Pells Ruf - Carolyn J. Cherryh - E-Book

Pells Ruf E-Book

Carolyn J. Cherryh

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Beschreibung

Der Ruf der Sterne

Achtzehn Jahre nach dem offiziellen Ende der Company-Kriege will die Kauffahrerfamilie Neihart, die die Allianz im Krieg unterstützt hat, endlich wieder Handel treiben. Doch zunächst muss sich die Familie von den persönlichen Verlusten, die sie während des Krieges erlitten hat, erholen. Zu den Opfern zählt auch Francesca Neihart, die als Schwangere auf Pells Station zurückgelassen wurde. Sie bekam einen Sohn, Fletcher, nahm sich jedoch das Leben, als sie nach fünf Jahren immer noch auf der Station festsaß. Fletcher wuchs bei liebevollen hisa-Zieheltern, den mystischen Ureinwohnern von Downbelow, auf. Als das Schiff seiner Familie, die Finity’s End, von einer Fernfahrt zurückkehrt, muss Fletcher gegen seinen Willen an Bord gehen. Doch schon bald stellt er fest, dass er sich dem Ruf der Sterne nicht entziehen kann …

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C. J. CHERRYH

PELLS RUF

Roman

Das Buch

Achtzehn Jahre nach dem offiziellen Ende der Company-Kriege will die Kauffahrerfamilie Neihart, die die Allianz im Krieg unterstützt hat, endlich wieder Handel treiben. Doch zunächst muss sich die Familie von den persönlichen Verlusten, die sie während des Krieges erlitten hat, erholen. Zu den Opfern zählt auch Francesca Neihart, die als Schwangere auf Pells Station zurückgelassen wurde. Sie bekam einen Sohn, Fletcher, nahm sich jedoch das Leben, als sie nach fünf Jahren immer noch auf der Station festsaß. Fletcher wuchs bei liebevollen hisa-Zieheltern, den mystischen Ureinwohnern von Downbelow, auf. Als das Schiff seiner Familie, die Finity's End, von einer Fernfahrt zurückkehrt, muss Fletcher gegen seinen Willen an Bord gehen. Doch schon bald stellt er fest, dass er sich dem Ruf der Sterne nicht entziehen kann …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

FINITY'S END

Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1997 by C. J. Cherryh

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Satz: Thomas Menne

Kapitel 1

Auf dem Monitor, der den Verkehr im Sonnensystem überwachte, zeigte sich ein Echoimpuls. Die von einer weit, weit entfernten Präsenz hoch über dem Stern hervorgerufene Wellenfront übermittelte eine Reihe von Zahlen an einen Computer in der Zentrale von Pell, und blinkend erschien ein Name auf den Bildschirmen, überall im Raum.

Der größte Schirm, der zwei Meter über den Arbeitsplätzen der Verkehrsüberwachung hing, zeigte denselben Namen in leuchtend grünen Lettern.

Die Finity's End war nach Pell zurückgekehrt.

»Sagt der Stationsleiterin Bescheid«, rief der Cheftechniker und schon verbreitete sich die Nachricht kreuz und quer durch das Funksystem der Pell Station.

Inzwischen war das Signal, das mit Lichtgeschwindigkeit von der Boje im Sprungbereich hereinkam, vier Stunden alt. Die Computer von Pell Central kalkulierten aufgrund von Daten, die sich in Bruchteilen von Sekunden änderten, einen Kurs und zeigten diesen in gewöhnlichem Grün an. Die erste Projektion ließ ein gutes Stück von Pells Stern entfernt eine abrupte Reduzierung der Geschwindigkeit vermuten.

Plötzlich veränderte sich der riesige Display, erstrahlte in der ganzen Farbpalette von Rot bis Blau, basierend auf den letzten drei Kursen und Geschwindigkeiten, die das Schiff auf diesem Vektor nach Pell benutzt hatte … und projizierte mitten in die Sonne.

Ein breiter, gleißender Streifen zog sich durch die gewöhnlich routinemäßig verlaufenden, direkten Kursdaten und versetzte die neuesten Techniker in Alarmbereitschaft: Hände zuckten zu den Resetknöpfen. Kauffahrer tauchten nicht so nah und so schnell zur Sonne ab.

Aber dieses Schiff hatte es getan. Vor Jahren schon. Dieses Ereignis war noch in den Computern gespeichert, niemand hatte es je aus den Datenbanken gelöscht.

Aber der Krieg war Vergangenheit. In ihrer einsamen Position über dem Stern registrierte die Navigationsboje alle Ankömmlinge im Eintrittsbereich und die Informationen, die sie zur Pell Station schickte, zeigten keine anderen Signale, die das Schiff begleiteten. Diesmal kam Finity's End also allein und der Cheftechniker informierte die Juniortechniker mit großer Gelassenheit, dass der Vorgang auf ihren Bildschirmen keine Fehlfunktion, aber auch kein Grund zur Beunruhigung war.

Die Information der Boje, die in diesen Sekunden eintraf, war ein wenig klarer. Einige Möglichkeiten waren bereits ausgeschlossen, und die automatisierten Computerdisplays veränderten sich stetig, während die Boje verfolgte, wie das Schiff zur Sonne flog – vor vier Stunden geflogen war.

In Realzeit und Realraum hatte das älteste aller funktionsfähigen Handelsschiffe inzwischen entweder überschüssige Geschwindigkeit verloren und Kurs auf Pell genommen oder es war etwas grundsätzlich schief gelaufen. Nur der Beobachtungsroboter hätte das Schiff hereinkommen sehen können und Sekunde um Sekunde wurde der vielfarbige Fächer der Möglichkeiten auf den Schirmen blasser, während mehr und mehr Daten von entfernten Beobachtungsstationen eintrafen. Der Projektionsfächer schrumpfte zusammen, bis die Sonne ausgeschlossen war.

Zehn Minuten später war kaum noch etwas von der Farbenvielfalt übrig und die Techniker hatten ihre Nervosität beinahe überwunden, als die Stationsleiterin hereinkam, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen.

Falls die zahmeren Projektionen auf den Bildschirmen der Wirklichkeit entsprachen, musste unterdessen eine Nachricht vom Schiff zur Station unterwegs sein.

Erwartungsgemäß würde der Kapitän des ältesten funktionstüchtigen Handelsschiffs die Stationsleiterin von Pell, die mit seiner Hilfe die Allianz gegründet hatte, angemessen begrüßen und so würden die Machthaber, die ein Drittel der menschlichen Präsenz im Universum regierten, demnächst aufeinander treffen.

Aber die Stationsleiterin Elene Quen marschierte, ebenfalls erwartungsgemäß, zum Terminal des Kom-Technikers und ergriff das Mikrofon, ehe irgendeine mit Lichtgeschwindigkeit versandte Botschaft sie erreichen konnte.

»Finity's End, hier spricht Quen auf Pell. Willkommen. Was verschafft uns die Ehre?«

So weit das Auge reichte, erstreckte sich der Lauf des Alten Flusses. So weit das Auge reichte, wucherten graugrüne, weiß blühende Büsche unter einem stets wolkenverhangenen Himmel. Direkt hinter diesen Büschen lagen riesige rechteckige Holzrahmen auf der Erde, die darauf warteten, geflutet zu werden; hier arbeiteten die Downer, immer wieder unterbrochen von den üblichen Spielpausen.

Hisa, so nannten sie sich selbst. Braunpelzig und nackt bis auf die Ketten aus Schmuck und Fell um Hals und Taille, planschten und spritzten sie fröhlich zwischen den mit Holzstämmen begrenzten Reisfeldern, die bereits unter Wasser standen. Mit weit ausholenden Bewegungen verstreuten sie die schweren Körner, die sofort hinabsanken.

Seit die Menschen auf Pells Stern siedelten, beobachteten sie Jahr für Jahr diesen immer gleichen Vorgang.

Auch Fletcher Neihart konnte nur zusehen; zwar lebte er in der Welt der Downer, aber er gehörte nicht wirklich dazu; wie jedes menschliche Wesen hier musste er eine Atemmaske tragen. In seinen jugendlichen Träumen hatte er sich das anders vorgestellt, damals, als er mit dem übrigen menschlichen Personal nach Downbelow gekommen war: Pells Welt, die er davor sein Leben lang durch das Panoramanfenster gesehen hatte, unterhalb der Pell Station, faszinierend, wolkenbedeckt, für Besucher verboten.

Aber jetzt war es Realität, keine Fotos, keine Studientapes, in denen die Welt lediglich simuliert wurde. Hier waren die Wolken oben, nicht unten.

Hier schufteten die Hisa-Arbeiter, ohne Maske, mit anmutigen Bewegungen, arbeiteten für die noch verbleibende kurze Zeit, die ihre unkomplizierte Welt ihnen abverlangte. Wenn die Holzrahmen gebaut waren und die Welt dem Frühling und dem Neuanfang entgegen wirbelte, warteten die Hisa gemeinsam mit den Feldern nur noch auf Regen.

Die Pflanzen, deren Zyklen ebenfalls mit dem Monsun übereinstimmten, waren bereit und trieben schon Knospen. Im Wald, der an die holzumrandeten Felder grenzte, färbten die sonnengereiften, von den Schauern des Vortags angeschwollenen Puffer die Luft golden. Wenn man einen Pufferball berührte, platzte er auf, aber bei dem warmen, windigen Wetter heute explodierten die Pufferbälle ohne ersichtlichen Grund, und der Pollen quoll heraus. Auf der Oberfläche der umrahmten Teiche bildete er einen goldenen Film, auf dem Alten Fluss trieb er in mattgoldenen Bändern.

Plopp. Plopp. Plopp.

Zwei Hisa, die sich ebenfalls vor der Arbeit drückten, spielten am Waldrand mit den Puffern, rannten einen dicht mit Pufferpflanzen bewachsenen Abhang hinab, sodass die weißen, grau gefleckten Kugeln in Massen explodierten und das Fell der Hisa golden färbten.

»Gold, Gold, Gold für Frühling«, krähte Melody und erklomm die Böschung am Flussufer, und Patch, ihr Faulenzerkollege, dessen menschlicher Name von einem weißen Fleck an seiner Seite stammte, jagte ihr nach. Melody rannte den Abhang hinunter und wieder hinauf, in einem Wirbel von Gold. »Dummer Fetcher! Komm, komm, komm!«

Fetcher – so nannten sie ihn. Sie wollten, dass er mit ihnen Fangen spielte. Aber die Menschen hatten Anweisung, nicht zu rennen und auch nicht zu klettern. Die Sicherheit der Atemmasken war zu wichtig.

»Gold für uns!«, rief Patch und unter seiner spielerischen Attacke spritzte der Pollen nur so aus den Pufferbällen, plopp, plopp, plopp-plopp, eine Kettenexplosion von Feenstaub, der im ersterbenden Licht schimmerte.

Fletcher beobachtete, wie sie einen kleinen Hügel neben ein paar alten Bäumen hinauf und hinunter tollten, und brachte selbst ein paar Puffer zum Platzen. Die kleine Anhöhe war ein Paradies für einen Teenager: Man konnte Sachen kaputtmachen, damit aber nur für neues Leben und Lachen sorgen – und obendrein entstanden fürs nächste Jahr neue Pufferbälle.

Er war siebzehn und schwänzte genau wie die Hisa nur ein kleines bisschen die Arbeit der Basisstation.

Aber hier unten kümmerte es niemanden, wenn man gelegentlich eine kleine Pause einlegte, schon gar nicht die Downer, die sich ohnehin auf Wanderschaft machten, wenn der Frühling rief – was jetzt der Fall war.

Nur noch ein paar Tage, in denen man in den Holzrahmen die Aussaat vornehmen konnte. Dann würde der Monsunregen einsetzen, und danach brach im Land eine Zeit der Blüte und der Fortpflanzung aus, in der niemand die Hisa zu so etwas Albernem wie Arbeit bewegen konnte.

Ein halbwüchsiger Junge verstand das nur allzu gut. Er hatte hart gearbeitet, um hierher zu kommen, ins Juniorprogramm aufgenommen zu werden, und jetzt zahlte es sich endlich aus, ein phantastischer Augenblick, noch besser, als er ihn sich erträumt hatte.

Die Hisa kreischten und rannten, und da konnte Fletcher schließlich doch nicht mehr an sich halten. Gegen alle Regeln und Vorschriften lief er den beiden nach, ins Dickicht am Flussufer. Sie sausten über den Kamm des nächsten Pufferballhügels, unterbrachen ihre Flucht aber, um ihm aufzulauern, und erwischten ihn in einer dicken Wolke aus Pollen.

Nachdem sie ihn lange genug auf und ab gejagt und genügend gesprenkelte Pufferbälle zum Platzen gebracht hatten, um die Wasseroberfläche, die Felsen und sogar die Luft zwischen den müden alten Bäumen mit Pollen golden zu färben, ließen sie sich am Ufer des rauschenden Flusses auf den Boden sinken, um Luft zu schnappen und den wie immer bewölkten Himmel zu betrachten.

Fletcher streckte sich neben den beiden Hisa auf der Uferböschung aus. Die Atemmaske, deren Gesichtsschutz nun dick mit Pollen bespritzt war, verhinderte den direkten Kontakt zur Welt, und weil er die Luft durch die mit Filtern versehenen Zylinder einziehen musste, fühlte er sich schwindlig und atemlos.

Atmen, atmen, so schnell wie möglich atmen, im Rhythmus, in dem die Maske ihm Sauerstoff gab. Wenn Downer in Upabove arbeiteten, lebten sie in den Versorgungstunneln mit dem hohen CO2-Niveau, das die Downer erträglich fanden. Wenn sie aus den Gängen in die menschlichen Korridore kamen, waren sie diejenigen, die Masken tragen mussten.

In Pells Welt, auf Downbelow, waren die Bedürfnisse umgekehrt; hier waren die Menschen fremd und konnten es ohne Masken nur im Innern ihrer Unterkunftskuppeln aushalten und mussten Masken tragen, sobald sie ins Freie kamen.

Den Menschen war stets bewusst, dass sie auf Downbelow Gäste waren – sie bearbeiteten ihre eigenen riesigen Felder und Mühlen in den Flussniederungen im Süden, pflegten ihre eigenen weitläufigen Obstgärten am Waldrand, wo sie genug Getreide und Obst ernteten, dass sie mit anderen Sternstationen Handel treiben konnten.

Downer arbeiteten nicht mehr als für ihren eigenen Bedarf. Vermutlich hielten sie nicht viel von all der harten Arbeit und den riesigen Warenlagern. Mit Nahrungsmitteln Handel zu treiben, war nicht nach Art der Hisa. Ob sie wussten, dass die Pell Station nicht die gesamten Getreidevorräte verzehrte, die auf Downbelow eingefahren wurden? Im Verständnis zwischen Hisa und Menschen klaffte eine tiefe Kluft.

Dein eigenes Leben kannst du ruhig manchmal aufs Spiel setzen. Aber riskiere nie das Leben eines Downers. Das war das A und O aller Regeln, die man hier lernte. Bring dich um, wenn du zu dumm bist – und das war schon einige Male geschehen: Auf Downbelow war der CO2-Gehalt der Luft mehr als hoch und wimmelte von Bakterien, die es auf die menschliche Lunge abgesehen hatten. Wenn die Atemzylinder und Filter schlapp machten, blieb man zwar vielleicht am Leben – aber man musste mit erheblichen gesundheitlichen Schwierigkeiten rechnen.

Bring dich um, wenn du zu dumm bist. Lauf mit verbrauchten Zylindern in deiner Atemmaske rum, wenn du ein Idiot bist. Aber tu nie einem Downer etwas zuleide, bewundere nie etwas, was ihm gehört. Sie reagierten grundsätzlich anders als Menschen. Wenn man ihnen etwas zu essen oder irgendwelchen Krimskrams schenkte, freuten sie sich mächtig und ließen sich mit dergleichen gelegentlich auch bestechen.

Glücklicherweise mochten sie auch Menschen, die gern spielten. Alle Theorien und wissenschaftlichen Studien liefen auf das Gleiche hinaus: Downer arbeiteten, um zu leben und zu spielen. Um Einfluss und Sympathie bei den Downern zu gewinnen, spielte die menschliche Belegschaft mit ihnen Spiele. Programmteilnehmer, die mit der stringenten, humorlosen Disziplin von Upabove in Kriegszeiten herangewachsen waren, lernten hier unten andere Regeln – zumindest diejenigen, die direkten Kontakt mit den Downern hatten.

Fletcher fand diese Lebenseinstellung wunderbar und absolut einleuchtend.

Als Allererstes hatten die Menschen gelernt, sich nicht irre machen zu lassen, wenn der Frühling kam, die Downer auf Wanderschaft gingen und ihre Arbeit auf Gedeih und Verderb den Fluten überließen. Die Rahmen verhinderten, dass die Samenkörner zu weit im Umkreis verteilt wurden. Manchmal lockerte das Wasser einen Rahmen, sodass er wegtrieb und ein ganzes Reisfeld verloren ging. Aber das war kein Grund zur Aufregung, denn die Hisa legten genug Rahmen an.

In einem Jahr, das in die Legende einging, wären sämtliche Rahmen den Fluss hinabgeschwommen und die Ernte wäre gänzlich fehlgeschlagen, hätten die Menschen das Land nicht gerade noch rechtzeitig mit Dämmen gesichert, um die Hisa zu schützen. Eine wunderbare Idee, fanden die Hisa, als sie von ihrer Frühlingswanderung zurückkehrten, und sie waren sehr glücklich und dankbar, dass die Menschen ihre Ernte gerettet hatten; die Hisa waren fest davon ausgegangen, sie wäre verloren.

Aber natürlich waren solche Katastrophen schon früher vorgekommen und die Hisa hatten sie überlebt – höchstwahrscheinlich waren sie einfach flussabwärts zu anderen Stämmen gezogen. Und sämtliche menschlichen Bemühungen, durch die Deiche die Lebensart der Hisa grundlegend zu ändern, erwiesen sich als vergeblich. Inzwischen experimentierten ein paar Freidenker mit Deichen, wie die alte Greynose und ihre Abkömmlinge weiter flussabwärts, aber die Greynose-Gruppe bearbeitete Felder in einer Gegend, wo der Fluss noch wesentlich unberechenbarer war als hier.

Sollte man die ackerbaulichen Fähigkeiten der Downer verbessern? Pflanzen von der Erde importieren oder Downer-Getreide biotechnisch aufrüsten, damit es höhere Ernteerträge brachte? Den Alten Fluss kanalisieren? Hisa-Getreide brauchte die Überschwemmungen. Pflanzen von der Alten Erde bauten die Menschen nur in Upabove an, in Satellitenanlagen, um das Ökosystem der Welt nicht zu schädigen. Das war Luxus und sehr selten. Die in Downbelow heimischen Gewächse waren der Überfluss, der die Speicher füllte und aus denen sich die Handelsschiffe bedienten. Downer-Getreide wurde zu Brot weiterverarbeitet, dessen Überreste die Fischtanks versorgten, aus denen die Kolonien von Pell bis Cyteen versorgt wurden. Die landwirtschaftlichen Plantagen beförderten Güter hinauf zur Station und erhielten im Austausch Waren geliefert, manchmal mit Shuttles und nicht selten auch mit altmodischen harten Fallschirmen, die durch Downbelows wild wirbelndes Wolkenmeer herabschwebten.

Im Hafen und bei der Startbahn herrschte viel Betrieb; hier tummelten sich hauptsächlich Menschen, und Fletcher war froh gewesen, zur Außenstelle am Alten Fluss versetzt worden zu sein. Hier, auf den Feldern am Rand tiefer, dichter Wälder, verlief das Leben in geruhsamem Tempo und nichts fiel vom Himmel. Hier traf eine nicht sonderlich große Hisa-Population auf Menschen, die die Auswirkungen der weitläufigen Aktivitäten im Süden auf das Hisa-Leben untersuchten, nach Anzeichen für Stress Ausschau hielten, nach Hisa-Art ein wenig Getreide anbauten, Listen führten, beobachteten …

Und jeden Frühling ließen die Hisa erneut ihre Felder links liegen und folgten ihren Instinkten – aus Gründen, die mit Liebe, mit Wohnhöhlen und mit Babys zusammenhingen. Sie gingen auf Wanderschaft: Die Frauen zogen weit, weit über die Hügel, durch die Wälder und hinab zum Fluss, die Männer immer dicht auf ihren Fersen.

Fletcher war erst letztes Jahr zur Erntezeit hier angekommen, er hatte die Wanderung noch nicht miterlebt. Nun stand der Monsun bevor und Fletcher wusste, dass sich im Frühling oft Tragödien ereigneten: Es war nicht nur die Zeit der Wiedergeburt, sondern auch des Todes. Es gab Stürze, Hisa ertranken … und die Menschen, die schon lange hier waren, warnten die jungen Mitglieder der Belegschaft vor allen möglichen Unglücksfällen. Da auch die ältesten Hisa mit wanderten, griff der Tod im Frühjahr um sich wie eine Seuche – als Geistersymbole wurden die Gürtel und Ketten von den überlebenden Wanderern zurückgebracht und an der Bestattungsstätte auf Stöcke gehängt. Das Frühjahr war voller Risiken und Gefahren, wenn der Regen herabrauschte und der Fluss Hochwasser führte – Fletcher machte sich zunehmend Sorgen um seine beiden Hisa, um Melody und Patch.

Auf der Station musste man ein Training absolvieren, um auch nur mit Downern sprechen zu dürfen.

Aber Fletcher hatte Melody verbotenerweise auf Pell getroffen – vor vielen Jahren, als er mit acht von zu Hause weggelaufen war und zu seiner Rettung unbedingt ein Wunder, ein bisschen Magie brauchte. »Du traurig?«, hatte Melody ihn mit ihrer seltsamen, von der Maske gedämpften Stimme gefragt und sich vor sein Versteck gekauert, um ihn zu mustern.

Wie gab man einer magischen Kreatur eine barsche Antwort? Fletcher hatte sich in sein Schneckenhaus verkrochen, sich in den Eisenträgern des Docks versteckt, war von einem kalten, gefährlichen Ort zum nächsten geflohen, um den Stationsbehörden zu entkommen, die womöglich auch hier nach einem durchgebrannten Jungen suchten.

An diesem Tag hatte er seine Pflegefamilie – seine dritte! – zutiefst verabscheut. Genaugenommen verabscheute er alle Erwachsenen.

Aber das ließ sich wohl kaum auf diese seltsame, fremdartige Kreatur anwenden, die neben ihm in der kalten, metallischen Luft kauerte und fragte »Warum du traurig?«

Ja, warum war er denn traurig? Er hatte sich noch nicht einmal klargemacht, was er fühlte, bis sie ihn mit der Nase darauf stieß. Er hatte gedacht, er wäre verrückt. Er war wütend auf fast alles. Aber Melody hatte die Frage gestellt, um die alle seine Psychodocs seit Jahren herumschlichen wie die Katze um den heißen Brei, hatte den Finger direkt auf den Mittelpunkt der Wunde gelegt, und nun fragte er sich plötzlich, warum er traurig war.

Weil seine Mutter Selbstmord begangen hatte?

Weil seine Pflegefamilien ihn verabscheuten?

Das hatte er überlebt. Nein, darum ging es nicht.

Er war traurig, weil es nirgendwo irgendjemanden gab, der ihn so haben wollte, wie er war. Nicht einmal seine Mutter.

»Meine Mutter ist tot«, hatte er damals gesagt, obwohl es schon drei Jahre her war. Und Melody hatte sanft seinen Arm gestreichelt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt tauchte Patch auf und kauerte sich ebenfalls zu ihm.

»Trauriger junger Mensch«, erklärte ihm Melody. »Weg, weg, er Mama.«

Fletcher fühlte sich, als wäre er drei Jahre alt. Oder fünf. So alt war er gewesen, als seine Mutter sich umgebracht und ihn ein für allemal verlassen hatte. Auf einmal fühlte er sich verlegen und in eine Lüge verstrickt, die sich nur noch weiter ausbreiten würde.

»Schon lange her«, meinte er deshalb in barschem Ton.

»Schon lange her du traurig«, sagte Melody und hatte einmal mehr ins Schwarze getroffen, auf eine Art, zu der die Psychodocs nie fähig gewesen wären.

Irgendwie halfen sie ihm dann auf die Füße – vielleicht war es Patchs Idee gewesen – und redeten mit ihm über Dinge, die für ihn keinen Sinn ergaben.

Fletcher wusste, dass er eigentlich nicht mit ihnen reden durfte. Die Tatsache, dass er eine Vorschrift verletzte, machte ihm Lust, mit den beiden wegzugehen und richtig Ärger zu kriegen, die Behörden herauszufordern, dass sie ihn aus der Pflegefamilie nahmen, von der er weggelaufen war.

Eine Stunde lang wanderte er mit ihnen draußen herum, ohne dass ihn jemand erwischte, straflos, und die Downer zeigten ihm erstaunliche Dinge, von denen er nichts gewusst hatte. Aber dann war einer von Melodys Maskenzylindern verbraucht. Sie mussten zu einem Spind in den Servicetunneln gehen, um einen neuen Zylinder zu holen, und Fletcher entdeckte eine geheime Welt, die ansonsten nur Aufseher mit amtlicher Lizenz legal zu Gesicht bekamen, in Gesellschaft zweier Lebewesen, mit denen nur Aufseher mit amtlicher Lizenz legal Kontakt aufnehmen durften.

Er war zu seiner Pflegefamilie gegangen und hatte sich entschuldigt, hatte das Blaue vom Himmel herunter gelogen und behauptet, es täte ihm furchtbar, furchtbar Leid. Drei volle weitere Jahre blieb er bei dieser Familie und befolgte ihre Regeln, denn ihr Wohnsitz befand sich in der Nähe des ihm bekannten Zugangs zu den Tunneln. Durch diese Gänge gelangte er zu allen möglichen Orten der Station, und sie wurden seine Zuflucht, wenn er in Schwierigkeiten geriet. Er benutzte die Masken, die für die menschlichen Wartungsmonteure vorgesehen waren und die immer in einem Spind bei den Zugangsschleusen lagen. Er richtete keinen Schaden an. Zum ersten Mal hatte er einen Platz, der ihm gehörte, wann immer er ihn brauchte. Zum ersten Mal hatte er etwas zu verlieren, wenn man ihn erwischte. Und zum ersten Mal in seinem Leben gab er seine schlechten Gewohnheiten auf und schwor, sich zu bessern. Er trennte sich von der Bande, zu der er gehörte, und verhielt sich insgesamt so vorbildlich, dass die Sozialarbeiter glaubten, seine Pflegefamilie – eigentlich die schlechteste seiner Sammlung – hätte ein Wunder bewirkt.

Die positive Entwicklung hielt an: In der Schule verbesserten sich seine Leistungen, was auf einem ganz anderen Bereich später Früchte trug. Und selbst als Melody und Patch nach dem Vierjahres-Rotationsplan wieder in ihre Welt zurückkehren mussten, war er nicht zusammengebrochen und auch nicht wieder der Jugendkriminalität verfallen.

Nein, er hatte seine Geschichte zumindest teilweise seinem Studienberater gestanden (dass er tatsächlich in den Tunneln gewesen war, hatte er ausgelassen) und eine seriöse Berufswahl getroffen: Er wollte mit den Downern auf Downbelow arbeiten.

Harte Auswahlkriterien, ein hartes Training, harte akademische Arbeit. Aber er hielt durch. Und bekam seine Chance.

Da Downer, die früher auf der Station gearbeitet hatten, in der Nähe der menschlichen Siedlungen auf Downbelow lebten und arbeiteten, war er bereits innerhalb von einer Stunde nach seiner Ankunft auf Melody und Patch gestoßen, als er letzten Herbst in der Waldbasis eintraf. Melody war grauer geworden, Patch war nicht so groß, wie Fletcher ihn in Erinnerung gehabt hatte. In den fast zehn Jahren, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war er so viel gewachsen, und er hatte nicht gewusst, wie alt die beiden Downer waren.

Möglicherweise war es Melodys letzte fruchtbare Phase und Patch ihr letzter Partner. So weit Fletcher wusste, verfolgte sie außer Patch kein anderer männlicher Downer, und sie würde Patch sicher nicht auf eine schrecklich lange Jagd führen, wenn der Frühling sie überkam – denn Patch war auch nicht mehr gar so gut zu Fuß.

Fletcher wollte sie beide gesund und wohlbehalten zurück haben. Aber wenn er ganz nüchtern darüber nachdachte, wusste er natürlich, dass er letzten Endes auch diese beiden Wesen verlieren würde. Deshalb waren diese Tage besonders kostbar. Und heute – heute war der schönste Tag seines Lebens, dieses ausgelassene Spiel mit den Pufferbällen und dem Pollen.

Ein harter Downerfinger bohrte sich zwischen seine Rippen, und er duckte sich, um sich zu verteidigen. Melody und Patch waren zu Streichen aufgelegt, und Fletcher, der noch immer auf dem Rücken am Ufer lag, piekte Patch zurück, worauf dieser sich schreiend zum nächsten Baum flüchtete und sich ins Geäst hinaufschwang. Die Downer waren behände Kletterer und als Mensch, der zusätzlich von schweren Stiefeln und vom Schutzanzug behindert war, hatte Fletcher keine Chance, Patch zu fangen.

Patch warf mit Blättern nach ihm. »Gemein, gemein«, schrie Melody und schleuderte einen Pufferball, der beim Aufprall platzte und seinen Pollen überall in die Gegend verteilte. Kreischend ließ Patch sich vom Baum fallen.

Anschließend brach der Pollenkrieg wieder aus, bis die Luft dick und golden war.

Und bis Fletcher wegen seiner beengten Atmung japsend an einen niedrigen Ast lehnte und nach Luft schnappen musste. Er schwitzte grässlich in seinem Anzug.

Inzwischen war das Licht fahler geworden.

»Sonne geht wandern«, sagte er. Den Downern konnte man nicht sagen, dass die Große Sonne unterging oder über Nacht verschwand oder etwas derartiges. So bestimmten es die Regeln. Die Große Sonne wanderte über die Hügel. Die beiden Downer kannten das ungeschützte Gesicht der Großen Sonne, denn sie waren in Upabove gewesen, aber das änderte nichts an ihrer Ehrfurcht vor dem Gestirn. »Die Uhrenworte sagen, Menschen gehen nach drinnen«, sagte Fletcher mit Downer-Worten.

Melody und Patch blickten auf die graue, umwölkte Sonne über dem allmählich dunkelnden Fluss. Eng umschlungen wanderten sie dann den Weg hinauf zur Basis, alte Freunde, vertraut und liebevoll. Als der Weg breiter wurde, legte Melody den anderen Arm um Fletcher, und so wanderten sie zu dritt den Flusspfad zurück, an drei großen Rahmenfeldern vorbei, bis die Kuppeln in Sicht kamen, in denen die Menschen lebten, in gefilterter, mit Sauerstoff versorgter Luft, sicher über dem Hochwassergebiet.

»Du gut?«, fragte Patch. »Du hast Bauchweh?«

»Nein«, antwortete Fletcher lachend. Downer hatten nicht die Neigung, auf einem Thema herumzureiten. Wenn man unnütze Fragen vermeiden wollte, lachte man einfach. Wenn er traurig war oder Sorgen hatte, ließen sie ihn nicht in Ruhe.

In dieser Hinsicht waren sie unbeirrbar.

Deshalb lachte er jetzt und stupste Patch in die Rippen; Patch stupste zurück und versteckte sich hinter Melody.

Spiele.

»Spät, spät, spät«, sagte er. In diesem Augenblick piepte seine Uhr, und überall auf den Feldern kündigte sich auf dem Sender, den jeder bei sich trug, der Feierabend an.

»Oh, du machen Musik, Zeit gehen!«

Nicht dass sie auch nur ansatzweise über eine Zeitvorstellung verfügten. An Tagen, wenn ein großer Teil der Belegschaft auf den Feldern draußen war, scharten sich die Downer kurz vor Feierabend hier zusammen und stießen Überraschungsschreie aus, wenn alle Menschen gleichzeitig die Arbeit einstellten, sich die jeweiligen Werkzeuge aufluden und aufsammelten, was sie mitgebracht hatten, und sich auf den Rückweg zur Basis machten. Die Downer verstanden, dass es ein Signal gab, und dass es mit Musik verbunden war. Nicht das Piepsen selbst verwunderte die Downer, sagte der Direktor, sondern warum es erklang. Alte Hasen wie Melody und Patch, die den Schichtwechsel in der Station kannten, die bei der Uhr gearbeitet hatten, erklärten den jüngeren Downern, dass Zeit für die Menschen ungemein wichtig war und dass sie großen Wert auf Zusammenarbeit legten.

»Aber Große Sonne er kommen wieder«, protestierte Melody gegen die Idee von Termindruck. »Er immer kommen.«

Im Denken der Downer auf Downbelow brachte der nächste Tag immer neue Chancen, ein neues Morgen.

Eigentlich hatte niemand etwas so Dringendes zu tun, dass es nicht wenigstens eine Stunde oder einen Tag verschoben werden konnte. Du willst wissen, wann du in deine Wohnhöhle gehen sollst? Sieh dir die Große Sonne an und geh, bevor es dunkel ist. Oder auch danach, wenn du dich der Dunkelheit aussetzen magst.

Man war nie wirklich in Hektik. Man konnte sich Zeit lassen und auf dem Nachhauseweg einen großen, großen Umweg machen, man konnte (was für einen in der Station geborenen Menschen immer noch ungewohnt war) über eine große weite Fläche blicken und beobachten, wie sich andere Leute auf anderen Wegen fortbewegten. In Upabove war der Blick ja von Korridoren und Wänden verstellt.

Hier, an diesem wunderschönen Tag, kreuzte Fletchers Pfad den von Bianca Velasquez, die sich ebenfalls auf dem Heimweg befand. Die beiden besuchten das gleiche Biochemie-Seminar. Vor der Diskussionsphase mischten sich die Gruppen, und Bianca gesellte sich für gewöhnlich zu Marshall Willett und den Dees – die ihrerseits nichts mit Fletcher zu tun hatten.

Bestimmt würde sie ihm die kalte Schulter zeigen. Vielleicht könnte er so tun, als hätte er etwas verloren, dann würde sie an ihm vorbeigehen, während er im Kies herumwühlte. Wie ein Idiot. Auf diese Weise konnte er es sich ersparen, dass dieser schöne Tag ein bitteres Ende nahm.

Aber eigentlich müsste es doch ganz einfach sein, Bianca anzusehen. Und mit ihr reden. Hi, ein simples Hi, dann war sie verpflichtet, ebenfalls höflich zu reagieren. – Hi. – Hast du dich schon auf den Biochemie-Quiz vorbereitet? Woran arbeitest du gerade? So ein Gespräch war doch keine Kunst. In seinem Kopf hatte er sich allerlei Artigkeiten zurechtgelegt, aber da war sie plötzlich ganz nah und dank ihrer sich zufällig überschneidenden Wege gingen sie nebeneinander her.

Das war nicht irgendein Mädchen – das war Bianca Velasquez! Das Mädchen, das ihm gleich zu Anfang aufgefallen war. Auf einmal herrschte in Fletchers Hirn gähnende Leere. Er konnte Bianca nicht ansehen, wenn er nicht denken konnte, und seine Körpertemperatur stieg, bis er so knallrot anlief, dass man selbst im Dunkeln gesehen hätte.

Himmel, was war er doch für ein Idiot! Er wusste nicht, warum er diese Begegnung ausgerechnet provoziert hatte. Bianca war einfach aufgetaucht und er hatte es getan.

»Woher kommst du denn?«, fragte sie.

»Von da drüben.« Er machte eine Handbewegung zum Fluss. Das klang ziemlich blöd. Hatte sie tatsächlich bemerkt, dass er nicht im Unterricht gewesen war? Himmel, wenn der Aufseher ihn hier erwischt hätte …

»Von wo?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Oh, da drüben, hinter den Bäumen. Beim Fluss.«

»Was hast du da gemacht?«

»Die Downerin, mit der ich arbeite – Melody – wollte mir etwas zeigen.« Mit der ich arbeite. Als wäre er ein Oberaufseher. Er hörte sich an wie ein Blödmann. Bianca brachte ihn total durcheinander, allein ihre Gegenwart erschütterte ihn in seinen Grundfesten. Da hatte er gerade erst den Mund aufgemacht und sich schon so verheddert.

»Du bist voller Staub.«

Fletcher klopfte seinen Schutzanzug ab. »Ja, von den Pufferbällen.« Gott sei Dank fiel ihm wenigstens etwas zu sagen ein. »Das Zeug war überall. Und die Sonne und so, das war richtig hübsch. Deshalb war ich dort.«

»Wo?«

Schnell nachdenken! Panik. Dann ein Entschluss. »Ich zeige es dir.«

»Gern.«

O Gott, sie hatte ja gesagt. Er hatte nicht erwartet, dass sie ja sagen würde.

»Wann?«, fragte sie.

»Kannst du dich morgen irgendwann loseisen?«

»Wie lange?«

»Nicht länger als ich heute weg war. Etwa um die gleiche Zeit. Direkt vor Sonnenuntergang. Wenn das Licht richtig ist.«

»Ich weiß nicht. Wir dürfen eigentlich nicht allein dort unten sein.«

Sie hielt ihn also für einen, der leicht in Schwierigkeiten geriet. Aber das stimmte nicht. Ihm fiel ein Satz ein, mit dem er sie vielleicht umstimmen konnte.

»Melody und Patch werden auch da sein. Sie haben auf der Station in der Nähe meiner Wohnung gearbeitet. Ich kannte sie schon, ehe ich hierher kam. Keinerlei Risiko.« Kaum war er damit herausgeplatzt, wünschte er sich schon, er wäre nicht so mit der Tür ins Haus gefallen. Bianca war ein nettes, anständiges Mädchen aus einer soliden, gesetzestreuen Familie. Er hatte ihr gerade etwas erzählt, das die Aufseher aus seinen Akten wahrscheinlich nicht wussten, und wenn sie zu viele Fragen über Melody und Patch stellten, gaben die in ihrer Hisa-Ehrlichkeit womöglich aus Versehen eine Information preis, wegen der man ihn blitzschnell aus dem Programm werfen würde.

»In Ordnung«, sagte sie. »In Ordnung. Gern.«

Er konnte es kaum glauben. Sie stammte aus einer guten Familie, und er aus einem Haushalt ohne festen Wohnsitz, aus ungeordneten Verhältnissen. Normalerweise würde ein Mädchen wie Bianca mit einem wie Fletcher auf der Station nicht mal sprechen. Aber jetzt schien sie ihn geradezu aufzufordern, ihre Hand zu nehmen, berührte ihn zufällig beim Gehen, und als er tatsächlich ihre Hand ergriff, waren ihre Finger keusch und kalt und schlaff, sodass er sich fragte, ob alle Mädchen aus Stationsfamilien so waren oder ob er etwas Falsches, Unerwünschtes getan hatte.

»Pass auf deine Hände auf, wenn du nachher durch die Entseuchung gehst«, riet er ihr. »Ich bin voller Pollen.«

»Ja, mach ich«, antwortete sie und drückte seine Hand ein wenig. Ihm wurde ganz schwindlig im Kopf. Er irrte sich nicht! Sie wollte wirklich mit ihm reden. Er hatte es sich nicht eingebildet, dass sie im Biochemiekurs seinen Blick erwidert hatte.

Dabei hatte er das wirklich nicht erwartet. »Ich dachte, du wärst, na ja, du wärst mit Marshall Willett zusammen.«

»Ach, Marshall.« Ihre Verachtung traf nicht nur den Namen, sondern die ganze Existenz von Marshall Willett, einen der Willetts, der sich seit drei Monaten in ihrem Dunstkreis bewegt und so tat, als gehörte ihm die Basis einschließlich des gesamten leitenden Personals.

Fletcher wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte einen Traum, und offen gestanden war in diesem Traum kein Platz für Bianca Velasquez. Er wollte in und auf dieser Welt leben, auf Downbelow, an Tagen wie diesem.

Zum Abschlussjahrgang des Programms in Downbelow zu gehören, war etwas Solides. Sich mit jemandem wie Bianca einzulassen, half dabei nicht, es war eher ein Hindernis, das er nicht unbedingt gesucht hatte.

Aber hier schlenderte er mit ihr durch die Wiesen und Bianca zeigte unmissverständlich Interesse – zumindest am Händchenhalten. Und was machte er daraus?

Bianca war klug. Wesentlich ernsthafter als Marshall Willett. Es wurde gemunkelt, dass Marshall hauptsächlich deshalb hier gelandet war, weil seine Familie versuchte, ihm wenigstens zu irgendeiner Art Karriere zu verhelfen. Bianca dagegen war intelligent, sie war hübsch, ihr schien etwas an ihrer Arbeit zu liegen, und das war – zusätzlich zu dem Privileg, den Rest seines Lebens hier inmitten der Wunder dieses Planeten verbringen zu dürfen – für einen jungen Mann wie Fletcher einfach zu viel des Guten.

Nein. Zurück zur Normalität: Eine dauerhafte Stellung auf Downbelow war alles, was er wollte, und das würde er nicht aufs Spiel setzen, indem er bei Bianca und ihrer einflussreichen Familie einen Fehler machte, nicht mal wenn sie splitterfasernackt, sonnenbeschienen im Pollengold vor ihm am Ufer stehen würde.

Gott, aber die Vorstellung gefiel ihm schon. Sie würde so hübsch aussehen, mit ihrem dunklen Haar und ihrer olivfarbenen Haut. Golden in der Sonne und der Pollen würde auf sie nieder rieseln … tja, er musste das Bild umgestalten, mit Atemmaske und Schutzanzug. Sie würden unbeholfen herumtapsen, während Melody und Patch herumtollten und sie mit Pufferbällen bewarfen. Und wie viel Ärger konnte man sich mit einem Mädchen einhandeln, wenn man die Atemmaske nicht abnehmen und sich bestenfalls mit den Fingerspitzen berühren konnte?

Hand in Hand wanderten sie weiter auf die Kuppeln zu, die sich geisterhaft blass in der rasch einfallenden Dämmerung vor ihnen erhoben. Die weißen Hoflichter brannten bereits. Auch andere Arbeiter kehrten heim, allerdings mit wesentlich rascheren Schritten als Fletcher und Bianca.

Dort wo der Pfad das so genannte Quadrat erreichte, trennten sich ihre Wege, denn die Unterkunftskuppeln hatten strikte Regeln – männlich in die eine Richtung, weiblich in die andere, wenn man zur jüngeren Belegschaft gehörte …

Als hätte man vor dem zwanzigsten Geburtstag keinerlei Vernunft und danach würde einem automatisch Reife und Erfahrung geschenkt; im Großen und Ganzen jedoch war Fletcher froh gewesen über die Regel, die der männlichen Seite ein wenig Frieden bescherte. Heute Abend war er ebenfalls froh darüber, denn jetzt brauchte er sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, um noch an ein Dutzend klügere Sachen zu denken, über die er mit Bianca reden konnte. Ungefähr fünf Minuten war er neben ihr her gegangen, in dem ständigen Bemühen, sich nicht total zu blamieren. Nun hatte er die ganze Nacht und den ganzen Tag morgen, um seine Gedanken zu sammeln, ehe er das nächste Mal mit ihr sprechen musste.

Gott im Himmel, er hatte eine Verabredung mit Bianca Velasquez!

Es war unmöglich. Er war noch nie mit einem Mädchen gegangen. Und dass sich ein Familienmädchen wie Bianca tatsächlich mit ihm verabredete … unmöglich! Bianca stammte aus einer so guten Familie, dass ihre Füße beim Gehen nicht den Boden berührten, so jungfräulich und sauber, dass ihr Knie einrasteten, wenn sie schlief. Einerseits ging ihm der Gedanken im Kopf herum, dass es irgendeine abgekartete Sache war – derartiges war ihm schon öfter passiert, aus keinem anderen Grund als dem, dass er ein Niemand war.

Aber in den letzten Wochen hatte er beobachtet, dass Bianca klüger war als die meisten, vielleicht sogar ein wenig von ihnen gelangweilt, und Fletcher überlegte, ob sie vielleicht auch einsam war. Marshall schien zu denken, die Sonne und alle Planeten drehten sich ganz selbstverständlich um ihn, einfach weil er ein Willett war; Bianca war das einzige menschliche Wesen auf der Basis – einschließlich der Aufseher –, das sich nicht im geringsten davon beeindrucken lassen musste, dass Marshall ein Willett war, denn sie war eine Velasquez. Den Velasquez' konnten die Willetts, Siddons, Somervilles oder Kielers samt und sonders den Buckel runter rutschen, auch wenn sie hier die große Clique darstellten.

Was also tat Bianca da? Sie hielt Händchen mit ihm?

Er hatte überhaupt keine Familie. Er war Abschaum ohne festen Wohnsitz.

Außerdem war er einen Meter achtzig groß, hatte auf Pells wildem Weißen Dock – dem unteren Ende der Gegend, in der er mit seiner vierten Pflegefamilie wohnte – gelernt, sich selbst zu verteidigen, und konnte Marshall Willett windelweich prügeln. Vielleicht hatte sie das im Kopf, vielleicht wollte sie der ganzen Versammlung eine lange Nase drehen. Auch sie war auf ihre Art eine Einzelgängerin, allerdings im Zentrum einer Wolke von Verehrern.

Und Marshall – Marshall würde zuallererst eins von ihr wollen, etwas, was Fletcher nicht zu verlangen beabsichtigte, nicht weil er nicht daran dachte, sondern weil sein Motiv, anders als bei Marshall, letzten Endes nicht darin bestand, sich aus dem Programm werfen zu lassen.

Sie benahm sich schüchtern. Er drückte ihre Hand, als sie sich trennten. Üblicherweise saßen Belegschaftssenioren vor den Türen Wache. Sie zählten alle, die für die Nacht hereinkamen, aus Sicherheitsgründen, um sich zu vergewissern, dass niemand mit gebrochenem Bein oder funktionsuntüchtigen Atemzylinder oder etwas Ähnlichem draußen zurückblieb.

Wenn man noch keine Zwanzig war, hatte man keine Minute für sich allein.

Händchenhalten war ungefährlich. Der Direktor hatte ihnen klipp und klar gesagt, wenn man vor der Volljährigkeit gegen die Regeln verstieß und sich auf eine sexuelle Beziehung einließ, fand man schnell einen Nachfolger, denn es gab zehn Bewerber für jeden Platz im Studienprogramm.

Morgen würden sie sich treffen, das hatte Bianca Velasquez ihm versprochen, und Fletcher Neihart schlenderte den Weg zum Männerwohnheim hinab, an den Monitoren vorbei zur Entseuchung, so gedankenverloren, dass der Monitor ihn zweimal auffordern musste, sich einzutragen.

Kapitel 2

Das Restaurant war so alt, dass es bereits den Weg von Glamour zu Abgenutztheit und wieder zurück zum Glamour hinter sich hatte. Jetzt war es über alle Trends erhaben. Es war eine Tradition auf Pell: Das beste Restaurant der Station, mit beleuchteten Fußböden und sehr realistischen Sternen hinter den Tischen, beides oft kopiert, aber niemals erreicht.

Seit neuestem gab es einen holographischen Bildschirm, auf dem die Sterne zwischen den Tischen in Bewegung gebracht wurden, eine technische Spielerei, die Elene Quen bisher nur bei angeschalteter Deckenbeleuchtung gesehen hatte. Natürlich zerstörte das den Effekt der Illusion, aber jedes Mal, wenn es dunkel wurde, waren die Sinne wie benebelt, ganz gleich, ob man die Technik hinter dem magischen Schauspiel kannte oder nicht.

Die Kellner führten ihre distinguierten Gäste an den besten Tisch, den Elene hatte reservieren lassen, sobald Finity's End ihren Funkspruch erwidert hatte. Die Gruppe bestand aus Elenes Ehemann Damon Konstantin, Kapitän James Robert Neihart und seinen Brüdern, den Kapitänen Madison, Francie und Alan. Für Francie und Alan war die Mahlzeit das Frühstück, für James Robert und Madison Abendessen. Nun waren also alle vier Kapitäne der Finity gleichzeitig vom Schiff abwesend, und falls ausgerechnet jetzt, so kurz nach der Landung, auf Deck der Finity irgendwelche Geschäfte abzuwickeln waren, mussten nicht ganz so erfahrene Besatzungsmitglieder das bewerkstelligen.

Cocktails wurden serviert, Gläser klimperten, von langen Kriegsjahren gezeichnete Gesichter lächelten. Verjüngungskuren und Zeitdehnung verlängerten das Leben zwar, aber auch jahrelange Verjüngungsmaßnahmen hinterließen ihre Spuren – bei ihnen allen. Vor allem bei Kapitän Neihart, der nach der Zeitrechnung der Stationen hundertneunundvierzig Jahre zählte; er hatte den Körperbau eines Manns um die Vierzig, bei näherem Hinsehen jedoch bemerkte man seine grauen Haare und seine papierdünne Haut, das Gesicht durchzogen von den Falten und Fältchen des ganzen Ärgers und des Lachens eines langen, langen Lebens.

Erschrocken nahm Elene zur Kenntnis, wie die Jahre selbst den Spacern ordentlich zugesetzt hatten, so leicht und locker diese ihre Zeit auch handhabten und deren Schiffsuhren anders gingen als die Uhren auf den Stationen. Sie warf ihrem Mann Damon einen besorgten Blick zu, und eine flüchtige, angstvolle Sekunde lang durchdrang sie der Gedanken, dass sie alle nicht unsterblich waren. Zwanzig Jahre waren seit dem Krieg vergangen, und für sie und Damon verstrich die Zeit schneller als für jeden Spacer.

Auch sie war Spacerin gewesen, bis sie beschloss, mit einem Mann, den sie liebte, einen einjährigen Urlaub zu nehmen und bei dem Mann zu bleiben, den sie liebte; ein Jahr lang Ferien an diesem Strand des Sternenmeers, eine demonstrative Verbindung mit den Konstantins von Pell.

Eine schicksalhafte Entscheidung. Elenes Schiff, die Estelle, hatte ihren nächsten Flug nicht überlebt: Die Estelle war Opfer des Krieges geworden, und der Name Quen, einst unter den Kauffahrern hoch angesehen, wäre fast mit ihr untergegangen. Kein Schiff, kein Name war mehr übrig von dem, was sie einst gewesen war. Und so vieles war zusammen gekommen, um sie an die Station zu binden. Sie hatte ihren Krieg in den Korridoren von Pell ausgefochten.

War auch sie in den Augen der anderen gealtert in diesen sieben Jahren, seit die Finity's End den Hafen von Pell zuletzt angelaufen hatte? Und Damon?

Sahen die Kapitäne der Finity's End sie an und dachten: Wie traurig, dass die letzte der Quens in der Stationszeit altert?

Aus der Perspektive der Spacer war sie die letzte Quen. Aber dank Damon war sie nicht die Letzte dieses Namens. Sie hatte zwei Kinder geboren, eins für ihre, eins für Damons Familie, zwei gleichermaßen alte, gleichermaßen bedrohte Geschlechter. Die Neiharts der Finity's End hatten es vielleicht noch nicht richtig zur Kenntnis genommen, aber sie hatte nicht nur den Konstantins einen Sohn und Erben geschenkt – Angelo Konstantin, Stationsbewohner, in der Tradition seines Vaters geboren und aufgezogen. Nein, für die Hoffnungen der Spacer war ihre Tochter, Alicia Quen, weit wichtiger. Zwar besaßen die Quens kein Schiff, aber wenigstens eine Nachfolgerin.

Cocktails und Konversation. Mühsam versuchten sie, sieben Jahre mit dünnen, farblosen Fragen aufzuholen: Wie seid ihr zurechtgekommen? Wie laufen die Geschäfte? Was ist aus diesem und jenem geworden?

Sie bestellten ein üppiges Mahl. Sie waren Spacer aus dem tiefen, kalten Draußen, gerade zu einem zweiwöchigen Urlaub im ruhigen Hafen eingetroffen; dies war die erste wirkliche Freizeit, die sie seit dem Krieg genossen. Das an sich war schon eine Neuigkeit, die das Dock in Aufregung versetzte.

»Was sich verändert hat?«, wiederholte Damon eine Frage von Madison. »Jede Menge neuer Einrichtungen, jede Menge Verbesserungen das Dock rauf und runter. Eine ganze Reihe von neuen Schlafheimen, ein paar Luxusetablissements …«

»Der Garten«, sagte Elene.

»Der Garten«, wiederholte Damon. »Den müsst ihr euch unbedingt ansehen.«

»Ein Garten?«, fragte Francie. Für einen Spacer war ein Garten zum Anpflanzen von Gemüse da: Man legte einen an Bord des eigenen Schiffs an, wenn man Zeit und Platz dafür hatte. Ein Garten brauchte viel Licht und regelmäßige Bewässerung.

Auf Pell wurden nicht nur Salat und Radieschen angebaut.

»Glaubt mir«, bekräftigte Elene. »Ihr werdet staunen.« Doch sie hatte ein seltsames Gefühl, als sie es aussprach – warum sage ich das, fragte sie sich. Da pries sie den Spacern Pells Vorzüge an und wunderte sich, dass sie dabei ein flaues Gefühl hatte.

Jeden Morgen blickte ihr aus dem Spiegel eine Fremde entgegen, eine von früh bis spät in Stationsangelegenheiten engagierte Frau, und in letzter Zeit erwiderte sie ihren Blick, erschrocken und verbittert über die Veränderung in ihrem Gesicht. Würde sie immer noch dieses Exil wählen, in dem die Zeit so rasend schnell verstrich?

Mehrere Kellner trugen das Essen auf. »Sehr gut«, bemerkte James nach den ersten Bissen, und die anderen pflichteten ihm bei, dass es ein würdiges Sieben-Jahres-Essen war.

Selbstverständlich verbreiteten sich sofort Gerüchte darüber, was die Finity am Dock zu tun hatte, denn niemand gab sich so recht mit Madisons seltsamer Erklärung zufrieden, sie hätten einfach nur echte Ferien. Spekulationen über dieses Essen waren in Elenes Büro vorgedrungen, an ihren Frühstückstisch, sogar bis zu ihrem Bett – direkt von Pells Justizbehörde, Damons Domäne.

Sicher war, dass die Finity's End, ehe sie auf Pell angelegt hatte, von der Allianzbank eine große Summe abgehoben hatte: 74,8 Millionen, sowohl vom Kapital als auch vom Zins der Summe, die sie im Krieg als Sicherheit auf dem Konto angelegt hatten. Als letzter Abflughafen war Sol Eins, die Erde im Logbuch eingetragen. Warenverkäufe waren dokumentiert, außerdem vor der Landung Termingeschäfte mit einigen Luxusgütern – ein Verfahren, das auf Pell als durchaus positiv angesehen wurde.

Der Markt hatte reagiert. Wenn die Finity gekommen war, um Waren zu verkaufen, konnte man mit ihr Handel treiben. Spekulanten hatten schon vom ersten Moment an, als das Schiff auf den Bildschirmen auftauchte, vermutet, dass die Finity Trockenvorräte wie Mehl und Zucker – beides war auf Pell billig – oder kleinere Massenfracht wie Arzneimittel aufnehmen würde. Beides wäre für ein Schiff wie die Finity ein vernünftiges Vorhaben gewesen. Kapitän Mallory von der Norway, Pells Verteidigung gegen die Piraten, konnte solche Dinge immer gut gebrauchen. Die Finity diente der Norway als Zulieferer, und derlei Artikel wurden teurer. Doch da es selbst den patriotischsten und nachsichtigsten Direktlieferanten lieber war, wenn ihre Ladung tatsächlich das von ihnen angepeilte Ziel erreichte, statt zu irgendeinem einsamen Hafen am Rande der Zivilisation umgeleitet zu werden, blieben die Angebote für Waren und Postlieferungen stabil.

Dann stellte sich entgegen allen Prophezeiungen heraus, dass die Termingeschäfte der Finity Luxusgüter betrafen, Artikel wie beispielsweise Downer-Wein.

Seltsam. Als Erstes wurde gemunkelt, die Finity würde sich lediglich die zwei Wochen im Dock ein wenig mit dem Handel beschäftigen, ein bisschen Unruhe stiften und die Waren dann im letzten Moment auf den Markt werfen, nachdem sie den Preis im Vorfeld hochspekuliert hatten – was nirgendwo erlaubt war, außer auf Pell. Der Markt war unsicher. Ein paar politische Analytiker, die dem Augenschein vertrauten, meinten, wenn die Finity auf eigene Kosten hochwertige Fracht kaufte, müsste die Piratenjagd so gut wie zu Ende sein, wie manche es bereits seit einiger Zeit prophezeiten – und wie es allmählich dringend nötig war. Die öffentlichen Mittel für eine Fortsetzung der Operation stellten eine schwere ökonomische Belastung dar.

Die andere Meinung war genau kontrovers, nämlich eine große Aktion gegen die Piraten stünde bevor, eine Operation, die jedoch absolut verdeckt laufen musste. Deshalb lud die Finity hochwertige Güter mit wenig Masse und bezahlte scheinbar mit eigenen Mitteln, damit es so aussah, als stünde die Piratenjagd nicht mehr auf ihrem Programm.

Die Zahl der von der früheren Flotte aufgebrachten Schiffe schwankte, selbst in offizieller Version. Im unendlichen tiefen Dunkel des Draußen konnte das Gegenteil nicht bewiesen werden, und vor allem in Anbetracht der geradezu legendären Gerissenheit der Flottenkapitäne, konnte man nie hundertprozentig sicher sein, ob ein bestimmtes Schiff wirklich zerstört worden war. Bei manchen ging man zwar fest davon aus, aber die Flottenkapitäne waren schlau und schwer festzunageln. Ein Mazianni-Träger mit seinen Riderschiffen war mehr als eine Geschützplattform, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegte: Es war eine bewegliche, unabhängige, in sich geschlossene Welt, potentiell tödlich und von enormer Widerstandsfähigkeit. Sofern er die nötige Zeit hatte, konnte sich ein schwer beschädigter Träger sogar wieder reparieren. Selbst wenn Pell einen Sieg verkündete, zogen sich womöglich einige überlebende Schiffe der Flotte zur sagenumwobenen geheimen Basis zurück, hielten sich eine Generation oder so dort verborgen, ehe sie zurückkehrten und den Rebellenkapitän Mazian plötzlich wieder zu einer wichtigen Person im menschlichen Mächtespiel machten.

Elene neigte zu einer Mischung dieser Vermutungen. Erstens war sie überzeugt, dass die Bedrohung durch Mazian eher ab- als zunahm. Zweitens aber war sie der Ansicht, dass das Ende der Piratenkriege ein Abflauen und nie ein beweisbarer Sieg sein würde, und dass drittens die schlimmste Gefahr für die menschliche Rasse nicht von einer größtenteils im Rückzug befindlichen Flotte ausging, Geheimbasis hin oder her. Schon so lange fungierte die Flotte als Schreckgespenst im Dunkeln, dass sie schon fast zum Mythos geworden war, so mächtig, dass sowohl Vertreter der Allianz wie der Union nur den unheilvollen Namen Mazian auszusprechen brauchten, und schon wurden die gewünschten Geldmittel genehmigt.

Die Kehrseite der Konzentration auf die Mazianni war, dass der Allianzrat sich weigerte, den Blick von der Flotte zu wenden und stattdessen auf seinen Hauptkonkurrenten zu blicken: die Union, den Feind, gegen den die Flotte gekämpft hatte, ehe sie sich dem Piratentum zuwandte.

Elenes Berater meinten, sie sei von gestern, besessen von historischen Ereignissen, unfähig, über das Desaster der Estelle hinwegzukommen. Sie sollte progressiver denken und die Bitterkeit eines Krieges vergessen, der in die moderne politische Landschaft nicht mehr passte.

Ganz und gar nicht.

»Sieben Jahre«, sagte Elene und näherte sich langsam ihrem Thema an, während die Kellner die leeren Salatteller abtrugen. Sie wusste, wer an den Nebentischen saß: zwei ihrer loyalen Assistenten und der erste politische Berater. Sie kannte diese Ecke des Restaurants, sie kannte den Geräuschpegel, die Akustik, die nicht sonderlich gut war. Sie hätte dem Chef die Haut über die Ohren gezogen, wenn er jemanden in ihre Nähe platziert hätte, der nicht ihr vollstes Vertrauen genoss – denn jeder, der jemals auf den Docks gearbeitet hatte, konnte von den Lippen ablesen, sodass der Kniff mit den Lichteffekten nicht mehr funktionierte, der ansonsten die Privatsphäre dieses Bereichs sicherstellte. »Niemand kann sieben Jahre auf ein gutes Essen warten, Finity. Wie stehen unsere Chancen, dass wir euch in Zukunft häufiger sehen?«

James Roberts Gesicht ähnelte einer Maske aus Pergament. Doch seine lebhaften Augen huschten sofort zu Elene und musterten sie aufmerksam.

»Die Chancen stehen ziemlich gut«, antwortete er und die Händler, die Luxusgüter vertrieben, hätten das sicher mit Interesse vernommen. »Vorausgesetzt, die Union benimmt sich anständig.« Der unvermeidliche Gegenschlag. Ein eindeutiges Jein. James Roberts, wie er leibte und lebte.

»Wir widmen uns ausschließlich dem ehrlichen Handel«, erklärte Francie. »Zumindest ist das unser Vorsatz.«

»Dem friedlichen Handel«, fügte Madison hinzu und hob sein Glas. »Cyteen und Mutter Erde werden es mit Verwirrung zur Kenntnis nehmen.«

»Auf den Frieden«, sagte Damon, wie immer eher der Politiker, und Francie und Allen leerten ihre Gläser bis auf den Grund.

Nun wurde der Hauptgang aufgetragen, ein Wirbel von Servierwagen und Kellnern, in dem die Kapitäne der Finity die Flasche herumgehen ließen und zum Entsetzen der Bediensteten eigenhändig Wein nachschenkten – sie waren eben Spacer bis ins Mark, und wenn die Kellner sich nicht schnell genug um die leeren Gläser kümmerten, taten sie es eben selbst, ohne Rücksicht auf Stationsetikette, so, wie sie es seit Jahrzehnten praktizierten. Sie waren unabhängig, äußerliche Regeln spielten für sie keine Rolle.

So haben es auch die Quens auf ihrem eigenen Deck gehalten, ging es Elene unwillkürlich durch den Kopf. Und jetzt hoffte und buhlte und trickste die fast Letzte der Quens, um dieses Recht wiederzuerlangen, und verfluchte im Stillen die Kellner, die im falschen Moment um sie herum wuselten.

In ihrer Macht lag es, die interne Regierung von Pell umzustimmen, die Hälfte der Allianz. Die Zustimmung des Rats der Kapitäne – das war der springende Punkt ihres Plans. Und das wiederum bedeutete, dass James Robert Neihart die Führung übernehmen musste.

»Eine schöne neue Welt des Friedens«, nahm sie den Faden wieder auf, als die Keller mit ihren Wagen wieder verschwunden waren und ehe das Gespräch sich einem anderen Thema zuwenden konnte. »Finity, ich habe euch ein Angebot zu unterbreiten. Zuallererst möchte ich euch noch einmal versichern, dass uns an dem Tisch hier niemand hören kann. Ich denke, das wisst ihr.«

James Robert hob das Kinn und betrachtete sie mit halb geschlossenen Lidern.

»Für mein Angebot brauche ich allerdings Geldmittel und Unterstützung vom Rat.«

Sobald sie mit ihrer Einleitung begonnen hatte, war Damon, ihrem Mann, schlagartig klar, was sie im Schilde führte. Sie wusste, dass er es wusste und sich jedes Gegenargument verkniff. Zwei Jahrzehnte waren Zeit genug, um alles, was man zu dem Thema sagen konnte, zu besprechen, und jetzt konnte er seine Frau nicht zurückhalten, komme, was wolle. Wenn die Finity's End gekommen war, um anzukündigen, dass der Krieg in eine neue Phase eingetreten war, wenn sich eine Veränderung der Lage abzeichnete – dann hatte Elene ihre Tagesordnung.

»Was für ein Angebot?«, fragte Madison. »Einen Wendepunkt? Ein Geschäft?«

»Beides«, antwortete sie. Die Besatzung der Finity war nie weit vom Puls der Ereignisse entfernt. Regelmäßig gaben die Mitglieder ihre Stimme beim Allianzrat ab, über das Netzwerk ihrer Schiffskontakte, die nicht auf den Hyperspace angewiesen waren, regulärer Schiffsverkehr, wie er an jedem Stationsdock einlief. »Frieden mit der Union, ja, Frieden und Handel, und Schiffe, Allianzschiffe. Auf Pell gebaut.«

»Darauf brauchen wir noch eine Flasche Wein«, meinte Madison.

James Robert, der Erste Kapitän, hatte noch nicht reagiert.

Elene winkte einem Kellner und bedeutete ihm, drei Flaschen zu bringen. Der Chef persönlich war in Sichtweite, und der Wein wurde prompt geliefert. Die uralte Etikette mit Flasche und Gläsern wurde durchgespielt, das Schicksal des Universums balancierte einen Augenblick auf einer Laune, einer traditionellen freundlichen Geste. Der Kellner füllte die Gläser und zog sich zurück.

In dieser Verhandlungspause spürte Elene ihren Mann, den Stationsbewohner, überdeutlich neben sich, ein geduldiger Mann, ein Heiliger geradezu, der wusste, dass die Frau, neben der er schlief, nie über den Verlust ihres Schiffes hinwegkommen und seine Heimat nie als ihre anerkennen würde. Nach zwei gemeinsamen Kindern und achtzehn Jahren des Zusammenlebens war zwischen ihnen nicht mehr die blinde Liebe, mit der sie einst zueinander gefunden hatten. Dafür hatten sie zu viel gesehen und getan, mit zu viel Verzweiflung. Aber jetzt vereinte sie eine lebenslange Verpflichtung zueinander, eine Partnerschaft, die Elene niemals gänzlich verraten würde, weil sie zu lange ihren gemeinsamen Interessen gedient hatte. Unter dem Tisch ergriff sie Damons Hand und hielt sie fest, ein Versprechen so stark wie ein Schwur, durchdringend wie ein Schrei.