aus dem Nichts bildeten sich Tränen in seinen Augen. Albert wischte sie mit einem Finger weg und schüttelte den Kopf.

»Reiß dich zusammen.«

Er wünschte sich, er hätte ein besseres Verhältnis zu seinem einzigen Kind. Sie telefonierten alle paar Wochen miteinander, und wenige Male im Jahr kam sie ihn auch besuchen. Aber eigentlich war er kein Teil ihres Lebens mehr. Das wusste er innerlich, auch wenn er sich einredete, dass sich das eines Tages ändern würde. Sie gab ihm die Schuld …

Albert stand von seinem Bürotisch auf und sah den Film weiter, nachdem er es sich gemütlich gemacht hatte.

 

Das Klingeln an seiner Haustür weckte ihn. Es musste jemand unten am Haupteingang stehen, weil das Geräusch ein anderes war, als wenn jemand direkt vor seiner Wohnungstür klingelte. Schlummertrunken richtete sich Albert von seinem Sofa auf und rieb sich die Augen. Vom Vorabend stand noch ein halb volles Glas Rotwein auf seinem Wohnzimmertisch, das er sich schnell schnappte, den restlichen Inhalt in der Spüle auskippte und das Glas in die Spülmaschine stellte. Er wollte nicht, dass jemand seine abendlichen Gewohnheiten zu sehen bekam.

Die Uhr in seiner Küche zeigte 6:22 Uhr.

»Was zum Teufel?«

Es klingelte erneut. Dieses Mal etwas länger und unangenehmer. Mit einer Hand drückte er auf die Gegensprechanlage.

Verschlafen fragte er: »Ist da?«

»Ist da? Keine geraden Sätze heute Morgen? Hier ist Emine. Machst du mir auf?«

Albert zögerte. Irgendwie hatte er gehofft, dass diese Nervensäge nur ein Teil eines Traumes gewesen war. Doch jetzt stand sie unten vor der Tür. Lebendig und real.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, schnaubte er in die Anlage.

»Zu früh, um mich hier stehen zu lassen. Spät genug, um zu frühstücken. Ich habe Brötchen dabei. Die sind noch warm. Außer du wartest noch länger«, ertönte es aus der Gegensprechanlage.

»Zweiter Stock, rechte Tür, 4A.«

Er drückte den Summer und hörte, wie sich unten die Tür öffnete. Er warf einen Blick durch seinen Wohn- und Küchenbereich. Nicht gut, aber auch nicht schlimm. Die Kissen lagen unordentlich auf dem Sofa, die Stühle an seiner Küchentheke waren etwas verrückt. Ansonsten alles in Ordnung.

Es klopfte an der Tür und Albert öffnete. Emine Laub stand vor ihm. Hellwach, als bräuchte sie keinen Schlaf. Sie trug Jeanshose, Dienstmarke um den Hals, Pistole im Holster an der Hüfte, einen grünen Pullover, schwarze Stiefel, schwarze Lederhandtasche. Albert trug einen wunderschönen Bademantel und eine Unterhose, die seit fünfzehn Jahren in seinem Besitz war.

»Morgenmuffel? Passt zum Abendmuffel«, sagte sie süffisant. »Darf ich hereinkommen?«

Er machte einen Schritt zur Seite. Emine trat ein, und es roch nach frischen Brötchen, die sie in einer Papiertüte dabeihatte.

»Ich wusste nicht, was du magst. Habe helle und Körnerbrötchen dabei.« Sie musterte sein Wohnzimmer, anschließend ihn. »Gab es heute Nacht noch einen Erdbeerlolli als Snack oder woher stammen die blauroten Lippen?«

Der Rotwein.

Albert sagte: »Wenn ich das fragen darf: Was machst du hier? Um diese Uhrzeit? Briefing ist um neun Uhr.«

»Ich dachte, wir reden über den Fall. Du erzählst mir, was wir haben, und wir lernen uns besser kennen«, trällerte sie fröhlich und warf die Tüte auf seine Anrichte. Völlig selbstverständlich ging sie an seinen Kühlschrank und öffnete ihn. Sie holte eine halb leere Flasche Rotwein raus und nickte wissend.

»Der Lolli«, sagte sie.

Er ignorierte das.

»Du wirst mich erst mal nicht los, Albert. Ich mag dich, du erinnerst mich an einen dieser Weihnachtsmänner aus diesen amerikanischen Filmen. Die, die immer so grimmig sind und bei denen man sich die Frage stellt: Warum zum Teufel tragen sie Weihnachtskostüme, wenn sie doch gar keine Lust auf Weihnachten und Kinder haben?« Albert blickte auf seinen Bademantel hinab und fand, dass er noch nicht die Figur eines Weihnachtsmannes hatte. Vielleicht ein bisschen Ansatz, aber so schlimm noch nicht.

»Das ist mir echt etwas viel gerade«, sagte er nur und schloss die Haustür.

»Schon gut. Geh duschen, ich koche Kaffee und schau mal, was ich uns aus deinem Kühlschrank zaubern kann.«

Er schnaubte, fand dennoch, dass sie recht hatte. Er sollte duschen. Danach konnte er auch klar denken. Er wollte es nicht zugeben, doch die Brötchen rochen wirklich gut.

»Zehn Minuten. Wieder hier«, murmelte er erneut abgehackt.

Die Dusche war heiß und belebte ihn. Dampf stieg im gesamten Bad auf, und der Abzug an der Decke kämpfte röchelnd, während das Wasser gurgelnd in den Abfluss strömte. Ein Duschgel einer unbekannten Marke, Pfirsichgeruch, mehr stand nicht in der Kabine. Für Albert völlig ausreichend. Noch nie hatte er verstanden, warum er Shampoo und Duschgel kaufen sollte, wenn am Ende alles schäumte und die gleiche Konsistenz hatte. Durch die Tür hörte er, dass Emine sein Radio gefunden haben musste. Die Musik war aufgedreht, und er konnte Geschirr klappern hören.

Passierte das gerade wirklich? Er drehte das Wasser ab, stieg aus der Kabine und nahm das Handtuch vom Haken. Sofort fröstelte es ihm. Er mochte das Duschen. Jedoch nicht das Aussteigen aus der Duschkabine. Der Spiegel über seinem Waschbecken war beschlagen, und er wischte mit seinem Handtuch darüber, was ihm exakt zehn Sekunden erlaubte, sein Gesicht zu sehen, ehe der Schleier wieder auf der ganzen Scheibe lag. Zähne putzen, Haare anföhnen und saubere Unterwäsche …

»Mist.«

Die lag in seinem Schlafzimmer in der Schublade. Also warf er sich nur den Bademantel über und knotete ihn durch die Schlaufen mit dem zugehörigen Band fest zu, bevor er aus dem Badezimmer trat.

Emine war dabei, Käse in eine Pfanne zu geben, indem sie Scheibenkäse in Stücke riss und nach und nach fallen ließ.

»Rührei mit Käse. Das hilft gegen Kater.«

»Ich habe keinen Kater. Es war ein Glas Wein«, brummte er.

Er würde Michael den Hals umdrehen, dass er sie als seine Partnerin ausgewählt hatte.

Zwei Tassen Kaffee dampften auf der Anrichte. Daneben waren zwei Teller drapiert, ein halb volles Glas Nutella, ein drei viertel volles Glas Marmelade, Butter und aufgeschnittene Brötchen in einem Brotkorb, von dem Albert nicht mal wusste, dass er diesen besaß. Emine drehte sich um und kippte jedem etwas Rührei auf die Teller.

»Es fehlt Petersilie oder Schnittlauch. Geht auch so«, meinte sie.

Albert nahm einen Schluck Kaffee, ging in sein Schlafzimmer und zog sich ordentliche Kleidung an. Frische Unterwäsche, Jeans, weißes T-Shirt, blau kariertes Hemd. Seine Tasse behielt er beim Umziehen bei sich und trank sie aus. Schwarz, stark, ohne Zucker. Er ging zurück zu der Nervensäge, die jetzt seine neue Partnerin sein sollte, und sah sie ausdruckslos an. Emine kippte sich endlos viel Milch in die Tasse, um schließlich ein Pfund Zucker nachzulegen.

»Also«, begann sie. »Was wissen wir bisher?«

»Dass du es dir einfach an meinem Frühstückstisch bequem machst.«

»Richtig. Der Fall ist schon mal gelöst. Aber ich meinte eher die Soko Video.«

Albert aß ein Stück Rührei und tat so, als würde es ihm ganz normal schmecken, obwohl es das beste Ei war, das er jemals auf der Gabel hatte. Emines Augen funkelten, als könnte sie in sein Inneres blicken und er ihr nichts vormachen.

»Nicht viel. Keine Leiche, keinen Täter, keinen Tatort, Tausende Zeugen, die alle nichts beitragen können.«

»Das Video wurde über das Darknet verbreitet, richtig? Server in Tonga? Vor acht Tagen.«

»So ist es«, bestätigte Albert. »Wobei ich einfach nicht verstehe, was das alles bedeutet. Alex Covtic hat es mir erklärt, trotzdem blicke ich nicht durch. Nicht mehr meine Zeit. Früher gab es Fingerabdrücke, DNA, einen klar definierten Tatort. Es gab Zeugen, Verdächtige, Spuren, Motive. Und heute? Da wird ein Mann hingerichtet, und wir haben nichts, obwohl wir alles gesehen haben.«

Emine strich sich Nutella auf eine Brötchenhälfte und tunkte dieses tatsächlich in ihren Kaffee.

»Du stehst wohl auf Zucker in flüssigem Zucker«, sagte Albert.

»Ja, probiere das mal. Ist sehr lecker.«

Emine war rank und schlank. Offensichtlich hatte sie einen fabelhaften Energieumsatz oder auch eine Schilddrüsenüberfunktion. Albert brauchte nicht daran zu denken, sich jeden Tag so viel Schrott in den Kaffee zu schütten und den mit einem Nutellabrötchen runterzuspülen. Dafür trank er viel zu viel Kaffee.

»Ich war ein paar Monate in unserer Abteilung für Cyberkriminalität in Osnabrück tätig. Ich kenne mich ein wenig aus. Soll ich versuchen, es dir zu erklären?«

Albert antwortete: »Versuch es. Bitte verfall nicht in den IT-Slang wie Alex. Klare Worte.«

»Gut, also die Kurzfassung auf Albertisch. Wer im Internet recherchiert, sagen wir, du möchtest ein Auto kaufen, benutzt eine Suchmaschine wie Google oder Bing. Hier findet man quasi alles, richtig? Gleichwohl ist es mit dem Internet etwa so wie mit einem Eisberg. Das Eis, das du siehst, befindet sich an der Oberfläche. Die Spitze sozusagen. Die Spitze ist das, was Suchmaschinen wie Google oder Bing erfassen können. Nun gibt es noch den Bereich, der unter Wasser liegt. Man nennt diesen Teil Deep Web. Der größte Teil des Deep Web besteht aus geschützten Bereichen. Datenbanken von großen Firmen, Regierungen, Forschungseinrichtungen und so weiter und so fort. Also nichts Unnatürliches. Ein kleiner Teil des Deep Web sind Netzwerke, die ganz bewusst unsichtbar seien wollen. Diesen Teil nennt man Darknet. Ziel der User, also der Nutzer, ist es, den Datenaustausch und die eigene Identität anonym zu halten. Bei einer herkömmlichen Internetkommunikation …«, Emine holte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und schnappte sich einen Werbebriefumschlag, der auf der Anrichte lag, »… gibt es einen Laptop …«, sie malte ein Viereck auf das Papier, »… einen Server …«, jetzt zeichnete sie ein aufrecht stehendes Rechteck, »… und wieder einen Laptop.«

Kleines Viereck, großes Rechteck, kleines Viereck. Sie verband diese Körper mit einer Linie.

»Zwei Rechner sind über einen zentralen Server verbunden. Alles läuft darüber. Eine Zurückverfolgung und die Überwachung dieses Servers sind ein Kinderspiel. Netzwerke im Darknet funktionieren allerdings anders. Beliebig viele private Laptops sind über das normale Internet miteinander vernetzt. In diesem Fall nur ohne Server in der Mitte, der die Kommunikation steuert.«

Emine zeichnete sechs kleine Vierecke im Kreis und verband alle mit mehreren Linien. Ein Kästchen beschriftete sie mit A, ein anderes mit B.

»Schickt nun der Laptop A Informationen an Laptop B, wird dieser Datenaustausch durch die anderen Laptops gejagt und kommt immer wieder neu verschlüsselt heraus.«

»Aber wir haben doch den Server in Tonga«, warf Albert ein.