Pendulum - Adam Hamdy - E-Book

Pendulum E-Book

Adam Hamdy

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Beschreibung

John Wallace erwacht und fühlt sich benommen. Orientierungslos schaut er sich in seiner Wohnung um. Und plötzlich wird ihm klar, dass jemand eine Schlinge um seinen Hals gelegt hat. Ein maskierter Mann trachtet nach seinem Leben. Als er den Stuhl unter Johns Füßen wegreißt, zieht sich die Schlinge zu. Johns letzte Minuten scheinen endlos. Hätte er bloß noch eine Chance! Wie durch ein Wunder wird ihm diese gewährt, und er kann sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten. Doch niemand will ihm seine Geschichte glauben. Nicht einmal, als der Täter zurückkehrt.

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Seitenzahl: 699

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Das Buch

John Wallace erwacht und fühlt sich benommen. Orientierungslos schaut er sich in seiner Wohnung um. Und plötzlich wird ihm klar, dass jemand eine Schlinge um seinen Hals gelegt hat. Ein maskierter Mann trachtet nach seinem Leben. Als er den Stuhl unter Johns Füßen wegreißt, zieht sich die Schlinge zu. Johns letzte Minuten scheinen endlos. Hätte er bloß noch eine Chance! Wie durch ein Wunder wird ihm diese gewährt, und er kann sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten. Doch niemand will ihm seine Geschichte glauben. Nicht einmal, als der Täter zurückkehrt.

Der Autor

Adam Hamdy war Strategieberater für internationale Firmen und Unternehmen, bevor er sich dem Schreiben von Drehbüchern und Romanen widmete. Aktuell entwickelt er die Serie Oracle für die BBC. Der Serienauftakt Pendulum ist sein erster Roman bei Heyne, weitere Bände sind in Vorbereitung.

ADAM HAMDY

PENDULUM

Dein Leben hängt am seidenen Faden

Thriller

Aus dem Englischen von Frank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Pendulum erschien 2017 bei Headline.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Deutsche Erstausgabe 05/2018

Copyright © 2017 by Adam Hamdy

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673, München

Redaktion: Lars Zwickies

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design unter Verwendung des Umschlags von craigfraserdesign.com

Umschlagabbildung: © Shutterstock (BortN66, Physicx)

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-21864-5V001www.heyne.de

Für Amy

T  E  I  L     E  I  N  S

London

1

ALS JOHN WALLACE das Brennen in seinem Hals spürte, wusste er sofort, dass er sich übergeben hatte. Er öffnete die Augen, doch es war immer noch dunkel. Seine Lider verdrehten sich, und die Wimpern klappten nach innen, als sie gegen die Augenbinde drückten. Sein Herz raste; erfüllt von nackter Panik schlug es wie ein Presslufthammer. Er kannte die Anzeichen einer Panik­attacke, aber diesmal fühlte es sich anders an, diesmal spielte ihm seine Psyche keinen Streich. Dieses Gefühl war äußerst real. Als er versuchte, seine Arme zu bewegen, spürte er die Fesseln an seinen Handgelenken. Sie waren erstaunlich weich, als wären sie aus Seide. Seine Fußgelenke waren ebenfalls gefesselt. Außerdem hatte man ihn bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Er hörte, wie sich in der Nähe jemand bewegte. Mehrere leise Schritte auf seinem dicken Teppich. Rühr dich nicht. Gib keinen Laut von dir.

Während Wallace den Geräuschen im Zimmer lauschte, versuchte er, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei Bewusstsein war. Plötzlich spürte er einen Luftzug und einen Schlag in die Magengrube. Er schrie auf.

»Bitte nicht«, sagte Wallace und merkte, dass seine Stimme vor Angst zitterte.

Jemand bewegte sich durch das Zimmer, und kurz darauf ertönten die vertrauten Anfangsakkorde von Rogues »Air«. Die Bässe dröhnten in voller Lautstärke aus den Boxen, und Wallace bereute es gleich doppelt, dass es ihm nicht gelungen war, weiter den Bewusstlosen zu spielen. Die laute Musik würde seine Hilfeschreie übertönen, und er brauchte dringend Hilfe. Er stellte sich vor, wie Leona, die temperamentvolle Feuerspuckerin aus der Wohnung über ihm, bei ihm klingelte, um ihn zu bitten, die Musik leiser zu stellen. Wie sie merkte, dass irgendetwas nicht stimmte, und die Polizei alarmierte. Aber von dieser Vorstellung verabschiedete er sich gleich wieder; Leona hatte sich noch nie über irgendwelchen Lärm beschwert. Genauso wenig wie die Levines, die unter ihm wohnten. Durch das massive Mauerwerk der umgebauten Kirche waren die Wohnungen gut isoliert. Außerdem hielten sich die Bewohner an die Devise »Leben und leben lassen«, sodass es selten Beschwerden gab.

Wallace hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber bis es an seine Tür geklopft und dieser Albtraum begonnen hatte, war er überzeugt gewesen, dass er als Einzelgänger möglichst unbeschadet durchs Leben kam. Echte Beziehungen verursachten nur Leid, darum pflegte Wallace mit anderen Menschen lediglich einen oberfläch­lichen, höf­lichen Umgang. Bis er von seinem Computer auf dem Schreibtisch aufgestanden war, war er überzeugt gewesen, dass man von den Menschen kaum etwas Gutes erwarten konnte. Sie hielten nichts weiter als Enttäuschungen, Verrat und Schmerz bereit. Aber jetzt, wehrlos und verängstigt, wurde ihm klar, dass eine einzige Person, nur eine einzige Person, seine Rettung bedeuten könnte.

Ein Geräusch. Irgendwo über ihm bewegte sich jemand. Irgendetwas schlug gegen einen der Holzbalken, auf den der aalglatte Immobilienmakler ihn hingewiesen hatte, als er ihm die umgebaute Kirche mit ihren zahlreichen Extras gezeigt hatte. Vom zweiten Stock aus blickte man durch die ursprüng­lichen Rundbogenfenster auf eine der teuersten Straßen Londons. Es gab hier einen Landschaftsgarten. Eine Wohnküche. Ein Ankleidezimmer. Und einen lichtdurchfluteten Wohnraum. Lauter Dinge, die ihm damals lebensnotwendig erschienen waren, jetzt aber nicht mal mehr eine Fußnote in seinem Leben abgeben würden. Das Einzige, was jetzt zählte, war Flucht.

Neben seinem Kopf rührte sich etwas. Wallace’ Herz raste noch schneller, und sein Atem wurde hektischer, als er erneut von Panik erfasst wurde. Irgendjemand – die Person, der er die Tür geöffnet hatte – bewegte seinen Kopf. Nein! Nein! Das kann nicht sein. Etwas wurde über seinen Kopf gezogen. Das geschieht nicht wirklich. Es ist nur ein Traum. Das hier ist nicht die Wirklichkeit. Nein!

Als sich die Schlinge zusammenzog, konnte Wallace die Realität nicht länger leugnen.

»Es geht leichter, wenn Sie stehen«, ertönte irgendwo über ihm eine tiefe, ernste Stimme. Es war eine fremde Stimme, und sie sprach mit einem undefinierbaren Akzent. Wallace klammerte sich an die vage Hoffnung, dass es sich bei der ganzen Sache um einen Streich handelte, den man zu weit getrieben hatte. Von einem Kollegen. Einem Freund. Oder einem der Nachbarn. Von jemandem, den er kannte und der es ihm heimzahlen wollte, weil Wallace ihn schlecht behandelt hatte. Aber diese Stimme war ihm völlig unbekannt. Falls es ein Scherz war, dann hatte jemand einen Schauspieler engagiert. Bitte lass es einen Schauspieler sein.

»Bitte«, sagte er heiser. »Bitte nicht.«

Wallace erinnerte sich an Kabul. Daran, wie die verurteilten Männer langsam auf die Galgen zugetrottet waren, während er sich fragte, warum keiner von ihnen einen Fluchtversuch unternahm. Er musste daran denken, wie er seine Wange gegen die Kamera gedrückt und durch den Sucher geblickt hatte, um in ihren Augen eine Antwort zu finden. Die Männer, Fußsoldaten einer militanten Gruppe mit dem Ziel, die afghanische Regierung zu stürzen, hatten ihre Köpfe gesenkt, und erst als sie die kleine Treppe erreichten, konnte Wallace die Augen des Mannes ganz vorne in der Reihe erkennen. Er hatte den Blick nach oben gerichtet, auf das Schicksal, das ihn erwartete, und während der Verschluss der Kamera zu rattern begann, um Bruchteile dieses Moments festzuhalten, sah Wallace den leeren, resignierten Ausdruck in den Augen des Mannes; jeg­liches Feuer, das die mensch­liche Seele mit Leben erfüllte, war darin erloschen. Du bist keiner von ihnen!, dachte Wallace und spürte, wie das Feuer in seinem Innern heftig loderte.

Wenn ich mich hinstelle, dachte Wallace, als ihm die Schlinge die Kehle zuschnürte, kann ich ihn vielleicht überrumpeln. Das ist zwar riskant, aber wenn ich überhaupt nichts unternehme, bin ich tot. Unbeholfen rappelte er sich auf, und das Seil, das sich straff um seinen Hals spannte, half ihm dabei. Sobald er stand, spitzte er die Ohren und lauschte, ob sich der Mann bewegte. Das Seil zerrte an seinem Hals und drückte gegen seine Luftröhre, aber es zog sich nicht weiter zusammen. Wallace spannte seine Muskeln an. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte er für einen Moment wie diesen trainiert. Er musste an seinen ersten Aikido-Lehrer Shiodin Bal denken, der ihm erklärt hatte, dass ein wahrer Kämpfer bereit sein müsse, den Tod als seinen Freund zu betrachten. Für einen vierzehnjährigen Jungen aus West Hampstead waren das ruhmreiche Worte, aber um die Kampftechniken, die er seitdem gelernt hatte, anwenden zu können, musste er seine Hände und Füße frei bewegen können. Wenn man mit einem Seil um den Hals zuschlug, war das weder anmutig noch ruhmreich, es ging dabei ums nackte Überleben.

Über ihm knarzte es, und er hörte eine weitere Bewegung. Wallace sprang in die Höhe und trat mit beiden Füßen um sich. Er ging mit vollem Einsatz zum Angriff über. Mit all seiner Kraft und vollem Risiko, ohne Kompromisse. Er stellte sich vor, wie seine Füße den Kopf des Angreifers trafen und der Mann der Länge nach hinfiel, wie er sich befreite und den erstaunten Polizeibeamten, die kurz darauf eintrafen, von seinem siegreichen Kampf erzählte. Aber die Wirklichkeit hatte etwas anderes mit ihm vor. Da Wallace gefesselt war, schaffte er es kaum, die Beine über Kniehöhe zu heben. Sie sausten ins Leere, und er landete auf dem Rücken, sodass sich das Seil bedrohlich spannte. Wenn sein Angreifer es nicht ein wenig gelockert hätte, wäre Wallace’ Hals unter seinem eigenen Gewicht gebrochen. Zu seiner Schmach musste er sich eingestehen, dass seine Aktion ein Fehlschlag gewesen war und dass das Ganze weniger wie ein Fluchtversuch, sondern eher wie ein Selbstmordversuch gewirkt hatte.

»Es geht leichter, wenn Sie stehen«, sagte die tiefe Stimme. Sie klang weder wütend noch verärgert, sondern sachlich, wie die eines Arztes, der einem Patienten seine Diagnose mitteilt.

Zitternd stellte Wallace sich wieder hin. Inzwischen lief auf der Anlage »Polarized« von Seven Lions. Ein eindring­liches, düsteres Stück; und zum ersten Mal hatte Wallace das Gefühl, es wirklich zu verstehen. Es ging darin um eine zweite Chance, es war eine Hymne an das Leben. Ich habe es nicht verdient, hier zu sterben. Aber Wallace wusste, dass dies das verzweifelte Flehen eines Dummkopfes war. Er hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass jeden Tag Zehntausende Menschen starben, die das genauso wenig verdient hatten.

»Bitte. Sie bekommen von mir alles, was Sie wollen.« Seine Augenbinde wurde von Tränen durchnässt, und das Zittern in seiner Stimme verriet, dass er jede Hoffnung aufgegeben hatte.

Dies war kein böser Streich, und es würde keine spektakuläre Flucht geben. Er war allein in diesem Zimmer mit einem Fremden, der die Schlinge um seinen Hals kontrollierte.

Der Mann bewegte sich, und etwas berührte Wallace’ Haut. Er zuckte zurück, dann wurde ihm klar, dass es sich um eine Hand handelte. Sie steckte in einem Handschuh. Aus Leder oder Gummi. Das Material fühlte sich kalt und elastisch an.

»Bitte nicht«, flüsterte er.

Die Hand packte seinen Arm und hielt ihn fest umklammert. Wallace spürte, wie sich zwischen seinen Handgelenken etwas bewegte, dann waren seine Arme plötzlich frei – man hatte die Fesseln durchschnitten. Er wurde von einem Gefühl der Erleichterung überwältigt, wie er es nie zuvor empfunden hatte, als der Mann auch die Fesseln an seinen Beinen durchtrennte.

»Danke, danke«, krächzte Wallace.

Es war ihm egal, wer dieser Mann war oder warum er ihn bestrafen wollte. Wallace würde ihm vergeben. Er hatte seiner eigenen Sterblichkeit ins Auge geblickt und eine Menge dabei gelernt. Lass an deiner Tür eine Kette anbringen, dachte er, während er, berauscht von einem Gefühl hysterischer Euphorie, innerlich kicherte. Trau keinem Fremden. Und schaff dir einen Hund an. Einen großen Hund.

Er spürte eine Berührung an seinem Kopf, und die Augenbinde fiel herunter. Sämt­liche Wertgegenstände in seiner luxuriösen Wohnung befanden sich noch an ihrem Platz; es handelte sich offensichtlich nicht um einen Raubüberfall. Aber von seinem Peiniger fehlte jede Spur.

»Du kannst die Schlinge jetzt abnehmen«, sagte Wallace zu sich selbst, während seine Zuversicht langsam zurückkehrte. Er versuchte, den Kopf zu drehen, aber das Seil hatte sich fest um seinen Hals gezogen. »Na schön!«, brüllte er mit heiserer Stimme.

Er spürte einen Anflug von Zweifel, und als er aus dem Augenwinkel bemerkte, wie eine Hand in einem schwarzen Handschuh einen seiner Küchenstühle in seine Richtung zerrte, löste sich seine Zuversicht in Wohlgefallen auf. Die Holzbeine des Stuhls glitten über die langen Fransen des Teppichs hinweg auf ihn zu.

»Steigen Sie da drauf«, befahl sein Angreifer und zog kräftig an dem Seil. Die Schlinge spannte sich und drückte so fest gegen Wallace’ Adamsapfel, dass er nicht mehr sprechen konnte und kaum noch Luft bekam. Er hasste seine Beine, denn sie machten sich selbst etwas vor, wenn sie glaubten, dass der Stuhl ihnen eine wohltuende Erleichterung verschaffen würde. Seine Beine, die zwanzig Kilometer am Stück im Laufschritt zurücklegen konnten, fielen auf eine Lüge herein. Er verfluchte seinen treulosen Körper, als dieser auf den Stuhl stieg und von der engen Schlinge weiter in die Höhe gezogen wurde. Beim Anblick des verwitterten Balkens bereute er seine Entscheidung, ihn auf Holzwürmer behandeln zu lassen, obwohl er laut Baugutachten nicht befallen gewesen war. Wallace wünschte, er hätte einmal in seinem Leben darauf verzichtet, alles perfekt zu machen. Dann wäre der Balken vielleicht von Ungeziefer zerfressen und würde unter dem Gewicht seines Körpers zusammenkrachen.

Da er die Augenbinde nicht mehr trug, konnte Wallace nun spüren, wie Tränen über seine kantigen Wangen liefen. Den eigenen Tod vor Augen, konnte er nicht länger die Tatsache leugnen, dass er ein völliger Versager war. Er hatte sein Geld damit verdient, das Leben anderer Menschen zu dokumentieren, statt selbst etwas aus seinem Leben zu machen. Er würde diese Welt verlassen, ohne irgendetwas bewirkt zu haben. Sein einziges Vermächtnis waren ein paar Fotos, an die sich bald niemand mehr erinnern würde. Wir sind alle schwach. Wir alle scheitern. Und dann sterben wir. Während Wallace den Balken anstarrte, verlor er auch den letzten Funken Hoffnung. Wie die Männer, die er in Kabul fotografiert hatte, spürte er nur noch Leere und Resignation.

Am Rand seines Blickfelds bewegte sich etwas. Wallace schaute nach unten, und was er dann sah, erfüllte ihn mit Furcht. Dort stand ein Mann in schweren schwarzen Stiefeln, schwarzer Lederhose und einer Art schwarzem Körperpanzer. Außerdem trug er eine schwarze Kampfmaske, deren Mundloch mit einem Drahtgeflecht bedeckt war, und eine Brille mit dunklen runden Gläsern. Wallace konnte darin seine eigene Reflexion erkennen – das grauenvolle Abbild jenes Geistes, in den er sich bald verwandeln würde. Ein langer Ledermantel mit einem dichten violetten Futter vervollständigte den Aufzug des Angreifers. Ein Superheld, schoss es Wallace düster durch den Kopf. Allerdings hatte die Gestalt vor ihm nichts Heldenhaftes an sich. Hinter der Maske spürte Wallace nur dumpfen Hass.

Wer war dieser Typ? Ein Serienkiller. Nein. Wenn das ein Serienmörder ist, gibt es keine Hoffnung mehr. So etwas darfst du nicht denken. Wallace vergaß seine Angst und überlegte, ob er in der Vergangenheit jemandem unrecht getan hatte. Frustriert stellte er fest, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte; ihm fiel nichts ein, was einen Mord gerechtfertigt hätte. Dieser Verrückte hatte sich den Falschen geschnappt.

»Sie haben den …«, begann Wallace, aber ihm blieben die Worte im Halse stecken, als sein Kehlkopf von der Schlinge zusammengedrückt wurde. Seine Angst verwandelte sich in Wut, und sein Körper brannte vor Zorn. Er würde grundlos sterben, weil dieses Monster sich in der Adresse geirrt hatte.

Er versuchte zu schreien, aber er konnte die Kehle nicht weit genug öffnen. Entsetzt beobachtete er, wie der maskierte Mann den Stuhl zur Seite trat.

Alles geschah jetzt wie in Zeitlupe.

Wallace spürte, wie er in der Luft hing, nichts hielt ihn jetzt mehr, die Gesetze der Schwerkraft waren außer Kraft gesetzt. Er war schwerelos, er schwebte, er würde ewig leben. Er würde sich ändern und noch mal von vorne beginnen. Seinem Leben einen Sinn geben. Vielleicht würde er jemanden finden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Connie … Warum fiel er jetzt? Das ist nicht richtig. Ich darf nicht sterben.

Plötzlich verlief die Zeit wieder normal, und Wallace stürzte in die Tiefe. Sein Körper zerrte mit seinem ganzen Gewicht an der Schlinge, die seinen Hals wie eine Zahnpastatube zusammenquetschte. Anders als die verurteilten Krieger in Kabul war Wallace nicht tief genug gefallen, um sich den Hals zu brechen, und er wusste, dass er langsam ersticken würde. Seine Hände umklammerten die Schlinge. Sie war unglaublich eng, die Fasern schnitten in seinen Hals und verschmolzen mit seiner Haut. Wallace’ Finger wanderten weiter nach oben, dorthin, wo das Seil hinter seinem Kopf in die Höhe führte. Er zog sich daran hoch, sodass sich die Schlinge nicht noch stärker spannte; aber sie lockerte sich auch nicht. Wallace war entsetzt, wie schwer sein Körper sich anfühlte und wie rasch seine Arme anfingen, vor Anstrengung zu brennen. Doch all die Stunden, die er im Fitnessstudio verbracht und wie ein Besessener seinen Körper in Form gebracht hatte, damit er den körper­lichen Anforderungen seiner Arbeit gewachsen war – sie würden sich schließlich auszahlen. Er würde sich befreien und seinen fehlgeleiteten Angreifer irgendwie überwältigen.

Zitternd versuchte er, sich in der Höhe zu halten. Er war stark, durchtrainiert und entschlossen. Er würde niemals aufgeben. Wenn er jetzt das Seil losließ, wäre er für seinen Tod fast genauso verantwortlich wie der maskierte Mann, der ihn in diese Lage gebracht hatte. Er würde sich an dem Seil zum Balken hochziehen, wo er außer Reichweite seines vermeint­lichen Mörders war. Beim Aikido hatte er gelernt, dass er der Meister seines Geistes und seines Körpers war. John Wallace würde nicht aufgeben.

Aber wie seine treulosen Beine ließen ihn auch seine Arme im Stich. Sie waren schwach, als er sie am dringendsten brauchte. Trotz seiner verzweifelten Aufforderung, die Schmerzen zu ignorieren, ließen sie los. Seine Beine zappelten in der Luft, als sein Hals das ganze Gewicht seines Körpers zu spüren bekam. Wallace begriff, dass es kein Entkommen gab. Ich sterbe.

Anders als die meisten Leute glauben, lief nicht wie im Zeitraffer sein ganzes Leben vor ihm ab. Stattdessen sah Wallace nur die schmerzlichsten Momente. Den Tod seiner Eltern. Die verstümmelten Körper der afghanischen Kinder, die ihn dazu gebracht hatten, das Land zu verlassen. Und Connie. Die warmherzige, wunderbare, zärt­liche Connie. Ihr trauriges, tränenüberströmtes Gesicht, das ihn voller Liebe ansah. Sie hatte recht gehabt, und jetzt bereute er umso mehr, dass er sie verlassen hatte.

Mit feuchten Augen blickte Wallace auf den maskierten Mann hinunter, der teilnahmslos dabei zusah, wie er langsam erstickte. Wallace’ Lungen, die voller verbrauchter Luft waren, brannten vor Verlangen, ihren Inhalt wieder loszuwerden. Seine Augen traten immer weiter aus den Höhlen. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen.

Reue war das letzte Gefühl, das Wallace empfand, bevor er das Bewusstsein verlor. Als seine Beine sich schließlich nicht mehr bewegten, baumelte sein träger Körper noch einen Mo­­ment hin und her. Wie ein Pendel, das die letzten Sekunden seiner Existenz anzeigte.

Der maskierte Mann wartete, bis Wallace’ Körper zum Stillstand kam. Dann nahm er zufrieden seinen nächsten Schritt in Angriff.

2

EIN STECHENDER SCHMERZ holte Wallace ins Bewusstsein zurück. Ein derart heftiger Schmerz, wie er ihn nie zuvor empfunden hatte. Nicht einmal als er in Kandahar angeschossen worden war; die Fleischwunde in seiner Schulter, die er sich dabei zugezogen hatte, kam ihm im Vergleich dazu harmlos vor. Wallace zwang sich, seine Schmerzen zu ignorieren, und stellte fest, dass er auf dem Rücken lag und mit schweren Holzstücken, Putz und Schutt bedeckt war. Der Balken war gebrochen. Der Balken war gebrochen! Er verspürte ein Gefühl der Euphorie, und die pure Freude, noch am Leben zu sein, durchflutete seinen Körper.

Der Balken, der auf Wallace’ Körper gelandet war, hatte schlagartig seine Lungen zusammengepresst und die verbrauchte Luft herausgedrückt, sodass er das Bewusstsein zu­­rück­er­langt hatte. Instinktiv zog er an der Schlinge und lockerte sie, um wieder Luft zu bekommen. Augenblicklich verspürte er ein Gefühl der Erleichterung, und sein Körper wurde von einer himmlischen Wärme durchströmt. Es war ein unvergleich­liches, berauschendes Gefühl. Sein Herz hämmerte und pumpte Adrenalin in jede seiner Zellen. Und diesmal ließen ihn Arme und Beine nicht im Stich; er stand auf und entfernte die Schlinge. Das Zimmer war leer, von seinem Angreifer fehlte jede Spur. Telefon. Polizei. Wallace’ Gehirn fing wieder an zu arbeiten.

Als er Richtung Tür lief, sah er, wie der maskierte Mann, der offensichtlich den Lärm gehört hatte, aus dem hinteren Bereich seiner Wohnung ins Zimmer gerannt kam. Er schien entsetzt, dass Wallace noch am Leben war. Der Mann zog unter seinem langen Mantel einen Gegenstand – einen Elektroschocker? – hervor. Wallace wartete nicht, bis sein Angreifer Gebrauch davon machte. Hau ab! Entfernung bedeutete Leben, Nähe Tod. Doch der Mann versperrte die einzige Fluchtmöglichkeit, den Durchgang zum Eingangsbereich mit der Wohnungstür. Dahinter lag die ausladende Treppe, die sich zwei Stockwerke hinunter zum Haupteingang der umgebauten Kirche wand. Der einzige Weg nach draußen führte an dem Killer vorbei. Und der war bewaffnet. Nein, es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wallace’ Beine setzten sich in Bewegung, bevor der Gedanke überhaupt richtig zu ihm durchgedrungen war. Lieber würde er es riskieren, bei der Aktion zu sterben, als hier seinem sicheren Ende entgegenzusehen.

Er sprang durch die Scheibe des großen Wohnzimmerfensters und hörte sich selbst schreien, während er zwei Stockwerke in die Tiefe stürzte und mit dem Rücken auf dem gepflegten Rasen im Vorgarten aufschlug. Selbst in London, wo die Menschen es gewohnt waren, auch die schlimmsten Geräusche zu ignorieren, würde der Lärm, den sein Sprung verursachte, Aufmerksamkeit erregen. Aber Wallace wollte nicht, dass man ihn hier fand, nicht in Sichtweite des Mannes, der versucht hatte, ihn zu töten. Er kämpfte gegen die Dunkelheit an, die sich langsam auf ihn herabsenkte, und blickte Richtung Fenster. Der Killer schob seinen Kopf durch das gezackte Loch in der Scheibe und schaute zu Wallace hinunter, bevor er wieder im Innern verschwand. Er kommt runter.

Wallace spürte, wie die Dunkelheit immer schwerer auf ihm lastete und ihm langsam die Sinne schwanden. Er musste wach bleiben. Er griff sich an die schmerzende Brust und berührte etwas Knochiges, Feuchtes – eine frei liegende Rippe. Er drückte kräftig dagegen. Der einsetzende Schmerz war so heftig, dass er wie ein glühender Laser durch sein benebeltes Hirn schnitt und seine Lebensgeister wieder weckte. Wallace erhob sich wankend vom Boden, wobei er in fast jeder Faser seines Körpers ein unerträg­liches Stechen verspürte, und taumelte durch den Vorgarten auf die Straße.

Der Tod ist hinter dir her. Denk nach. Los. Mach schon. Wallace hatte zwar einen kreativen Beruf, aber hier ging es nicht um die richtige Beleuchtung oder die perfekte Bildkomposition, das hier war die Wirklichkeit. Er war schwer verletzt und kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Er trug keine Kleidung, hatte weder Geld noch eine Waffe. Er dachte daran, seine Nachbarn um Hilfe zu bitten, während er die Hamilton Terrace hinunterwankte. Aber das hier war eine von Londons exklusivsten Adressen, und niemand würde einem verletzten Irren an einem dunklen Septemberabend die Tür öffnen.

Er stürzte die Abercorn Place hinunter, und die leicht ab­­schüssige Straße führte ihn in das dichte Gedränge auf der Maida Vale. Die gelb lackierten Ampeln, die über der viel befahrenen Straße hingen, sahen aus wie die leuchtenden Herzen von Engeln. Rettung, dachte Wallace. Falls er sich nicht geirrt hatte und der Mann ihn verfolgte, war er in der anonymen Masse am sichersten – im hektischen Treiben der Stadt würde der Killer keine zweite Chance bekommen. Die Rushhour war längst vorbei, und die Fahrzeuge kamen auf der Maida Vale ungehindert vorwärts. In der Abercorn Place konnte Wallace seinen Angreifer nirgends entdecken. Aber dann bemerkte er, wie in einem der Vorgärten eine Gestalt über eine Mauer kletterte – er wurde verfolgt.

Angetrieben von seiner Furcht, stolperte Wallace auf eine Bushaltestelle zu, an der einer von Londons Doppeldeckerbussen gerade seine Fahrgäste ablud. Gegen den Bus gelehnt, wartete er, bis die Pendler ausgestiegen waren, und als die Türen sich wieder schlossen, schob er sich ins Innere. Falls der Fahrer ihn bemerkt hatte, sagte er nichts. Wahrscheinlich machte er diesen Job schon lange genug, um zu wissen, dass es zwecklos war, sich mit irgendwelchen Irren wegen des Fahrscheins zu streiten. Mit letzter Kraft schleppte Wallace sich nach oben. Er nahm die angewiderten Blicke der anderen Fahrgäste kaum wahr, während er sich seinen Weg durch das Oberdeck bahnte. Als einer der wenigen rücksichtsvollen Autofahrer in London dem Bus schließlich Platz machte und sich das Fahrzeug in Bewegung setzte, sackte Wallace auf einem Platz im hinteren Bereich zusammen. Seine Sitznachbarn warfen ihm besorgte Blicke zu und eilten nach vorne. Aber das war Wallace egal. Er lehnte sich gegen die kalte Glasscheibe und sah aus dem Fenster, um die Vorgärten in der Abercorn Place nach seinem Angreifer abzusuchen. Aber er war nirgends zu sehen, und Wallace entspannte sich. Während der Bus die Maida Vale entlangfuhr, spürte er, wie die sanfte Wärme des Adrenalins allmählich nachließ und er von einer angenehmen Dunkelheit umhüllt wurde.

3

ALS WALLACE WIEDER zu sich kam, geisterte ein einzelnes Wort durch seinen Kopf: Selbstmord. Er hatte es in den letzten Tagen oft zu hören bekommen, während er wie durch ein Kaleidoskop alles um sich herum nur bruchstückhaft wahrnahm. Selbstmord. Selbstmordversuch. Selbstmordgefahr. Er hatte versucht, den Vorfall zu erklären, aber das war ihm nicht besonders gut gelungen. Die Welt rauschte wie in einer Bildertrommel an ihm vorbei. Hin und wieder konnte er verschwommen etwas erkennen und erlag der Illusion, dass er eine Verbindung zur Wirklichkeit hergestellt hatte, aber in Wahrheit hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Er wusste nur, dass alles um ihn herum von großer Dringlichkeit zu sein schien. Doch das war ihm egal. Jedes Mal, wenn er bei Bewusstsein war, hatte er das Gefühl, als wäre er von einem Meer aus flauschigen weißen Wolken umgeben, und wenn er schlief, wurde er von lebhaften Albträumen heimgesucht. Diese Träume waren so Furcht einflößend, dass ihm alles andere wie die reinste Glückseligkeit vorkam. Benommen und sabbernd kam er immer wieder zu sich, während sich die Bildertrommel immer weiter drehte. Ärzte operierten, und Schwestern saugten Flüssigkeit ab, Pfleger schoben ihn durch die Gegend, und Anästhesisten ließen ihn rückwärts zählen. Da waren grelle Lichter, glänzender Stahl und Blut, aber das Leben ging weiter. Und das war das Wunderbare: Er war am Leben. Wallace konnte sich noch an den eisernen, unerbitt­lichen Griff des Todes erinnern, weshalb alles, was danach kam, die helle Freude war. Jeden Atemzug, jedes Augenblinzeln, jede noch so kleine Regung hatte er dem Mann abgerungen, der versucht hatte, ihn zu töten. Immer wieder kam er zu Bewusstsein und konnte seine Umgebung nur schemenhaft erkennen, während er sich an einem Ort ohne Zeit und Bedeutung befand.

Schließlich wachte er auf. Diesmal ist es anders, dachte Wallace, als er sich im Krankenhauszimmer umschaute. Er nahm sich selbst jetzt deutlich wahr und hatte einen klaren Kopf. Er vermutete, dass man die Dosis der Schmerzmittel herabgesetzt hatte. Seit er für einen Auftrag drei Monate in Nepal verbracht hatte, war er mit der Wirkung von Betäubungsmitteln ein wenig vertraut, und er spürte tief in seinen Eingeweiden leichte Entzugserscheinungen.

Ein Lamellenvorhang zerschnitt das Sonnenlicht, das durch die Milchglasscheibe in Wallace’ Einzelzimmer fiel. Es handelte sich um ein normales Krankenhauszimmer mit einem elektrischen Bett, einem Rollwagen in der Ecke, einem Ständer mit einem Beutel voller durchsichtiger Flüssigkeit, von dem ein Schlauch zu seinem Arm führte, einem Herzfrequenzmonitor, einem Fernseher an der Wand und einer alten Dame. Sie lächelte, als Wallace’ Blick zu ihr zurückwanderte. Sie saß in einem niedrigen Stuhl, der gegenüber von seinem Bett an der Wand stand. Sie trug einen geblümten Pullover und einen langen schwarzen Rock, und sie hielt ein Buch in der Hand: Verfall und Untergang des Römischen Imperiums von Edward Gibbons. Ihre großen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Anteilnahme und Mitleid an. Sollte ich dich kennen? Vergeblich versuchte Wallace, das Gesicht einzuordnen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte die alte Dame.

»Ganz okay«, krächzte Wallace heiser.

Die alte Dame stand auf und ging zu dem Rollwagen, um aus einer Plastikkanne Wasser in ein Glas zu gießen.

»Es hieß, dass Sie Schwierigkeiten haben würden zu sprechen«, sagte sie, während sie ihm das Glas brachte. »Das hilft vielleicht ein wenig.«

Wallace nickte dankbar und nahm einen Schluck. Sofort verkrampfte sich seine Kehle, als hätte er eine schlimme Mandelentzündung. Er formte mit den Lippen einen stummen Fluch und verzog das Gesicht, während er der alten Dame das Glas hinhielt.

»Es wird vielleicht ein Weilchen dauern«, erklärte sie und stellte das Wasser auf dem Wagen ab.

»Polizei«, krächzte Wallace und spürte ein Brennen im Hals.

»Nein, ich bin eine von den Freiwilligen. Wir kümmern uns um die Patienten, die stärker …«, die alte Dame zögerte, suchte nach dem richtigen Wort, »… gefährdet sind.«

Er stand also wegen Selbstmordgefahr unter Beobachtung. Großartig. Wallace warf der alten Dame einen Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Polizei«, wiederholte er und hoffte inständig, dass sie ihn diesmal verstand. Denn er wusste nicht, ob seine Kehle einen weiteren Versuch verkraften würde.

»Oh!«, rief sie, als sie plötzlich begriff. »Sie wollen, dass ich die Polizei verständige. Natürlich. Ich werde eine der Schwestern bitten, sie anzurufen.«

Wallace war überrascht, wie müde er war. Sein Versuch, sich verständlich zu machen, hatte ihn völlig erschöpft. Kurz nachdem die alte Dame das Zimmer verlassen hatte, verlor er das Bewusstsein und kam erst wieder zu sich, als jemand sanft seine Schulter berührte. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann erkannte er eines der Gesichter aus der Bildertrommel wieder; es handelte sich um einen Arzt.

»Mary hat mir gesagt, dass Sie wach sind«, erklärte der Doktor. »Wir haben uns gefragt, ob Sie uns Ihren Namen sagen können.«

Der Arzt trug kein Namensschild. Wallace schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er sprach mit einem ausgeprägten afrikanischen Akzent und hatte ein ernstes, unfreund­liches Gesicht, was Wallace’ Gefühl der Paranoia noch verstärkte.

Er fasste sich an den Schädel und schüttelte den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich nicht an seinen Namen erinnern könne.

»Sie wissen ihn nicht?«

Wallace nickte.

»Merkwürdig. Sie haben keinerlei neurologische Schäden erlitten«, sagte der Arzt. »Ihr Gehirn ist eines der wenigen Körperteile, das unversehrt geblieben ist. Sie haben schwere Prellungen an Armen und Beinen, außerdem drei gebrochene Rippen, einen offenen Bruch, eine Fraktur des Schlüsselbeins sowie Schnittwunden am Hals und Quetschungen der Luftröhre.«

Wallace’ Augen weiteten sich.

»Sie können von Glück sagen, dass Sie noch am Leben sind«, sagte der Arzt, während er Wallace verwundert musterte. »Ich werde einen weiteren MRT-Scan machen lassen, um sicherzugehen, dass wir nichts übersehen haben.«

Wallace lächelte und nickte.

»Draußen wartet ein Polizeibeamter. Glauben Sie, Sie können mit ihm sprechen?«

Wallace nickte mit so viel Nachdruck, wie es sein verletzter Hals zuließ.

»Falls Sie Hilfe benötigen, drücken Sie einfach auf den Knopf«, sagte der Arzt und deutete auf den grünen Drücker, der an einem Kabel neben dem Bett hing.

Wallace lächelte und hob zum Dank die Hand, als der Arzt das Zimmer verließ. Einen Moment später öffnete sich die Tür, und ein junger, dunkelhäutiger Mann in einem abgewetzten, zerknitterten Anzug betrat das Zimmer.

»Hi, ich bin Detective Sergeant Bailey. Der Arzt hat mir gesagt, dass Sie sich nicht mehr an Ihren Namen erinnern können. Wie soll ich Sie nennen?« Bailey war groß gewachsen und schlank, und seine runden Wangen verliehen seinem Gesicht ein kind­liches Aussehen. Dadurch wirkte er vermutlich freund­licher und zugäng­licher, als er tatsächlich war. Er hatte kurz geschorene Haare, wahrscheinlich um seinem Auftreten eine bedroh­liche Note zu verleihen.

»John«, sagte Wallace mit heiserer Stimme.

»John. Okay, John, wie kann ich Ihnen helfen?«

Wallace gab dem Beamten ein Zeichen, näher ans Bett zu rücken. Da jedes seiner Worte ihm Schmerzen bereitete, wollte er nichts wiederholen. Bailey rutschte näher heran, und Wallace blickte in seine intelligenten Augen.

»Jemand hat versucht, mich umzubringen«, krächzte Wallace.

»Okay. Jemand hat versucht, Sie umzubringen«, wiederholte Bailey mit einer gehörigen Portion Skepsis.

Wallace starrte ihn wütend an. »Ein Mann mit Körperpanzer«, brachte er unter Schmerzen hervor.

»Ich wollte Sie nicht verletzen«, sagte Bailey. Wallace schätzte den Beamten auf Mitte zwanzig. Jung genug, um noch neugierig zu sein, aber alt genug, um zu wissen, dass die Dinge nicht immer waren, wie sie schienen. »Aber … Nun, die Krankenakten sind zwar vertraulich, aber ich habe draußen eine Weile gewartet, und ich weiß, dass man sehr viel mehr erfährt, wenn man sich bei einem Tässchen Tee ein wenig mit den Schwestern unterhält. Sie sagten mir, dass Ihre Verletzungen auf einen Selbstmordversuch hindeuten würden und dass Sie nach dem misslungenen Versuch womöglich in Panik geraten seien. Man hat Sie bewusst­los in einem Bus in der Victoria Station gefunden.«

Wallace hatte zwar abtauchen wollen, aber er konnte nicht fassen, dass er bis zum Busbahnhof gefahren war, ohne dass einer der Fahrgäste die Polizei verständigt hatte. Er zuckte innerlich mit den Achseln: London, die Stadt, in der man sich lieber nicht einmischt.

»Ein Mann hat versucht, mich umzubringen«, beteuerte er. Seine heisere Stimme klang bedrohlich und nur wenig menschlich.

»Ich hatte noch nicht oft mit Situationen wie dieser zu tun«, antwortete Bailey. »Aber ich weiß, dass vielen Menschen so etwas unangenehm ist. Statt zuzugeben, was passiert ist, sagen sie lieber Sachen wie ›Ich weiß auch nicht, wie ich vor dem Zug gelandet bin, ich muss ausgerutscht sein‹ oder ›Ich habe die Tabletten falsch abgezählt, eigentlich wollte ich nur zwei nehmen und nicht sechzig‹.«

Er lächelte Wallace an, der noch gar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass er die Polizei davon überzeugen musste, dass man ihn überfallen hatte.

»Kein Selbstmord. Mord«, krächzte Wallace. »Habe gearbeitet. Dann klopfte es an die Tür …«

Er spürte, wie alles um ihn herum langsam dunkler wurde. Seine Brust verkrampfte sich, ihm wurde schwindelig, und er konnte alles nur noch verschwommen erkennen. Er spürte, wie sein Herz hämmerte und seine Handflächen feucht wurden. Die Erinnerung an die Ereignisse versetzte ihn in Angst und Schrecken. Wie bei einer seiner Panikattacken nahm er alles nur noch durch einen Schleier wahr, und während ihm die Sinne schwanden, entfernte sich die Wirklichkeit wie in einer Blase immer weiter von ihm.

Bailey rückte näher. »Alles in Ordnung?«

Wallace nickte, doch dann schüttelte er den Kopf. Kämpf nicht dagegen an. Atme. Er konzentrierte sich auf seine Atmung. Atme ruhig und tief. Seine verkrampfte Brust entspannte sich.

»Ich bin gestorben«, flüsterte er. »Eigentlich sollte ich nicht hier sein.«

»Alles schön der Reihe nach«, sagte Bailey, und seine skeptische Haltung wich einer ernsthaften Professionalität. »Haben Sie wirklich Ihren Namen vergessen?«

Wallace zögerte. Jemand hatte versucht, ihn umzubringen, und er hatte oft genug Der Pate gesehen, um zu wissen, dass im Krankenhaus meistens ein zweiter Mordversuch unternommen wurde. Bailey zog Block und Stift hervor und blickte ihn er­­wartungsvoll an.

»Versprechen Sie mir, niemandem davon zu erzählen«, sagte Wallace leise.

»Alle Notizen sind vertraulich. Sie werden nur in den Akten abgelegt, wenn es zu einer Verhaftung kommt, und dann müssen Sie sich deswegen keine Sorgen mehr machen. Ihnen passiert nichts, versprochen«, beruhigte Bailey ihn.

»John Wallace.«

»Ihre Adresse?«, fragte Bailey.

»Apartment vier, 61 Hamilton Terrace, St John’s Wood«, sagte Wallace.

Bailey stieß einen leisen Pfiff aus. »Nette Gegend. Wo arbeiten Sie?«

»Überall. Ich bin Fotograf.«

»Macht Ihnen der Job Spaß?«

Wallace kniff die Augen zusammen. »Ich habe nicht versucht, mich umzubringen«, krächzte er.

»Leben Sie alleine?«, fuhr Bailey fort.

Wallace nickte.

»Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist?«, fragte Bailey leise.

Wallace zögerte. Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg, als er in Gedanken zu jenem Abend zurückkehrte. Bailey legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ist schon okay. Sie sind in Sicherheit.«

»Es war zehn Uhr«, sagte Bailey. »Habe gearbeitet. Bilder hochgeladen. Dann klopfte es an die Tür.«

»Gibt es im Gebäude einen Türöffner?«

Wallace nickte.

»Und Sie haben den Mann nicht reingelassen?«

Wallace nickte erneut.

»Also, entweder hat einer Ihrer Nachbarn ihn reingelassen, oder er ist eingebrochen«, stellte er fest.

»Ich habe die Tür geöffnet«, fuhr Wallace fort. »Aber da war niemand. Dann hat man mir etwas ins Gesicht gesprüht. Ich wurde bewusstlos. Als ich zu mir kam, trug ich eine Augenbinde. Hände und Füße waren gefesselt. Dann wurde eine Schlinge …« Er verstummte.

»Ist schon okay«, redete Bailey ihm behutsam zu. »Ich muss wissen, was passiert ist.«

Wallace wischte sich die Tränen aus den Augen und beruhigte sich wieder. »Ich hatte eine Schlinge um den Hals«, flüsterte er. »Dann musste ich mich hinstellen. Mir wurde die Binde abgenommen.«

»Haben Sie den Mann gesehen?«, fragte Bailey.

Wallace schüttelte den Kopf. »Da noch nicht. Er hat die Fesseln durchgeschnitten und mich gezwungen, auf einen Stuhl zu steigen. Dann sah ich ihn. Er trug eine schwarze Maske und einen schwarzen Anzug. Dazu eine dunkle, runde Brille und einen langen Mantel. Wie ein Superheld.«

»Sie konnten sein Gesicht also nicht sehen?«

Wallace schüttelte den Kopf.

»Wie groß war er? Wie war er gebaut?«, fragte Bailey.

»1,80 Meter. Vielleicht auch größer. Kräftig gebaut.«

»Hat er irgendwas gesagt?«, fragte Bailey. »Hat er Ihnen einen Grund genannt?«

Wallace schüttelte erneut den Kopf. »Er hat nur …« Seine Erinnerung setzte ihm schwer zu, und seine Brust hämmerte, während seine Furcht sie unerbittlich zusammendrückte. Es schnürte ihm die Kehle zu, sodass er kaum Luft bekam.

»Ist schon okay«, sagte Bailey und tätschelte mit der Hand sanft Wallace’ Schulter. »Alles ist gut. Sie sind in Sicherheit.«

Wallace versuchte, seine Panik zu unterdrücken, aber es handelte sich um eine irrationale Kraft. Er wusste, dass er sich vor nichts zu fürchten brauchte, doch wie sehr er auch dagegen ankämpfte, dieses Gefühl war stärker und mächtiger als er. Jener Instinkt, der über Millionen von Jahren an jedes Säugetier weitergegeben worden war, um sein Überleben zu sichern, und der beim ersten Anzeichen für Gefahr einen Kampf-oder-Flucht-Impuls auslöste, dem ein verletzter Mann im Krankenhausbett nicht nachkommen konnte. Selbst unter Aufbringung all seiner Vernunft konnte man dieses urzeit­liche Gefühl nicht abschütteln.

»Tut mir leid«, krächzte er.

»Ist schon okay«, sagte Bailey mitfühlend. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

Wallace wusste nicht, wie lange er dort lag, ohne etwas zu sagen, während er versuchte, die Angst zu unterdrücken.

»Er hat den Stuhl weggetreten«, sagte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte. »Ich hing dort. Und habe versucht, mich nach oben …«

Erneut wurde er von Panik erfasst, während Bailey voller Mitgefühl abwartete.

»Habe versucht, mich nach oben zu ziehen«, fuhr Wallace schließlich fort. »Aber ich konnte mein Gewicht nicht halten und habe losgelassen.«

Er wurde von seinen Gefühlen überwältigt, während er da­­ran dachte, wie jämmerlich er versagt hatte. Er hatte sein eigenes Leben buchstäblich in den eigenen Händen gehalten und weggeworfen. Er wurde von Furcht und Scham, Wut und Reue überwältigt, während er schluchzend in seinem Krankenhausbett lag. Seine Augen röteten sich und schmerzten, und seine Kehle brannte. Das hier ist wichtig, sagte er sich. Dieser Polizist muss dir glauben. Er muss da rausgehen und den Mann finden, der dir das angetan hat. Seine Wut gewann schließlich die Oberhand und gab ihm die Kraft fortzufahren.

»Ich verlor das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, war der Balken gebrochen. Ich stand auf und nahm die Schlinge ab. Dann kam der Mann zurück.«

»Er war noch in Ihrer Wohnung?«, fragte Bailey.

Wallace nickte.

»Warum? Er musste doch davon ausgehen, dass er Sie getötet hatte«, stellte Bailey verwundert fest.

»Er versperrte mir den Weg und zog einen Gegenstand ­hervor – einen Elektroschocker vielleicht. Ich konnte mich nicht zur Wehr setzen, darum bin ich aus dem Fenster ge­­sprungen.«

»Sie sind aus dem Fenster gesprungen?«

»Aus dem zweiten Stock. Der Mann hat mich verfolgt, und ich habe mich mit dem Bus in Sicherheit gebracht. Und jetzt bin ich hier.«

Bailey dachte einen Moment lang über Wallace’ Geschichte nach, dann fragte er: »Fällt Ihnen jemand ein, der einen Grund haben könnte, Sie umzubringen?«

Wallace schüttelte den Kopf.

»Eine Exfreundin vielleicht? Ein verärgerter Geschäftspartner? Haben Sie sich je mit gefähr­lichen Leuten eingelassen? Mit Kriminellen?«

»Ich hatte nicht viele Freundinnen«, antwortete Wallace. »Ich lebe allein, arbeite allein. Meistens für irgendwelche Filmproduktionen. Das ist nicht gefährlich.«

»Ist in letzter Zeit irgendjemand wütend auf Sie gewesen?«, bohrte Bailey nach.

»Nein«, krächzte Bailey zögerlich. »Ich habe vor dem Masterson-Ausschuss ausgesagt«, gab er schließlich zu.

»Ich wusste doch, dass ich Ihren Namen irgendwoher kenne«, sagte Bailey. »Glauben Sie, dass der Vorfall etwas damit zu tun hatte?«

»Das ist lange her«, sagte Wallace. »Man hat mir nicht geglaubt. Ich stelle also keine Gefahr für diese Soldaten oder sonst jemanden dar.«

»Okay«, sagte Bailey. »Ich werde die Sache überprüfen und mit Ihren Nachbarn reden, um herauszufinden, ob jemand etwas gesehen oder gehört hat. Gibt es irgendjemanden, den ich für Sie anrufen soll?«

Wallace schüttelte den Kopf. Solange er nicht in einer besseren Gemütsverfassung war und nicht wusste, wer versucht hatte, ihn umzubringen, würde er niemandem vertrauen.

»Soll ich die Mitarbeiter im Krankenhaus darüber informieren?«, fragte Bailey.

»Nein.«

»Ich frage Sie das, weil man sie als psychisch krank eingestuft hat. Die Ärzte glauben, dass Sie eine Gefahr für sich selbst darstellen. Wenn sie wüssten, was passiert ist, würden sie Ihren Zustand vielleicht anders beurteilen.«

Wallace lächelte finster. »Glauben Sie mir etwa nicht?«

»Sie haben offenbar ein schreck­liches Martyrium durchlebt, aber es ist mein Job herauszufinden, was genau passiert ist«, erwiderte Bailey. »Ich nehme alles, was Sie mir erzählt haben, sehr ernst.«

Wallace zuckte leicht mit den Schultern. Mehr konnte er unter diesen Umständen nicht erwarten.

»Soll ich die Ärzte also darüber informieren?«

»Nein. Niemanden. So bin ich sicherer.«

»Ich werde mich bei Ihnen melden«, sagte Bailey und ging zur Tür. »Gute Besserung.«

Während Wallace beobachtete, wie der junge Polizist das Zimmer verließ, wurde ihm klar, dass er all sein Vertrauen und sein Leben in die Hände eines Fremden gelegt hatte. Er hoffte, dass es sich auszahlen würde, und betätigte den Drücker, um die Schwester zu rufen. Er wollte jetzt schlafen. Was auch immer man ihm verabreicht hatte, er brauchte mehr davon. Er wollte nicht, dass er in diesem trostlosen Krankenhauszimmer von den grauenvollen Erinnerungen an den Mordversuch heimgesucht wurde.

4

DIE ZEHEN DES Mädchens erinnerten Wallace an die umgestürzten Säulen, die er in Karnak fotografiert hatte. Jede davon bestand aus drei markanten Gliedern, die eine krumme Linie bildeten. Wallace musterte ihr Gesicht. Unter ihrer blassen, pockennarbigen Haut ragten kantige, fast schartige Wangenknochen hervor. Ihre eingesunkenen Augen waren von dunklen Ringen umgeben, und die verfilzten Locken ihres strähnigen blonden Haars verdeckten einen Großteil ihres Gesichts. Überall an ihrem Körper standen Knochen hervor, angefangen von den Schlüsselbeinen, deren scharfe Konturen ihren schmalen Hals noch stärker zu Geltung brachten, bis hin zu den runden Fußknöcheln. Das Mädchen hieß Heather und erzählte irgendetwas, doch Wallace hörte ihr nicht richtig zu. Er hatte ihre Geschichte schon so oft gehört, ihre Worte bargen für ihn kein Geheimnis mehr. Stattdessen suchte er in ihrer zerbrech­lichen, deformierten Schönheit nach einer Antwort. In ihren Rippen, die wie die gewölbten Stäbe eines grausigen Glockenspiels stufenförmig über ihren Oberkörper verliefen und sich unter ihrer dünnen weißen Bluse abzeichneten; in ihren aufgeschürften Ellbogen und Knien, an denen sich die Haut straff über die Gelenke spannte; in den Unterarmknochen, die an den Handgelenken mit Schweißbändern bedeckt waren. Hin und wieder befingerte Heather nervös eines der Bänder, und Wallace erhaschte einen flüchtigen Blick auf die weißen Narben darunter.

Heather war das traurigste Mädchen der Welt; sie war zu zerbrechlich, um glücklich zu sein, und zu stark, um sich einfach davonzustehlen. War sie schon bei der Geburt unglücklich gewesen? Oder hatten die Widrigkeiten des Lebens ihr derart zugesetzt, sie zermürbt, bis nichts als Leid übrig geblieben war? Wallace betrachtete ihre schmalen Lippen, die sich langsam bewegten, während sie ihren Gedanken Gehör verschafften, ohne dabei die Wahrheit preiszugeben. Er betrachtete Heathers Augen. Dort, hinter den dunklen Ringen und roten Rändern, lag die Wahrheit: Schmerz. Das Leben hielt für Heather nichts als Schmerz bereit. Sie war gefangen in ihrem Leid, aber das würde sie niemals zugeben. Vielleicht hegte sie die Hoffnung, dass sich ihr Zustand irgendwann bessern würde. Aber wahrscheinlich wollte sie Dr. Taylor nicht von ihren seelischen Abgründen erzählen, weil er ihrer Entlassung dann vielleicht nie zustimmen würde und sie keinen weiteren Versuch unternehmen konnte, dem Schmerz endgültig zu entfliehen.

Sie hielten gerade ihre Gruppensitzung ab, also musste es entweder Dienstag oder Donnerstag sein. Wallace hatte Schwierigkeiten, die Tage auseinanderzuhalten. Die Gruppe. Fünf verzweifelte Individuen. Mit ihm waren es sechs Personen. Mit dem Arzt sieben. Wallace hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Dr. Taylor während der Sitzungen zu beobachten. Sein glänzendes, volles, gewelltes Haar, seine gebügelten Hemden und polierten Schuhe, sein Mont-Blanc-Kugelschreiber und die Gucci-Brille waren allesamt Insignien seiner geistigen Gesundheit. Symbole der Zivilisation, die bezeugten, dass Taylor ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft war. Nur Wallace wusste, wie es wirklich in ihm aussah. Als Einziger in der Gruppe, der geistig halbwegs gesund war, erkannte er die Anzeichen dafür: die zöger­lichen Fragen des Arztes, seine zweifelnden Augen, seine angsterfüllte Stimme. Taylor konnte zwar besser lügen als Heather, aber Wallace wusste, dass der Arzt genauso verzweifelt war wie seine Patienten. Es konnte gar nicht anders sein. Niemand bei geistiger Gesundheit würde sich mit so viel Leid umgeben. Er musste verrückt sein, wenn er glaubte, dass er diese Leute tatsächlich retten konnte. Heute war erst Wallace’ fünfte, nein, sechste – du musst die Sache mit der Zeit in den Griff bekommen – Gruppensitzung, aber ihm war bereits klar, dass Heather und den anderen Überlebenden nicht zu helfen war. Sie konnten höchstens hoffen, dass man sie wieder so weit auf Vordermann brachte, damit sie als gestörte Persönlichkeiten ein paar weitere Jahre voller Leid durchleben konnten. Der unsäg­liche Schmerz, von dem die Menschen in diesem Zimmer berichteten, machte Wallace schwer zu schaffen. Taylor konnte nicht geistig gesund sein und sich alldem hier entziehen. Das umsichtige, strahlende Lächeln des Arztes und sein ganzes Wissen würden seinen Patienten nichts nutzen; es wäre verrückt, etwas anderes anzunehmen. In einer der früheren Sitzungen – der dritten, es war definitiv die dritte gewesen. Du musst das mit der Zeit in den Griff bekommen – hatte Taylor Wallace Vorhaltungen gemacht. Der Arzt sah sich veranlasst, ihn auf sein mangelndes Engagement anzusprechen. Bevor Wallace mit seinen Gedanken erneut abschweifte, hatte Taylor erklärt, wie gefährlich es sei, auf Distanz zu gehen und sich zu entziehen. Distanz. Rückzug. Diese Worte hatte Wallace schon einmal gehört, ausgesprochen von weicheren Lippen. Zunächst hatte Connie sein distanziertes Verhalten noch gebilligt. Sie hatte gelernt, damit zu leben, wenn er sich für längere Zeit innerlich zurückzog und die Welt um sich herum völlig ignorierte. Aber je mehr sie sein Verhalten akzeptierte und je näher sie einander kamen, desto mehr entfernte sich Wallace von ihr. Beziehungen zu anderen Menschen bedeuteten nichts als Schmerz, und die Leute in diesem Raum waren der beste Beweis dafür.

Hier, in der Klinik, fiel es ihm zunehmend schwerer, abstrakte Begriffe wie Wahrheit und Identität zu verstehen. Außerhalb seiner gewohnten Umgebung fühlte er sich verloren. In diesem Umfeld, das eigentlich dazu diente, die Menschen zu heilen, fand sich kaum etwas, das einem Halt gab. Seit seiner Einlieferung bekam Wallace regelmäßig einen starken Medikamentencocktail verabreicht. Merkwürdig geformte Pillen auf einem kleinen Tetris-Tablett, die sich in seinem Magen miteinander vermischten, um ihn in einen gesunden, glück­lichen Menschen zu verwandeln. Taylor hatte ihm die Wirkung der einzelnen Pillen auf seinen Körper und seine Psyche erklärt, aber Wallace konnte sich nur noch vage an das Gespräch erinnern und hatte die Einzelheiten vergessen. Der Film auf der Leinwand in seinem Kopf war verkratzt und ausgeb­lichen, und die Tonspur war nur ein leises Brummen aus unverständ­lichen Satzfetzen. Vielleicht waren die Pillen schuld daran, dass er mit den Gedanken abschweifte. Vielleicht verwandelten sie seine Psyche in eine elastische Masse, die der engagierte Dr. Taylor wieder zu etwas Gesundem formen konnte.

Das stellen diese Dinger mit dir an, dachte Wallace. Dir gehen lauter finstere, stumpfsinnige Gedanken durch den Kopf. Weil dein zugedröhnter Geist an nichts anderes mehr denken kann. Dennoch bist du immer noch derselbe Mann wie vor vier Wochen. Doch Wallace wusste, dass das nicht stimmte. Jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Er konnte nicht die Augen schließen, ohne diese Maske zu sehen, nicht schlafen, ohne diesen Moment noch einmal zu durchleben. Mit dem einzigen Unterschied, dass er in seinen Träumen getötet wurde. Aber statt in eine schmerzlose Bewusstlosigkeit hinabzugleiten, liefen im Augenblick des Todes noch einmal die schlimmsten Momente seines Lebens vor ihm ab. Momente voller Reue, die ihm in seinen nächt­lichen Albträumen umso lebhafter erschienen. Wenn man ihn am Morgen in den Waschraum brachte, war das Gesicht, das er dort im Spiegel erblickte, nicht sein eigenes. Er hatte auf die Dienste des Krankenhausfriseurs verzichtet, und mit seinen zerzausten Haaren und dem struppigen Bart, der ihm in den vergangenen – drei? vier? definitiv vier – Wochen gewachsen war, sah er ziemlich wild aus. Jedes Mal, wenn Wallace in den Spiegel schaute, hoffte er, dass seine Augen wieder wie früher waren. Mehr noch als seine eingefallenen Wangen, den gequälten Gesichtsausdruck oder die blasse Haut wollte er diese Augen loswerden. Wie bei Heather waren sie voller Schmerz. Sie waren die Spitzen eines schwarzen Eisbergs, der Beginn jener undurchdring­lichen Dunkelheit, die bis in die Tiefen seiner Existenz hinabreichte. Seine Identität, sein Handeln, seine Überzeugungen und die Welt, die ihn umgab – all das war nur eine Illusion. Sein Tod. Die Schlinge. Sein letzter Atemzug. Das war die Realität.

»Alles okay mit Ihnen?« Wallace hörte eine Stimme, die nicht seine eigene war. Es war die von Taylor, der sich mit besorgtem Gesichtsausdruck nach vorn beugte. Vielleicht hatte Taylor sich deswegen für dieses Leben entschieden, weil er sich nur in der Gegenwart völlig verzweifelter Menschen wohlfühlte. »John?«

Wallace sah, wie Heather ihn voller Mitleid anstarrte. Als er sich mit der Hand an die Wange fasste, merkte er, dass sie feucht von seinen Tränen war.

»Hat Heathers Geschichte Sie berührt?«, fragte Taylor mit honigsüßer, vor Anteilnahme triefender Stimme.

Wallace ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Zu Rodney, der versucht hatte, sich in seiner Garage mit Autoabgasen umzubringen. Tina und Ken, die sich beide eine Überdosis verpasst hatten. Und Martin, der im Rollstuhl saß, weil er von einer Brücke gesprungen war. Diese traurigen, gebrochenen Seelen schauten ihn jetzt voller übertriebenem Mitleid an. Wallace hatte Taylors Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und er wusste, dass die anderen alles daransetzen würden, damit es so blieb.

»Mir geht’s gut«, erwiderte er. Er würde sich der Gruppe nicht anvertrauen. Nicht jetzt. Er würde Taylor nicht erzählen, dass der Grund für seine Tränen jener unaufhör­liche Strom aus Selbstmitleid war, den er erst kürzlich an sich bemerkt hatte. Seine Schuldgefühle und Reue. Alles Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs. Aber er würde nicht in der Gruppe darüber reden. Beim Anblick der erfolglosen Selbstmörder fand er zu neuer Entschlossenheit. Er war keiner von ihnen. Jemand hatte versucht, ihn zu töten. Er war einem Ereignis zum Opfer gefallen, bei dem er körper­liche und psychische Verletzungen davongetragen hatte. Selbst wenn er einen Zusammenbruch erleiden würde, war er im Gegensatz zu den Leuten hier nicht am Ende. Die Zeit und nicht irgendein lächelnder Arzt würde ihn heilen.

»Sind Sie sicher?«, fragte Taylor. »Es ist jetzt fünf Wochen her …«

Fünf! Nein, vier, dachte Wallace und fragte sich plötzlich, ob Taylor irgendwelche Spielchen mit ihm spielte.

»… und Sie haben der Gruppe immer noch nichts erzählt«, fuhr Taylor fort. »Normalerweise gebe ich den Leuten höchstens acht Sitzungen Zeit, bevor ich darauf bestehe, dass sie ihre Geschichte erzählen. Dies ist Ihre zehnte Sitzung, John, und wir kennen nicht mal Ihren vollen Namen.«

»Ich heiße einfach nur John«, sagte Wallace. Jemand hatte versucht, ihn umzubringen, und solange er den Täter nicht kannte, würde er seine Identität nicht preisgeben. »Sie wissen, dass ich Ihnen meinen Namen nicht sagen kann.«

»Ich weiß, warum Sie das glauben«, sagte Taylor. »Aber sobald die polizei­lichen Ermittlungen abgeschlossen sind, müssen wir Ihren Namen wissen. Wenn nötig, stellen wir selbst Nachforschungen an. Der Name eines Menschen stellt eine Beziehung zu seinem persön­lichen Umfeld her. Auf diese Weise können wir Ihnen helfen, wieder gesund zu werden.«

Wallace lächelte. »Ich brauche keine Hilfe. Ich gehöre wirklich nicht hierher.«

»Das sagen Sie ständig, John«, erwiderte Taylor. »Aber wie können Sie erwarten, dass einer von uns das genauso sieht, wenn Sie uns nicht mehr über sich erzählen?«

Wallace ließ erneut seinen Blick durch das Zimmer wandern. Warum sollte er diesen Fremden irgendetwas erzählen? Rodney hatte ausdruckslose Augen, weil er zu lange in der mit Kohlenmonoxid gefüllten Garage gewesen war. Seine Bewegungen waren träge und kraftlos, und seine Arme und Beine baumelten unkoordiniert herum, als hätte seine Gehirn Mühe, sie zu kontrollieren. Was würde es Wallace bringen, wenn er diesem leidgeprüften Mann etwas erzählte? Wallace war kein Selbstmörder. Er hatte mit diesen Leuten nichts gemeinsam.

»Ich habe nichts zu sagen«, sagte er.

Auf Taylors Gesicht machte sich Enttäuschung breit. Ein weniger intelligenter Mann als Wallace hätte sich schuldig gefühlt und versucht, Taylor zufriedenzustellen, indem er ihm erzählte, was ihn beschäftigte. Aber Wallace, der die Spielchen des Arztes durchschaute, starrte ihn bloß herausfordernd an.

»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Taylor. »Heather, warum fahren Sie nicht fort?«

Auf Heathers Gesicht machte sich ebenfalls Enttäuschung breit, aber sie verfügte nicht über Wallace’ Entschlossenheit im Umgang mit dem Arzt, und ihre Lippen erzählten stockend weiter ihre Lügen. Wallace dachte an die Zukunft und fragte sich, wie er seine Entlassung bewirken könnte, ohne seine Identität preiszugeben. Selbst wenn er ihnen seinen Namen nannte, würde man ihm ohne irgendeinen Beweis nicht glauben. Er versuchte, sich an den Polizeibeamten zu erinnern, der ihn im Krankenhaus besucht hatte, aber sein Name blieb hinter dem Schleier seines Medikamentencocktails verborgen. Falls Taylor recht hatte und er bereits seit fünf Wochen in der Klinik war, konnte er nicht länger darauf hoffen, dass die Polizei ihn hier rausholen würde. Wahrscheinlich hatte der Detective wie alle anderen Wallace für einen Selbstmörder gehalten. Wahrscheinlich hatte er sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Geschichte zu überprüfen. Was auch immer die Zukunft bereithielt, Wallace war offensichtlich auf sich allein gestellt.

Ellie hatte ihn gehörig zusammengestaucht, aber das war Bailey scheißegal. Trotz des technischen Fortschritts war es die Aufgabe der Forensiker, die eigent­liche Ermittlungsarbeit zu unterstützen, und das bedeutete, dass sie taten, was man ihnen sagte. Und wenn er sagte, dass sie den Schauplatz eines Selbstmordversuchs absuchen sollten, dann hatten sie das gefälligst zu tun. Aber die Forensiker waren mit leeren Händen zu­­rück­ge­kehrt, und Ellie hatte ihn beschimpft, weil er die Zeit ihres Teams vergeudet hatte. Sie konnte ihn mal gernhaben. Lieber nicht, dachte Bailey. Sie war ein Technikfreak und hatte eine blasse Gesichtsfarbe, weil sie zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbrachte. Bailey stand mehr auf lei­den­schaftliche, braun gebrannte Frauen. Seine Beziehungen waren zwar nicht von langer Dauer, aber sie machten das Leben spannend.

Er parkte auf einem Anwohnerparkplatz in der Hamilton Terrace. Als er aus seinem Vauxhall stieg, wurde ihm klar, wie deplatziert der Wagen, der zwischen einem Range Rover und einem Bentley stand, an diesem Ort wirkte. Er war in Streatham aufgewachsen und hatte immer davon geträumt, reich zu sein. Aber ich werde nie reich sein, dachte Bailey, während er den Bürgersteig überquerte und den Weg mit den schwarzen und weißen Platten hinauflief, der zur Nummer 61 führte. Die umgebaute Kirche aus rotem Backstein war eines der schlichteren Gebäude in der breiten, von Bäumen gesäumten Straße. Daneben, versteckt hinter hohen Mauern und einem massiven schwarzen Tor, stand eine riesige weiße Villa mit blickdichten himmelblauen Fenstern. Hier, in dieser feinen Gegend, musste man für so einen Kasten bestimmt mindestens fünfundzwanzig Millionen Pfund hinblättern. Bei seinem Anblick verspürte Bailey ein quälendes Neidgefühl, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass niemand in seine Zweizimmerwohnung in Hackney einbrechen und ihn mit einem Messer bedrohen würde, während er nach Wertsachen suchte. Trotzdem wäre es großartig, wenn er die Möglichkeit hätte, fünfundzwanzig Millionen für ein Haus zu verbraten. Der Besitzer des weißen Palastes hatte wahrscheinlich nicht mal gemerkt, dass die Summe jetzt auf seinem Konto fehlte. Einige Leute hatten einfach viel zu viel Geld. Jammerlappen sind Verlierer. Bailey fiel der Spruch seiner Großmutter ein, den sie ihm und seinen Geschwistern jedes Mal an den Kopf geschleudert hatte, wenn sie sich beschwerten, weil man sie ungerecht behandelte.

Bailey konzentrierte sich wieder auf die anstehende Aufgabe. Er musste noch eine weitere Zeugin befragen. Im Laufe des letzten Monats war er dreimal hier gewesen. Zunächst um die Nachbarn zu befragen und herauszufinden, ob irgendjemand etwas gesehen oder gehört hatte. Er hatte mit Steve Kent gesprochen, dem Banker, der im Keller wohnte, mit den Wilsons, der jungen Familie aus der Wohnung im Erdgeschoss, und mit den Levines, einem Rentnerpaar aus dem ersten Stock. Doch Leona Stiles, die direkt über Wallace wohnte, hatte er bisher nicht angetroffen. Mrs. Levine hatte ihm erzählt, dass die Mieterin, eine Art Showgirl, ein paar Tage nach dem Vorfall abgereist war, um für ein paar Wochen in Dubai zu arbeiten. Sie sei erst wieder Ende Oktober zurück. Außer den unmittelbaren Nachbarn hatte Bailey auch die drei Häuser zu beiden Seiten der Nummer 61 abgeklappert. Dort hatte er lediglich mit dem Personal sprechen können und erfahren, dass die Besitzer sich nicht in der Stadt aufhielten. Niemand mit Geld verbrachte den Herbst in London. Wie die Menschen in der Antike waren die abwesenden Besitzer Sonnenanbeter. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie die finanziellen Mittel hatten, der Sonne rund um den Globus hinterherzureisen.

Keiner der Bewohner oder Angestellten hatte irgendetwas gesehen, was den Verdacht nahelegte, dass Wallace sich die Geschichte nur ausgedacht hatte. Bei seinem zweiten Besuch rückte Bailey mit Ellie und den Forensikern ihres Teams an, und während er dabei zusah, wie sie akribisch zu Werke gingen, fragte er sich beim Anblick des gebrochenen Balkens, ob man es nach einem gescheiterten Selbstmordversuch gleich noch einmal probieren würde. Man musste schon extrem verstört sein, um aus dem Fenster zu springen, nachdem man es nicht geschafft hatte, sich aufzuhängen. Wallace hatte zwar einen verzweifelten Eindruck gemacht, aber er schien nicht labil zu sein.

Obwohl die Forensiker nichts fanden, was darauf hindeutete, dass sie es mit einem Mordversuch zu tun hatten, wurde Bailey das quälende Gefühl nicht los, dass Wallace die Wahrheit gesagt hatte. Der Mann war zutiefst erschüttert gewesen und schien ernsthaft überzeugt, dass man versucht hatte, ihn umzubringen. Also war Bailey vor einer Woche ein drittes Mal hergefahren, um die Gegend abzulaufen. Er hatte die Mauern, Gärten und Nachbargebäude inspiziert und mehr als einmal das Misstrauen eines sicherheitsliebenden Nachbarn auf sich gezogen oder die Aufmerksamkeit eines uniformierten Polizisten erregt. Aber er hatte nichts gefunden. Keine Spur eines mutmaß­lichen Einbrechers, weder auf dem Grundstück noch außerhalb. Mit einer gewissen Befriedigung erklärte ihm Ellie, ihr Team sei zu dem Schluss gekommen, dass John Wallace versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Zunächst durch Erhängen, und nachdem der Balken gebrochen sei, durch einen Sprung aus dem Fenster im zweiten Stock. Dennoch sagte Baileys Instinkt ihm, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Also hatte er geduldig auf die Rückkehr der einzigen noch verbliebenen Zeugin gewartet, die Wallace’ Geschichte bestätigen konnte.

Er stieg die Eingangsstufe hinauf und drückte auf die Klingel von Wohnung Nummer fünf. Dann starrte er in die Überwachungskamera und lächelte.

»Hallo?«, antwortete eine Stimme.

Bailey hielt seinen Dienstausweis vor die Kamera. »Miss Stiles, ich bin Detective Sergeant Bailey. Wir haben telefoniert.«

Die Verriegelung summte, und Bailey drückte die Tür auf. Während er die holzgetäfelte Eingangshalle durchquerte, musterte er sich in den großen, goldgerahmten Spiegeln, die zu beiden Seiten hingen. Daraus starrten ihn Hunderte von Reflexionen eines kräftigen, selbstbewussten jungen Mannes an, dessen Aussehen seinem Ego in nichts nachstand. Bailey war zufrieden mit dem, was er dort sah. Er lief an der Wohnungstür der Wilsons vorbei und eilte die Treppe hinauf. Der dicke grüne Teppich dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Ein Einbrecher könnte sich problemlos durch das Gebäude bewegen, ohne dass man ihn hörte. Während Bailey den Absatz im ersten Stock entlanglief, bemerkte er hinter dem Türspion der Levines einen Schatten. Einen Moment später öffnete sich die Tür, und Mrs. Levine, eine liebenswürdige, faltige alte Dame mit Dauerwelle, lächelte ihn an.

»Hallo, Detective Bailey«, sagte sie. »Gibt es Neuigkeiten von John? Wir machen uns seinetwegen Sorgen.«

»Die Ärzte meinen, dass er wieder gesund wird«, erklärte Bailey. »Er braucht nur noch etwas Zeit. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …«

»Sie sagen uns doch Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt, oder?«, rief Mrs. Levine Bailey hinterher, der bereits weitergelaufen war.