Perfect Victim - Corrie Jackson - E-Book

Perfect Victim E-Book

Corrie Jackson

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Beschreibung

Charlie und Emily Swift führen ein glückliches Leben. Doch ihre heile Welt gerät aus den Fugen, als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird und die Polizei Charlie des grausamen Mordes bezichtigt. Die Londoner Journalistin Sophie Kent ist mit dem Paar befreundet und sofort von Charlies Unschuld überzeugt. Sie verspricht, ihm zu helfen. Als er jedoch flieht, bekommt die perfekte Fassade der Swifts erste Risse. Bei ihren Recherchen stößt Sophie dann plötzlich auf immer mehr Ungereimtheiten in Charlies Vergangenheit – und mit einem Mal kämpft sie nicht mehr nur um Gerechtigkeit, sondern um ihr Leben.

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Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer

 

© Corrie Jackson 2017Titel der englischen Originalausgabe:»The Perfect Victim«, Twenty7/Bonnier, London 2017© Piper Verlag GmbH, München 2019Redaktion: Antje RöttgersCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotivabbildung : arcangel/Reilika Landen (Haare);FinePic®, München (Hintergrund, Blut)

 

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Inhalt

Cover & Impressum

2. April 1988

1

Gegenwart

2

3

4

Emily, 49 Wochen vor dem Mord

5

Gegenwart

6

7

8

Emily, 42 Wochen vor dem Mord

9

Gegenwart

10

11

Emily, 28 Wochen vor dem Mord

12

Gegenwart

13

14

15

Emily, 20 Wochen vor dem Mord

16

Gegenwart

17

18

19

Emily, 15 Wochen vor dem Mord

20

Gegenwart

21

22

23

Emily, 5 Wochen vor dem Mord

24

Gegenwart

25

26

27

Emily, 2 Wochen vor dem Mord

28

Gegenwart

29

30

31

Emily, am Tag vor dem Mord

32

Gegenwart

33

34

35

Emily, Gegenwart

36

37  Emily, Gegenwart

38

39

Eine Woche später

Epilog

Vanessa, 2. April 1988

Danksagung

U1

2. April 1988

Seine Mutter schläft.

Ihre spinnenartigen Arme und Beine sind im Sofa vergraben. Ihre Jeans steht offen, und das grüne Shirt, das sie seit drei Tagen trägt, gibt den Blick auf eine weiße Speckrolle frei. Das gelbe Licht einer Stehlampe beleuchtet die klebrige Spur, die ihr aus dem Mundwinkel rinnt. Sie schnarcht, und mit jedem Atemzug weht ihm eine säuerliche Fahne entgegen. Der Junge streckt die Hand nach ihrem kastanienbraunen Haar aus, zieht sie dann wieder weg und schluckt.

Er kaut an seinem Fingernagel herum, bis es wehtut, starrt auf seine abgenutzten Turnschuhe, die ein Loch am großen Zeh haben. Seine Füße sind klein für sein Alter. Alles an ihm ist klein für sein Alter. Die Pubertät hat ihn unfair behandelt. Zwar gibt es erste Anzeichen, eine tiefere Stimme, Flaum am Kinn, gewisse Bedürfnisse, doch er hinkt hinterher. Er tut so, als machte es ihm nichts aus, doch in Wirklichkeit lastet es schwer auf ihm.

Der Junge zittert und zieht die graue Trainingsjacke enger um sich. Er wirft einen Blick auf den grellrosa Plattenspieler in der Ecke, auf den seine Mutter monatelang gespart hatte. Er sieht sie vor sich, wie sie in ihrem schmuddeligen blauen Abendkleid durchs Zimmer wirbelt und dazu aus vollem Hals 99 Luftballons singt. Sie wusste nicht, dass er heimlich beobachtete, wie sie nach der billigen Weinflasche griff und den Rest des abgestandenen Gesöffs leerte. Wie sie auf die Knie sank und sich in die Hand übergab.

Der Junge schaut auf die Uhr. 23:48 Uhr. Er schleicht zum Kühlschrank und öffnet eine Dose Cola. Die Bläschen kribbeln ihm in der Kehle, und er mustert das Wachsmalbild am Kühlschrank. Es hängt schon so lange da, dass die vergilbten Ränder sich wellen. Darauf eine Frau mit stacheligen braunen Haaren und schlaksigen Beinen, eins länger als das andere, weil er mit dem Stift abgerutscht ist. Ein kleiner Junge, dessen Füße größer sind als der Kopf. Er starrt auf das windschiefe blaue Herz zwischen den beiden, und sein Atem beschleunigt sich.

Ein Schrei hallt durch die Nacht, und er schaut nervös zum Fenster. Der Garten wird von einer Ziegelmauer begrenzt, dahinter liegen Wiesen und Felder. Die Wäscheleine schwingt im Wind. Wind, denkt er. Perfekt.

Er zerquetscht die Coladose zwischen den kleinen Händen und stellt sie auf die Arbeitsplatte. Dann tappt er zur Kellertür und hebt sie an, damit sie nicht über den Steinboden schabt. Der vertraute Geruch schlägt ihm entgegen – feucht-modrig mit einer Prise Salz. Ihr Häuschen ist nur fünf Kilometer vom Meer entfernt, und die salzige Luft durchdringt alles: Haus, Kleidung, Haut. Der Junge braucht kein Licht. Er tastet sich die Holzstufen hinunter, wobei er vorsichtig über die Stelle hinwegsteigt, an der früher die vierte Stufe war. Als er die Füße auf den Betonboden setzt, huscht etwas davon. Wahrscheinlich eine Maus. Die sieht er hier unten ständig.

Das Herz hämmert ihm in der Brust, als er die Taschenlampe hervorholt und hinter die Waschmaschine leuchtet. Er zieht einen Ziegel hervor, und seine Finger schließen sich um etwas Gefiedertes. Der kleine Vogel ist so leicht wie vertrocknetes Laub. Faszinierend, dass er noch lebt. Er liegt schon seit mehreren Tagen dort. Tiefer in der Wand sind noch andere versteckt, die nicht so viel Glück hatten.

Er legt eine Hand um den Vogel und wühlt mit der anderen im Wäschekorb. Die Flasche mit dem billigen Wein liegt ganz unten, wo seine Mutter sie versteckt hat. Er wartet kurz und sprintet dann hoch in die Küche.

Als er auf Zehenspitzen um seine Mutter herumschleicht, rast ein Auto vorbei, die Scheinwerfer verwandeln die Schatten im Wohnzimmer in Karikaturen. Er erstarrt – normalerweise verirrt sich niemand in diese Ecke. Seine Mutter windet sich, schnaubt, kratzt sich mit kurzen, rot lackierten Fingernägeln am Bauch. Er zählt bis fünfzig. Das weiche, kranke Vögelchen bebt in seiner Hand. Er legt es auf den Teppich neben seine schlafende Mutter, wo es erst kurz zuckt und sich dann beruhigt. Es sieht friedlich aus, doch seine Augen sind schon trüb.

Der Junge schraubt die Flasche auf. Dann gießt er die Flüssigkeit auf den Teppich, rund um das Sofa, über die Kippen, den Aschenbecher, die leeren Tetrapaks Wein, die ausgetrockneten Reste einer Pizza. Der Wein spritzt ihm auf die Schuhe, tropft ihm vom Handgelenk. Die letzten Tropfen hebt er für den kleinen Vogel auf.

Der Junge wirft noch einen Blick auf seine Mutter, dann schnippt er das grüne Feuerzeug an. Die Flamme zittert, und er merkt, dass es an ihm liegt. Er neigt den Kopf zur Seite und lässt das Feuerzeug wieder zuschnappen. Mit quietschenden Turnschuhen taumelt er in die Küche und reißt das Bild vom Kühlschrank. Er rollt es zusammen, zündet es an einem Ende an und wirft es auf den Teppich. Als die Flammen in einem wütenden orangen Streifen nach vorne schießen, denkt der Junge nur eins: Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch. Der Junge wartet, seine Augen tränen, seine Lunge füllt sich mit Rauch, während er zusieht, wie das Feuer den Vogel verschluckt. Dann lässt er sich auf die Knie fallen und krabbelt in den Flur. Gerade will er die Haustür öffnen, da hört er jemanden husten. Es kommt aus dem Wohnzimmer. Seine Mutter ist wach. Er hält kurz inne. Dann denkt er wieder an das Bild.

Die Frau. Der Junge. Das Herz.

Er öffnet die Tür und läuft hinaus ins schmutzige Mondlicht.

1

Gegenwart

Taufeuchtes Gras strich mir über die Knöchel, als ich im frühen Sonnenlicht eines Montagmorgens auf Anzeichen des Todes lauschte. Ein tief fliegendes Flugzeug brummte vorbei, und dann: das abgehackte Knistern eines Polizeifunkgeräts. Durch ein Meer aus rosa Blüten rannte ich auf den Fluss zu. Die Themse lag spiegelglatt vor mir. Ich hielt kurz inne, um drei Frauen mit Kinderwagen zu mustern. Die Frau, die mir am nächsten stand, kratzte sich den speckigen Hals und quäkte in ein Handy. Die anderen zwei trugen rotznasige Kleinkinder auf der Hüfte. An ihrer lockeren, entspannten Gestik erkannte ich, dass sie nicht zu meiner Story gehörten. Eine gute Kriminalreporterin weiß, der Unterschied zwischen einem Knüller auf Seite eins und einer erbärmlichen Seite fünf besteht im Timing. An einem frischen Tatort geht es um Sekunden. Bruchteile von Sekunden. Man weiß nie, wie lange einem bleibt, bis der Tatort abgeriegelt wird. Wann ein Ja zu einem Nein wird.

Während mein Blick über die versammelte Menge glitt, dehnte ich meinen verspannten Hals, um das furchtbare Wochenende abzuschütteln, das hinter mir lag. Ich war am Freitagabend in mein Bett gekrochen und hatte mein Handy und damit die Außenwelt ausgeschaltet. Nach drei Minuten raste mein Herz. Nach fünf brannten mir die Handflächen. Acht Minuten, und die negativen Gedanken flatterten mir um die Ohren wie aufgescheuchte Fledermäuse. Ich zählte meine Atemzüge, so wie ich es von meinem Therapeuten Dr. Spado gelernt hatte. Dr. Spado war erst vor Kurzem in mein Leben getreten. Das Protokoll beim London Herald hatte verlangt, dass ich mich nach einer gerade noch mal glimpflich verlaufenen Begegnung mit einer Serienmörderin und einem Aufenthalt im Krankenhaus von Chelsea & Westminster bei ihm meldete. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt, denn um der Wahrheit die Ehre zu geben, konnte ich die Hilfe gut gebrauchen. Doch im Laufe meiner wöchentlichen Besuche in dem stuckverzierten Haus auf der Leamington Row stellte sich schnell heraus, dass meine großen, bösen Albträume nur wenig mit meiner Nahtoderfahrung zu tun hatten. Vor nicht allzu langer Zeit wurde die abgemagerte, schmutzige Leiche meines kleinen Bruders unter der Albert Bridge gefunden. Tommy war mein Ein und Alles, der Grund, warum ich jeden Morgen aufstand. Außerdem war er ein obdachloser Junkie. Sein Tod riss mich entzwei. Offiziell wurde sein Ableben als Selbstmord vermerkt, doch ich hatte kürzlich die Wahrheit erfahren, beziehungsweise einen Teil davon.

Tommy war ermordet worden.

Mehr wusste ich noch nicht, und mit jedem Tag, an dem Tommys Mörder auf freiem Fuß war, ließ ich meinen Bruder im Stich. Schuldgefühle und Trauer sind giftige Gefährten. Sie füllen den Kopf an, das Herz, die Lunge, bis einem die Luft wegbleibt. Nachts ist es am schlimmsten. Ohne den Lärm des Tages kann ich mich nicht vor ihnen verstecken. Deswegen hatte Dr. Spado mir empfohlen, mich mit Entspannungstechniken vor den Panikattacken zu schützen, die anrücken, sobald ich das Licht ausschalte. Meistens greife ich auf Hilfe der anderen Art zurück, »Notfallmaßnahmen«, wie er sie nennt. Manchmal teile ich mir die Schlaftabletten ein, manchmal schmeiße ich alle auf einmal ein und lasse mich dankbar ins Vergessen sinken. Gestern Abend hatte ich gleich drei geschluckt. Danach fühlte ich mich wie ausgehöhlt.

Das Handy vibrierte in meiner Tasche, und ich seufzte. Ich hatte es erst heute Morgen wieder angestellt und bekam jetzt die Quittung für meinen achtundvierzigstündigen Kommunikationsblackout in Form einer Flut von E-Mails und Sprachnachrichten, der ich mich noch nicht gestellt hatte.

Ich rieb mir die müden Augen, da kam eine Frau in einer roten Steppweste auf mich zugeschlurft. Unter dem Arm trug sie einen schwarzen Terrier, und der Wind blies ihr die grauen Locken ins Gesicht.

»Gehen Sie da bloß nicht näher ran. Glauben Sie mir, das wollen Sie lieber nicht sehen.«

»Was will ich nicht sehen?«

»Die Leiche. Im Fluss. Wurde gerade rausgezogen.« Sie drückte sich den Hund an die füllige Brust, über der eine Lesebrille baumelte.

»Konnten Sie das Geschehen überblicken?« Ich zückte meinen Notizblock, und sie runzelte sofort die Stirn. »Ich arbeite bei der Zeitung.«

Die Frau neigte den Kopf zur Seite. »Bei welcher?«

»Beim London Herald.«

Sie verlagerte das Gewicht nach vorne und schniefte. »Ich lese lieber die Post.«

Ich lächelte höflich und nickte in Richtung des Flusses. »Könnten Sie mir beschreiben, was Sie gesehen haben?«

Der Hund wand sich unter ihrem Arm, und sie gab ein paar beruhigende Geräusche von sich. »Kommt das in die Zeitung?«

»Wenn ich es gebrauchen kann.« Ich merkte, wie arrogant das klang, und schob rasch ein Lächeln hinterher. »Tut mir leid, mein Chef hat mir gerade den Kopf gewaschen. Wenn ich mich nicht bald mit Einzelheiten bei ihm melde …« Ich fuhr mir mit dem Finger über die Kehle.

»Vielleicht suchen Sie sich besser einen anderen Job«, bemerkte die Frau spitz.

Ich lachte und riskierte einen Blick auf die Uhr. Das mit meinem Chef war nicht gelogen. Mack Winterson, der Nachrichtenredakteur des Herald, hatte vor zehn Minuten angerufen.

»Lass alles fallen und fahr zum Bishops Park. Leichenfund.«

Ich hatte gerade einen Rettungssanitäter aus Hammersmith befragt, dessen Krankenwagen an der Ecke Fulham Road mit einem Bus der Linie 14 zusammengestoßen war. Zum Glück war niemand verletzt worden, trotzdem machte es keinen sonderlich guten Eindruck, den armen Kerl mitten im Interview stehen zu lassen.

»Eins noch.« Mack klang abgelenkt. »Wir müssen zwei Seiten füllen.«

»Wieso?«

»Das Urteil im Rowntree-Prozess verzögert sich. Ein Notfall in der Jury.«

»Scheiße.«

Im ganzen Land wartete die Presse ungeduldig auf das Urteil. Eric Rowntree, vierundfünfzig, Klempner, wurde vorgeworfen, seine Frau und seine drei kleinen Söhne ermordet zu haben. Mit den langen schwarzen Koteletten, dem schmierigen Pferdeschwanz und dem kleinen Schmollmund sah er aus, als hätte er gerade die Rolle des gestörten Killers in einem Trash-Film ergattert. Kurz vor Halloween hatte seine Frau Linda anscheinend die Schnauze voll davon, den Prügelknaben zu geben, und setzte ihn vor die Tür. Zudem sollte sie eine Affäre mit einem Taxifahrer namens Allen Holmes gehabt haben. Rowntree zahlte es ihr angeblich heim, indem er die ganze Familie in ihrer Maisonettewohnung in Battersea abschlachtete. Angeblich. Wem machte ich hier eigentlich etwas vor? Rowntree war schuldig, das wussten alle. Doch die Staatsanwaltschaft tat sich mit der Beweisfindung schwer. Die Überwachungskamera an der Tankstelle gegenüber von Lindas Haus hatte den Geist aufgegeben. Hätte sie in jener Nacht funktioniert, würde man auf dem Videomaterial sehen, wie Rowntree sich ins Haus schlich. Dennoch hatte es Fortschritte gegeben, und wir warteten nur noch auf Bestätigung. Das Urteil sollte eigentlich gestern um fünf Uhr nachmittags gefällt werden, dann heute Morgen um neun, und jetzt …

Entnervt trat ich gegen einen Stein. »Was können wir sonst noch bringen?«

»Im Moment einen Scheißdreck. Niemand interessiert sich gerade für irgendwas anderes. Wir sind am Arsch.«

Ich verdrehte die Augen. Mack war nicht gerade dafür bekannt, dass er unter Druck die Contenance wahrte. Ich sah ihn praktisch vor mir, wie er in glänzenden schwarzen Budapestern vor seinem Schreibtisch auf und ab marschierte und auch noch die letzten Reste des blauen Teppichbodens ruinierte. In der Redaktion war die abgewetzte Stelle als »Macks Fleck« bekannt. Mack war ein strenger Zuchtmeister, doch seine Triebfeder war Angst. Angst, dass er nicht gut genug war, Angst, dass ihm jemand auf die Schliche kommen könnte. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, und ich zog meine Jacke enger um mich. Zu behaupten, Mack und ich hätten eine gemeinsame Vergangenheit, wäre die Untertreibung des Jahres. Es war eine meiner fragwürdigeren Aktionen in jüngster Vergangenheit, mit meinem verheirateten Boss ins Bett zu gehen. Wenn einem das Leben um die Ohren fliegt, trifft man mitunter dumme Entscheidungen. Schlauer war dann, dass ich die Affäre beendete. Mack sah das anders, besann sich schließlich aber eines Besseren. Er ließ sich von seiner Frau scheiden, und seitdem herrschte zwischen uns ein fragiler Waffenstillstand. Wir einigten uns darauf, die Vergangenheit ruhen zu lassen und uns wie Erwachsene zu verhalten. Allerdings war es nicht gerade erwachsen, ständig irgendwelche Streits vom Zaun zu brechen, weil wir unseren Stress nicht mehr in der Kiste abbauen konnten. Sich in jemand anderem zu verlieren kann süchtig machen.

»Der Heuler will eine Notkonferenz einberufen, also komm mir bloß nicht mit leeren Händen zurück.«

»Der Heuler« war der Chefredakteur des Herald, Philip Rowley. Den Spitznamen verdankte er seiner nasalen Piepsstimme. Dennoch war er trotz geringer Körpergröße höchst Respekt einflößend. Zumindest das hatten wir gemeinsam.

Ein Schrei zerriss die Luft. Ein Polizist beugte sich über das Geländer, wobei er sich die Mütze festhielt, und zeigte auf etwas, das wir nicht sehen konnten.

»Was glauben Sie, was das ist?« Die Frau mit dem Hund klang aufgeregt.

Ich ging mit dem Notizblock in der Hand auf den Menschenauflauf zu und legte mir den ersten Satz zurecht, da stellte sich mir eine Polizistin in den Weg. Sie war schlank und gepflegt, ihr Kinn wirkte wie frisch gespitzt. Sie reckte es mir entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kann ich Ihnen helfen, Miss Kent?«

Police Constable Debbie Waters.

»Schöner Tag für einen Spaziergang.« Ich grinste, doch sie verzog keine Miene. Waters war zu schlau, um sich von mir um den Finger wickeln zu lassen, und dafür respektierte ich sie. Mir war zu Ohren gekommen, dass sie sich kürzlich von ihrem Freund getrennt und nun alle Hände voll damit zu tun hatte, Job und Kind unter einen Hut zu bringen. »Zu Ohren gekommen«, das heißt, ich hatte sämtliche meiner Informanten ausgequetscht. Ich bin gerne bestmöglich über neues Personal informiert, denn Informationen sind in meinem Job die Währung. PC Waters war auf dem besten Weg, DCI Sam Durands rechte Hand zu werden, und alles, was mit DCI Durand zu tun hatte, ging auch mich etwas an. Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen. Durand ist ein erstklassiger Polizist mit genau der richtigen Menge Dreck am Stecken. In den letzten Monaten waren wir enger zusammengerückt. So eng, dass ich mich fragte, ob da mehr zwischen uns war. Ich schüttelte das Bild von Durands kantigen Gesichtszügen und seinem rotbraunen Haar ab. Es war leichter, mir einzureden, unsere Beziehung basierte auf gegenseitigem Händewaschen, und mehr nicht. Zumindest nicht in diesem Leben. Ich hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass man Berufliches und Privates nur zu vermischen brauchte, wenn man sich ein Kündigungsschreiben einhandeln wollte. Gerüchte über eine romantische Verbindung zwischen Durand und PC Waters tat ich als Klatsch ab – solche Geschichten werden jeder einigermaßen erfolgreichen Frau in einem von Männern dominierten Beruf angehängt.

»Auf dieser Seite darf ich ja wohl stehen.« Ich deutete auf das blau-weiße Absperrband.

Waters warf einen Blick zum Fluss. Ihr langer brauner Flechtzopf, an dessen Ende sie eine rote Schleife gebunden hatte, schwang ihr über die Schulter. Ich stellte mir vor, wie sie heute Morgen ein paar Extrasekunden darauf verwendet hatte. Wertvolle Sekunden, die sie auch mit ihrem kleinen Sohn hätte verbringen können.

»Wie läuft es bei der Staatsgewalt?«

»Wunderbar. Wie läuft es beim Herald?« Ihr Blick glitt über mein Gesicht, von den geröteten Augen über die dunklen Augenringe zu den ungewaschenen Haaren. Mir war klar, dass sie mehr wissen wollte. Waters hatte mich an meinem Tiefpunkt erlebt – in den Tagen, an denen ich ungeduscht und bleich im Krankenhaus lag, abgestandenen Atem ausstieß und nicht in den Spiegel sehen konnte, weil ich mich dann mit den Würgemalen an meinem Hals hätte auseinandersetzen müssen. Während Waters in dem schmucklosen weißen Zimmer meine Aussage aufgenommen hatte, hatte sie getan, als würde sie das Zittern in meiner Stimme und den Klammergriff meiner Hände am Bett nicht bemerken. Später erfuhr ich, dass Waters sich mehrmals beim Herald nach mir erkundigt hatte. Das würde ich ihr nicht vergessen.

»Ich habe Ihren Artikel über den Aufstand an der Edgware Road gelesen«, sagte sie. »Gut geschrieben.«

Ich lächelte und nickte in Richtung Fluss. »Was können Sie mir sagen?«

»Hören Sie, Sophie, es gibt da was, das ich Ihnen …« Da nahm sie etwas in meinem Rücken wahr, warf sich den Zopf über die Schulter und richtete sich auf. »Sir, ich habe die Presse gerade gebeten, hinter der Absperrung zurückzubleiben.«

Ein junger Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck tauchte neben uns auf. Rötlich blonde Haarsträhnen wucherten auf seinem Kopf wie das Grün auf einer Ananas. Sein schmaler Körper war in einen billigen, anthrazitfarbenen Anzug gehüllt.

»Waters, besorgen Sie mir den Lagebericht«, sagte er kurz angebunden.

Ich setzte ein Lächeln auf und trat auf ihn zu. »Wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ich bin …«

»Ich weiß, wer Sie sind.«

Ich runzelte die Stirn. »Sind Sie für diesen Tatort zuständig?« Er schwieg, und ich deutete auf das Absperrband. »Ich bin Kriminalreporterin. Das hier ist ein Tatort. Ich mache bloß meine Arbeit.«

»Und ich meine.« Der Mann kniff sich kurz und heftig ins Ohrläppchen, wie um seine Aggressionen zu entladen.

Ich musterte ihn eingehend, wollte aus ihm schlau werden. Normalerweise kümmert es mich nicht weiter, wenn mich Polizisten nicht leiden können. Immerhin gibt es tausend gute Gründe dafür. Erst hören wir Journalisten nicht auf sie, und dann ziehen wir sie auch noch zur Verantwortung. Bei ihm war die Feindseligkeit jedoch derart ausgeprägt, dass ich sie fast schmecken konnte.

Plötzlich schepperte eine blecherne Stimme aus seinem Funkgerät.

»Sir, wir haben eine Handtasche an der Brüstung gefunden. Gehört sicher zu ihr.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Es handelt sich also um eine Frau.«

Er verzog das Gesicht und beugte sich vor, sodass ich seinen schalen Kaffeeatem riechen konnte. »Kein Kommentar. Und jetzt hauen Sie ab.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, rief ich ihm hinterher, während er davonstapfte. Doch damit war mein Wagemut auch schon erschöpft. Ein feindlich gesinnter Kriminalpolizist war äußerst schlecht fürs Geschäft.

Ich hatte Rowleys Stimme im Ohr: Du brauchst zehn Wege, um ein Nein zu umgehen.

Ein Polizeitransporter rollte knirschend über den Weg und blieb an der Brüstung stehen. Ich zückte mein Handy, um ein paar Fotos zu machen, da leuchtete eine Nachricht auf: Charlie Swift, Wirtschaftsredakteur beim Herald und einer meiner besten Freunde, hatte mir auf die Mailbox gesprochen. Ich wischte sie beiseite und fotografierte die beiden Personen, die aus dem Transporter stiegen und sich weiße Schutzanzüge überstreiften.

Dann fielen auch schon die anderen Journalisten über den Tatort her. Ich erkannte Stuart Thorp von der Post, der die drei Mütter ausquetschte. Ich knabberte an einem Fingernagel. War mir etwas entgangen? Rechts von mir, nahe einer mächtigen Eiche, saß jemand zusammengesunken auf einer Bank. Er war in eine Rettungsdecke gehüllt, fehlte nur noch die Zielscheibe auf dem Rücken.

Ich sah mich rasch um und eilte zu ihm. Er trug Sportkleidung: ein enges schwarzes Muskelshirt und limettengrüne Laufshorts.

»Wollen Sie etwas trinken?« Der Mann sah ruckartig auf, und ich holte eine Flasche Wasser aus meiner Handtasche, die noch fest verschlossen war. »Hier.« Ich gab ihm die Flasche und setzte mich neben ihn. Er zog das Bein weg, ließ es dann jedoch wieder zurücksinken. Es war glatt rasiert. Während er das Wasser hinunterstürzte, musterte ich ihn unauffällig. Anfang zwanzig, blonder Stoppelbart, weiße Schweißkruste um den Haaransatz.

»Und Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte ich. Der Mann nickte und grub sich die Ellbogen in die muskulösen Oberschenkel. »Können Sie mir mehr erzählen?«

Er spielte an seiner ledernen Halskette herum, deren Holzperlen das Wort S-O-U-L-W-A-R-R-I-O-R bildeten. Solche Ketten bekam man während der üblichen einjährigen Auszeit vor der Uni in Billigläden auf der Südhalbkugel nachgeworfen. »Sind Sie von der Polizei?«

Nach kurzem Zögern schüttelte ich den Kopf. »Von der Zeitung. London Herald.«

»Darf ich überhaupt mit Ihnen reden?«

»Gehen Sie oft hier im Bishops Park joggen?«

»Ich bereite mich auf den Marathon vor. Dreißig Kilometer die Woche.« Er hustete kurz und keuchend, die Rettungsdecke knisterte. »War letztes Jahr schon dabei, aber meine Hüfte hat nicht mitgemacht. Ich will unter vier Stunden kommen.«

Ich nickte und biss mir auf der Wange herum. Ich wollte ihn nicht hetzen, meine Chance aber auch nicht vertun. Ich schaute zum Fluss. »Wie heißen Sie?«

»Adrian.« Er räusperte sich. »Adrian Bronson.« Er nahm die Brille ab und rieb mit dem Oberteil über die Gläser.

Dann schnellte sein Blick nervös zu meinem Notizblock, den ich gerade hervorgezogen hatte.

»Ich brauche bloß ein paar Eckdaten«, erklärte ich. Adrian spielte mit dem Schraubverschluss der Wasserflasche. »Ich will dem Opfer keinen schlechten Dienst erweisen, indem ich irgendwas falsch verstehe. Wie haben Sie sie entdeckt?«

Adrian überlegte kurz. »Ich bin nur kurz stehen geblieben, um durchzuatmen. Da drüben am Geländer.« Er deutete auf die Stelle, wo die Spurensicherung gerade ein weißes Zelt aufstellte. »Mir ist was im Wasser aufgefallen. Erst dachte ich, das ist ein Mantel. Dann habe ich die Haare gesehen.« Er zog ein Asthmaspray hervor. »Richtig viele Haare. Rot. Mit so Sachen drin, Blättern, was weiß ich. Dann bin ich über das Geländer gestiegen, um besser sehen zu können, da habe ich den Rest von ihr entdeckt.«

Adrian setzte das Mundstück an und atmete tief ein. Ich schwieg, er sollte sich Zeit lassen. Ich wusste, wie schwer das hier war. Ertrunkene gehören zu den schlimmsten Leichen.

Die erste Autopsie, der ich beiwohnte, wurde an einer achtunddreißigjährigen Obdachlosen durchgeführt, die in einem Kanal hinter der U-Bahn-Station Swiss Cottage gefunden worden war. Die Polizei konnte den Mörder später fassen, einen charakterlosen Säufer mit Minderwertigkeitskomplex. Zusammen mit meinem Artikel wurde das letzte bekannte Foto der Frau veröffentlich. Ein zartes Gesicht mit kleinen spitzen Zähnen und Lehrerinnenpony. Sie war hübsch. Nicht, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte, doch ich konnte es nicht mit dem aufgeblähten Haufen auf dem Tisch des Rechtsmediziners zusammenbringen. Wasser kann so einiges mit einem Gesicht anstellen, daher wusste ich genau, wie es Adrian gehen musste.

»Wann haben Sie sie gefunden?«

Er schaute auf seine glänzende Uhr. »Vor einer knappen Stunde. Ich habe sofort die Polizei gerufen und hier gewartet. Ich wollte sie nicht allein lassen. Oder wegtreiben lassen, keine Ahnung.« Er grub die Fersen in den Boden und hustete erneut.

»Was hatte sie an?«

Adrian leckte sich über die Lippen, wie um die Worte zu lösen. »Schwarzer Mantel. Rock. Keine Schuhe.« Er schluckte. »Mit der rechten Hand stimmte irgendwas nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Als hätte jemand drauf eingehackt oder so.«

Zu meiner Überraschung wallte Übelkeit in mir auf. Eigentlich war ich nicht empfindlich. Ich holte tief Luft, weil ich seinen Redefluss nicht unterbrechen wollte. »Haben Sie sonst noch etwas bemerkt?«

Adrian hielt sich die Hand vor den Mund, hustete und inhalierte. »Wissen Sie, wie lange ich noch hierbleiben muss?«

Ich klappte den Block zu und reichte ihm meine Karte. »Hat jemand Ihre Aussage aufgenommen?« Er schüttelte den Kopf. »Gehen Sie zu der Beamtin dort drüben, der mit dem Zopf.«

Er stand auf, doch die Beine versagten ihm den Dienst, und er sank zurück auf die Bank. Er lächelte schief. »Tut mir leid, normalerweise bin ich nicht so …«

Ich lächelte zurück. »Sie heißt PC Waters.«

Während er davonstolperte, klingelte mein Handy.

»Und?« Macks herrischer Ton erwischte mich auf dem falschen Fuß.

»Die Leiche gehört zu einer Frau. Ich habe gerade mit dem Jogger gesprochen, der sie gefunden hat. Außerdem ist eine Handtasche aufgetaucht, und die Polizei glaubt, sie gehört zu ihr.«

»Und wer ist die Frau?«

»So weit bin ich noch nicht.«

»Dann mal hopp, hopp, Kent. Deine Zeit ist fast um.« Er legte auf, und ich ließ mich auf die Bank fallen. Ich schloss die Augen und wartete, bis das Adrenalin in meinen Adern nachließ.

Dann öffnete ich seufzend Charlies Sprachnachricht. Charlie war genau der Richtige, wenn ich eine Aufmunterung brauchte. Er war entspannt, beliebt und für seinen trockenen Humor und sein ansteckendes Lächeln bekannt. In Anbetracht der Schicksalsschläge, die er hatte einstecken müssen, war das besonders beachtlich. Ich habe seine verstorbene Frau Lizzie zwar nie kennengelernt, aber ich weiß, dass sie noch nicht lange verheiratet waren, als bei ihr Leukämie festgestellt wurde. Am Ende war es jedoch nicht die Leukämie, die ihrem Leben ein Ende setzte. Lizzie ging im Serpentine Lido schwimmen und kehrte nicht mehr zurück. Charlie nahm sich zwei Wochen frei und kam dann wieder zur Arbeit, wo er die Beileidsbekundungen mit einem knappen Lächeln abwürgte. Nach und nach wurde sein Lächeln jedoch wieder breiter, sein Charisma kehrte zurück. Die meisten vergaßen bald, was ihm zugestoßen war. Ich gehörte jedoch nicht dazu. Je näher wir einander kamen, desto besser verstand ich, wie tief Charlie seine Schmerzen vergrub. Ich wusste, wie viel ihm das Lächeln abverlangte, da ich genau das Gleiche tat. Im Laufe der Jahre halfen wir einander dabei, zu heilen, und zahlreiche Nachtschichten in der Redaktion mündeten in eine Freundschaft, die mir viel bedeutete. Eines Abends vor drei Jahren vertraute Charlie mir an, dass er jemanden kennengelernt hatte. Beziehungsweise, er kannte sie schon: Emily, seine hübsche junge Hochzeitsplanerin. Er hob das Kinn und wartete darauf, dass ich missbilligend den Kopf schütteln würde, aber ich bin die Letzte, die jemanden für seine Entscheidungen verurteilt.

Ich drückte auf Play und hörte Charlies tiefe Stimme. »Hallo, bin ich hier richtig bei Starreporterin Sophie Kent?« Er sprach mit einem bescheuerten Ami-Akzent, und ich verdrehte die Augen. »Ruf mich zurück, wenn du das hier hörst. Ich muss mit dir reden … ist persönlich.«

Ich drückte auf »Rückruf« und legte mir eine Hand übers Ohr, als ein Flugzeug über mich hinwegdüste. Dies ist die Mailbox von Charlie Swift, hinterlassen Sie mir ein paar warme Worte.

Ich grub die Fingernägel in die hölzerne Bank. »Hier hast du ein paar warme Worte: Montage sind scheiße. Ich bin an einem Tatort, und der Verantwortliche will mich umbringen. Ich schwör’s dir! Wie der mich angeguckt hat. Dabei sieht er selbst aus wie eine zurückgebliebene Ananas. Ach ja, kannst du mir einen von diesen verstrahlten Smoothies aus der Kantine besorgen? Aber bitte mit Sahne. Wie gesagt, Montage sind scheiße. Ich bin bald wieder in der Redaktion. Freu mich schon auf deine persönlichen Nachrichten. Hast du endlich den Mut für dein Coming-out zusammengenommen? Ich meine, deine Socken haben dich schon längst verraten, aber …«

Ich wurde durch einen Piepton abgewürgt und warf einen Blick zur Promenade, wo PC Waters die Hand auf Adrians Arm legte. Sie schaute zu mir rüber und nickte mir kaum merklich zu. Mein Blick wanderte zu ihrem Chef, dem Mann im grauen Anzug. Er fuchtelte mit dem Finger vor einem Beamten herum, bemerkte mich und verzog das Gesicht.

Zu meinem Entsetzen spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich zwang mich zum Aufstehen und hastete zur U-Bahn.

2

Mit dem Handy am Ohr beobachtete ich, wie Spencer Storey aus der Lokalredaktion Papierkugeln in den Korb an seinem Schreibtisch lupfte. Gerade, als DCI Durand abhob, landete er einen Treffer und stieß einen Jubelschrei aus.

»Was ist da bei euch für ein Krach?«

»Kommt aus der Kinderecke. Wo warst du heute Morgen? Die Tote im Bishops Park, das ist doch eigentlich dein Revier.« Im Hintergrund hörte ich einen Fernseher. »Wo bist du?«

»Sophie, es passt gerade nicht so gut.« Seine Stimme klang sanft.

Ich trommelte mit dem Stift auf den Schreibtisch und ging nicht darauf ein. »Wer ist der Neue?«

»Welcher Neue?«

»So ein ganz charmanter Zeitgenosse.«

»Du hast also DCI Toby Golden kennengelernt.«

»Warum kommt mir der Name so bekannt vor?«

Durand räusperte sich. »Wegen seinem Vater, Paul.«

Ich erstarrte mit dem Stift in der Luft. »Scheiße.«

DCI Paul Golden – mittlerweile im Ruhestand – hatte 1994 die Ermittlungen im Mordfall Amanda Barnes geleitet, dem minderjährigen Model, das im Wald nahe ihrem Zuhause in Liverpool erwürgt worden war. DNA-Spuren im Gartenschuppen deuteten damals auf einen klaren Fall hin, weitere DNA-Funde wurden geflissentlich ignoriert, da die Verantwortlichen sich mit dem Täter sicher waren. Wegen dieser Entscheidung fanden zwei weitere Frauen ein ähnliches Ende, und DCI Paul Golden war dafür verantwortlich. Als ich dem Fall kürzlich erneut in einem Artikel auf Grund gegangen war, hatte der Herald Golden namentlich beschuldigt – es war brutal. Die Redaktion hatte bis spät in die Nacht diskutiert, ob wir seinen Namen überhaupt veröffentlichen sollten, denn in solchen Situationen gibt es oft kein klares Richtig oder Falsch. Gerichtsmedizinische Tests sind teuer, wie ein anderer Polizist anmerkte, und manchmal muss man eben Prioritäten setzen. Golden hatte eine Ermessensentscheidung getroffen, und es war die falsche. Rowley wollte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, nur leider stand nicht sein Name unter dem Artikel.

»Er ist also nicht der größte Herald-Fan.«

Durand schien mein flapsiger Ton nicht zu gefallen, und ich bereute den Kommentar sofort. »Sein Vater hat einiges durchgemacht. Sein Haus wurde besprüht, er hat Drohbriefe erhalten und so weiter. Die Leute in dem Viertel trauen der Polizei sowieso schon nicht über den Weg.«

Ich biss mir auf die Zunge, um mich nicht in eine Diskussion über das schwindende Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizei und die Gründe dafür zu versteigen. Es war ohnehin schon knifflig genug, das System auszunutzen. »Golden macht mich also persönlich dafür verantwortlich?«

Durand schaltete den Fernseher aus. »Golden ist noch jung. Aggressiv. Er hat einige Erfolge vorzuweisen, und wenn er einmal an was dran ist, lässt er so schnell nicht mehr locker.« Er hielt inne, und in seiner nächsten Frage lag ein Lächeln. »Erinnert dich das zufällig an irgendwen?«

Ich lachte auf, und die Spannung in meinen Schultern ließ etwas nach. »Wie machst du das immer?«

»Was meinst du?«

»So einen beruhigenden Effekt auf mich zu haben.«

»Glaubst du, das fällt mir leicht?«

Eine warme Stille breitete sich zwischen uns aus. Ich stellte mir Durands Lächeln vor und errötete.

Ich räusperte mich. »Golden hat also deinen Platz eingenommen?«

»Vorläufig, ja.«

Ich spielte mit dem Gedanken, das Thema weiterzuverfolgen, überlegte es mir dann jedoch anders. »Hast du irgendwas mit dem Fall zu tun?«

»Sagen wir mal so, ich werde auf dem Laufenden gehalten.«

»Die Identität der Toten aus dem Fluss …«

»Wurde noch nicht öffentlich gemacht. Netter Versuch.«

»Komm schon, Sam. Ich hinke echt hinterher, und bei DCI Arschgesicht beiße ich auch auf Granit.«

Durand schwieg, und ich spürte, wie sich etwas in der Atmosphäre verschob, so wie immer, wenn ich kurz vor einem Durchbruch stand. »Na gut, weil du es bist«, sagte er leise. »Das Opfer war Anwältin bei einer der Big-Five-Kanzleien.«

»Und ihr Nachname reimt sich auf …« Der Witz war halb ernst gemeint, aber Durand hatte längst aufgelegt.

Ich griff mir einen Müsliriegel aus der Schreibtischschublade. Ich hatte nicht gefrühstückt, und jetzt rächte es sich, dass ich mit leerem Magen an einem Tatort aufgetaucht war. Ich hielt Ausschau nach Charlie, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Seufzend öffnete ich die von LegalAid herausgegebene Tabelle der Top-Kanzleien des Landes, dann scrollte ich mich auf der Suche nach Frauen mit langen roten Haaren durch die Fotos der Angestellten. Zehn Minuten später streckte ich mich und ließ die Arme erschöpft wieder fallen. Ich gähnte, und wie von Zauberhand erschien eine Tasse Kaffee vor mir. Ich konnte den Kaffee schon schmecken, obwohl ich noch keinen Schluck getrunken hatte. Das Gebräu von Kate Fingersmith war wie flüssiges Speed.

»Voilà, stark und schwarz, so wie ich …«

»So wie du es bei ehemaligen US-Präsidenten magst, schon klar.« Ich rang mir ein Lächeln ab. Kate ließ sich kichernd auf ihren Stuhl fallen. Sie war immer noch verrückt nach Barack Obama, zahllose Fotos von ihm zierten ihren Bildschirm. »Der Kerl hat einfach Stil«, meinte sie einmal. »Der darf jederzeit meinen Atomknopf drücken.«

Ich rutschte nach vorne. »Was gibt’s Neues?«

Kate wickelte sich eine braune Locke um den Finger. »Der gleiche Scheiß wie immer. Im Rowntree-Prozess tut sich was. Mein Informant meint, der Kerl kommt ungeschoren davon.«

»Aber er war’s doch.«

Kate schnaubte in ihre Tasse. »Du solltest eigentlich wissen, dass das noch lange nichts heißt. Irgendwas mit unzulässigem Beweismaterial. Ich fahre nach der Konferenz direkt zum Gericht.«

Ich nickte und schüttelte mich, als mir der bittere Kaffee die Kehle hinunterrann.

Kate verdrehte die Augen. »Jetzt stell dich mal nicht so an, du undankbares Stück. Nächstes Mal kannst du dir selber einen kochen.«

Ich wandte mich wieder meinem Computer zu. Zwanzig Minuten später hatte ich zwei Frauen gefunden, auf die die Beschreibung passte: Laura Bradley von Thorman & Gray und Sabrina Hobbs von Hamilton Law.

Ich wählte die erste Nummer.

Eine gelangweilte Stimme erklang. »Thorman & Gray.«

»Könnten Sie mich bitte mit Laura Bradley verbinden?«

»Einen Moment, bitte.«

Ich wippte im Rhythmus des Wartesignals mit dem Fuß, wurde dabei aber von einer fröhlichen Stimme unterbrochen.

»Hier spricht Laura Bradley.«

»Tut mir leid, hab mich verwählt.« Ich legte auf und wählte die zweite Nummer.

»Guten Morgen, Hamilton Law.«

»Sabrina Hobbs bitte.« Ich blätterte in meinem Notizblock herum, und mir wurde ganz flau, als ich daran dachte, was der Jogger über die Hand des Opfers gesagt hatte.

»Rachel Cornish hier, Sabrinas Assistentin. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ist Sabrina am Platz?«

»Leider nicht, sie ist gerade in einer Konferenz.«

»Wissen Sie, wann ich Sie wieder erreichen kann?«

»Mit wem spreche ich?«

Ich legte eine gewisse Autorität in meine Stimme, um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Es geht um eine private Angelegenheit.«

»Verstehe. Eigentlich sollte sie schon wieder zurück sein, aber sie wurde wohl aufgehalten. Ich sage ihr Bescheid, dass Sie angerufen haben.« Elegant, aber zu schnell. Sie lügt.

Ich legte auf und starrte das Foto auf dem Bildschirm an. Die roten Haare reichten Sabrina bis über das Schlüsselbein. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, ein schmales Kinn mit Grübchen und lächelte mit geschlossenem Mund. Sie sah aus wie eine Frau, die auf einer Bürofeier Gin Tonic bestellte und den Drink dann heimlich durch Mineralwasser ersetzte. Sie war Partnerin bei Hamilton Law, hatte das Studium an der Edinburgh University mit Auszeichnung abgeschlossen. Kein Facebook-Account, aber das überraschte mich nicht. Meine Mitbewohnerin Poppy Reynolds war ebenfalls Anwältin, und sie hatte mir erzählt, dass den Mitarbeitern dazu geraten wurde, sich von sozialen Netzwerken fernzuhalten.

Einem Impuls folgend suchte ich nach Sabrinas Assistentin Rachel Cornish. Anscheinend galt die Warnung nicht für Verwaltungspersonal. Ich klickte mich durch ihre Fotos. Rachel, wie sie sich in einem pfirsichfarbenen Brautjungfernkleid auf einer Tanzfläche drehte, sich mit Sonnenbrand auf einem Liegestuhl am Pool rekelte, auf einem verschwommenen Foto in einer Nikolausmütze die Daumen reckte. Darunter stand: Bei Hamilton Law geht die Paaaartyyyyy.

Ich vergrößerte das Bild und musterte die Leute hinter ihr. Auf der rechten Seite stand Sabrina mit einem Weinglas in der Hand und lehnte sich an einen dunkelhaarigen Mann, der sie auf den Hals küsste. Das überraschte mich. Vielleicht war sie gar nicht so verklemmt, wie sie aussah. Ich fuhr mit dem Cursor über sein Gesicht, und ein Name erschien: Bert Hughes, Juniorpartner bei Hamilton Law. Ich schaute bei Twitter nach, und tatsächlich: @SHobbsLaw. Sabrina retweetete hauptsächlich Nachrichtenmeldungen und Urteile, doch etwas fiel mir ins Auge. Vor fünf Tagen hatte Sabrina einen Tweet von Charlie Swift gelikt. Ich überflog den Feed. Anscheinend reagierte Sabrina oft als Erste auf Charlies Tweets und umgekehrt.

Ich leerte meinen Kaffee und ging in die Wirtschaftsredaktion. Charlies Stellvertreter Adam Gamble hing gerade am Telefon. Ich setzte mich auf Charlies Schreibtischkante, da zog ein Aufruhr in der Bildredaktion meine Aufmerksamkeit auf sich. Austin Lansdowne, der stellvertretende Chefredakteur und offizielle »Bad Cop« des Herald stauchte eine Bildredakteurin zusammen.

»Die Leute sollen die Zeitung in die Hand nehmen, du Vollidiotin!« Er schlug mit beiden Händen auf den Schreibtisch und setzte die arme Frau einer Speichelfontäne aus. »Beine. Wir brauchen Beine. Wenn ich noch ein Foto von Kate Middleton oberhalb der Hüfte sehe, schmeiß ich dich aus dem Fenster.« Damit stolzierte Lansdowne auf der Suche nach seinem nächsten Opfer davon.

Adam hielt die Hand über den Hörer und raunte mir »zwei Minuten« zu, und ich überbrückte die Zeit, indem ich mich durch die Ausgabe vom Vortag blätterte. COUNTDOWN IM ROWNTREE-PROZESS. Unter der Schlagzeile prangte ein Foto aus dem letzten Jahr, das Rowntrees drei Söhne an Weihnachten zeigte. Harry, Danny und Jamiee saßen mit zerzausten Haaren, Pickeln und Zahnspangen um einen Tisch herum. Harrys Partyhut war verrutscht und stand ihm seitlich vom Kopf ab. Er lehnte sich an seinen großen Bruder Danny, der seinen rattenartigen Gesichtszügen langsam entwuchs. Leider würde keiner der drei Jungs mehr aus irgendetwas herauswachsen.

»Wie kann ich dir helfen, Kent?«

Ich löste den Blick von der ersten Seite. Milchschaum hing in Adams schwarzem Schnurrbart, und hinter der Krawatte stand der oberste Hemdknopf offen.

»Ich muss mit Charlie reden.«

»Ist nicht da.«

»Wo ist er?«

»Woher soll ich das wissen?« Adam wischte sich die Hornbrille mit dem Ärmel ab, dann bemerkte er meinen Gesichtsausdruck und seufzte. »Wahrscheinlich bei einem Briefing.«

»Wo ist eure Tabelle des Schreckens?« Damit meinte ich den farblich gekennzeichneten Zeitplan, der über Charlies Schreibtisch hing. Lansdowne hatte sämtlichen Abteilungen kürzlich so einen aufgedrückt, um das Personal besser im Auge behalten zu können. Alle hassten das Ding. Rowley hielt seine Journalisten für gewöhnlich an der langen Leine, und je weniger Zeit wir in der Redaktion verbrachten, desto besser. Er wollte uns in freier Wildbahn wissen, auf der Jagd nach Storys. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Ich warf einen Blick auf den Plan der Wirtschaftskollegen. Für heute war nichts eingetragen.

Ich rutschte von Charlies Schreibtisch. »Wenn Seine Hoheit eintrifft, sag ihm, er soll seinen Arsch zu uns rüberschwingen. Und sag ihm, dass er mir einen Smoothie schuldet.«

Zurück am Schreibtisch, versuchte ich es noch einmal bei Charlie. Dies ist die Mailbox von Charlie Swift, hinterlassen Sie mir ein paar warme Worte.

Ein Schatten fiel auf meinen Schreibtisch.

»Kent.« Macks Stimme schwankte zwischen Gereiztheit und Verzweiflung hin und her. »Rowley macht mir Druck. Wie weit bist du mit der Wasserleiche?«

»Ich habe eine vorläufige Identität, aber nichts Genaues.«

Mack zupfte sich die Ärmel zurecht, wobei ich einen Blick auf seine Manschettenknöpfe erhaschte: rund und silbern mit einem eingravierten W. »Wo ist Kate?«, fragte er. »Wie kommt sie mit dem Lkw-Unfall auf der M4 voran?«

»Frag sie doch selbst.«

Kate tauchte hinter ihm auf und verzog das Gesicht. »Was gibt’s, Süßer?«

Bei ihrem Anblick verdüsterte sich Macks Miene. Kate trat anderen nur zu gerne auf den Schlips. Ihr Pokerface war so undurchdringlich, dass sie oft als Zicke abgestempelt wurde. Nicht, dass es sie gejuckt hätte. Kate war eine draufgängerische Nachrichtenveteranin mit einer scharfen Zunge, die niemals still stand. Mack wusste nicht mit ihr umzugehen. Dummerweise speiste sich sein Selbstwertgefühl aus dem Respekt anderer, und er verstand nicht, dass man sich Respekt erst verdienen musste. Dafür war er einsame Spitze darin, sich einen schwer beschäftigten Anstrich zu geben, insbesondere vor Rowley. Eine Story hatte er allerdings seit Monaten schon nicht mehr gelandet. Wahrscheinlich lief es am Ende auf Mangel an Selbstvertrauen hinaus – er hatte sich die schwindelerregende Position als Redakteur nicht mit Blut und Schweiß erarbeitet, sondern durch geschicktes Taktieren erschlichen. Mir war schleierhaft, weshalb Mack die Stelle bekommen hatte und nicht Kate.

Mack wollte gerade etwas sagen, da wurde er von Lansdowne unterbrochen, der quer durch die Redaktion schnauzte: »Konferenz, und zwar sofort!«

Wir sprangen auf und marschierten ins Konferenzzimmer, das an Rowleys Büro grenzte. Die Klimaanlage war im Eimer, und dank der »überraschend frühlingshaften Temperaturen« war es noch stickiger als sonst. Irgendwer hatte einen Ventilator in eine Ecke gestellt, der unsere Unterlagen zusammen mit einer brackigen Brise über den Tisch verteilte. Ich hielt mir die Nase zu.

»Arschloch«, raunte Kate mit zugedrückter Nase, als Douglas Bannerman, der leitende Redakteur des Herald, zu seinem Platz schlurfte. Bannerman war Anfang fünfzig und sah mit seinem aschfahlen Teint aus, als hätte er den Großteil seines Lebens drinnen verbracht. Sein schwergängiger Verdauungstrakt war in der Redaktion berüchtigt. Jeden Morgen trank er einen doppelten Espresso und verschwand mit einer Autozeitschrift auf der Toilette, anschließend zog er den Geruch den ganzen Tag hinter sich her.

Da die Konferenz kurzfristig einberufen wurde, war nur die Notbesetzung am Start: die Chefs plus Nachrichtenredaktion. Rahid Sawney, seines Zeichens Nachwuchsjournalist, blätterte mit zitternder Hand in seinen Unterlagen. Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er knapp. Ich lächelte aufmunternd zurück. Ich arbeitete schon seit Jahren beim Herald, und trotzdem hatte ich bei jeder Konferenz wackelige Beine. Sobald man eine Idee laut äußerte, gab man sich zum Abschuss frei, und ich hatte schon zahlreiche Kollegen erlebt, die in tausend Stücke zerfetzt worden waren. Der Leistungsdruck wurde immer schlimmer, Zeitungen kämpften mit sinkenden Leserzahlen und begrenzten Mitteln, und dank der sozialen Netzwerke versanken wir mehr und mehr in Bedeutungslosigkeit.

Die Tür flog auf, und Lansdowne rauschte ins Konferenzzimmer. »Rowntree hat uns ein schönes Ei ins Nest gelegt. Wenn ihr jetzt auch noch versagt, dann Gnade euch Gott.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und pfefferte seinen Notizblock mit einer Wucht auf den Tisch, dass er quer über die Platte rutschte und auf dem Boden landete. Er blitzte Rahid an, der den Block rasch aufhob und ihn zurückgab.

Die Tür öffnete sich erneut, und Rowley kam herein. Sein Kugelbauch ragte aus dem offenen Sakko hervor, als er sich ans Kopfende setzte. Seine Glatze hatte die Farbe von Kiefernholz. Er war gerade frisch aus einem Urlaub auf den Seychellen zurück, wo er anscheinend die ganze Woche über an seinem Laptop gesessen hatte – zumindest ließen das die zahllosen E-Mails vermuten, die die Redaktion erhalten hatte.

»Kurz und schmerzlos, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Um zwölf habe ich ein Meeting mit dem Vorstand.«

Unruhe breitete sich im Raum aus. Vor einem Monat hatte die Parade der grimmigen Anzugträger in Rowleys Büro begonnen, und sofort hatte die Gerüchteküche gebrodelt. Stand uns eine Fusion bevor? Eine Übernahme? Das Jüngste Gericht? Rowley wirkte zunehmend geistesabwesend, und Lansdownes Verhalten erklomm neue Extreme. Die gesamte Redaktion war in höchster Alarmbereitschaft. Anzugträger überbrachten nur selten gute Neuigkeiten.

Rowley wandte den Blick zur Decke, dann schaute er zu Mack. »Was sind deine Top Drei?«

Mack schlug sein Notizbuch auf und strich sich über das glänzende schwarze Haar. »Wir sitzen gerade am Lkw-Unfall in Coventry. Vier Leute schweben noch in Lebensgefahr, drei Polen und ein Brite. Rahid arbeitet an Hintergrundinfos zum Fahrer.«

»Unfallursache?« Lansdowne klang zwar gelangweilt, doch sein scharfer Blick sprach Bände. Er tat gerne so, als würde er nicht zuhören, damit man seinen rechten Haken nicht kommen sah.

»Möglicherweise Trunkenheit am Steuer. Bald wissen wir mehr, der Fahrer hat einem Interview praktisch schon zugestimmt. Wenn das klappt, können wir damit eine Seite füllen, oder?« Mack kaute an seinem Fingernagel herum.

Rowley brummte tonlos, was so viel bedeutete wie »Für solchen Quatsch habe ich keine Zeit«.

Kate holte tief Luft. »Ein Wort: U-Bahn-Streik.« Sie war mit die Einzige, die anscheinend keinen Druck spürte. Eine Bombe könnte in der Redaktion hochgehen, und Kate würde sich einfach den Staub abwischen, sich den Notizblock schnappen und allen die Feuerleiter hinabhelfen, während sie Zeugenaussagen notierte und sich Schlagzeilen ausdachte.

»Die Wichser wollen die Stadt über das lange Wochenende stilllegen.« Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause – sie wusste ganz genau, dass Rowleys Schwiegereltern aus Südafrika zu Besuch waren und er in London bleiben musste.

Rowley biss angesichts des Albtraumwochenendes aus Verkehrskollaps und Touri-Massen die Zähne zusammen. »Was ist dein Aufmacher?«

Kate beugte sich vor. »Angeblich hat der Verkehrsminister ein Verhandlungsangebot gemacht, aber der Gewerkschaftsführer hat das schön für sich behalten. Ich wette, die in der Gewerkschaft freuen sich ein zweites Loch in den Po, wenn die das spitzkriegen.«

Lansdowne schlug mit der Faust auf den Tisch. »Schön und gut, aber wo sind Mord und Totschlag? Wollt ihr mir wirklich weismachen, dass in einem Land mit sechzig Millionen Einwohnern nichts Spannenderes passiert als ein Streik und ein Lkw-Unfall auf der M4? Die Leute interessieren sich doch nur für Sex und Leichen. Und einen Sexskandal hat ja nicht zufällig jemand an der Hand, oder?«

Ich verdrehte die Augen und bereute es sofort, als Lansdowne mich mit einem scharfen Blick an den Stuhl nagelte. Sein Mund verzog sich zu einem bedrohlichen Lächeln. »Sophie, würdest du gerne was zur Diskussion beitragen? Hier sitzen über sechzig Jahre gesammelte Erfahrung vor dir, aber du siehst das anders, ja?«

Adrenalin schoss mir durch die Adern und löste mir die Zunge. »Ich habe einen Mordfall. Heute Morgen wurde eine Frauenleiche in der Themse gefunden.« Lansdowne lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und wirkte angesichts der Leiche – noch dazu die Leiche einer Frau – vorübergehend beschwichtigt. Die beste Art Leiche, dachte ich bitter und brachte meine Kollegen auf den neuesten Stand.

Rowley klopfte mit dem Handy auf den Tisch. »Wir haben also Namen und Arbeitgeber.«

»Der Name ist noch nicht bestätigt.« Ich klang entschuldigend und ärgerte mich über mich selbst. »Aber ich gehe nachher in die Kanzlei, und auf Facebook habe ich auch was gefunden.« Ich schob die Fotos der Weihnachtsfeier über den Tisch. »Dieser Typ interessiert mich, Bert Hughes. Außerdem hatte sie über Twitter Kontakt mit Charlie Swift, so könnten wir also auch an sie rankommen.«

Mack, den Rowleys Miene zu ermuntern schien, legte die Arme auf den Tisch und beugte sich vor. »Ich glaube, das könnte funktionieren, wenn wir es zusammen mit der Rede des Premierministers über sinkende Kriminalitätsraten bringen, mit denen er die weiblichen Wähler bekommen wollte.« Ich hielt die Luft an und hoffte, Mack würde weiterreden. »Dieser Mord passt ihm also gar nicht in den Kram, und wir freuen uns doch über alles, was diese dämlichen Torys dumm dastehen lässt.«

Mein Wohlwollen verflüchtigte sich. Mack hielt seine Privatschulkarriere und sein zweites Haus in Wiltshire geheim, weil er es sich nicht mit Rowley verscherzen wollte. Rowley kam aus York, war ein knallharter Sozi und der Erste in seiner Familie mit einem Schulabschluss, von der Uni ganz zu schweigen. Er klagte gerne über den Kapitalismus, doch wir nahmen ihm die Nummer nur bedingt ab. Wer in einem Hochglanzmercedes zur Arbeit chauffiert wird, kann nur schwerlich Sozialismus predigen.

Rowley räusperte sich. »Das hier sind unsere Prioritäten: tote Anwältin, Lkw-Unfall, U-Bahn-Streik. Mack, schick mir um vier ein Update. Und falls Rowntree doch noch vorher zum Abschluss kommt, können wir alle einmal tief durchatmen.«

Er klappte sein Notizbuch zu, und alle standen auf, um so schnell wie möglich zu fliehen.

»Sophie, kannst du bitte kurz warten?«

Nachdem sich der Raum geleert hatte, spähte Rowley mich über seine Brille hinweg an. »Wie geht’s dir?«

»Gut, wenn ich mit der Arbeit weitermachen kann.«

»Wie war’s bei der Therapie?«

Ich dachte an die letzte Sitzung. Dr. Spado, wie immer im Rollkragenpulli, hatte an seiner Brille herumgespielt, um davon abzulenken, wie genervt er war, dass ich den Fragen über meine Eltern auswich. Die kaputte Beziehung zu meiner narzisstischen Mutter und meinem tyrannischen Vater waren mein Problem, nicht seins.

»Schlafen Sie auch genug?«, hatte Dr. Spado gefragt und mich aus kleinen braunen Augen gemustert.

Ich kaute an meinem Fingernagel herum. Vor nicht allzu langer Zeit hatte mir mein Privatleben noch das Hirn vernebelt, mein Urteilsvermögen getrübt und den Herald in eine schwierige Situation gebracht, weswegen Rowley mich gefeuert hatte. Damals erkannte ich, dass meine Arbeit beim Herald nicht nur irgendein Job war, sondern mein Leuchtturm in der Dunkelheit. Schlussendlich wurde ich zwar wieder eingestellt, doch die Angst, alles zu verlieren, hatte mich noch immer fest im Griff. Wenn ich Dr. Spado die Wahrheit erzählt hätte, hätte er mich garantiert nicht zurück zur Arbeit gelassen. Deswegen behauptete ich, meine Albträume hätten nachgelassen, und zeigte ihm das Foto von mir und meinem Bruder Tommy, das ich mittlerweile im Portemonnaie trug. Ich erklärte ihm, ich könne mir Tommys schüchternes Lächeln und seine Sommersprossen inzwischen ansehen, ohne direkt von dem nächsten Gedanken überwältigt zu werden, nämlich dass mein kleiner Bruder mich kurz vor seiner Ermordung angerufen hatte, ich aber sauer auf ihn war und nicht abhob und er deswegen in dem Glauben starb, ich würde mich nicht für ihn interessieren, und der Gedanke löse in mir auch nicht mehr den Wunsch aus, in den Spalt zwischen meinem Bett und der Wand zu kriechen und nie wieder hervorzukommen. Wieder und wieder tischte ich ihm die Geschichte auf und lächelte, bis mir das Gesicht wehtat. Dr. Spado seufzte und stellte mir mit seinem schwarzen Füller ein Rezept aus. An diesem Abend ging ich nach Hause und zählte die Tabletten ab, zählte die Schlafeinheiten.

Ich räusperte mich. »Die Therapie hat mir wirklich geholfen.« Stimmen schwirrten mir durch den Kopf – blinzeln, lächeln, lächeln, blinzeln. »Ich schlafe ausreichend und gehe zur Arbeit und erhole mich. Du brauchst dich nicht ständig danach zu erkundigen.«

Rowley sah mich durchdringend an und zeigte dann zur Tür. »Ich frage so lange nach, bis du mir die Wahrheit sagst.«

3

Die Kanzlei von Hamilton Law war in einem mehrstöckigen Ziegelbau am Manchester Square untergebracht, der von einem Gerüst umgeben war. Ich wich einer Gruppe Touristen in Regenjacken aus und ging durch eine Drehtür in die Lobby, in der es nach Pfefferminz und teurem Parfüm roch. Ein Wasserfall ergoss sich plätschernd in einen ovalen Teich, in dem leuchtend orange Fische durch schwarzes Wasser kreuzten.

Ich ging zum Empfang, hinter dem in großen Kupferbuchstaben HAMILTON LAW an der Marmorwand stand.

Eine hübsche Asiatin schaute mit leerem Lächeln zu mir auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ist Bert Hughes im Haus?«

»Haben Sie einen Termin?«

»Wir sind befreundet. Ich war zufällig in der Gegend und dachte, ich überrasche ihn mal.«

»Ohne Termin kann ich Sie leider nicht hochlassen.«

Ich lehnte mich an die Empfangstheke und lächelte. »Nicht mal, wenn es eine Überraschung ist?«

Die Frau musterte mich kühl und nahm dann den Hörer in die Hand. »Louise, Dawn vom Empfang. Ich habe hier eine Dame, die zu Mr Hughes will. Sie meint, sie sei eine Freundin.« Sie trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Alles klar, ich sag ihr Bescheid.« Sie legte auf. »Mr Hughes ist in New York und kommt erst morgen zurück. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

Ich wollte gerade etwas erwidern, da öffneten sich die Aufzugtüren, und eine schlanke, dunkelhaarige Frau kam heraus. Sie kramte stirnrunzelnd in ihrer übergroßen Handtasche. Ich beobachtete, wie sie mit der Eleganz einer Ballerina durch die Lobby glitt.

»Rachel Cornish?« Ich folgte ihr zum Eingang.

Sie drehte sich ruckartig um und schaute mich fragend an. »Ja?«

Sie hatte sich die Haare zu einem strengen Dutt gebunden, der an den Schläfen spannte. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint. Wusste sie schon, dass Sabrina Hobbs tot war?

»Hätten Sie ein paar Minuten Zeit?«

»Wer sind Sie?«

Ich zögerte, entschied mich dann jedoch für die Wahrheit. »Sophie Kent. Ich arbeite beim London Herald. Ich sitze gerade an einer Story …«

Rachel unterbrach mich mit einer manikürten Hand. »Ich weiß, Mobbing am Arbeitsplatz. Kein Interesse. Der Laden hier kann mich mal.« Den letzten Satz rief sie über die Schulter, und die Mundwinkel der Empfangsdame zuckten.

Ich blieb Rachel dicht auf den Fersen, während sie wütend die Straße entlangstapfte. »Darf ich Ihnen einen Kaffee ausgeben?«

Rachel widersprach nicht. Nach ein paar Sekunden seufzte sie schließlich. »Haben Sie schon mal irgendwo gearbeitet, wo man geben kann, so viel man will, aber am Ende kommt es doch nur darauf an, ob man einen Penis hat?«

Ich lachte auf, riss mich aber zusammen, als ich ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich arbeite bei der Zeitung. So viele Schwanzträger auf einem Haufen haben Sie noch nicht gesehen.«

Rachel deutete ein Lächeln an. »Da haben Sie noch keine Großkanzlei erlebt. Ganz ehrlich, wenn man bloß …« Sie verstummte, als ihr wieder einfiel, mit wem sie redete.

Vor einem kleinen Café mit roter Markise standen zwei Tische ohne Stühle, eine laminierte Karte hing an einem speckigen Fenster.

Ich folgte Rachel hinein. »Was wollen Sie trinken?«

Sie lehnte sich anmutig an die Theke. »Americano. Schwarz. Danke.« Sie zückte ihr Handy und klackerte mit roten Fingernägeln auf dem Display herum.

Ich stellte mich in die Schlange und überlegte, wie ich am besten an Rachel herankäme. Sie wirkte nicht wie jemand, der gerade erfahren hatte, dass seine Chefin umgebracht worden war. Das bedeutete, mir stand ein unangenehmes Gespräch bevor. Das Überbringen von schlechten Nachrichten gehörte zum Job und machte mir keinen Spaß, aber noch weniger Spaß machte es mir, den Zugang zu einer potenziellen Informantin zu verlieren.

Ich reichte ihr den Kaffee. »Sollen wir ein bisschen frische Luft schnappen?«

Rachel steckte das Handy weg und folgte mir nach draußen. Schweigend schlenderten wir zurück Richtung Manchester Square.

Schließlich beendete Rachel die Stille. »Tut mir leid wegen vorhin. Ich hatte einen schlechten Morgen.«

»Was ist passiert?«

Rachel setzte sich auf eine Bank und trank einen Schluck Kaffee. Sie zuckte zusammen, als das heiße Gebräu ihr die Lippen verbrannte. »Ich habe wirklich kein Interesse an dieser Sexismus-Story. So was mache ich nicht.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, und wollte gerade fragen, da schaute sie auf die Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit … sorry, wie hießen Sie noch gleich?«

»Sophie. Und in dem Fall mache ich es kurz. Es geht um ihre Chefin, Sabrina. Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.« Ich räusperte mich. »Sie ist tot. Viel mehr weiß ich momentan noch nicht.«

»Sabrina ist tot?« Kaffee schwappte aus Rachels Becher.

Ich nahm ihn ihr ab, und sie schüttelte sich das heiße Getränk von der Hand. »Alles okay mit Ihnen?«

»Nein. O Mann. Sabrina ist tot?«

Ich nickte langsam und ließ Rachel ein wenig Zeit. Ich wusste, dass sie Fragen stellen würde, und ich wollte sie nicht unterbrechen.

Rachel blies sich auf die verbrühte Stelle. »Was ist passiert?«

Ich zögerte kurz und schlug dann einen sanfteren Ton an. »Ihre Leiche wurde heute Morgen in der Themse gefunden. Ich war vor Ort, um darüber zu berichten. Mein Beileid.«

Rachel schaute weg. Wir saßen einen Augenblick lang schweigend da und beobachteten eine verfettete Taube, die sich an den Resten eines Hamburgers gütlich tat. Ich merkte, dass Rachel sich nur mit großer Anstrengung zusammenreißen konnte, und stellte ihr zur Ablenkung eine einfache Frage.

»Wie lange arbeiten Sie schon bei Hamilton Law?« Ich gab ihr den Kaffee zurück.

»Seit drei, nein, vier Jahren.« Sie starrte auf den Boden, ihre Stimme war unsicher. »Davor habe ich getanzt. Ich war an der London Dance Academy, Jahrgangsbeste.«

Das erklärte ihre Haltung. »Was ist passiert?«

»Bei der ersten Show bin ich im Refrain von Cabaret gestolpert und habe mir ein Band im Knie gerissen. Das war’s dann mit der Tanzkarriere.«

»Und jetzt arbeiten Sie in einer Kanzlei.«

Sie lächelte angespannt. »Als Sekretärin. Ziemlich ernüchternd nach dem Scheinwerferlicht im West End.«

»Haben Sie die ganze Zeit über für Sabrina gearbeitet?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Am Anfang war ich bei Mr Whitaker, aber der ist dann in eine andere Kanzlei gewechselt. Dann habe ich erst für Mr Hughes gearbeitet und danach für Sabrina.«

Ich runzelte die Stirn. »Mr Hughes? Bert Hughes?«

»Ja, aber nur für ein paar Monate.«

»Wieso?«

Rachel wandte den Blick ab. »Wir haben nicht gut miteinander harmoniert.«

Ich leerte meinen Kaffee und stopfte den Becher in meine Handtasche. Mehr würde ich zu dem Thema nicht aus ihr herausbekommen. »Rachel, ich muss über Sabrinas Tod berichten, und ich will ihr gerecht werden. Könnten Sie mir etwas über sie erzählen, damit ich einen Eindruck davon bekomme, was sie für ein Mensch war?«

Rachel verlagerte ihr Gewicht. »Hören Sie, ich will keinen Ärger. Ich bin nicht der größte Fan von HL, aber ich will auch nicht gefeuert werden.«

Ich nickte. »Ich halte Ihren Namen da raus.«

Rachel holte tief Luft. »Das ist doch verrückt. Am Samstagmorgen habe ich noch mit ihr gesprochen.«

»Wie hat sie da auf Sie gewirkt?«

»Typisch Sabrina.«

»Was meinen Sie damit?«

Rachel seufzte. »Sie war gerade bei der Akupunktur. Sie stand auf alternative Heilmethoden. Akupunktur, Reiki, Kristalle, das volle Programm. Ich habe regelmäßig Termine für sie vereinbart.«

»Und am Samstag rief sie an, weil …«

»Ich hatte ihre Termine durcheinandergebracht und Reiki statt Reflexzonenmassage gebucht. Deswegen war sie sauer.«

»Verstehe.«

»Sabrina ist ziemlich anstrengend. War ziemlich anstrengend. Attraktiv, erfolgreich, viel Geld, sportlich. Aber neben der Arbeit hatte sie kaum ein Leben. Deswegen hat sie ihre Gesundheit zum Hobby gemacht.«

»Kaum ein Leben. Heißt das, auch kein Liebesleben?«

Rachel wirkte angespannt. »Dazu kann ich nichts sagen.«

Ich merkte, dass der erste Schock langsam nachließ, und ihr dämmerte, dass sie mit einer Journalistin zusammensaß und sensible Fragen beantwortete. Ich musste schwereres Geschütz auffahren.

Ich strich mir die Hose glatt. »Der Herald gibt jedes Jahr eine Jura-Sonderbeilage heraus. Die fünfzig besten und schlechtesten Kanzleien für angehende Anwälte. Ich kann den Kollegen von Ihren Problemen berichten. Heutzutage will sich keine Kanzlei Ungleichbehandlung vorwerfen lassen. Das würde womöglich ein bisschen Leben in die Bude bringen.«

Rachel warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Da kommen Sie zu spät.«

»Was meinen Sie damit?«

»Hamilton Law wird schon bloßgestellt. Von Ihrer Zeitung.«

Ich runzelte die Stirn. »Der Herald bringt eine Story über Hamilton Law?«

Rachel lächelte traurig. »Sabrina hat bei so was nicht tatenlos zugesehen. Sie wusste, dass man Schikane am besten bekämpft, indem man sie ans Licht bringt.«

»Sie meinen, in der Presse?«

Rachel nickte. »Sie hat sich mit jemandem getroffen. Einem Mann. Ich weiß nicht, wie er hieß, aber er war an der Story interessiert.«

Da fiel der Groschen. Ich öffnete Twitter und klickte auf Charlie Swifts Profilfoto. »War das hier der Kollege, mit dem sie geredet hat?«

Rachel schaute auf das Display. »Ja, das ist er. Hübscher Kerl.«

Die Reaktion war ich gewohnt. Die Hälfte der weiblichen Belegschaft des Herald stand insgeheim auf Charlie, die andere Hälfte machte keinen Hehl daraus. Vor Jahren hatte er versehentlich eine Massenhysterie ausgelöst, indem er in einem hautengen Spidermankostüm bei einer Redaktionsparty aufgekreuzt war. Mit dem roten Ganzkörperkondom zog ich ihn heute noch gerne auf.

Ich ärgerte mich, dass ich mit meinem Angebot nicht weiterkommen würde. »Wogegen hat Sabrina wirklich gekämpft?«

»Sie wurde kürzlich zur Partnerin ernannt. Die internationale Konkurrenz war groß.«

»Aber widerspricht das nicht Ihrer Sexismustheorie?«