Peanuts und andere Katastrophen - Susin Nielsen - E-Book

Peanuts und andere Katastrophen E-Book

Susin Nielsen

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Beschreibung

Es sollte ein Scherz sein, als einige Mitschüler Ambrosius eine Erdnuss in sein Pausenbrot schmuggeln. Ambrosius überlebt den allergischen Schock, bei seiner Mutter jedoch wirkt das Ereignis stärker nach: Ab sofort bekommt Ambrosius zu Hause Fernunterricht. Doch lange währt die traute Einsamkeit nicht. Von seiner Mutter in Sicherheit gewähnt, freundet sich Ambrosius mit Cosmo an - dessen Vergangenheit... na ja, nicht ganz lupenrein ist. Cosmo sorgt mit einigen Unternehmungen für Abwechslung im tristen Fernschulalltag, im Gegenzug hilft Ambrosius dem unsterblich verliebten Cosmo bei Komplikationen mit seinem Mädchen. Ambrosius' Doppelleben klappt wie am Schnürchen - doch als ein früherer Kumpel von Cosmo auftaucht, ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten... Ein weiteres Lesevergnügen von Susin Nielsen, gewohnt witzig, tiefgründig, lebensnah und voller Menschen, die man einfach gernhaben muss!

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Über das Buch

Es sollte ein Scherz sein, als einige Mitschüler Ambrosius eine Erdnuss in sein Pausenbrot schmuggeln. Ambrosius überlebt den allergischen Schock, seine Mutter aber dreht durch: Ab sofort bekommt Ambrosius zu Hause Fernunterricht, um vor Attacken von irgendwelchen Chaoten sicher zu sein.

Lange währt die traute Einsamkeit jedoch nicht. Von seiner Mutter in Sicherheit gewähnt, freundet sich Ambrosius mit Cosmo an, dessen Vergangenheit … na ja, nicht ganz lupenrein ist.

Gemeinsam mit Cosmo und der hübschen Amanda macht Ambrosius all das, was er bei seiner Mutter nie durfte. Doch als ein früherer Kumpel von Cosmo auftaucht, ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten …

Ein weiteres Lesevergnügen von Susin Nielsen, gewohnt witzig, tiefgründig, lebensnah und voller Menschen, die man einfach gernhaben muss!

Die kanadische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Word Nerd bei Tundra Books, einem Imprint von Penguin Random House Canada Limited, Toronto.

Die Übersetzung wurde vom Canada Council for the Arts finanziell gefördert.

Erschienen 2023 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

978-3-8251-6261-0 (ePUB)

© 2023 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

© 2008 Susin Nielsen

Aus dem kanadischen Englisch von Anja Herre

Veröffentlicht mit Genehmigung von Tundra Books, einem Imprint von Penguin Random House Canada Limited.

Umschlaggestaltung: Klaus Pfeiffer, Stuttgart

Innengestaltung der deutschen Ausgabe: Katja Schüch, Kirchheim / Teck

Meiner Mom, Eleanor Nielsen,für ihre bedingungslose Liebe.

Und dafür, dass ich sie als Einzigejederzeit beim Scrabble schlagen kann.

Inhalt

Über das Buch

1 LAGIRLEE

2 ÜBEEHNT

3 CHGEIECHST

4 ORSMABSUI

5 SORLEHW

6 UATGIRR

7 TTTEORL

8 RAWUENTERT

9 MIRINLELK

10 DRERÖM

11 MSEANI

12 TUTEGRN

13 MHCSEBÄNE

14 RNITFOAURTS

15 EUCHSB

16 STEBÜR

17 NNUIGBD

18 REIHHLC

19 GOREND

20 MIDEVREEN

21 NEDRUW

22 HMPLUIATR

23 FLEIGTERE

24 WLALARK

25 GESSAAU

26 LIONLERBE

27 XNEÜBASU

28 ÄKLGNUFRUA

29 WISTRECH

30 RFEEIDN

SCHLUSSPUNKT

GLOSSAR

Dank

Die Autorin

1

LAGIRLEE

aller, Galle, rege, liege, giere, Ei, gar, leger, Eile, Lager,Elle, geil, Allee, Geier, Liga, erlag, real

ALLERGIE

An dem Tag, als ich beinahe starb, war der Himmel strahlend blau – eine schöne Abwechslung zum Regen wenige Tage zuvor. Ein paar Wolken hingen über den Bergen, aber die waren weit weg.

Ich saß an einem Picknicktisch auf dem Schulgelände und aß mein Mittagessen. Da wir Mitte Oktober hatten, war es nicht wirklich warm genug, um draußen zu essen, doch das war mir lieber als der Pausenraum, der laut und überfüllt und gelegentlich gesundheitsgefährdend war, wenn jemand versuchte, mir ein Bein zu stellen. Manchmal konnte man sich umgeben von Menschen einsamer fühlen, als wenn man allein war.

Wieder biss ich von meinem Brot ab und schaute auf meine Füße. Ich trug meine brandneuen Turnschuhe. Nur das schärfste Adlerauge hätte erkannt, dass es sich nicht um die echten handelte. Mom könnte sich die echten niemals leisten, aber am Wochenende hatten wir in Chinatown eine Billigkopie entdeckt, die praktisch genau gleich war und nur ein Viertel so viel kostete.

Sie sahen gut aus, meine neuen Schuhe. Richtig gut. Strahlend weiß, mit einem dunkelblauen schwungvollen Bogen an der Seite und passenden dunkelblauen Schnürsenkeln. Rückblickend hätte ich auf meine neonorangenen Strümpfe verzichten sollen, aber trotzdem sahen sie echt cool aus. Sie ließen mich beinahe meine Hose vergessen, die mir langsam zu kurz wurde, aber wie Mom gern zu sagen pflegte: Sie war nicht aus Geld. Die neue Hose würde warten müssen.

Auf dem Spielfeld kickten Troy, Mike und Josh einen Fußball herum. Kurz überlegte ich, sie zu fragen, ob ich mitmachen könnte, aber das letzte Mal hatten sie mich zum Torwart ernannt und mir den Ball immer wieder an den Kopf geschossen, bis ich Kopfschmerzen bekam. Also beschloss ich zu bleiben, wo ich war.

Die Sonne fühlte sich gut an und ich machte die Augen zu. Ich spürte die warmen Strahlen auf meinem Gesicht und stellte mir vor, wie sie die Mitesser auf meiner Nase in nichts auflösten. Dann verschwand die Sonne und mir knallte etwas an den Kopf. Ich machte die Augen auf. Das Erste, was ich sah, war der Fußball, der von mir wegrollte. Das Zweite, was ich sah, waren drei Paar große, mit echten Markenturnschuhen gepanzerte Füße.

Ich schaute hoch. Troy, Mike und Josh ragten über mir auf und verstellten mir die Sonne.

»Upsi«, sagte Troy. Er war mindestens einen Kopf größer als die anderen und robust wie ein Baumstamm. Er hatte kurze schwarze Haare und seine Augen waren zu klein für sein Gesicht.

»Schon okay. Unfälle können ja mal passieren«, sagte ich, obwohl sich Unfälle zwischen ihrem Fußball und meinem Schädel mindestens dreimal pro Woche ereigneten.

»Was gibt’s zu essen, Amblödius?«, fragte Mike, den andere als untersetzt und ich als dick bezeichnen würde. Er hatte braune Locken und einen dauerhaft mürrischen Gesichtsausdruck, und seine Jeans hing weit unterhalb der Gürtellinie und gab locker eine Handbreit von seiner Unterhose preis, was, wie ich gehört hatte, nicht idiotisch aussah, sondern cool.

»Ambrosius«, antwortete ich. »Käsebrot, Karotten, Apfel –«

»Dein Essen ist zum Kotzen«, sagte Mike.

Ich lachte.

Es klang wie Pferdewiehern, weil ich es, wie ich gestehen muss, ein bisschen erzwang. »Ja, meine Mom ist ein großer Fan von gesunder Ernährung …«

»Ey, Spastosius, bist du echt gegen Erdnüsse allergisch?«, fragte Troy.

»Ambrosius. Ja, echt.«

»Seit sechs Jahren oder so geh ich auf die Schule hier. Sechs Jahre hab ich immer mein Brot mit Erdnussbutter und Marmelade zu Mittag gegessen. Dann kommst du, und auf einmal machen die unsere Schule zur erdnussfreien Zone.«

»Ja, meine Mom nimmt das ziemlich ernst. Hast du schon mal Mandelmus probiert? Ist nämlich kein schlechter Ersatz …«

»Guck mal, seine Schuhe«, sagte Josh. Er war der Kleinste der drei, aber stark und drahtig und zäh, und trug die Haare zu einer Art Irokesenschnitt rasiert. Aus irgendeinem Grund machte er mir am meisten Angst.

Troy und Mike sahen auf meine Füße.

»Gefälscht«, sagte Troy.

»Na ja, eigentlich«, erklärte ich, »sind es echte Aikies.«

Troy schüttelte den Kopf. »Du bist so ’ne Missgeburt.«

Die Freude über meine neuen Schuhe verflüchtigte sich.

»Augen zu«, sagte Josh.

»Warum?«

»Weil ich’s sage.«

Da wurde ich dann doch ein bisschen nervös, denn beim letzten Mal hatte, als ich meine Augen wieder öffnete, eine tote Krähe auf meinem Schoß gelegen.

Aber es ist sehr schwer, Dick und Doof und Dööfer etwas abzuschlagen. So nannte ich sie (nur im Kopf und niemals laut, ich bin ja nicht lebensmüde), weil meine Mom mich vor ein paar Jahren mal zu einem Filmmarathon mitgenommen hat und wir vier ganze Stunden lang alte Dick- und-Doof-Filme angeschaut haben.

Der Name traf es nicht ganz, denn Dick und Doof waren witzig. Troy, Mike und Josh ganz und gar nicht.

Also schloss ich die Augen, und um mir die Zeit zu vertreiben, mischte ich die Buchstaben von »Dick und Doof« im Kopf und versuchte neue Wörter daraus zu bilden. Kind fiel mir ein, Fund, Dino, Ion, Dock, und eben war ich auf Doku gekommen, da sagte Josh: »Kannst wieder aufmachen.«

Machte ich.

Auf meinem Schoß war nichts. Ich betastete meinen Kopf. Nichts – keine Würmer, keine Spucke.

»Was habt ihr gemacht?«, fragte ich.

Doch Troy klopfte mir bloß auf den Rücken, einen Tick zu fest. »Bis später, Amöbius.«

»Ambrosius«, sagte ich. »Bis nachher in Mathe.«

Sie gingen weg. Ich nahm mein Brot, biss ab und fand, dass mein Plausch mit Dick und Doof und Dööfer alles in allem ganz gut gelaufen war. Gerade kam mir der Gedanke, dass dies vielleicht ein Fortschritt in unserer Beziehung war, als es plötzlich überall anfing zu jucken, gefolgt von einer eindeutigen Verengung in meinem Hals.

Ich kannte dieses Gefühl. Es war acht lange Jahre her, doch ich hatte es nicht vergessen. Ich klappte mein Brot auf, und tatsächlich, da lag sie.

Eine Erdnuss. Um ganz präzise zu sein: eine halbe Erdnuss. Die andere Hälfte befand sich in meinem Verdauungstrakt, und ich erlitt einen anaphylaktischen Schock. Sämtliche Schleimhäute in meinem Rachen schwollen an und ich konnte kaum atmen. Ich tastete nach meinem Epi-Pen, dann fiel mir ein, dass ich ihn nicht dabeihatte. Er lag in einer Bauchtasche in meinem Spind, in dem ich sie fast jeden Morgen versteckte, obwohl Mom mich umbringen würde, wenn sie das wüsste. Wenn ich die Bauchtasche anhatte, nannten mich Dick und Doof und Dööfer Schwuchtel, weil sie knallpink war – Mom hatte sie als Gratismuster in einem Einkaufszentrum in Kelowna bekommen, wo wir bis vor zwei Monaten gewohnt hatten.

Die lebensrettende Injektion war also drinnen und im zweiten Stock, und ich war draußen auf dem Schulhof und rang nach Luft. Ich entdeckte Troy, Mike und Josh, die mich beobachteten und sich dabei vor Lachen kringelten. Kurz bevor alles schwarz wurde, stellte ich mir die Schlagzeile meines Nachrufes vor: STREBER OHNE FREUNDE VON ERDNUSS GETÖTET. Und darunter: STIRBT MIT GEFÄLSCHTEN TURNSCHUHEN AN DEN FÜSSEN.

2

ÜBEEHNT

Tee, Ente, Hüte, eben, Beet, üben, bete, Bühne,Teen, heben, Ehen, ebnet

BEHÜTEN

Ich starb nicht. Stattdessen erlebte ich etwas, das die Ärztin als Nahtoderfahrung bezeichnete, was schon irgendwie aufregend klingt, ich persönlich jedoch nicht empfehlen würde.

Ich sah kein hell gleißendes Licht. Ich sah weder Gott noch Allah noch Buddha. Mein Leben zog nicht an mir vorbei. Genau genommen erinnerte ich mich nach meiner Ohnmacht an gar nichts mehr, bis der Rettungssanitäter mir die erste Injektion Adrenalin verpasste, die ausreicht, um wirklich alles und jeden wieder aufzuwecken. Danach muss ich wieder bewusstlos geworden sein, denn als ich wach wurde, lag ich in einem Krankenhausbett und neben mir saß meine Mom, auf dem Kopf den Schlapphut mit der Blume, den ich ihr letztes Weihnachten im Secondhand gekauft hatte. Sie umklammerte meine Hand und weinte sich die Augen aus.

Ich hätte ihr gern gesagt, dass es mir gut ging, dass alles gut werden würde, aber mein Hals fühlte sich komisch an und ich glaube, ich stand unter Beruhigungsmitteln, denn ich bekam kein Wort heraus. Das ärgerte mich, denn ich sah ihr an, wie aufgelöst sie war.

Ich liebe meine Mom. Mein ganzes Leben hat sie mich beschützt, und nicht nur vor Erdnüssen. Als ich klein war und wir noch in Edmonton wohnten, hat Oma Ruth immer gewitzelt, unsere Wohnung sei ausgestattet wie eine Irrenanstalt – das Einzige, was noch fehle, seien die Zwangsjacken. Unsere Steckdosen hatten eine Schutzabdeckung, Medikamente und Putzmittel waren weggeschlossen, scharfkantige Tische mit Schaumstoffstücken gepolstert, Schubladen und Schränke hatten Kindersicherungen. Wir hatten sogar einen Plastikbügelverschluss am Klodeckel, denn Mom befürchtete, ich könnte den Deckel hochklappen, hineinfallen und ertrinken.

Weil meine Mom ihre Sache mit dem Beschützen so gut gemacht hat, beschloss ich bei unserem Umzug nach Vancouver vor zwei Monaten, dass ich alt genug war, um ihr auch einen Gefallen zu tun. Deshalb habe ich ihr erzählt, dass es in meiner siebten Klasse sehr gut läuft, dass ich Freunde habe und sie Troy, Mike und Josh heißen. Ich merke, wie glücklich sie das macht, denn in Edmonton, Regina und Kelowna hatte ich nie wirklich Freunde.

Und was würde es auch bringen, ihr zu sagen, dass diese Schule genauso war wie alle anderen? Dass Dick und Doof und Dööfer mich – an einem guten Tag – beleidigten, dass sie – an einem schlechten Tag – mein Mittagessen ins Klo schmissen und – einmal – mein Mittagessen und meine Turnhose darin versenkt hatten.

Es ist so: Ich habe gelernt, damit zu leben. Ist nicht das Ende der Welt. Und außerdem, wenn ich meiner Mom die Wahrheit sagte, würde sie ausflippen. Sie würde einen Riesenwirbel veranstalten. Der Direktor würde angerufen, Eltern würden angerufen … und wenn alle sich wieder abgeregt hätten, wer würde dann mit dem üblen Nachspiel klarkommen müssen? Ich.

Und, ganz ehrlich, mir ging es besser, wenn ich ihr abends Geschichten erzählen konnte, die so klangen, als hätte ich ein Leben:

»Und mittags haben wir dann Körbe geworfen.«

»Nach der Schule habe ich Mike bei Mathe geholfen.«

»Troy hat mich zu seinem Geburtstag bei Planet Lazer eingeladen.«

Die letzte ging beinahe ins Auge. Ich hatte Laser Tag ausgesucht, weil ich wusste, dass Mom das brutal und gefährlich findet, von daher konnte ich es nicht fassen, als sie mir erlaubte, hinzugehen. Wir kauften ein Geschenk, und Mom brachte mich mit dem Bus zu Planet Lazer, was über eine Stunde dauerte, weil das auf der anderen Seite des Flusses liegt. Als wir hinkamen, wollte sie mit rein und Troys Mom kennenlernen, aber ich flehte sie an, das zu lassen, es würde uncool wirken. Schließlich gab sie nach.

Die nächsten drei Stunden verbrachte ich auf der Toilette, denn es regnete in Strömen. Ich las das Buch, das wir für Troy gekauft hatten – Herr der Diebe von Cornelia Funke –, und eine Zeit lang konnte ich wirklich glauben, dass ich in Venedig, Italien, ein unglaubliches Abenteuer erlebte und nicht in einer stinkigen Kabine auf der Klobrille hockte.

Auf dem Weg nach Hause war der Bus voll und die Leute waren nass, deshalb roch es nach Feuchtigkeit und Achselhöhlen. Mom und ich mussten weiter vorne stehen.

»Und? Wie war’s?«, fragte sie.

»Super. Wir haben gewonnen. Ich hab Troy mit dem Laser genau ins Herz getroffen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bah, das klingt furchtbar. Den Kuchen hast du aber nicht gegessen, oder?«

»Nein, Mom«, sagte ich. »Ich hab gar nichts gegessen, nur das, was du mir mitgegeben hast.«

Danach schwiegen wir beide. Ich betrachtete den Regen, der in winzigen Strömen an den Fensterscheiben hinunterrann, und guckte verstohlen in die ernsten Gesichter um mich herum.

Dieses Mal hatte sich die Lüge nicht so gut angefühlt. Sie hatte mir nicht das Gefühl gegeben, ein Leben zu haben.

Sie sorgte nur dafür, dass ich mir vorkam wie ein winziges Staubkörnchen im Universum.

Ich musste wieder weggedämmert sein, denn als ich das nächste Mal aufwachte, hörte ich meine Mom auf dem Krankenhausflur mit einer Ärztin reden. Ihre Stimmlage war etwa eine Oktave höher als normal. Ich konnte sie mir vorstellen mit ihrem Hut, wie sie mit den Armen fuchtelte, und empfand ein bisschen Mitleid für die Ärztin. Plötzlich hörte ich, laut und deutlich: »Die haben ihm eine Erdnuss aufs Brot geschmuggelt? Seine Schulfreunde haben ihm absichtlich eine Erdnuss auf sein Brot gelegt?«

O Mann. Ich fragte mich, wer es gewagt hatte, Dick und Doof und Dööfer zu verpetzen. Irgendwer aus der Schule? Oder vielleicht sogar einer der drei, in einem seltenen Anfall von Schuldgefühl?

Da trieb eine verschwommene Erinnerung an die Oberfläche meines Hirns, und ich stöhnte. Eine sehr nette Krankenschwester hatte sich über mich gebeugt, als sie mir die zweite Adrenalinspritze gegeben hatten. Sie hatte mich gefragt, was passiert war …

Und ich hatte ihr alles erzählt. Ich war’s gewesen. Ich war die Petze.

Auf dem Flur schrie immer noch meine Mom herum, und so verrückt sich das anhören mag, aber in dem Moment dachte ich nicht daran, wie dankbar ich war, am Leben zu sein.

Ich dachte: Warum hat mich die Erdnuss nicht einfach umgebracht? Denn ich wusste mit absoluter Gewissheit, die Kacke hatte den Punkt erreicht, an dem sie zu dampfen beginnt.

3

CHGEIECHST

seicht, chic, echt, Tisch, Stich, heischt, Echse,seit, Schicht, Ehe, Scheich, Shit

GESCHICHTE

Dass ich eine Erdnussallergie hatte, fanden wir heraus, als ich drei Jahre alt war. Wir wohnten in Edmonton und meine Mom nahm eine Teilzeitstelle als Dozentin an der Universität an, weil uns so langsam das Geld von der Lebensversicherung ausging. Sie brachte mich bei einer Tagesmutter namens Betty Spooner (Eros, Person, er, Pore, Tor, Sporen, pro, Oper, Tenor, Sporn) unter. Ich kann mich nicht an viel erinnern, außer, dass Betty mir wie ein Wesen aus der Urzeit vorkam – sie sah aus wie siebenundneunzig, war aber womöglich erst sechzig.

Betty Spooner war nicht auf dem Laufenden, was Nahrungsmittelallergien betraf, denn in meiner zweiten Woche gab es Brote mit Erdnussbutter und Marmelade zum Mittag. Ich biss ein paarmal ab, und zu meinem Glück sah Betty zufällig von der Seifenoper auf, die sie in dem kleinen Schwarzweißfernseher in der Küche anschaute, und bemerkte, dass ich anschwoll wie ein Kugelfisch. Sie rief die Notrufzentrale an und dann meine Mutter. Im Krankenhaus sagte man meiner Mom, ich hätte eine schwere Allergie gegen Erdnüsse und dass, wenn ich je wieder eine essen würde, die Reaktion noch heftiger ausfallen könnte. Da bekam ich dann den EpiPen und mein eigenes Notfall-Armband, das ich damals cool fand und mittlerweile hasse.

Jedenfalls ging ich nicht wieder zu Betty Spooner. Ich hörte, wie meine Mom sie an dem Abend am Telefon anbrüllte und eine Idiotin nannte, was, rückblickend, nicht besonders gerecht war. Betty hatte es nicht wissen können, aber meine Mom ist – na ja, so ist meine Mom eben. Danach wollte sie nicht mehr, dass irgendjemand anders sich um mich kümmert, also kündigte sie ihre Stelle und blieb in Vollzeit zu Hause, bis ich in die Schule kam.

Doch selbst als sie die ganze Zeit auf mich aufpasste, hatte meine Mom immer noch nicht das Gefühl, ich sei in Sicherheit. Ich erinnere mich sehr lebhaft daran, wie ich einmal auf den Spielplatz in der Nähe unserer Wohnung gegangen bin, den mit dem rostigen roten Klettergerüst, und ein alter Mann saß auf einer Bank und fütterte die Eichhörnchen mit ungeschälten Erdnüssen. Ich hob eine Schale auf und wollte sie in den Mund stecken. Mom schlug sie mir gerade noch rechtzeitig aus der Hand und hielt dann dem alten Mann einen Vortrag über Erdnussallergien, und am Ende nannte er sie eine puta (was, wie ich später herausfand, »Prostituierte« bedeutet. Stimmt nicht. Sie trifft sich nicht mal mit irgendwem).

Danach kaufte sie mir einen von diesen Kindergurten mit Leine, den ich andauernd tragen musste. Ich weiß noch, wie ich die Straße runterrannte, oder durch ein Einkaufszentrum, und von einem sachten Ruck ausgebremst wurde, wenn die Leine zu Ende war. Ich weiß auch noch, wie Mom in Diskussionen mit fremden Leuten geriet, die fanden, ein Kind an die Leine zu nehmen, sei grausam. In solchen Fällen tat ich so, als sei ich ein Hund, und bellte, dann gingen sie meistens weg. Einmal leckte ich sogar Moms Hand, aber das mochte sie nicht besonders.

Oma Ruth, die uns zu der Zeit noch etwas öfter besuchen kam, konnte den Anblick von mir in diesem Gurt nicht ertragen. Sie und Mom führten hitzige Debatten darüber, wenn sie dachten, ich würde schlafen.

»Das ist nicht richtig, Irene. Ich weiß, du willst ihn beschützen, aber das geht zu weit.«

»Lass mich in Ruhe, Mom, bitte. Ich versuche nur, ihn abzusichern.«

Ich hatte Oma Ruth sehr lieb, mit ihren pudrig weißen Haaren und ihren grellbunten Trainingsanzügen, aber meine Mom hatte ich auch lieb, und die beiden streiten zu hören, verursachte mir Bauchweh.

Diesen Streit gewann Oma Ruth nicht. Ich trug weiterhin die Leine. Bis zum Kindergarten.

Aber für den Fall, dass ich meine Mom gerade als Spinnerin darstelle: Sie ist keine. Oder nicht übermäßig.

Eigentlich war sie eine so gut wie normale Mutter, und wir waren eine so gut wie normale Familie, mit zwei Eltern und mir, und wer weiß? Vielleicht einem Bruder oder einer Schwester, oder zumindest einem Haustier.

Meine Mom und mein Dad haben sich sehr geliebt. Er war ein gut aussehender, braun gebrannter Australier, der mit einem Arbeitsvisum nach Kanada gekommen war. Er ging nach Banff, um als Skilehrer zu arbeiten, und wollte ursprünglich nur ein Jahr bleiben. Meine Mom war zierlich, hatte ihr langes, braunes Haar zum Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie trug eine Omabrille, die sie ernst und älter als fünfundzwanzig wirken ließ. Sie hatte gerade erst in Englischer Literatur an der Universität Calgary promoviert, wo sie eine Doktorarbeit mit dem Titel »Die Auswirkungen einer Kindheit in Isolation auf die Vorstellungskraft der Brontë-Schwestern« geschrieben hatte. Die wurde in irgendeiner Zeitschrift abgedruckt, obwohl sich das (ohne Mom zu nahe treten zu wollen) nicht unbedingt nach fesselnder Lektüre anhörte.

Sie war mit einer Freundin für eine Woche nach Banff gefahren, um ein bisschen Dampf abzulassen und zu feiern, und lernte meinen Dad eines Abends in einer Kneipe kennen. Laut Mom war er eigentlich überhaupt nicht ihr Typ. »Ich war ein Bücherwurm und er ein Sportfreak.« Sie lächelte immer, wenn ich sie bat, die Geschichte noch mal zu erzählen, was ich ziemlich oft tat.

Und trotzdem verliebten sie sich Hals über Kopf. Innerhalb weniger Monate zog mein Dad nach Calgary, und bald darauf heirateten sie. Sie mieteten ein kleines Haus nur drei Straßen von Oma Ruth entfernt. Mom begann an der Universität in Vollzeit Englische Literatur zu unterrichten und hoffte, in ein paar Jahren eine Festanstellung zu bekommen. Soweit ich weiß, heißt Festanstellung, dass man einen Arbeitsplatz fürs ganze Leben hat. Dad fand jede Menge Arbeit am Bau.

Zwei Jahre später wurde meine Mom schwanger. Angeblich redete mein Dad jeden Abend mit mir, und ich »antwortete« immer mit kleinen Tritten.

Als sie im siebten Monat schwanger war, bekam meine Mom einen Anruf von Dads Vorarbeiter. Dad war bei der Arbeit zusammengebrochen. Einfach so – umgekippt. Er wurde vom Krankenwagen abgeholt. Mom fuhr so schnell sie konnte zum Krankenhaus, aber als sie ankam, lebte er schon nicht mehr.

Anscheinend war er im Krankenwagen schon tot gewesen … schon tot, als er auf dem Asphalt aufgeschlagen war. Die ganze Zeit hatte mein Dad ein Aneurysma (Maus, raus, Mauer, rumsen, Aas, Urne) im Gehirn gehabt, ein kleines Blutgefäß, das sich langsam aufgebläht hatte wie ein Ballon. An dem Tag war es einfach geplatzt.

Meinen Dad habe ich also nie kennengelernt, geschweige denn jemanden aus seiner Familie. Seine Eltern starben, als er noch jung war. Er hatte noch einen älteren Bruder in Australien, aber ich nehme an, er und Mom haben sich aus den Augen verloren, denn wir hören nie was von ihm.

Ich habe jede Menge Bilder von meinem Dad, fast alle hat meine Mom gemacht. Mom redet über ihn, aber nur, wenn ich frage. Oma Ruth erzählt mir auch von ihm, aber seit wir, als ich zwei war, nach Edmonton, Alberta, gezogen sind, dann nach Regina, Saskatchewan, als ich fünf war, dann nach Kelowna, British Columbia, als ich neun war, dann diesen Sommer, kurz nachdem ich zwölf geworden war, nach Vancouver, habe ich sie nur ein paarmal gesehen. Sie kommt uns manchmal besuchen, aber nicht öfter als einmal im Jahr, denn sie fliegt nicht gern.

Beim letzten Besuch von Oma Ruth waren wir noch in Kelowna, wo Mom als befristete Lehrkraft an der Uni arbeitete. An ihrem letzten Abend hörte ich die beiden streiten.

»Irene, es reicht«, sagte Oma Ruth. »Du musst nach vorne schauen und aufhören, in der Vergangenheit zu leben.« Dann sagte Mom, sie würde ja nach vorne schauen, sie täte ihr Bestes und hätte es satt, andauernd von Oma verurteilt zu werden.

Ich weiß ja auch nicht. Vielleicht noch ein Grund, warum Oma Ruth uns nicht mehr besucht.

Aufgrund von Dingen, die ich gehört, und Hinweisen, die ich hier und da aufgeschnappt habe, vermute ich, dass meine Mom ein ziemlich anderer Mensch gewesen sein muss, als Dad noch lebte. Aber ich kenne sie eben nur a.D. – abzüglich Dad. Das ist die einzige Version von Mom, mit der ich vertraut bin, und diese Version habe ich sehr lieb.

Ich weiß auch, dass sie mich wie verrückt lieb hat. Deshalb kann ich mir auch nicht so richtig vorstellen, wie es für sie gewesen sein muss, als sie jetzt angerufen wurde. Denn »Ihr Sohn ist im Krankenhaus« muss sich sehr ähnlich angehört haben wie »Ihr Mann ist im Krankenhaus«.

Und wir wissen alle, wie das ausgegangen ist.

4

ORSMABSUI

Sau, Raub, Saum, Mob, Maus, Saus, Rum,bis, aus, am, biss, Au, so, um, Amboss,Abriss, Bussi, Omas, Umriss

AMBROSIUS

So bin ich zu meinem Namen gekommen. Ambrosius. Das war der Name meines Vaters. Er stammt vom griechischen »ambrotos« und bedeutet »Göttlicher, Unsterblicher«.

Einmal habe ich meine Mom auf die Ironie daran hingewiesen. Ich sagte: »Irgendwie witzig, oder? Weil das war Dad ja nun eindeutig nicht. Unsterblich, meine ich.«

Mom fand das überhaupt nicht witzig.

5

SORLEHW

Sohle, Hose, Ohres, Rose, hol, Show, Eros, weh,Lose, rohe, Wohles, Loser, Reh, wer, ehrlos

WEHRLOS

»Ihr hättet ihn umbringen können.«

Moms Stimme war ruhig, aber auf eine unheimliche Mit-Müh-und-Not-Art. Sie trug ihren besten Hosenanzug, den dunkelblauen, den sie in Regina im Secondhandladen gekauft hat. Er hat goldene Knöpfe am Jackett und sie wirkt darin elegant und gleichzeitig geschäftsmäßig. Ich saß neben ihr auf einem Stuhl mit gerader Lehne, und da ich ebenfalls geschäftsmäßig wirken wollte, hatte ich meine braune Hose (die im Schritt ein bisschen zu eng ist) und ein blau-weiß gestreiftes Hemd aus dem Secondhandladen angezogen. Es war zwei Nummern zu groß, sah aber trotzdem gut aus.

Troy, Mike und Josh saßen uns gegenüber, zusammengedrängt auf dem Sofa des Direktors, das alt und kariert war und komisch roch. Sie hatten sich keinerlei Mühe gegeben, sich schick anzuziehen. Zwischen uns, am Schreibtisch, saß unser Direktor, Mr Acheson. Er wirkte wie jemand, der in jungen Jahren eine Sportskanone gewesen war, aber jetzt war er eher schwabbelig und fast kahl. Er trug eine seiner berühmten Krawatten (die mit den tanzenden Fröschen). Ich glaube, er hoffte, die Krawatten würden ihn beliebter machen.

War aber nicht der Fall.

Tags zuvor war ich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Abgesehen davon, dass ich mich noch etwas zittrig fühlte, ging es mir körperlich gut. Psychisch war ich ein Wrack.

»Es sollte ein Witz sein«, sagte Troy und starrte mich dabei mit seinen winzigen Augen an, als wollte er mich zerquetschen.

Meine Mom wurde ganz steif. »Ein Witz. Eure Vorstellung von Humor ist also, das Leben eines Freundes aufs Spiel zu setzen.«

»Es war ein Versehen«, warf Mike ein, doch Mom durchbohrte ihn bloß mit ihren Blicken.

»Ein Versehen?« Ihre Stimme bekam etwas Schrilles. »Ihr drei habt absichtlich eine Erdnuss ins Brot meines Sohnes gesteckt, wohl wissend, dass er eine lebensgefährliche Erdnussallergie hat. Welcher herzlose Vollidiot –«

»Bitte, Ms Bukowski, beruhigen Sie sich«, sagte der Direktor.

»Mrs Bukowski«, gab Mom zurück. »Und beruhigen? Mein Sohn ist beinahe umgebracht worden, und Sie verlangen von mir, dass ich mich beruhige, ver****t noch mal?«

O Mann. Ich hatte gehofft, Mom würde nicht auf die Stinkstiefel-Stufe abrutschen.

»Ich könnte Strafanzeige gegen diese drei Mistkerle erstatten: Körperverletzung, vorsätzliche Schädigung …«

»Ms Bukowski«, sagte der Direktor streng.

»Mrs Bukowski.«

»Wenn Sie derartige Drohungen aussprechen, werde ich sowohl die Eltern der Jungen als auch die Leiterin der Schulkommission anrufen müssen.«

Tatsächlich hielt Mom den Mund. Für einen kurzen Moment herrschte unangenehmes Schweigen.

»Jungs, was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?«, fragte Mr Acheson.

»Wir dachten, er übertreibt«, sagte Josh.

»Ja, wie hätten wir denn wissen sollen, dass er das ernst meint?«, fügte Mike hinzu.

»Weil er euer Freund ist!«, rief Mom.

Troy machte pff.

Ich rutschte auf meinem Stuhl etwas tiefer.

Mom starrte ihn an. »Was war das?«

»Nichts«, nuschelte Troy.

»Nein, nein, ich möchte es wissen.«

»Er ist nicht unser Freund«, sagte Troy.

Mom schüttelte den Kopf. »Wenn er nicht euer Freund ist, wieso hast du ihn dann zu deinem Geburtstag eingeladen?«

Wie gesagt. Kacke. Dampf. Zisch.

Troy blinzelte, verwirrt. »Mein Geburtstag ist erst im März.«

Mom sah mich an und ich tat so, als hätte ich gerade etwas sehr Interessantes auf meinen Schuhen entdeckt.

»Sehen Sie? Der lügt voll«, sagte Mike.

»Also, Jungs …«, fing Mr Acheson an.

»Er hat uns erzählt, seine Familie wäre reich und er würde nur deshalb auf eine öffentliche Schule gehen, weil seine Eltern wollen, dass er auch mit normalen Kindern zu tun hat«, sagte Troy.

»Er hat erzählt, Sie sind am Wochenende immer in Whistler, in Ihrem Ferienhaus«, fügte Josh hinzu.

Mike sagte: »Aber das hat alles nicht dazu gepasst, wie er sich anzieht und so …«

»Hochwasserhosen und gefälschte Schuhe.«

»Genau, wenn er so viel Geld hat, wieso läuft er dann mit ’ner pinkfarbenen Bauchtasche rum?«

Na gut, ich hatte mit der Wahrheit herumexperimentiert. Aber ehrlich sein hatte sich an meinen anderen Schulen nicht unbedingt ausgezahlt, deshalb hatte ich beschlossen, mal etwas Neues auszuprobieren.

»Wir dachten, das Erdnussding wäre auch wieder eine Lüge«, sagte Troy. »Um halt wieder unsere Aufmerksamkeit zu kriegen. Wir wollten ihm eine Lektion erteilen, schätze ich.«

Meine Mom war sprachlos. Ich spürte ihren Blick, aber ich starrte weiter auf meine Schuhe, als wollte ich sie beschwören, echter zu werden.