Pearl Nolan und der tote Fischer - Julie Wassmer - E-Book

Pearl Nolan und der tote Fischer E-Book

Julie Wassmer

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Beschreibung

Pearl Nolan betreibt ein kleines Fischlokal im malerischen Küstenort Whitstable. Niemand kann kochen wie sie, und niemand kann besser Geheimnisse lüften. Erst kürzlich hat Pearl sich einen Lebenstraum erfüllt und ein Detektivbüro als zweites Standbein eröffnet. Doch da wird ein Austernfischer tot aufgefunden, der Tote ist ausgerechnet ihr Lieferant. Der zurückhaltende, aber überaus attraktive Kommissar McGuire spricht von einem Unfall, aber Pearl weiß, dass das nicht stimmen kann. Pearl wird fortan mit ihm gemeinsam ermitteln – ob McGuire nun will oder nicht.

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Das Buch

Pearl Nolan betreibt gemeinsam mit ihrer unkonventionellen Mutter Dolly ein kleines Austernrestaurant im malerischen Küstenort Whitstable. Niemand kann so gut kochen wie Pearl, und niemand kann besser Geheimnisse lüften. Erst kürzlich hat sie sich einen langgehegten Traum erfüllt und ein Detektivbüro als zweites Standbein eröffnet. Schließlich ist es in ihrem Leben ziemlich ruhig geworden, seitdem ihr Sohn Charlie ausgezogen ist.

Doch da wird ein Austernfischer ermordet aufgefunden, und es ist ausgerechnet ihr Lieferant und ein alter Bekannter. Der zurückhaltende, aber auffallend attraktive Kommissar McGuire spricht von einem Unfall, doch Pearl weiß, dass das nicht stimmen kann. Sie wird fortan mit ihm gemeinsam ermitteln, ob McGuire nun will oder nicht. Und dann gibt es plötzlich einen weiteren Toten, Pearls erster Klient des Detektivbüros, und Pearl muss McGuire nicht nur ihre Kochkünste, sondern auch ihr Ermittlungsgeschick beweisen.

Die Autorin

Julie Wassmer schreibt seit über zwanzig Jahren Drehbücher für die BBC. Pearl Nolan und der tote Fischer ist der Auftakt zu ihrer Serie um die Privatdetektivin und Köchin Pearl Nolan. Julie Wassmer lebt in Whitstable und engagiert sich für Umweltschutz.

Julie Wassmer

PEARL NOLAN

UND DER TOTE FISCHER

Ein Krimi von der englischen Küste

Aus dem Englischen von Sepp Leeb

List

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Whitstable Pearl Mystery bei Constable & Robinson, London.

Das Zitat in Kapitel 17 stammt von Geoffrey Chaucer, Troilus und Criseyde, in der Übersetzung von Wolfgang Obst und Florian Schleburg, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2000, S. 68.

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ISBN: 978-3-8437-1379-5

© Julie Wassmer, 2015© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Covergestaltung und Illustration: Patrick UnowlesFoto der Strandhäuser: © iStockphotoDeutschsprachiger Umschlag: Cornelia Niere, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

»Die armen Britannier. Eines muss man ihnen aber trotzdem zugutehalten – sie haben eine Auster hervorgebracht …«

Gaius Sallustius Crispus an Julius Caesar. 55 v. Chr.

KAPITEL EINS

Pearl Nolan stellte eine eisgefüllte Platte mit pazifischen Felsenaustern vor ein Trio skeptischer Gesichter und wischte sich die nassen Hände an ihrer Schürze ab. Ihre Gäste waren eine Familie – die Eltern, wie Pearl, Ende dreißig, obwohl sie hoffte, nicht so ausgelaugt auszusehen. Möglicherweise lag das an der pampigen pubertären Tochter: Ihr knappes Top und das Nasenpiercing signalisierten unverhohlene Auflehnung gegen einen stinklangweiligen Urlaub mit Mama und Papa.

Schon nach wenigen Worten hatte Pearl ihren Gateshead-Akzent richtig eingeordnet. Aber selbst wenn ihre Gäste stumm geblieben wären, hätte sie gemerkt, dass sie Landsleute waren – Briten hatten nicht das nassforsche Auftreten amerikanischer Touristen oder die distinguiert zurückhaltende Art der Franzosen. Deutsche und Skandinavier, entweder auf Rad- oder Wandertour, schienen es immer eilig zu haben und nahmen sich kaum Zeit fürs Essen. Dagegen waren die Briten in der Regel deutlich zurückhaltender und blieben zuerst unsicher auf dem Gehsteig stehen, um die Speisekarte zu studieren, bevor sie sich ins »Pearl’s« wagten, um dort die berühmteste Delikatesse Whitstables zu probieren – Austern. Die Familie aus Gateshead blieb jedoch unerschütterlich unbeeindruckt und blickte starr vor Abscheu auf ihre Muscheln herab, bis die Tochter einen Kommentar abgab, dem sogar ihre Eltern beigepflichtet haben dürften: »Die sehen ja aus wie Rotz.«

Pearl hatte durchaus Verständnis für die betreten zusammenzuckenden Eltern; auch sie versuchte sich in letzter Zeit damit abzufinden, dass ihr Kind flügge und erwachsen wurde. Aber wenigstens hatte Charlie inzwischen diese pubertäre Aufmüpfigkeit abgelegt. Als Pearl sich dem Tisch näherte, um ihren Gästen die üblichen Zutaten zu erläutern, die Zitronenschnitze und die Mignonette-Soße, die den »Rotz« genießbarer machten, ertönte hinter ihr eine Stimme: »Da hat die junge Dame nicht ganz unrecht.« Alle Köpfe drehten sich in Richtung Küchentür, aus der gerade Pearls Mutter Dolly kam. Mit einer Wachstuchschürze, auf der ein farbenprächtiger schiefer Turm von Pisa prangte, näherte sie sich ihnen, um schließlich, wie um des theatralischen Effekts willen, mit einer Austernschale in der Hand stehen zu bleiben. »Aber nicht selten kann das Äußere auch täuschen.« Mit einem geübten Schlenker des Handgelenks kippte sie den Inhalt der Muschel in ihren Mund, biss abrupt laut knirschend zu und schluckte. »Köööstlich.«

Die Familie saß da und schaute ihr zu, alle mit weit offenem Mund, sichtlich fasziniert und wahrscheinlich auch ein wenig angeekelt von dem Schauspiel, dessen Zeuge sie gerade geworden waren. Pearl dagegen sah den Zeitpunkt für gekommen, den Auftritt ihrer Mutter zu beenden. Mit einem freundlichen, an ihre Gäste gerichteten »Lassen Sie es sich schmecken« steuerte sie Dolly mit festem Griff in Richtung Küche zurück.

In der Tür drehten sich die beiden Frauen kurz um und beobachteten, wie »Papa« seinen ganzen Mut zusammennahm und eine Auster von der Platte pflückte. Als er sie hastig hinunterschluckte, gestand Dolly, um Spucke ringend: »Wie ich dieses Glibberzeug hasse.« Und Pearl gab ihre gewohnte Antwort: »Wem sagst du das?«

Ein Klingelton mit der Melodie eines seelenlosen »Für Elise« rief Pearl in die Küche, wo sie unter Stoffbeuteln mit frischen Shrimps und Muscheln nach ihrem Handy suchte. Dolly, die ihr gefolgt war, blickte in der Gewissheit, der Versuchung widerstehen zu können, auf einen Stapel frischer Krabben-Sandwiches hinab, die sie gerade gemacht hatte. Dank einer Diät, bei der sie nur Flüssigkeiten zu sich genommen hatte, wog sie inzwischen genauso viel wie ihre Tochter – dreiundsechzig Kilo, um genau zu sein. Um an diesen Punkt zu kommen, war allerdings ein Monat mit abscheulichen Milchshakes nötig gewesen. Sechzig Jahre alt zu werden hätte sich als höchst unerfreulich erweisen können, wenn sie nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hätte, sich selbst über das Alter zu erheben und ihren Triumph über die Sterblichkeit mit ein paar kühnen magentaroten Strähnen und neumodischer Unterwäsche in Gestalt eines weit über die Taille reichenden Elastanschlüpfers zu feiern, der aus den Fugen geratenem Gewebe wie durch ein Wunder wieder Form verlieh. Als Dolly ihre mit ihrem Handy beschäftigte Tochter beobachtete, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie wenig Ähnlichkeit sie mit ihrem einzigen Kind hatte. Pearl stand am Fenster, durch das die Sommersonne auf sie fiel wie ein Spotlight und den Kontrast zwischen ihrem fliederfarbenen Vintage-Kleid und der gesunden Bräune ihres Gesichts und ihrer Arme und Beine noch besser zur Geltung brachte. Meistens band sie ihr langes, dunkles Haar hoch, und bis auf den kleinen flachen Silberanhänger an ihrem bloßen Hals trug sie in der Regel auch keinen Schmuck, vor allem keine Ringe, die bei der Küchenarbeit zwischen den Gerätschaften verlorengehen könnten. Oft musste das Restaurant als Entschuldigung für Pearls unprätentiösen Kleidungsstil herhalten, aber Dolly spürte, dass die schlichte Garderobe ihrer Tochter, die größtenteils auf Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit ausgerichtet war, Ausdruck ihrer Ablehnung der extravaganten Art war, mit der sie selbst sich kleidete. Die Wahrheit lag vermutlich irgendwo dazwischen, denn egal, was Pearl anhatte und wie sie sich zurechtmachte, sie sah immer umwerfend aus. Mit ihrem zigeunerschwarzen Haar und den mondsteingrauen Augen hatte Pearl den »Black Irish«-Look der Abkommen der spanischen Matrosen, die nach der vernichtenden Niederlage ihrer Armada an den Küsten Westirlands dem Tod entronnen waren und unter rebellischen Clanführern wie Sorley Boy McDonnell und Hugh O’Neill gedient hatten. Obwohl Dolly aus Whitstable stammte, hatte ihr verstorbener Mann Tommy, seit jeher eine rebellische Natur, seine Wurzeln nach Galway zurückverfolgen können. Und so hatte Pearl die beherzte Art ihrer Mutter und den dunklen Teint und das gute Aussehen ihres Vaters geerbt. Groß und schlank wie sie war, stand nicht zu befürchten, dass sie in absehbarer Zeit einen Traumfigurschlüpfer brauchen würde.

Inzwischen hatte Pearl ihr Handy gefunden und sagte, nachdem sie dem Anrufer kurz zugehört hatte: »Nein, das Büro ist geöffnet, ich musste nur kurz weg.« Sie sah auf die Uhr und nahm ihre Schürze ab, bevor sie hinzufügte: »Wenn Sie sich noch zwei Minuten gedulden würden, ich bin sofort da.« Sie beendete das Gespräch und erklärte angesichts Dollys fragend hochgezogener Augenbrauen: »Sieht so aus, als hätte ich endlich einen Kunden.«

Dolly runzelte die Stirn. »Du meinst wohl eher einen Klienten? Deine Kunden bekommen Meeresfrüchte …«

»Serviert von meiner Lieblingsbedienung.« Mit einem Lächeln griff Pearl nach ihrer Leinenumhängetasche.

Dollys Miene verfinsterte sich schlagartig. »Sag bloß, du …«

»Ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich wieder zurück bin.« Damit ging Pearl rasch zur Tür und steckte ihr Handy in die Tasche.

»Heute ist aber mein freier Tag«, zischte Dolly. »Ich habe mich lediglich bereit erklärt, ein paar Sandwiches zu machen …«

»Die niemand so gut macht wie du.« Pearls bezauberndes Lächeln ließ keine Spur nach, als sie eins der Dreiecke von der Platte nahm und hineinbiss. Dolly sah sie erwartungsvoll an. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie immer eine nachlässige Köchin mit der Sorte Geringschätzung gegenüber Zutaten gewesen, die sie einmal in einer truite aux almondes statt Mandeln Erdnüsse hatte verwenden lassen. Als sie jetzt beobachtete, wie Pearl die leicht säuerliche Zitronenmayonnaise kostete, die eine Lage frischer Krabben umhüllte, wartete sie auf ein weiteres Lob – das jedoch ausblieb. Pearl nutzte die Gelegenheit vielmehr, um rasch in den Gastraum zu entfliehen, wohin ihr Dolly auf den Fersen folgte. »Pearl, bitte. Ich muss fürs Festival unser Fenster dekorieren und in der Pension Verschiedenes umgestalten …«

»Ich weiß, aber ich komme ja wieder. Ehrenwort. Bis dahin, denk einfach dran …« Sie nahm eine Auster von der Theke und drückte sie ihrer Mutter in die Hand. »Köööstlich.«

Drei Schritte, und Pearl war weg. Dolly blieb nichts anderes übrig, als mit offenem Mund auf die zufallende Eingangstür des Restaurants zu starren. Es dauerte nicht lang, und die Tür ging wieder auf, aber herein kam nur eine Gruppe Touristen in Wanderkleidung, mit Rucksäcken und roten Gesichtern. Dolly blickte auf den blassen Schleim in der Muschel in ihrer Hand und knipste wie auf Kommando ihr strahlendstes Lächeln an.

Sobald Pearl den Fuß auf die Straße setzte, schlug ihr die Hitze entgegen und erinnerte sie daran, wie sie das letzte Mal im Urlaub aus dem Flieger gestiegen war, obwohl das schon einige Zeit her war. Da sie in Whitstable mit seinem Kiesstrand, seinem Hafen und seiner bunten Mischung aus Einheimischen und Urlaubern lebte, überlegte sich Pearl seit jeher sehr genau, ob sie für einen Sommerurlaub irgendwo anders Geld ausgeben sollte. Vor ein paar Jahren hatte sie eine Reise nach Sorrent gebucht, wo vierzehn Tage lang buchstäblich jeden Tag schlechtes Wetter geherrscht hatte. Nachdem sie außerdem festgestellt hatte, dass sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Mücken ausübte, war sie übel zerstochen und mit einer scheußlichen Erkältung nach Hause gekommen, um sich sagen lassen zu müssen, dass das Wetter an der Küste von Nordkent perfekt gewesen war. Seitdem war sie zu Hause geblieben, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie das Restaurant im Sommer nicht allein lassen wollte, vor allem nicht mit Dolly, die immer schon eine sehr hippiemäßige Einstellung zur Arbeit gehabt hatte. Zu verreisen, wenn die Saison zu Ende ging, bedeutete normalerweise, gerade dann irgendwo in Europa zu landen, wenn sich andere Gastronomen nichts mehr wünschten, als sich endlich ihren jährlichen Urlaub gönnen zu können – in Whitstable. Das idyllische Fischerstädtchen war nicht nur zunehmend beliebter, sondern auch weltoffener geworden, als es jemals gewesen war, und das »Pearl’s« profitierte in jeder Hinsicht von dieser Entwicklung, die mit einer landesweit rückläufigen Rate von Balkonienurlaubern einherging.

Nach jahrelangem Kampf ums Überleben konnte Whitstable inzwischen von einer fast ganzjährigen Saison zehren. Nicht einmal der kälteste Winter seit dreißig Jahren hatte die ersten Urlauber davon abhalten können, schon im Februar zu kommen, um die Valentinstagsferien in einer der zahlreichen Bed & Breakfast-Pensionen der Stadt zu verbringen. Besonderer Beliebtheit erfreute sich Dolly’s Attic, eine originelle kleine Ferienwohnung, die sich über dem Laden befand, in dem Pearls Mutter ihre Shabby-Chic-Keramiken verkaufte. Schon seit Jahren servierte Pearl ihre Austern auf Dollys originellen Platten, die inzwischen von den Touristen genauso schnell weggekauft wurden wie die Austern selbst. Der enorme Aufschwung, den sowohl Whitstable als auch seine Geschäftsleute zurzeit erlebten, hatte aber auch seinen Preis. Der Charakter des einst so beschaulichen Städtchens hatte sich spürbar verändert. An den meisten Sommertagen musste sich Pearl auf den Straßen durch eine Flut von Touristen kämpfen, die zu den Souvenirläden und Cafés in der Harbour Street strömten, und da war auch dieser Tag keine Ausnahme. Die Urlauber hatten jede Menge Zeit, sie schauten und bummelten und sahen sich in den zahlreichen neuen Boutiquen und Kunstgalerien um. Dagegen legten die Einheimischen, die ihre Kinder irgendwo hinbringen oder Einkäufe erledigen mussten, ein wesentlich flotteres Tempo vor, wenn sie sich in einem eleganten Slalom zwischen den Touristen hindurchschlängelten, bei denen es sich an diesem Tag hauptsächlich um DFLs zu handeln schien, wie Urlauber »Down From London« hier landläufig hießen. Pearl gab es auf, gegen die Menschenmassen anzukämpfen, und bog in Richtung Squeeze Gut Alley ab.

Die Touristen benutzten nur selten das Netz uralter Gassen, von denen die meisten angelegt worden waren, um den Zugang zum wichtigsten Teil der Stadt zu ermöglichen – zum Meer. Noch wenige Jahrhunderte zuvor hatten sie auch als Fluchtwege für Schmuggler gedient, aber mittlerweile benutzten sie die Einheimischen vor allem als Abkürzungen auf ihrem Weg durch die Stadt. Die Squeeze Gut war, wie der Name bereits andeutete, ein schmaler Durchgang zwischen den Häusern eines Straßenabschnitts, der als Island Wall bekannt war. Der besondere Reiz dieser am Meer gelegenen Häuser mit ihren schlichten idyllischen Schindelfassaden lag in den Gärten auf ihrer Rückseite, die nur eine niedrige Ufermauer und eine schmale betonierte Promenade vom Strand trennten. Hier, auf der »Prom«, strömte ganz Whitstable zusammen, um zu bummeln und zu flanieren, angelockt von einem Meerblick unter derart klarem Polarlicht, dass sein Himmel und seine Sonnenuntergänge von Turner als »einige der zauberhaftesten Europas« beschrieben worden waren.

Als Pearl weitereilte, stob auf der Promenade eine Schar lärmender französischer Teenager auseinander und gab den Blick auf einen kleinen, gedrungenen Mann frei, der vor ihrem Cottage stand. In seinem Anzug litt er sichtlich unter der Hitze und wedelte nervös mit einem Panamahut vor seinem Gesicht herum, während er sich mit der anderen Hand den Schweiß von der Stirn wischte. Als Pearl näher kam, konnte sie ihn wie einen altersschwachen Hund hecheln hören.

»Mr. Stroud?«

Auf Pearls Ruf hin drehte sich der angespannt und leicht gereizt wirkende Mann sofort um. Aus der Ferne hatte er wegen seiner Korpulenz den Anschein erweckt, als befände er sich schon in fortgeschrittenem Alter, doch als Pearl sich ihm näherte, stellte sie fest, dass er vermutlich erst Anfang vierzig war. Ohne ein Wort der Begrüßung reichte er ihr lediglich seine verschwitzte Hand, die Pearl an einen Seestern erinnerte. Sie öffnete die hölzerne Gartentür des Seaspray Cottage und ging dem Besucher zu einem kleinen Schuppen voraus, den sie seit neuestem ihr Büro nannte. Dank eines kleinen Anbaus und einiger zusätzlicher Fenster wurde die ehemalige Strandhütte ihrer neuen Bestimmung jedoch bestens gerecht. Als sich Pearl an dem sperrigen Schloss zu schaffen machte, merkte sie, dass Stroud hinter ihr zunehmend ungeduldiger wurde und mit seinen verschwitzten Stummelfingern nervös am Türstock trommelte. Endlich bekam sie die Tür auf.

Sie deutete auf einen Holzstuhl und wünschte sofort, ihrem Besucher eine angenehmere Sitzgelegenheit anbieten zu können. »Machen Sie es sich bequem«, forderte sie ihn lächelnd auf, obwohl ihr längst klar war, dass er dazu nicht in der Lage wäre. In dem kleinen Raum mit der niedrigen Holzbalkendecke war es drückend heiß, und ihr angehender Klient schien zu vergehen vor Hitze. Bei dem Versuch, sich zu setzen, rutschte Stroud mit seiner Leibesfülle auf dem Stuhl herum wie ein Zirkuselefant auf einem winzigen Hocker. Als Pearl zum Fenster ging und es öffnete, stahl sich ein warmes Lüftchen in das Zimmer. Sie wandte sich ihrem Besucher zu und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«

Stroud, der sich die ganze Zeit mit seinem Panamahut Luft zugefächelt hatte, hörte mit einem Mal damit auf, als bräuchte er sämtliche Energiereserven für das nun Kommende. Mit schroffem nordenglischem Dialekt stieß er hervor:

»Vielleicht können Sie mir ja schon mal sagen, wann er zurückkommt?«

»Wann wer zurückkommt?«

»Mr. Pearl.« Er blickte sich rasch im Zimmer um. »Wo ist er? Noch beim Mittagessen?«

Pearl blickte auf den Packen frisch gedruckter Visitenkarten auf ihrem Schreibtisch hinab. Sie hatte Charlie mit dem Entwurf beauftragt, und er hatte seine Sache gut gemacht, sah man einmal davon ab, dass er für die mit »Inhaber« beginnende Zeile eine extrem helle Schrift gewählt hatte. Sie schaute auf und erklärte ihrem Besucher: »›Mr. Pearl‹ ist eigentlich Miss Nolan.«

Daraufhin ging Strouds Mund auf, als wartete er darauf, mit einer passenden Antwort gefüllt zu werden.

»Pearl Nolan«, fügte sie hinzu. »Das ist mein Büro.«

Stroud wandte den Blick ab, als er das zu verarbeiten versuchte. Nur zu offensichtlich blickte er auf keinen erfreulichen Tag zurück, und dieses Treffen schien die Sache nicht besser zu machen. Sein Mund ging wieder zu, und er traf eine rasche Entscheidung.

»Das wird nichts.«

»Wie bitte?«

»Der Auftrag, den ich erledigt haben möchte.« Er warf einen kurzen Blick in Richtung Tür, als spielte er mit dem Gedanken an sofortige Flucht.

»Erzählen Sie mir doch erst mal, was das für ein ›Auftrag‹ ist«, sagte Pearl rasch.

Nach kurzem Zögern zog Stroud ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Brusttasche. »Jemand schuldet mir Geld«, seufzte er und begann, sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. »Ein Darlehen, das überfällig ist. Ich will das endlich vom Tisch haben.«

»Das heißt, Sie brauchen einen Schuldeneintreiber …«

»Nein«, unterbrach Stroud sie gereizt. »Was ich brauche, sind Informationen.«

Als er den Blick auf Pearl heftete, erinnerten sie seine braunen Knopfaugen an die von Ernie und Bert. Pearls Schweigen lieferte Stroud das Stichwort, weiteren Unmut loszuwerden. »Fünf Jahre ist das jetzt schon her, und das Darlehen sollte längst Rendite abwerfen, aber bisher: einfach nichts. Nicht einen Penny.« Er trommelte mit einem Stummelfinger auf die Schreibtischplatte. »Nicht einmal eine Geste des guten Willens.« Ein verständnisvolles Nicken seitens Pearls schien ihn vorübergehend zu besänftigen. Als sie ihm eine Packung Papiertaschentücher hinhielt, nahm er sich eines und schüttelte es auf, bevor er sich mit einem kurzen Trompetenstoß die Nase putzte. »Rein rechtlich gesehen, könnte ich natürlich Druck machen, aber ich möchte diesen Kerl nicht kopfscheu machen, jedenfalls nicht, solange ich nicht weiß, ob er zahlen kann.«

»Und das ist, was ich für Sie herausfinden soll?« Pearl suchte Strouds Blick, worauf dieser die Augen noch fester zusammenkniff.

»Ich möchte mir über verschiedene Dinge Klarheit verschaffen, ein paar Nachforschungen anstellen lassen. Ich muss wissen, ob er mich hinhält.«

Als wäre eine schwere Last von seinen Schultern gefallen, holte Stroud tief Luft und hielt sein Gesicht in den schwachen Luftzug, der vom Fenster kam. Doch das Klingeln des Telefons machte seinem kurzen Moment der Erleichterung ein jähes Ende. Nach einem kurzen Blick auf die Anruferkennung setzte Pearl ein entschuldigendes Lächeln auf und nahm ab. Aus der Leitung gellte Dollys Stimme.

»Die Zitronen sind aus!«

»Im Kühlschrank.«

»Fehlanzeige.«

»Dann sieh in der Speisekammer nach.«

Stroud rutschte unbehaglich auf seiner unzureichenden Sitzgelegenheit herum, während Pearl angespannt in den Hörer zischte: »Hat das nicht bis später Zeit? Ich habe gerade zu tun.«

Dolly überhörte den dezenten Hinweis und fuhr unerbittlich fort: »Ich auch. Ich habe für morgen vier Reservierungen entgegengenommen.«

»Ist doch super.«

»Nicht, wenn sie uns ausgehen.«

»Die Zitronen?«

»Die Austern.«

Pearl seufzte. »Mach dir deswegen mal keine Sorgen. Ich habe genügend bestellt.«

Stroud sah auf die Uhr. Er wirkte zunehmend ungeduldiger.

»Pazifische und irische auch.«

Das ließ Stroud aufblicken, und bevor Dolly etwas erwidern konnte, legte Pearl auf, hielt aber die Hand weiterhin fest auf das Telefon, als wollte sie ihre Mutter zum Schweigen bringen. »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung.« Sie wandte sich wieder Stroud zu und setzte ein gequältes Lächeln auf. »Morgen beginnt das Oyster Festival.«

Stroud schaute mit unverhohlenem Argwohn auf das Telefon. »Und inwiefern betrifft Sie das?«

Pearl überlegte kurz und entschied, Stroud, wenn sie ihn schon nicht als Klienten halten konnte, zumindest als Gast zu gewinnen. »Ich habe ein Seafood-Restaurant«, erklärte sie. »Gleich hier um die Ecke, in der High Street.« Stroud sagte nichts, aber wegen seines Stirnrunzelns fühlte sich Pearl zu einer Rechtfertigung bemüßigt. »Darunter hat meine Arbeit hier aber nicht zu leiden. Normalerweise jedenfalls nicht.« Stroud musterte sie weiter, weshalb Pearl beschloss, reinen Tisch zu machen. »Das Detektivbüro ist zwar neu, aber ich stamme aus dem Ort und bin eine erfahrene Ermittlerin. Ich war früher bei der Polizei, und wenn Sie Referenzen wollen, werden meine letzten Klienten für mich bürgen.« Pearl entschied sich dagegen, damit herauszurücken, dass Mr. und Mrs. Phillip Caffery bisher ihre einzigen Klienten waren und dass die tausend Pfund Belohnung, die sie für das Aufspüren ihres über alles geliebten Wheaten Terriers erhalten hatte, das Grundkapital gewesen waren, um ihrem Detektivbüro einen professionelleren Anstrich zu geben. Das Geld hatte sie für die Umgestaltung ihres Büros sowie für Werbemaßnahmen und den Kauf spezieller Software verwendet, und es hatte sie in der Überzeugung bestärkt, dass der Umstand, dass sie »gut mit Menschen konnte«, sich auch außerhalb der vier Wände ihres Restaurants nutzbringend einsetzen ließ. Pearl hatte den Caffery-Fall genau zum richtigen Zeitpunkt bekommen, und wenn sie auch nicht sonderlich abergläubisch war, verschloss sie dennoch nicht die Augen vor den kleinen Synchronizitäten des Lebens, und ganz besonders dann nicht, wenn sie von ihnen in eine Richtung geschubst wurde, die sie ohnehin hatte einschlagen wollen. Pearl war fest davon überzeugt, dass in irgendeinem Paralleluniversum eine Doppelgängerin von ihr als Detective Chief Superintendent Karriere machte. Eigentlich hätte das Pearl selbst sein sollen, wäre da nicht der unglückliche Umstand gewesen, dass sie bereits mit neunzehn Jahren schwanger geworden war. Das hatte ihre Aufstiegschancen bei der Polizei zunichtegemacht, auch wenn sie felsenfest davon überzeugt war, dass es kein Fehler gewesen war, Charlie zu bekommen.

»Dann kennen Sie sich also mit Austern aus?«

Pearl lächelte. »Ich kann eine gute von einer schlechten unterscheiden und weiß, wie man sie am besten serviert.«

Darüber dachte Stroud eine Weile nach, um schließlich seine Meinung zu ändern. »Dann können Sie mir ja vielleicht doch helfen.« Er steckte sein Taschentuch ein und warf einen kurzen Blick zum Fenster. »Wussten Sie, dass jemand die Bänke auf eigene Faust abgefischt hat?«

»Jemand?«

Stroud erwiderte ihren Blick ungerührt. »Ein Fischer, ein gewisser Vincent Rowe. Er kam vor einiger Zeit zu mir und erzählte mir von seinem Plan, die freien Gewässer östlich von der Tankerton-Sandbank abzufischen …« Er verstummte, schien kurz nicht weiterzuwissen.

»Hinter der Street«, kam ihm Pearl zu Hilfe.

Stroud nickte kurz, bevor er fortfuhr. »Er meinte, er könnte dort einheimische Austern anbauen und so schneller als mit irgendeiner anderen Investition Profit machen. Eigentlich müsste ich längst etwas von meinem Geld zurückbekommen, aber bisher habe ich noch keinen Penny gesehen, und wenn er nicht zahlen kann, möchte ich wissen, warum.«

»Warum fragen Sie das nicht einfach ihn selbst?« Pearl war sich der komplizierten Vergabe der Fischereirechte im Watt nur zu deutlich bewusst. Ihr Vater hatte nämlich sein ganzes Leben lang Austern gefischt, ein vergeudetes Leben lang, wie mancher gesagt hätte, denn im Grunde seines Herzens war Tommy Nolan ein Poet gewesen. Als junger Mann hatte er mit seinen musikalisch untermalten Versen in den Hafenkneipen der Stadt die Runde gemacht, mit schwermütigen, bildgewaltigen Zeilen über das Leben, die Liebe und das Fischen von Austern. Doch dann hatte er Dolly geheiratet, die Letztere nicht mochte.

»Ständig kommt er mir mit irgendwelchen Ausflüchten«, fuhr Stroud fort. »Aber ich lasse mich nicht gern an der Nase herumführen.« Er stopfte sein Taschentuch tief in eine Hosentasche und fummelte aus einer anderen eine schicke Lederbrieftasche. »Ich zahle Ihnen schon mal einen Vorschuss, und Sie hören sich ein bisschen um, wie es um seine finanzielle Situation bestellt ist, und sagen mir dann, wie viel Geld er hat. Wenn er mich hinhält, möchte ich das wissen.«

Pearl schaute aus dem Fenster. Wie gern wäre sie jetzt an der Stelle des asiatischen Drachens gewesen, der gerade draußen vorbeischwebte. Doch Strouds Stimme sägte sich erbarmungslos durch ihre Gedanken. »Und? Wie sieht es aus?«

Pearl wandte den Blick vom Fenster ab und sah die dicke Brieftasche offen in Strouds verschwitzter Handfläche liegen. Das Angebot war verlockend, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch wegen der Möglichkeit, einen Bona-fide-Klienten zufriedenzustellen. Ihre neugegründete Agentur hatte nämlich noch eine mühsame Anlaufphase vor sich, wenn Pearl ihren langgehegten Traum verwirklichen wollte. Deshalb dachte sie gut über das Angebot nach, bevor sie schließlich antwortete: »Ich glaube, Sie haben völlig recht, Mr. Stroud. Ich bin tatsächlich nicht die Richtige für diese Aufgabe.«

Stroud wirkte nicht sonderlich überrascht. Eher schien es ihn mit stiller Genugtuung zu erfüllen, dass ihn sein erster Eindruck nicht getrogen hatte. Er klappte seine Brieftasche zu und atmete geräuschvoll aus, bevor er sich unbeholfen von seinem Stuhl erhob. Dabei verlor er seinen Panamahut, der auf dem Boden landete und unter Pearls Schreibtisch rollte. Dieser kleine Zwischenfall schien für Stroud das Fass zum Überlaufen zu bringen, und als er sich bückte, um ihn aufzuheben, lief sein Gesicht so rot an, dass Pearl sicherheitshalber einschritt. Als sie nach dem Hut griff und ihn ihrem Besucher reichte, stellte sie fest, dass es sich um ein hochwertiges Modell handelte, auf dessen edles Seidenetikett eine Kathedrale und der Herstellername Portells gestickt waren. Stroud nahm seine Kopfbedeckung ohne ein Wort des Dankes entgegen, setzte sie auf und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er kurz stehen und brummte sarkastisch: »Sie waren wirklich eine große Hilfe.«

Als die Tür hinter ihm zuging, ertappte sich Pearl dabei, wie sie dem Klienten, der ihr gerade entgangen war, durch das offene Fenster nachschaute. Er schlängelte sich an einer Gruppe älterer Touristen vorbei, die auf der Promenade stehen geblieben waren, um ihren Garten zu bewundern, und entfernte sich in Richtung Stadt. Pearl holte tief Atem, um den schalen Geruch, den er zurückgelassen hatte, durch frische Luft zu ersetzen. Dann fischte sie ihr Handy aus ihrer Tasche, wählte eine gespeicherte Nummer und hatte nach kurzem Klingeln eine Mailbox dran. Um den Angerufenen nicht unnötig zu beunruhigen, begann sie nach dem Pfeifton in beiläufigem und ruhigem Ton zu sprechen. »Ich bin’s, Vinnie. Ruf mich bitte an, sobald es bei dir passt, ja?«

Pearl beendete das Gespräch und ließ in der festen Überzeugung, das Richtige getan zu haben, den von ihrem Fenster eingerahmten Meerblick auf sich wirken.

KAPITEL ZWEI

»Du hast was getan?«

»Ihn abgewimmelt.«

Dolly, die gerade die Tür des Restaurants abschloss, hielt abrupt inne. »Was wollte er überhaupt von dir? Dass du seiner Frau nachspionierst?«

Pearl zögerte und fragte sich, was für eine Frau einen Mann wie Stroud heiraten könnte. »Etwas in der Art.«

Mehr fügte sie dem nicht hinzu, denn sie wusste nur zu gut, was ihre Mutter von ihrem Detektivbüro hielt. Als Pearl vor mehr als zwanzig Jahren beschlossen hatte, zur Polizei zu gehen, war das für Dolly ein schwerer Schock gewesen. Vor allem hatte sie um die Sicherheit ihrer Tochter gefürchtet, aber sie war auch nicht gerade eine Freundin der Polizei. Zeit ihres Lebens eine überzeugte Alternative, war es einfach zu viel für ihre blühende Phantasie gewesen, sich vorzustellen, wie Pearl, mit einem Schlagstock bewaffnet, gegen unschuldige Demonstranten vorging. Dolly machte sich heftige Vorwürfe, ihre Tochter als Kind zu viel Cagney & Lacey schauen gelassen zu haben, obwohl Pearls Entscheidung nicht von der amerikanischen Fernsehserie beeinflusst worden war. Ein Psychologe hätte Pearls Ordnungsliebe und ihr Bedürfnis, Lösungen zu finden und Ungereimtheiten aufzuklären, vielleicht als Gegenreaktion auf eine Kindheit gedeutet, die größtenteils sorgenfrei und ohne Einschränkungen verlaufen war. Es ließ sich jedenfalls nicht leugnen, dass Pearl innerhalb des streng umrissenen Rahmens, den ihr die polizeiliche Grundausbildung geboten hatte, regelrecht aufgeblüht war. Allerdings hatte sich in ihrer Probezeit auch gezeigt, dass sie nicht nur jemand war, der gut mit Menschen konnte, sondern sie instinktiv auch sehr gut durchschaute. Vor allem diese Eigenschaft war es gewesen, die sie als potentielle Kandidatin für strafrechtliche Ermittlungen empfohlen hatte, bis ein positiv ausgefallener Schwangerschaftstest zu ihrem Ausscheiden bei der Polizei geführt hatte, sehr zur stillen Freude ihrer Mutter, die ihre Tochter lieber als alleinerziehende Mutter denn als »Lakaiin des Staates« sah.

»Manchmal ist es besser, Träume Träume bleiben zu lassen«, hatte Dolly damals mit demselben Blick gesagt, mit dem sie jetzt Pearl die Schlüssel des Restaurants in die Hand drückte. »Ich versuche dir doch schon die ganze Zeit klarzumachen, dass du damit nur alle möglichen Spinner anlockst.«

»Damit dürftest du dich ja am besten auskennen«, konterte Pearl lächelnd, da sie nur zu gut wusste, dass auch ihre Mutter noch so manche Träume hegte.

Anlässlich eines Wettbewerbs, bei dem jedes Jahr die schönste Auslage prämiert wurde, hatte Dolly das Fenster des Restaurants neu gestaltet. An diesem wichtigen Ereignis nahmen fast alle Geschäfte und Lokale der Stadt teil. Während jedoch die meisten auf altbewährte Dekorationen zurückgriffen, hielt Dolly nichts von den ewig gleichen Fischernetzen und mit Austernschalen gefüllten Schatztruhen. Sie hatte ein Faible für Ausgefalleneres. Diesmal ließ sie blaue Taftwellen über eine Handvoll verstreuter Perlen wogen.

»Und?«, fragte sie zaghaft.

»Sehr schön«, antwortete Pearl wahrheitsgemäß.

»Aber nicht sehr kulinarisch«, bemängelte Dolly, die nicht wirklich zufrieden war mit ihrem Werk. »Irgendetwas fehlt noch, sonst halten sie es noch für die Auslage eines Juweliers.«

»Ein paar Fische vielleicht?«

»Viel zu naheliegend. Aber etwas mehr Bezug zu Meer und Wasser könnte nicht schaden.«

Während sie weiter das Fenster betrachtete, neigte sich Pearl zu ihr. »Musst du nicht zu einer Probe?«

Dolly sah sie verständnislos an.

»Dein Bauchtanzkurs?«, half Pearl ihrer Mutter auf die Sprünge.

Dolly machte große Augen. »Flamenco! Wieso hast du mich nicht schon früher daran erinnert? Juana Parientes Kurs fängt heute Abend an.«

»Juana …?«

»Der neue Kurs, für den ich mich angemeldet habe. Die Lehrerin aus Granada. Ich komme noch zu spät zur Einführung«, erklärte sie und machte sich hastig auf den Weg die High Street hinauf.

»Warte noch!«, rief ihr Pearl hinterher, aber ihre Mutter machte nur eine abweisende Handbewegung, bevor sie in die Bonner Alley bog und verschwand. Pearl blieb nichts anderes zu tun, als auf die Schlüssel in ihrer Hand zu blicken und dann hinauf zu ihrem Namen über dem Fenster des Restaurants, was ihr nur wieder einmal bestätigte, dass Träume manchmal tatsächlich wahr werden konnten.

»Pearl’s Oyster Bar« war nichts Großartiges – die schicken Restaurants lagen alle unten am Strand –, aber das kleine Lokal in der High Street hatte eindeutig Charme, und was das Wichtigste war, es gab hier das beste Seafood der Stadt. Außer Austern hatte das »Pearl’s« noch eine ganze Reihe anderer interessanter Gerichte auf der Karte: Oktopus in leichtem Chili-Tempurateig, gebratene und in Brotkrumen gewendete Jakobsmuscheln oder marinierte Thunfisch-, Makrelen- und Wildlachs-Sashimi. Hier wurde kein großspuriges kulinarisches Statement abgegeben, sondern ein klares Bekenntnis zu einfachen Gerichten mit hochwertigen Zutaten. Alle Gerichte auf der Speisekarte waren im Laufe der Zeit perfektioniert worden, aber dank ihrer Einfachheit konnten sie auch jederzeit in Pearls Abwesenheit zubereitet werden. Das brachte zwei Vorteile mit sich: Zum einen war Pearl nicht an das Restaurant gefesselt, zum anderen war im Gegensatz zu anderen Restaurants in Whitstable, deren Güte mit dem jeweiligen Küchenchef oft erheblich schwankte, auf die Qualität des Essens immer Verlass.

An den Wänden hingen Charlies Zeichnungen, und trotz Dollys Gemeckere war das Restaurant ein Familienbetrieb geblieben, mit dem sich Pearl die ganze Kindheit ihres Sohnes hindurch über Wasser gehalten hatte, während sie gleichzeitig unvermindert am öffentlichen Leben der Stadt teilgenommen hatte, wie sich das für jemanden, der »gut mit Menschen konnte«, auch gehörte. Das einzige Problem dabei war, dass das Restaurant Pearl nicht mehr ausfüllte. Schon seit einiger Zeit stand ihr der Sinn nach einer neuen Herausforderung. Alte Ambitionen hatten sich wieder zu regen begonnen, und Pearl spürte, dass sie diese Träume, wenn nicht jetzt, dann nie mehr verwirklichen würde. Seit Charlie an der Kent University studierte, hatte sich eine gewisse Leere in ihrem Innern breitgemacht, nicht quälend, aber dennoch störend. Der Campus in Canterbury war zwar nur fünfzehn Minuten Fahrt entfernt, aber er hätte genauso gut am anderen Ende der Welt liegen können. Pearl wurde nämlich zunehmend deutlicher bewusst, was Dolly ihr schon immer vorgehalten hatte: dass sie ihr eigenes Leben für ihren Sohn hintangestellt und viele sich bietende Gelegenheiten, auch amouröser Natur, nicht ergriffen hatte. Den Wunsch, einen Partner fürs Leben zu finden, hatte Pearl keineswegs aufgegeben, und es hatte im Laufe der Jahre immer wieder gefunkt, aber nie mit derselben Intensität wie bei ihrer ersten großen Liebe, Charlies Vater. Mehrere Blind Dates, Verkupplungsversuche von Freunden und sogar ein paar Ausflüge ins Internet hatten zu wenig mehr geführt als einer Reihe von langweiligen Abenden, an denen sie sich hauptsächlich gefragt hatte, wann sie sich endlich verabschieden könnte, ohne allzu unhöflich zu erscheinen. Oft hatte Charlie – beziehungsweise Kinderkrankheiten, Zahnschmerzen oder Trotzanfälle – als Ausrede herhalten müssen, aber das ging nun nicht mehr. Denn Charlie war jetzt erwachsen und stand auf eigenen Beinen. Nach zehn Monaten in Canterbury, wo er Kunstgeschichte studierte, legte er ein erstaunliches Maß an Selbständigkeit an den Tag, auch wenn Pearl zu spüren glaubte, dass er sich immer noch freute, wenn sie mit einer Wagenladung Lebensmittel und frisch gewaschener Wäsche auf dem Campus auftauchte – außer vielleicht bei ihrem letzten unangekündigten Besuch, als sie ihn beim Lernen mit einem »Freund« ertappt hatte.

Tiziana, aus der Toskana, hatte bernsteinfarbene Augen und honigfarbene Haut und sprach mit ihren makellos weißen Zähnen besser Englisch als Pearl. Wenn sie lächelte, was sie immer tat, wenn sie Charlie ansah, verschlug es Pearl jedes Mal von neuem den Atem, nicht zuletzt wegen der Wirkung, die es auf ihren Sohn hatte. Charlie hatte auch davor schon Freundinnen gehabt, aber irgendwie schienen sie bloß eine untergeordnete Rolle für ihn zu spielen, wie Komparsinnen, die hinter der Bühne warteten, während er mit Pearl darüber redete, was er gerade vorhatte oder wann er zurückkäme. Tiziana dagegen dominierte die Bühne geradezu, wie es sich, fand Pearl, für eine Studentin der darstellenden Künste auch gehörte. Mit ihrem bernsteinfarbenen, zu einem wallenden Chaos nach hinten gebundenen Haar zeigte »Tizzy« selbst dann Starqualitäten, wenn sie über die Kochplatte gebeugt stand und unter Charlies hungrigen Blicken – nach ihr wohlgemerkt – in Salbeibutter geschwenkte Tortellini probierte.

Auf Pearl hatte die erste Begegnung mit Tiziana nicht zuletzt deshalb einen so nachhaltigen Eindruck gemacht, weil das Mädchen so nett zu ihr gewesen war. Wäre sie nur eine kalte Personifizierung von Schönheit gewesen, »nur Fassade, aber keine Substanz«, wie Dolly es vielleicht ausgedrückt hätte, hätte Pearl etwas gehabt, was sie an ihr aussetzen konnte, aber stattdessen war das Mädchen nett und sympathisch gewesen und hatte ihr sogar ein Mitbringsel aus ihrer Heimat geschenkt, eine Wachstuchschürze mit dem schiefen Turm von Pisa darauf. Das Geschenk hatte Pearl angenommen, aber die Einladung zum Abendessen hatte sie abgelehnt und gleichzeitig erstaunt zur Kenntnis genommen, wie Charlie seiner Freundin mit dem Geschirr und dem Wein zur Hand ging. Zu Hause hatte er das nie getan. Ein paar Minuten später hatte Pearl erst einmal eine Weile in ihrem Auto gesessen, bevor sie losfuhr. Sie konnte immer noch nicht richtig fassen, was sie gerade gesehen hatte: ihr Sohn, vollkommen hingerissen von einer anderen Frau. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr noch mehr solcher emotionaler Purzelbäume bevorstanden, und hoffte, dabei jedes Mal auf den Füßen zu landen.

Pearl freute sich für ihren Sohn, wie auch nicht? Trotzdem hatte sie irgendetwas davon abgehalten, die Schürze zu tragen, und sie hatte auch nichts einzuwenden gehabt, als Dolly sie sich unter den Nagel riss. Wenn dieses »Irgendetwas« schleichende Eifersucht war, schien es noch einen weiteren Grund zu geben, mehr Energie in das Detektivbüro zu stecken, das sie zwei Wochen zuvor eröffnet hatte, ohne auch nur einen Moment damit zu rechnen, dass ihr erster Klient sie vor ein solches Problem stellen könnte. Pearl nahm es dorthin mit, wohin sie alle ihre Probleme mitnahm – zum Strand hinunter. Oft genügte es schon, den Wechsel von Ebbe und Flut zu beobachten, um eine Lösung oder zumindest die Hoffnung auf eine solche angespült zu bekommen, aber als Pearl nun den Blick über den Horizont wandern ließ, hatte sie das Gefühl, dass es in diesem Fall nicht so sein würde.

Vinnie hatte nicht auf Pearls Anruf reagiert, obwohl sein Boot, die Native, draußen auf dem Meer zu sehen war. Das veranlasste Pearl, in Richtung Street loszugehen, zu dem schmalen Kiesstreifen, der fast einen Kilometer weit ins Meer hinausragte und bei einsetzender Ebbe rasch sichtbar wurde. Als sie über einen der niedrigen Wellenbrecher kletterte, sah sie ein junges Paar auf dem Rumpf ihres umgedrehten Holzboots sitzen. Die beiden Teenager, die Händchen haltend die Gesichter in die letzten Strahlen der Abendsonne hielten, wirkten so still und reglos wie eine Fotografie. Plötzlich trug der Wind den Text eines alten Shakespeare’s-Sister-Songs zu Pearl herüber, der sie an einen mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Sommerabend am selben Strandabschnitt erinnerte. »You’d better hope and pray you make it back to your own world.« (Hoffe und bete lieber, dass du es in deine Welt zurückschaffst.) Marcella Detroits Sopran ertönte noch ein paar Momente länger, bis das Radio leiser gestellt wurde. Ein Kiesel unter Pearls Schuh verrutschte, und das »Foto« erwachte zum Leben. Die Hände des Pärchens lösten sich voneinander, als sie Pearl vor sich stehen sahen. Die zwei Jugendlichen erhoben sich brav und machten sich auf die Suche nach einer anderen Sitzgelegenheit, während Pearl das kleine Boot aufrichtete und zum Wasser hinunterzog.

Weil die Ebbe eingesetzt hatte, war der Außenbordmotor nicht nötig. Pearl bräuchte keine fünfzehn Minuten zu Vinnies Boot hinaus, und die kühle Luft war angenehm, als sie losruderte. Im Osten drehten sich gemächlich die bleichen Propeller des Windparks, die neuen Nachbarn des Red Sands Fort, das seit dem Zweiten Weltkrieg acht Meilen vor der Küste lag. Die aus sieben Stahltürmen bestehende Anlage hatte früher der Flugabwehr gedient und Waffen, Munition und über zweihundert Soldaten beherbergt, die feindliche Flugzeuge daran hindern sollten, nach London zu gelangen. In den 60er Jahren hatten sich dort verschiedene Piratensender eingenistet, deren DJs aus den trostlosen Türmen, in denen einst Soldaten ihr Leben riskiert hatten, Mersey-Beat-Singles durch den Äther schickten. Inzwischen rostete die Anlage auf ihren alten Stahlstreben verlassen vor sich hin, und nur noch eine einsame Glockenboje machte die Seeleute, die in ihre Nähe kamen, auf sie aufmerksam.

Tagsüber war das Meer fast blau gewesen, aber im schwindenden Abendlicht nahm das Wasser des ausgedehnten Mündungsbereichs wieder seinen gewohnten Zinnton an. Auf die Ruder gestützt, ließ sich Pearl eine Weile treiben und betrachtete die Küste. Am Strand gingen die ersten Lichter an, und vor dem Hotel Continental herrschte reger Betrieb; vor seiner Art-déco-Fassade fuhren Autos vor, auf dem Parkplatz verloschen Scheinwerfer. Die Möwen, die am Himmel in Richtung Küste flogen, stießen immer wieder aufs Meer hinab. Am nächsten Tag begann das Oyster Festival. In den zwei Wochen, die sowohl der Traditionspflege wie auch der zeitgenössischen Kultur gewidmet waren, lockte es Besucher aus London und von noch weiter her nach Whitstable. Im Moment war jedoch alles noch ruhig und beschaulich.

Pearl griff wieder nach den Riemen und ruderte weiter zur Native hinaus. Sie sah, dass der 40-Fuß-Kutter noch vor Anker lag, aber wegen der einsetzenden Ebbe würde er jeden Moment an Land zurückkehren. Pearl, die so oft mit ihrem Vater fischen gewesen war, kannte den Ablauf: wie das schwere Schleppnetz, das vom Heck ausgeworfen und über den Meeresgrund gezogen wurde, zum Schluss mit dem Fang hochgeholt und von unerwünschten Eindringlingen befreit wurde. Obwohl auch Krabben in der Lage waren, die Schalen junger Austern aufzubrechen, waren die schlimmsten Feinde der Austernfischer die Seesterne, die sich mit unschuldigen Babyfingern an einer Austernschale festklammerten und ihr alles Leben aussaugten. Als Kind hatte Pearl ihrem Vater geholfen, sie von ihrer Beute abzulösen, und als sie bei der Erinnerung daran plötzlich an Strouds Händedruck denken musste, legte sie sich beim Rudern stärker ins Zeug.

Als sie sich der Native näherte, war auf Deck niemand zu sehen, aber aus der kleinen Kajüte hinter dem Ruderhaus kamen gedämpfte Stimmen. Doch erst als sie längsseits anlegte und ihr Boot an der Steuerbordklampe der Native festmachte, merkte sie, dass sie aus einem Radio kamen. Ihre eigene Stimme verlor sich im Dämmerlicht, als sie gegen den Rumpf klopfte und rief: »Vinnie. Ich bin’s – Pearl.« Die einzige Antwort kam von den Sprechern des Hörspiels, das in Vinnies Kajüte lief. Pearl kletterte an Bord.

Im Heck der Native zeugten Körbe voller Austern von einem erfolgreichen Fang, doch als sich Pearl der Kajüte näherte, kam ihr das Radio so ohrenbetäubend laut vor, dass kaum vorstellbar war, dass Vinnie bei diesem Lärm ein Nickerchen machte. An der Wand des Ruderhauses hing ein Christophorus, auf der Kochplatte der winzigen Kombüse rutschte, ungehindert von irgendwelchen Schlingerleisten, ein Topf hin und her. Auf dem Tisch in der Kajüte lagen Gezeitentabellen und Taschenbücher, aber von Vinnie fehlte jede Spur. Das Boot schien verlassen worden zu sein – wie die Mary Celeste.

Plötzlich ertönte aus dem Radio Konservengelächter. Pearls Herz begann schneller zu schlagen, als sie wieder auf Deck zurückkehrte. Ihr kamen erste Bedenken. Der Himmel verdunkelte sich, aber weil von Vinnie nichts zu sehen war, fragte sie sich, ob er aus irgendeinem Grund in ein anderes Boot umgestiegen war. Möglicherweise hatte jemand Hilfe benötigt, vielleicht ein anderer Fischer oder ein Tagesausflügler. In der Ferne zog das laute Röhren eines Jetski vorbei. Er hinterließ nichts als seine Heckwelle und ein leichtes Ruckeln an der Ankerkette unter dem Boot. Pearl fasste einen Entschluss. Sie würde einen Funkspruch an Land absetzen und die Native selbst in den Hafen bringen, bevor die Ebbe ihren Tiefststand erreichte. Sie ging ins Ruderhaus und ließ Vinnies Dieselmotor an. Die Native erwachte wieder zum Leben.

Als Pearl darauf rasch zum Bug ging, um den Anker zu lichten, sah sie, dass die Luke des Laderaums offen war; neben mehreren aufgerollten Tauen stapelten sich darin nur ein paar stinkende Fischbehälter. Hand über Hand zog sie mit aller Kraft an der Ankerleine, bis sie sich immer schwerer bewegen ließ. Daraufhin befestigte Pearl die Leine an einer Klampe und beugte sich über die Reling, um zu schauen, wie weit sie den Anker bereits gelichtet hatte.

Im schwindenden Licht war unter Wasser nichts zu erkennen, aber plötzlich schien etwas Bleiches an die Oberfläche zu steigen. Ein kleines Meeresgeschöpf trudelte, vom grünen Steuerbordpositionslicht der Native erfasst, aus einer dunklen Höhlung. Dicht über Pearl kreischte eine Möwe, und als sie sich an der Reling bereits wieder aufrichten wollte, erschrak sie plötzlich heftig, nicht wegen des heiseren Möwenschreis, sondern weil sie merkte, dass das Tier im Wasser ein winziger Seestern war, der aus der klaffenden Öffnung eines Munds kam.

Es war Vinnie, der mit weit aufgerissenen Augen zu Pearl heraufstarrte. Sein Oberkörper stand aufrecht wie bei einem an die Oberfläche steigenden Taucher, nur seine kräftigen bloßen Arme schlenkerten im Sog des ablaufenden Wassers, und um sein Fußgelenk war ein Stück der Ankerkette geschlungen.

KAPITEL DREI

Es war kurz nach 22 Uhr, als der Anruf einging. Detective Chief Inspector Mike McGuire, der gerade erfahren hatte, dass das Auto, auf das er bei einer Onlinewette gesetzt hatte, in der letzten Schikane eines Autorennens verunglückt war, ging über den öffentlichen Parkplatz an Canterburys Pound Lane. Das Rennen war zwar nur virtuell gewesen, aber McGuires Einsatz sehr real, und seine Miene war nicht nur wegen der Höhe seines Verlusts so gequält, sondern auch wegen seiner drückenden neuen Schuhe. Er hatte sie bereits am Wochenende gekauft, aber heute war der erste Tag, an dem er sie trug – bequeme Halbschuhe, in die er am Morgen noch mühelos hineingekommen war, die sich aber im Laufe des langen heißen Tages mehr und mehr als eine Form von mittelalterlicher Folter entpuppt hatten.

McGuire hatte sie in Größe 10 gekauft, aber in letzter Zeit schien sein Schuhwerk auf unerklärliche Weise zu schrumpfen. Entweder das, oder seine Füße wurden größer, auch wenn er schon neununddreißig Jahre alt war. Vielleicht orientierten sie sich an seiner Taille, die im vergangenen Jahr ebenfalls etwas zugelegt hatte, was er auf den Umzug nach Canterbury zurückführte. In London war er aktiver gewesen und hatte jede Woche zweimal Squash gespielt, aber damit war jetzt Schluss, da er nun meist an den Schreibtisch gefesselt war – und seine Arbeitstage mehr und mehr der Tyrannei des Verwaltungskrams unterworfen waren. McGuire bereute seine Versetzung nach Canterbury bereits und begann all dem nachzutrauern, was er am Dienst in London so gehasst hatte: den ständigen Adrenalinschub pausenloser Aktivität, den Leistungsdruck, ausgelöst durch zu viele Dinge, die in zu wenig Zeit erledigt werden mussten, der Hektik auf den Straßen, dem Stress des täglichen Überlebenskampfs. Am meisten vermisste er allerdings die Anonymität des Großstadtlebens. Im Vergleich dazu erschien ihm Canterbury provinziell und kleinkariert.

Ironischerweise war es die Gefahr, die ihm fehlte. Und Donna. Aber aufgrund der Art, wie sie ihm genommen worden war, waren die beiden jetzt unauflöslich miteinander verbunden. Ihr Verschwinden aus seinem Leben hatte alles auf den Kopf gestellt und nicht nur seine Ambitionen verkümmern lassen, sondern seinem Leben eine Weile auch jeden Sinn geraubt. Ein dummer Zufall hatte sie das Leben gekostet: Zwei mit Drogen vollgepumpte Jugendliche, die mit einem gestohlenen Auto durch die Straßen von Peckham gerast waren, hatten sie wie ein Ziel in einem Computerspiel aufs Korn genommen und überfahren. Von diesem Augenblick an hatte sich McGuires Weltsicht so drastisch verändert, dass nichts als Chaos zurückgeblieben war. Wochenlang hatte er sich in Wut und Trauer gesuhlt und sich mit dem nächtlichen Allheilmittel Bourbon zu betäuben versucht, aber der Schmerz hatte nicht nachgelassen. Nur die Rückkehr in den Polizeidienst hatte sich als eine brauchbare Stütze erwiesen, an die er sich klammern konnte: Das Mittelmaß der Routine verdrängte das überwältigende Verlustgefühl, das ihn so lange gelähmt hatte. Ein Jahr nach dem schrecklichen Unfall war er wieder in der Lage, jede Nacht zu schlafen und am nächsten Morgen aufzuwachen, als hätte sein Herz keinen Schaden genommen. Aber nur er wusste, dass ihm ironischerweise ausgerechnet der Dienst beim CID, der ihn so oft mit dem Tod in Berührung brachte, einen Grund gab, weiterzuleben.

Als McGuire sein Auto erreichte, hörte er sich aufmerksam die Einzelheiten des Vorfalls in Whitstable an, bevor er sich mit einem knappen »Bin schon unterwegs« abmeldete. Er steckte das Handy in seine Tasche, und als er wenige Augenblicke später aufs Gaspedal trat, erinnerten ihn seine zu engen Schuhe auf schmerzhafte, aber zugleich auch tröstliche Weise daran, dass er am Leben war.

Bei dem Telefonat hatte McGuire erfahren, dass der »Tatort« gesichert worden war: Das Fischerboot lag inzwischen im Hafen von Whitstable, und ein Notarzt hatte bestätigt, dass keine Lebenszeichen mehr festzustellen waren. Von einem Verkehrsunfall, der sich in der Nähe ereignet hatte, war bereits ein Wagen der Spurensicherung zum Hafen unterwegs, und McGuire war froh, dass sein Erscheinen nicht erforderlich war. Whitstable wäre keine zwanzig Minuten Fahrt entfernt gewesen, und die Straße dorthin, die durch das fast zwanzig Meter hohe Westtor in der Stadtmauer führte, war früher ein Saumpfad gewesen, auf dem die Fischerfrauen nach Canterbury gekommen waren. Jetzt führte sie, an den Feldern und Bungalows des Dorfes Blean vorbei, geradewegs zum Kamm des Borstal Hill hinauf, von dem man einen unverstellten Blick auf das graue Sims der Themsemündung und der Küste hatte. McGuire hielt nicht viel von Whitstable – oder sonst einer Kleinstadt. Die alte Polizeiwache war längst in ein Wohnhaus umgewandelt worden, und inzwischen gab es bloß einen »Polizei-Shop« in der High Street, der sich von den anderen Geschäften lediglich durch die davor hängende blaue Laterne unterschied – und durch die Öffnungszeiten von 10 bis 15 Uhr, nur werktags versteht sich. Das bestätigte McGuire wieder einmal, dass das Küstenstädtchen ein langweiliges Nest für Touristen und die Sorte spießiger Einheimischer war, die nichts lieber taten, als ihre Nase in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn zu stecken. Er konnte sich die Szene am Hafen gut vorstellen – das Polizei-Absperrband, das mit den Wimpeln, auf denen die Fischer reduzierte Seezungen anpriesen, um die Wette flatterte.

Als McGuire in seiner Dienststelle in Canterbury eintraf, parkte er auf dem für ihn reservierten Parkplatz und ging direkt zum Zellentrakt hinauf, hinter dessen schwerer Eingangstür ihm das Gesicht einer jungen Frau entgegenblickte, die sich gerade einen eingetunkten Keks in den Mund schieben wollte. WPC Jane Quinn war zweiundzwanzig Jahre alt, sah aber aus wie ein Teenager. Manchmal, wenn sie es mit jugendlichen Ausreißern zu tun hatten, war das durchaus von Nutzen, aber in den meisten anderen Fällen erwies es sich als wenig förderlich. Beim Anblick McGuires sprang sie erschrocken auf und ließ den Keks in ihre Tasse fallen, so dass etwas Kaffee auf das Revers ihrer Uniform spritzte. Während sie den Fleck vergeblich abzutupfen versuchte, wandte McGuire angesichts ihres unprofessionellen Verhaltens betreten den Blick ab.

»Was haben Sie für mich?«

»Pearl Nolan, Sir.« Sie reichte ihm eine Akte. »Die Inspektoren Shetcliffe und Barnes haben sie bereits vernommen, und der DS vor Ort hat am Tatort ein erstes Protokoll aufgenommen.«

McGuire deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür vor ihm. »Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend ganz okay. Wir haben bereits alle Formalitäten geklärt, aber sie will keinen Anwalt.«

McGuires Blick wanderte zu der Tasse in Quinns Hand. »Könnten Sie mir vielleicht auch einen Kaffee besorgen?«

Die junge Polizistin entfernte sich rasch, und McGuire blickte auf die Akte in seiner Hand. Um seine Füße zu entlasten, setzte er sich, nahm zwei Tonbandkassetten aus dem Ordner und legte eine davon in ein Aufnahmegerät ein.

Im Vernehmungszimmer auf der anderen Seite der Tür schob Pearl gerade einen angeschlagenen Becher von sich. Der Kaffee darin war kalt, und die stickige Luft im Zimmer roch trotz des RAUCHEN-VERBOTEN-Schilds an der Wand nach abgestandenem Rauch. Im Zug einer Vernehmungspause, die ihr, wie sie wusste, zustand, hatte man sie eine Weile allein gelassen. Nach ihrem Eintreffen auf der Wache hatten die Mühlen der Justiz mit beeindruckender Schnelligkeit zu mahlen begonnen: Sie war eingeliefert und auf ihre Rechte hingewiesen worden, dann hatte man sie fotografiert, ihr eine DNA-Probe und Fingerabdrücke abgenommen und sie schließlich aufgefordert, zwecks einer forensischen Untersuchung ihre Kleider abzulegen. Obwohl sie sicher war, bald von der Liste der Verdächtigen gestrichen zu werden, verstärkte es ihr Gefühl von Verletzlichkeit, dass sie bei der Schilderung der tragischen Ereignisse des Abends einen kratzenden weißen Jogginganzug tragen musste. Vierzig Minuten waren vergangen, seit sie um 22:14 Uhr ihre Aussage unterschrieben hatte. Zunehmend rastloser und ungeduldiger spielte sie mit dem Gedanken, sich zu beschweren. Sie stand auf und ging zur Tür, als diese plötzlich von der anderen Seite geöffnet wurde. Vor ihr erschien ein neuer Polizist, der mit einem förmlichen Lächeln auf sie zukam und sich mit DCI McGuire vorstellte.

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