Perfekter Hass - C. J. Lyons - E-Book

Perfekter Hass E-Book

C. J. Lyons

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Beschreibung

Zwei Monate ist es her, seit Dr. Cassandra Hart einen Mann in Notwehr töten musste. Jetzt hat sie ihre Arbeit im Krankenhaus wieder aufgenommen. Doch als sie die scheinbar perfekte Mutter eines kleinen Jungen des Kindesmissbrauchs bezichtigt, glaubt so manch einer ihrer Kollegen, sie sei zu früh in den Job zurückgekehrt. Derweil versucht Detective Mickey Drake den Mord an seinem Vater aufzuklären, der vor sieben Jahren getötet wurde. Drake ist überzeugt, dass der Täter erneut zuschlagen wird und dass Cassandras Leben in Gefahr ist.

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Inhalt

Titel

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Über die Autorin

Die Romane von C. J. Lyons bei LYX

Impressum

C. J. LYONS

Perfekter Hass

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Dorothea Kallfass

Über dieses Buch

Erst wenige Wochen sind vergangen, seitdem Dr. Cassandra Hart knapp einem Anschlag auf ihr Leben entkommen konnte. Unsicherheit und Schuldgefühle nagen an ihrer Beziehung zu Detective Mickey Drake. Um diesen zu entgehen, stürzt sie sich Hals über Kopf in die Arbeit. Als eine junge Frau völlig aufgelöst mit ihrem kleinen Sohn in die Notaufnahme stolpert, kommt Cassie ein furchtbarer Verdacht. Die mitfühlende Mutter scheint in Wahrheit eine teuflische Freude an den Schmerzen ihres Kindes zu haben. Nach außen hin gibt sie jedoch die perfekte Ehefrau und Vorzeigemutter, die sich zudem aufopferungsvoll um hilfsbedürftige Menschen kümmert. Als Cassie ihrem Instinkt vertraut und Nachforschungen anstellt, schlägt ihr von allen Seiten Unverständnis und sogar offene Feindseligkeit entgegen. Einzig und allein Mickey hält zu ihr, doch als Cassie sich eigenmächtig in Gefahr begibt und selbst unter Verdacht gerät, drohen kaum verheilte Wunden wieder aufzubrechen …

1

Das letzte Mal, als Dr. Cassandra Hart ins Pittsburgher Three Rivers Medical Center gekommen war, hatte das Blut des Mannes an ihr geklebt, den sie getötet hatte.

Ganz zu schweigen von den Schädelsplittern und der Gehirnmasse.

Heute, einundvierzig Tage später, blieb Cassie unter dem großen Marmorengel vor dem Eingang zur Notaufnahme stehen. Ihre klammen Finger schlossen sich fest um den Gummigriff ihres Krückstocks. Einst war das Three Rivers Medical Center ihr zweites Zuhause gewesen, einer der wenigen Orte, an denen sie sich wohl, ja geborgen gefühlt hatte. Jetzt zog sich ihr angstvoll der Magen zusammen, wenn sie die Glastüren betrachtete, ein drängender Schmerz, so heftig wie der im verletzten Knöchel.

Beim letzten Mal war sie nicht als Ärztin, sondern als Patientin über diese Schwelle gegangen. Als Opfer.

Wenn sie an die Reaktionen ihrer Kollegen zurückdachte, kam ihr die Galle hoch. Überraschte Gesichter, mitleidige Blicke und schließlich die Angst in ihren Augen, als sie erfuhren, was Cassie hatte tun müssen, im Keller gefangen, allein mit einem Killer.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte die Erinnerung zu verscheuchen. War sie dem wirklich schon gewachsen? Hatte sie noch das Zeug dazu? Es standen Menschenleben auf dem Spiel. Wenn ihr nun ein Fehler unterlief, durch den jemand zu Schaden kam? Der Zweifel nagte unaufhörlich an ihr. Sie könnte noch warten. Ihr Chef und die behandelnden Ärzte hatten sie dazu gedrängt. Sie hatten behauptet, es sei noch zu früh, um wieder zu arbeiten.

Cassie öffnete die Augen und merkte, dass sie sich unwillkürlich über den Stock gebeugt hatte. Ihr Blick war auf den Asphalt gerichtet, der nach den heftigen Aprilschauern mit Schlamm besprenkelt war. Ihre Hände lagen schwer auf der Krücke, als hielte nur dieses dünne Metallrohr sie aufrecht.

Wie sehr sie das verfluchte Ding verabscheute.

Lashav, dachte sie. Das war eins von Oma Rosas liebsten Romani-Schimpfwörtern. Beschämend! Sie konnte verdammt noch mal auf eigenen Beinen stehen.

Cassie richtete sich auf und blickte der blutroten Aufschrift Emergency Department entgegen. Sie atmete einmal tief durch und balancierte sich ohne den Gehstock aus. Mit einem letzten Blick zu dem Marmorengel schickte sie ein Stoßgebet in den Himmel und bat um Hoffnung, um Stärke, um die Kraft, diesen Tag zu überstehen.

Die letzten Meter bis zum Eingang legte Cassie ohne Stütze zurück. Den Stock warf sie in den Müll. Die Glastüren glitten zischend auf, und sie trat ein.

»Es lag doch an dieser Ärztin, Dr. Cassandra Hart, dass Sie beinahe ums Leben gekommen wären, nicht wahr, Detective Drake?«

»Ja. Nein!« Mickey Drake riss sich vom Anblick des PNCParks los, dem Heimstadion der Pittsburgh Pirates, und wandte sich dem Amtspsychiater zu.

Er hieß Noah White, war aber schwarz wie Ebenholz. White sprach mit angenehm weichem Südstaatenakzent. Genau der richtige Tonfall für beruhigende Gespräche mit nervösen Männern, die Waffen trugen und damit umgehen konnten.

»Nein, das haben Sie falsch verstanden. Sie hat mir das Leben gerettet.«

»Aber ohne Dr. Hart wären Sie gar nicht erst in diese Situation geraten und folglich auch nicht angeschossen worden, sehe ich das richtig?«

Wie schafften diese Seelenklempner es bloß, einem immer das Wort im Mund herumzudrehen? Was das anging, waren sie fast so schlimm wie Anwälte. Drake fuhr herum und biss sich auf die Zunge, um nichts Unüberlegtes zu sagen. Ohne Whites Bewilligung ließ ihn die Untersuchungsstelle zum Schusswaffengebrauch nicht wieder arbeiten. Und da er den Termin für das psychiatrische Gutachten bereits zweimal verschoben hatte, war dies seine letzte Chance.

Drake ballte die Hände zu Fäusten, während er im Behandlungszimmer auf und ab ging. Verdammt, das Bein tat weh. Obwohl die Chirurgen sagten, die Wunde sei ausgeheilt, spürte er immer noch einen festen Knoten im Oberschenkel, dort, wo die Kugel ihn getroffen hatte.

»Detective?« Whites Einwurf lenkte Drakes Gedanken wieder aufs eigentliche Thema.

»Es stimmt, ohne Dr. Hart wäre es gar nicht erst dazu gekommen.« Drake fuhr sich durch das dunkle Haar, das dringend geschnitten werden musste. Um dem kritischen Blick des Seelenklempners zu entgehen, trat er wieder ans Fens- ter.

Von dem Bürogebäude im Pittsburgher Stadtteil Northside hatte man eine großartige Aussicht aufs Stadion PNCPark. Die Rasenfläche strahlte in sattem Smaragdgrün. April. Heimspiele, heller Sonnenschein. Verflucht, er vermisste das Three Rivers Stadium, in das ihn sein Vater als kleiner Junge mitgenommen hatte. Drake musste daran denken, wie er sich mit ausgestrecktem Baseballhandschuh weit über die Umzäunung an der dritten Base gelehnt und angespannt auf einen Ball gewartet hatte, der versehentlich ins Aus geschlagen wurde.

Er schüttelte die Erinnerung ab, kehrte dem Frühling und den Aktionen der Pittsburgh Pirates den Rücken und wandte sich White zu.

»Den Mörder hätten wir ohne Dr. Hart aber auch nicht geschnappt«, gab er zu bedenken, um den Analytiker von seiner Beziehung zu Hart abzulenken. Eine Beziehung, die er verwirrend und beängstigend fand. Er würde nicht zulassen, dass irgendein Psychofritze diese Gefühle sezierte.

»Aufarbeiten belastender Situationen«, nannte die Polizeibehörde von Pittsburgh diese Sitzungen. »Ausgewachsener Blödsinn« traf es wohl eher. Wozu dasitzen und über etwas sprechen, das bereits geschehen war? Er wollte einfach wieder arbeiten dürfen.

»Das klingt, als wären Sie verärgert. Vielleicht weil Hart etwas getan hat, was eigentlich Ihre Pflicht als Polizist gewesen wäre?«, fragte White ausdruckslos, immer noch auf der Suche nach Drakes psychischen Schwachpunkten.

Drake blieb stumm. Ihm war, als könnte er weit unten das leise Klock hören, mit dem Ball und Schläger aufeinandertrafen. Es klang ganz ähnlich wie das Geräusch, wenn eine Metallstange einen menschlichen Schädel zertrümmerte.

»Oder liegt es doch daran, dass Sie ihretwegen beinahe gestorben wären?«, hakte White nach.

Base für Base rückten die Läufer vor, und das Gebrüll des Publikums wehte zu Drake herüber. In seinen Ohren klangen die abgehackten Schreie wie Schüsse, die dicht neben ihm abgefeuert wurden. In seinem Nacken bildeten sich Schweißperlen und liefen in den Hemdkragen. Drake kämpfte gegen die Erinnerung an, wie sich die Kugel in seine Brust gebohrt hatte, sodass seine Lunge kollabiert war. Wie er geglaubt hatte, dies sei sein letzter Atemzug.

»Ich bin Hart nicht böse«, sagte er zu seinem Spiegelbild.

»Nein? Was löst es stattdessen in Ihnen aus?«

Ihm stand dieses Psychogequatsche bis obenhin. Er wirbelte zu White herum, obwohl ihm dabei ein stechender Schmerz in den Oberschenkel fuhr. »Verraten Sie es mir. Sie haben doch auf alles eine Antwort. Was sollte ich denn fühlen?«

White verzog enttäuscht den Mund. Ein Gesichtsausdruck, den Drake nur allzu gut kannte. Sein Vater hatte ihn oft auf die gleiche Art angesehen, mit diesem Blick, der besagte: »Ich hätte mehr von dir erwartet«. Auch für ihn hatte Drake nie die richtigen Antworten parat gehabt.

Seufzend ließ er sich in den Polstersessel sinken, der am weitesten von White entfernt stand. Es führte nur ein Weg zum Dienst auf der Straße zurück – er musste sich an Whites Regeln halten.

»Ich ärgere mich über mich selbst«, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor. Verdammt, es war ihm einfach zuwider, darüber zu sprechen. »Ich bin Polizist. Ich hätte sie beschützen sollen. Ich hätte derjenige sein müssen …«

Er verstummte. Sein Blick war plötzlich wie durch einen Schleier aus Blut getrübt, obwohl helles Sonnenlicht ins Büro fiel. Er blinzelte und sah wieder White vor sich, der unbewegt darauf wartete, dass er weitersprach.

»Sie wissen, dass Dr. Hart in jener Nacht einen Mann getötet hat, oder?«, fuhr Drake fort. »Sie hat ihm mit einer Metallstange den Schädel eingeschlagen.«

Im Baseballstadion brandete erneut Jubel auf, wie um seine Worte zu untermalen.

Der Psychiater nickte und faltete die Hände über dem ausladenden Bauch. Mit der Glatze, der randlosen Brille und dem Vollbart ähnelte er einem dunkelhäutigen Weihnachtsmann. Drake konnte nur hoffen, dass White wirklich ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk für ihn hatte – das Ticket für den Einsatz auf der Straße.

»Und Sie geben sich selbst die Schuld daran, dass Dr. Hart zu einer so schrecklichen Tat gezwungen war?«

Drake nickte, den Blick fest auf den Teppich unter seinen Füßen gerichtet. »Sie ist Notfallärztin. Es gibt da so einen lateinischen Ausdruck, einen Eid, den alle Ärzte ablegen …«

»Primum non nocere«, half ihm sein Gegenüber. »Zuerst einmal nicht schaden.«

»Ja, wie auch immer. Jedenfalls ist es seitdem zwischen uns nicht mehr wie vorher.« Drake schloss die Augen. Wenn dies nicht die einzige Möglichkeit wäre, weiter arbeiten zu können, wäre er überhaupt nicht hier. Besser fühlte er sich jedenfalls nicht. Eher schlechter.

»Nach allem, was vorgefallen ist, wünschen Sie sich immer noch eine Beziehung zu ihr?« Es klang überrascht.

Drake riss die Augen auf. »Selbstverständlich.«

»Aber Hart hat Vorbehalte?«

»Sie hat schlechte Erfahrungen gemacht. Ihr Exmann war gewalttätig. Aber sie hat sich von ihm getrennt.« Er musste lächeln. »Einmal hat sie dem Kerl sogar ein Veilchen verpasst, als er sie bedrängt hat.«

Der Seelenklempner schwieg. Drake bereute, dass er Harts Exmann Richard King überhaupt erwähnt hatte. Inzwischen war der Typ zwar an einen Rollstuhl gefesselt, aber er und sein Bruder, ein Anwalt, sorgten weiterhin für jede Menge Ärger. Sie machten Hart für den Unfall verantwortlich, durch den Kings chirurgische Karriere ein jähes Ende gefunden hatte.

»Es war Notwehr«, sagte er, um zu retten, was noch zu retten war. White blieb stumm. Nur das zermürbend langsame Ticken der Uhr war zu hören. »Sie ist keine gewalttätige Person. Sie neigt nur zu starken Gefühlen.«

»Auch was ihren Exmann betrifft?«, fragte der Arzt sachlich.

»Nein. Das ist vorbei.« Drake erhob sich aus dem Sessel und fing wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Wie zum Teufel waren sie jetzt auf dieses Thema gekommen? »Sie tut einfach alles mit großer Leidenschaft. Das Ganze ist überhaupt nur passiert, weil sie unbedingt einer Patientin helfen wollte. Wenn ihr Interesse erst einmal geweckt ist, fühlt sie sich für alles zuständig, was mit der Angelegenheit zusammenhängt. Und sie lässt nicht locker, sie hört nicht auf, bis alles geklärt ist.«

»Engagiert«, schlug White vor.

»Wohl eher besessen. Risikobereit, unnachgiebig. Furchtbar unnachgiebig. Herrgott, Doc, das Wort ›Sturheit‹ müsste für Cassandra Hart neu erfunden werden.« Ihren Vornamen laut auszusprechen rührte an etwas tief in seinem Inneren. Er atmete gepresst ein und wandte sich ab, um seine Gefühle zu verbergen. Dabei sah er Harts Gesicht vor sich: helle Haut, hohe Wangenknochen, die ihr etwas Fremdartiges verliehen, dunkles Haar und Augen, in denen ein Mann sich verlieren konnte. Er atmete tief durch und sammelte sich, bevor er sich wieder zu White umdrehte.

»Über Dr. Hart zu sprechen, scheint Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.«

Das war noch untertrieben. »Sie hat mich wirklich oft aus der Bahn geworfen.«

»Wieso sprechen Sie davon in der Vergangenheitsform?«

»Hart selbst gehört für mich nicht der Vergangenheit an.« Er rang nach Worten. »Nur diese überwältigende Leidenschaft … Sie wissen schon, was ich meine. Ein Gefühl, als ob man fällt oder in einen Strudel hineingezogen wird, der einen immer weiter in die Tiefe zieht, aber in dem Moment ist es einem egal. Das ist vorbei.«

White legte den Kopf schief. »Aber ist es nicht gerade das, was die meisten Menschen an der Liebe so aufregend finden? Hält diese Leidenschaft eine Beziehung nicht lebendig?«

»Kann schon sein. Aber ich bin dadurch nachlässig geworden, und das hat Hart beinahe das Leben gekostet.«

»Und was sagt Ihre Frau Doktor dazu? Teilt sie diese neue Sicht auf die Dinge?«

»Das reicht ja wohl für heute«, sagte Drake beiläufig, als hätten sie über das Eröffnungsspiel der Pirates geplaudert.

Seit er letzte Woche nach Pittsburgh zurückgekehrt war, hatten er und Hart noch nicht richtig miteinander gesprochen. Zumindest nicht über wesentliche Dinge. Zum Beispiel dass ihm jedes Mal das Herz zu zerspringen drohte, wenn sie ihm nahe kam. Oder dass es ihm die Kehle zuschnürte und ihm der kalte Schweiß ausbrach, wenn er sah, wie sehr ihre natürliche Anmut durch die gerissene Achillessehne gelitten hatte. Dass ihn jede ihrer Bewegungen daran erinnerte, was er beinahe für immer verloren hätte. »Die Zeit ist doch um, oder nicht?«

White schaute nicht einmal auf die Uhr. »Nein. Wir haben noch ein paar Minuten. Setzen Sie sich.«

Drake setzte sich auf die äußerste Kante des Sessels und ließ die Hände zwischen den Knien baumeln.

»Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Dr. Hart beschreiben?« Diese Folter nahm einfach kein Ende. Drake hätte am liebsten laut aufgestöhnt, beherrschte sich aber und senkte stattdessen den Kopf. Wie sollte er in Worte fassen, was er für Hart empfand? Wieso sollte er überhaupt Zeit darauf verschwenden? Eigentlich müssten sie doch über Drakes Schusswaffengebrauch sprechen. Damit er wieder draußen auf der Straße arbeiten durfte, wo er hingehörte.

Die Stille zog sich in die Länge, und der Seelenklempner unternahm nichts, um Drake zu erlösen. Endlich schlug die Uhr zur vollen Stunde. Drake sprang auf wie ein Schuljunge, der in die Sommerferien entlassen wurde.

»Dann kann ich jetzt wieder Dienst tun, oder?« Er wartete auf Whites Antwort, die gesenkten Hände zu Fäusten geballt.

»Am Schreibtisch«, sagte White widerwillig. »Und ich möchte Sie morgen früh wiedersehen, Detective. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Drake nickte stumm. Als er das Büro verließ, musste er sich zusammenreißen, um nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Mit unsicheren Schritten ging er den Flur entlang. Was jedoch nicht an der Verletzung lag, sondern daran, dass an seiner rechten Hüfte etwas fehlte. Was für einen Unterschied neunhundertvierundsechzig Gramm doch ausmachten. Das Gewicht einer geladenen Glock 27.

Es war der entscheidende Unterschied. Ein Polizist, der an den Schreibtisch gefesselt war und keine Waffe trug – was war der schon wert?

2

Cassie ging zur Umkleide der Notaufnahme und zog sich um. Glücklicherweise war niemand außer ihr dort und sah zu, wie sie sich unbeholfen und im Sitzen die Hose überstreifte. Ihr stand eine lange Schicht bevor. Es wäre dumm gewesen, den Knöchel aus reiner Sturheit unnötig zu belasten.

Routiniert steckte sie sich das Namensschild an, überprüfte ihr Funkgerät und hakte es neben Gefäßklemme und Klebeband am Gürtel ein. Die kurzen Ärmel ihres Oberteils ließen die gezackte Narbe am linken Unterarm unbedeckt. Vielleicht nahm sie doch lieber einen langärmligen Kittel?

Ach, sollten doch ruhig alle draufstarren. Früher oder später würden sie sich daran gewöhnen müssen.

An der Schwesternstation traf sie als Erstes auf Rachel Lloyd von der Tagschicht. Rachel war ein gutes Stück größer als Cassie, hatte dunkle Haut und dunkle Augen. Das geflochtene Haar trug sie zu einem komplizierten Knoten hochgesteckt, aus dem sich keine einzige Strähne befreien konnte. Ein herber Kontrast zu Cassies Lockenmähne, die in alle Richtungen abstand.

»Schön, dass Sie wieder da sind, Dr. Hart«, sagte Rachel in ihrem schnellen karibischen Tonfall. Es klang unbeteiligt, als wäre es ihr egal, ob Cassie zurechtkam oder scheiterte. Beides würde Rachel einfach für die Akten festhalten.

Wie nett, dass sich gewisse Dinge nie änderten. Cassie und Rachel respektierten einander auf professioneller Ebene, aber jede missbilligte die Herangehensweise der anderen. In Rachels Blick lag heute derselbe kühle Respekt wie vor sechs Wochen. Keine Spur von Mitleid, wofür Cassie ihr dankbar war.

Denn sie wollte nicht als Opfer gesehen werden. Nie wieder.

»Bereit für den ersten Patienten, Dr. Hart?« Rachel hielt ihr ein Klemmbrett hin.

Cassie tat gelassen, obwohl sich ihr Magen zusammenzog. Sie nahm die Unterlagen entgegen und ging zu Raum fünf. Dort wartete bereits eine junge dunkelhäutige Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Beide hoben den Kopf, als Cassie das Zimmer betrat. Die Frau wirkte müde und besorgt, der kleine Junge hatte tränenverschmierte Wangen. Nach einem Blick auf Cassie warf er sich seiner Mutter an den Hals und versteckte das Gesicht.

»Wen haben wir hier – Antwan?«, fragte Cassie, die den Namen vom Klemmbrett abgelesen hatte. Antwan Washington, drei Jahre alt, stand dort. Klagt hauptsächlich über starke Ohrenschmerzen. Temperatur und sonstige Werte waren unauffällig, den Aufzeichnungen nach gab es auch keine schwere Vorerkrankung. Da hatte Rachel ihr anscheinend einen unkomplizierten ersten Patienten herausgesucht.

»Ich bin Dr. Hart.« Cassie setzte sich auf den Drehstuhl und schob sich näher heran, bremste jedoch ab, sobald sich Antwans Schultern verkrampften. »Was führt Sie zu uns?«

»Es ist wegen seinem Ohr«, erwiderte die Mutter. Cassie warf rasch einen Blick in die Unterlagen, damit sie die Frau nicht aus Versehen falsch ansprach. Viele Mütter trugen nicht denselben Nachnamen wie ihr Kind. Tammy Washington. »Ich weiß nicht, was mit ihm ist, er hat die Medizin genommen, die er in der Ambulanz bekommen hat, trotzdem hat er das ganze Wochenende Schmerzen gehabt, und letzte Nacht war es so schlimm, dass er nur noch geweint hat.«

»Wissen Sie noch, welches Medikament das war?«

»Dieses rosa Zeug.« Tammy rückte Antwan auf ihrem Schoß zurecht. Cassie nutzte die Gelegenheit, um sich ein kleines Stückchen näher heranzuschieben. Der Kleine öffnete ein Auge einen Spaltbreit, zuckte aber nicht zurück.

»Amoxicillin?«

»Genau. Zehn Tage lang, bis letzte Woche. Eigentlich wollte ich ja abwarten, bis die Ambulanz aufmacht, aber er hat so schrecklich geweint.«

»Ist schon gut, Mrs Washington. He, Antwan, du müsstest deine Mutter jetzt mal ganz fest umarmen, einverstanden?« Cassie wärmte das Stethoskop zwischen den Handflächen an, dann schob sie es Antwan unters T-Shirt. »Okay, tief ein- und ausatmen. Gut gemacht, perfekt. Magst du dich vielleicht kurz umdrehen, damit ich auch dein Herz abhören kann?«

Antwan drehte sich gehorsam um, obwohl er immer noch misstrauisch wirkte, und als Cassie zunächst vorgab, keinen Herzschlag zu finden, lächelte er sogar ein wenig. Während sie ihn untersuchte, stellte sie seiner Mutter noch ein paar Fragen zur Vorgeschichte, die aber nichts Beunruhigendes ergaben. Dann war es so weit. Die große Herausforderung bei der Behandlung von Kleinkindern, ganz besonders wenn sie schon Schmerzen hatten. Der Blick ins Ohr.

Cassie verzog übertrieben ungläubig das Gesicht. »Ich glaube, da steckt ein Kätzchen in deinem Ohr, Antwan.« Er schaute sie mit großen Augen an, schüttelte den Kopf und lächelte skeptisch. »Lass uns mal nachsehen. Wir fangen mit dem Ohr an, das nicht wehtut. Also gut, dann halt mal still und pass gut auf, ob du die kleine Katze maunzen hörst.« Sie setzte behutsam die Ohrlupe an. »Miau.«

»Mami, ich hab Katzis!« Sein Misstrauen war verflogen, und er beugte sich begeistert vor, um ihr das andere Ohr hinzuhalten.

»Da hat er recht!«, verkündete Cassie, nachdem sie dort eine weitere kleine Katze und dazu eine ausgewachsene Otitis media acuta entdeckt hatte. »Diese Seite ist feuerrot und vereitert. Von mir bekommt er jetzt ein Schmerzmittel und eine erste Dosis Antibiotikum. Das Medikament wird diesmal etwas stärker sein. Davon könnte er Durchfall bekommen, also jede Menge Joghurt für ihn, okay? Lassen Sie sich in der Ambulanz einen Termin für eine Ohruntersuchung geben, aber falls sich sein Zustand nicht in den nächsten zwei Tagen bessert oder sogar verschlimmert, muss er wieder herkommen.«

»Ja, Ma’am. Vielen Dank.«

»Gern geschehen. He, Antwan, du nimmst schön brav deine Medizin und machst deine Mami nicht verrückt, ja?« Cassie fischte einen Spongebob-Aufkleber aus der Tasche und gab ihn dem kleinen Jungen. Der strahlte übers ganze Gesicht.

»Was sagst du zu der netten Ärztin?«, half seine Mutter nach.

»Danke schön«, sagte er munter.

Cassie lächelte noch im Hinausgehen. Sie war immer glücklich, wenn sich herausstellte, dass einem Kind nichts allzu Ernstes fehlte. Das Funkgerät knackte. »Dr. Hart, bitte sofort in Schockraum eins.«

Sie spürte die vertraute Wirkung des Adrenalins und wollte schon losrennen, hielt sich aber zurück und humpelte nur möglichst schnell den Flur entlang. Es tat gut, wieder hier zu sein.

Um vier Uhr nachmittags war ihre Schicht zu Ende, und nach diesen acht Stunden wünschte sich Cassie ihre Krücke zurück. Nicht als Stütze, obwohl die Schmerzen im Knöchel sie fast in den Wahnsinn trieben. Aber der Gehstock wäre eine gute Waffe gegen die betretenen Blicke und das Getuschel gewesen, die ihr auflauerten, wann immer sie um eine Ecke bog oder ein Zimmer betrat.

Mit dem Stock hätte Cassie ihr Kommen ankündigen und so einen Rest Würde bewahren können. Stattdessen lief sie jedes Mal rot an, wenn bei ihrem Auftauchen urplötzlich die Gespräche verstummten oder alle wegschauten. Die Leute wussten einfach nicht, wie sie Cassie betrachten sollten – als Opfer, das sich nicht unterkriegen ließ, als knallharte Kämpferin oder schlicht als das Klatschthema des Monats.

Schließlich zog sie sich in die kleine Büronische bei der Schwesternstation zurück und wartete dort auf ihre Ablösung. Vorsichtig streckte sie das linke Bein aus und dehnte den Knöchel.

»Helfen Sie mir doch!«

Der Schrei hallte von den gekachelten Wänden der Notaufnahme wider. Eine Frau rannte auf die Schwesternstation zu, dass ihre hochhackigen Schuhe auf dem weißen Linoleumboden ins Rutschen gerieten.

Cassie sprang vom Stuhl auf. Zu schnell, zu schnell, protestierte ihr Bein. Vor Schmerz wurde ihr einen Moment lang schwarz vor Augen. Sie hielt sich am Tresen fest und atmete tief durch, bis sie wieder klar sehen konnte, dann trat sie vor, um die aufgelöste Frau abzufangen.

»Was gibt es denn?«

»Mein Baby, mein Baby.« Die schicke lila Designerlederjacke der Frau flog auf und entblößte den gewölbten Bauch unter dem Seidenkleid mit Empire-Taille. Die Frau war hochschwanger, mindestens siebter Monat.

»Haben Sie Wehen?« Cassie wollte sie den Flur entlang führen, doch die Frau löste sich von ihr.

»Sie müssen meinem Baby helfen!« Sie wirbelte herum und warf einen Blick zurück. Der Eingang zur Notaufnahme glitt erneut auf, und ein Wachmann eilte herein, ein bleiches Kleinkind im Arm.

»Raum eins.« Cassie humpelte voran und hielt die Tür auf. Die hysterische Mutter folgte ihr. »Wir brauchen Hilfe«, rief Cassie über die Schulter in Richtung Schwesternstation.

Der Wachmann warf das Kind förmlich auf die Liege und wich sofort zurück, schwitzend und hochrot im Gesicht. Cassie fing an, den Jungen auszuziehen, riss an den Verschlüssen und Knöpfen. Ein Arm des Kleinen zuckte, die Augen waren verdreht, offensichtlich hatte er einen Anfall. »Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht, er bekam plötzlich Krämpfe – der Monitor hat nichts gemeldet – wird er wieder gesund?«, fragte die Frau. Cassie nahm an, dass sie die Mutter war.

Inzwischen hatte Cassie den Jungen nackt ausgezogen. Um seine Brust lag ein breiter Gurt mit bunten Drähten an der Vorderseite. Ein Apnoe-Monitor, dafür gedacht, die Eltern von Frühchen zu alarmieren, wenn ihr Kind Atemprobleme hatte. Dieser Junge mit den dichten blonden Locken schien jedoch mindestens fünfzehn Monate alt zu sein. Bei einem Kleinkind in diesem Alter hatte Cassie so etwas noch nie gesehen. Sie griff nach einer Sauerstoffmaske, setzte sie dem Jungen auf und hörte ihm die Brust ab. Die Atmung schien in Ordnung, der Herzschlag ebenfalls.

»Wann haben die Krämpfe eingesetzt?«

»Gegen halb drei, ich hatte ihn gerade hingelegt.« Die Mutter presste ihre Handtasche an die Brust. Sie war größer als Cassie, das blonde Haar hatte sie zu einem akkuraten Dutt hochgesteckt, die grauen Augen waren perfekt geschminkt.

»Wieso haben Sie nicht den Notruf gewählt?« Sie beugte sich über den Jungen. Ehe die Mutter antworten konnte, eilte Rachel Lloyd ins Zimmer.

»Was brauchen Sie?« Dann bemerkte Rachel den Jungen auf dem Behandlungstisch. »Charlie!« Sie wandte sich an die Mutter. »Virginia, was ist passiert?«

»Er hatte einen Krampfanfall, Rachel. Ich wusste nicht, was ich tun soll, also habe ich ihn hergebracht.«

»Selbstverständlich. Wir kümmern uns um ihn. Es wird alles gut.«

»Helfen Sie mir, wir müssen einen Zugang legen«, unterbrach Cassie das freudige Wiedersehen. Wenn der Junge bereits seit über einer Stunde krampfte, durfte sie keine Zeit mehr verlieren. Gelang es ihr nicht schnell, den Anfall zu stoppen, konnte es zu einem Hirnschaden kommen.

»Selbstverständlich, Dr. Hart.« Rachel trat neben Charlie und suchte nach einer geeigneten Vene. »Dr. Hart, das ist Virginia Ulrich. Charlie ist ihr Sohn.« Während sie die Frauen einander vorstellte, mühte sie sich vergeblich, einen Zugang zu legen.

»Was für Gesundheitsprobleme hat Charlie?«, fragte Cassie die Mutter, während sie ihre Untersuchung fortführte.

»Dr. Sterling behandelt ihn wegen Apnoe.«

»Hatte er schon mal solche Anfälle?«

»Nach der Keuchhustenimpfung.«

»Verdammt«, fluchte Rachel leise. Cassie hob den Blick. Sie hatte Rachel noch nie fluchen hören. »Ich kann keine Vene finden.«

»Lassen Sie mich mal.« Cassie suchte den Arm ab, aber durch die anhaltenden Krämpfe waren alle Venen kollabiert. Nachdem Cassie es ebenfalls ohne Erfolg versucht hatte, ordnete sie an: »Bereiten Sie alles für einen IO vor.«

Die Mutter trat näher ans Bett und beobachtete Cassie, während sie sich mit langsamen rhythmischen Bewegungen den Bauch rieb. Rachel hielt in ihrer Tätigkeit inne und starrte Cassie an. »Meinen Sie nicht, ich sollte jemanden aus der Pädiatrie rufen, damit der uns einen Zugang legt? So machen wir es normalerweise.«

»Das dauert zu lange. Ein intraossärer Zugang ist schneller.«

»Aber Dr. Sterling sieht es nicht gerne, wenn wir …«

»Sterling ist nicht hier. Charlie ist mein Patient. Ich werde tun, was für ihn das Beste ist.«

Rachel schaute sie wütend an, drehte sich dann aber um und holte die nötige Ausrüstung. Cassie richtete sich auf und legte Virginia eine Hand auf den Unterarm, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Mrs Ulrich, Charlie krampft und befindet sich im Schockzustand. Da kein intravenöser Zugang möglich ist, möchte ich ihm einen intraossären Zugang legen. Dabei wird eine spezielle Stahlkanüle in den Unterschenkelknochen eingeführt, über die wir ihm dann die nötigen Medikamente verabreichen. Die Nadel wird so schnell wie möglich wieder entfernt. Die größten Risiken sind eine mögliche Schädigung des Knochens oder eine Entzündung, aber wir arbeiten natürlich steril, daher ist das unwahrschein- lich.«

»Ist schon in Ordnung, tun Sie es.« Für eine Mutter, der gerade eröffnet wurde, dass man ihrem Kind ins Bein bohren wollte, blieb die Frau erstaunlich gefasst.

»Vielleicht möchten Sie lieber rausgehen? Es ist kein besonders schöner Anblick.«

»Nein, alles in Ordnung. Ich möchte hierbleiben.«

Für Einwände blieb keine Zeit. Cassie konzentrierte sich wieder auf Charlie. Während sie sein Schienbein mit Povidon-Iod desinfizierte, ging sie gedanklich die nötigen Schritte für einen IO-Zugang durch.

»Wenn wir bei einem Kind keinen Zugang legen können, sollen wir die Pädiatrie informieren«, wiederholte Rachel in schulmeisterlichem Tonfall, als hätte sie es mit einem aufsässigen Kind zu tun.

Cassie ignorierte die Bemerkung. Rachel war eine hervorragende Schwester, aber sie wollte immer, dass alles genau nach den Regeln ablief.

Cassie griff nach der sterilen Stahlnadel, stach zu und stemmte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die Nadel, bis sie spürte, wie sie den Knochen durchstieß. Das laute Knacksen hallte durch den Raum. Cassie zuckte zusammen. Es war ein ekelhaftes Geräusch. Als sie aufblickte, sah sie Mrs Ulrich am Kopfende der Liege stehen und aufmerksam zuschauen.

»Zugang gelegt«, sagte sie zu Rachel, während sie die Kanüle fixierte. »Geben Sie ein Milligramm Lorazepam. Ich brauche Blutzucker, Elektrolyte, großes Blutbild und Blutkultur.«

Cassie fuhr Charlie durch die dichten goldblonden Locken und wartete darauf, dass das Medikament anschlug. Allmählich zuckte er weniger, die Krämpfe ließen nach. Sie beugte sich über ihn, prüfte die Pupillenreaktion, nahm den Zungenspatel und schaute in den Mund.

Sie zog die Stirn kraus. Merkwürdig. An der Oberlippe waren Verletzungen zu erkennen, und auch im Gesicht bemerkte sie viele kleine geplatzte Äderchen.

»Sind Ihnen diese kleinen roten Punkte schon aufgefallen?«, fragte sie Mrs Ulrich.

»Die Petechien?«

Überrascht registrierte Cassie, dass die Mutter den medizinischen Fachausdruck verwendete. »Ja.«

»Seit ein paar Tagen. Sie können in seiner Krankenakte nachsehen, wir waren letzte Woche deswegen hier.«

Zufrieden stellte Cassie fest, dass der Junge endlich wieder etwas Farbe im Gesicht bekam. »Wer hat heute auf der Pädiatrie Dienst?«

»Dr. Sterling«, antwortete Rachel.

»Gott sei Dank!«, entfuhr es Virginia. »Dr. Sterling wird wissen, was zu tun ist. So wie immer.«

In ihren zwei Jahren als Ärztin am Three Rivers hatte Cassie lediglich ein paar Mal mit Karl Sterling telefoniert, persönlich begegnet war sie ihm noch nicht. Da Sterling als Chefarzt der Pädiatrie vor allem Verwaltungsaufgaben wahrnahm, hatte er selten Rufbereitschaft und behandelte nur wenige ausgesuchte Patienten.

»Rufen Sie ihn an und sagen Sie der pädiatrischen Intensivstation, dass wir Kundschaft für sie haben.« Jetzt würde sie den berühmten Dr. Sterling also endlich im Einsatz erleben.

Mrs Ulrich merkte auf. »Sie wollen ihn hierbehalten? Kann ich ihn nicht mit nach Hause nehmen?«

Cassie wandte sich überrascht der Mutter zu. »Charlie wird wohl eine Weile hierbleiben, fürchte ich. Wir müssen die Ursache für den Krampfanfall und für die Petechien abklären. Es kommt gleich jemand von der Kinderintensivstation und erklärt es Ihnen genauer.«

»Nein, ich möchte, dass Dr. Sterling sich darum kümmert. Er behandelt Charlie seit seiner Geburt. Niemand kennt ihn so gut wie er.«

»Natürlich. Ich rufe ihn selbst an«, sagte Cassie. »Trotzdem müssen Sie auch mit den Ärzten auf der Kinderintensivstation sprechen.«

Virginia runzelte die Stirn. »Na schön. Aber ich gehe nirgendwohin, bis mir Dr. Sterling versichert, dass das alles in Ordnung ist.«

»Irgendwelche Nachrichten für mich?«, fragte Cassie den Stationsassistenten, nachdem sie Sterling darüber informiert hatte, dass er einen Patienten hatte. Der Assistent trug Kopfhörer und schüttelte den Kopf im Takt zur Musik von Godsmack. Cassie versuchte sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte auf einen Anruf von Drake gehofft. Er wusste, dass sie heute ihren ersten Arbeitstag hatte.

Wenn sie doch nur eine Ahnung hätte, was mit ihm los war. Seitdem er angeschossen worden war, hatte er sie nicht mehr angerührt, und das war inzwischen fast sechs Wochen her. Einundvierzig Tage, um genau zu sein. Cassie hatte mitgezählt.

Wieso verhielt er sich bloß so merkwürdig und hielt sie auf Abstand?

Spielte er einfach auf Zeit und wartete ab, bis sie wieder auf die Füße kam, um sich dann von ihr zu trennen? Sie hatte ihm immerhin das Leben gerettet – da konnte er sie nicht einfach wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, oder?

Bei ihrem nächsten Treffen würde sie sich Klarheit verschaffen. Sie musste endlich wissen, woran sie bei ihm war.

Sie schob alle Gedanken an Drake und ihr Leben außerhalb des Krankenhauses beiseite, wickelte rasch den Schichtwechsel ab und sah dann noch einmal im Schockraum vorbei, um nach Charlie Ulrich zu sehen.

Rachel hatte Mrs Ulrich einen gemütlichen Schaukelstuhl besorgt und half ihr gerade hinein. Als die Assistenzärzte von der Kinderstation eintrafen, hatte Charlies Gesicht bereits wieder eine gesündere Farbe angenommen, und er krampfte nicht mehr.

»Dr. Sterling ist auf dem Weg«, beruhigte Cassie Charlies Mutter.

»Ach, dem Himmel sei Dank. Er wird wissen, was zu tun ist. Ein brillanter Mann. Ohne Dr. Sterling wäre Charlie nicht mehr am Leben.«

»Soll ich einen zentralen Venenkatheter legen?«, fragte Cassie die Kollegen von der Pädiatrie.

»Nein, ich denke, Sie haben genug getan, Dr. Hart«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. Cassie wandte sich um und sah sich Dr. Sterling gegenüber. Der Chef der Pädiatrie war groß, hatte silbergraues Haar und blassblaue Augen und sah genauso aus, wie Norman Rockwell einen Arzt dargestellt hätte. Außerdem war er Universitätsprofessor und hatte sich mit seinen Forschungen zum plötzlichen Kindstod einen Namen gemacht.

»War der IO wirklich nötig? Wenn Sie bei einem Kind keine Vene finden, wäre es mir lieber, Sie rufen uns an, damit wir das für Sie erledigen.« Sterling sprach in väterlichem Tonfall und lächelte sanft. »Dafür sind wir schließlich da.«

Cassie stellten sich die Nackenhaare auf, weil der Kinderarzt ihre Kompetenz und die ihrer Abteilung infrage stellte. Sie versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Schließlich konnte sie nicht sicher sein, ob Sterling es tatsächlich herablassend gemeint hatte oder nur freundlich sein wollte. Außerdem konnten sie vor der Mutter wohl kaum über Behandlungsmethoden streiten.

Sterling trat zu Virginia Ulrich und nahm ihre Hand. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er fürsorglich.

»Ich bin so froh, dass Sie hier sind, Dr. Sterling. Ich weiß auch nicht, was geschehen ist, es lief doch alles so gut …«

»Keine Sorge, Virginia. Wir werden das schon in den Griff bekommen. Ich werde Charlie erst mal untersuchen.« Sterling griff nach seinem Stethoskop und beugte sich über den kleinen Jungen auf der Behandlungsliege.

Cassie verließ das Zimmer. Der Fall gab ihr Rätsel auf, aber Karl Sterling und die anderen von der Pädiatrie würden schon herausfinden, was zu tun war.

Sie ging den Flur entlang zum Büro des Wachdienstes gleich beim Eingang. In jedem Schockraum waren Videokameras angebracht. Die Bänder dienten der Qualitätskontrolle und als Lehrmaterial.

Charlies Wiederbelebung hatte auch etwas Gutes gehabt. Cassie stellte gerade ein Lehrvideo über die Abläufe in der Notfallmedizin zusammen. Wenn die Aufnahmen von Charlies IO-Zugang brauchbar waren, wollte sie sie dafür benutzen.

»Könnten Sie mir eine Kopie der Aufnahme aus Schockraum eins ziehen?«, fragte sie den Wachmann, der vor den Monitoren saß. Es war derselbe Mann, der vorhin Charlie zu ihr gebracht hatte. »Ich bräuchte nur die letzte Stunde.«

»Na klar, Doc.«

»Danke. Kommen Sie einfach in mein Büro, wenn Sie damit fertig sind.«

»Bin wirklich heilfroh, dass es dem Jungen wieder besser geht. Wie die Mutter geschrien hat, dachte ich, er ist schon tot.«

Nicht schlecht für den ersten Tag, dachte Cassie, während sie sich auf den Weg zu ihrem Büro machte. Der Knöchel schmerzte, aber das war auszuhalten. Und abgesehen von manchen etwas unangenehmen Begegnungen mit Kollegen war es ein gutes Gefühl, wieder in der Notaufnahme zu arbeiten. Als wäre sie nach Hause gekommen.

Ihr Büro lag gleich hinter der Schwesternstation, eine fensterlose quadratische Zelle, die früher als Besenkammer gedient hatte. In dem engen Raum fanden gerade mal ein Bücherregal, ein Schreibtisch sowie zwei Stühle Platz, aber solange sie hier nicht zu den Führungskräften gehörte, durfte sie sich nicht beschweren.

Als sie die Tür öffnete, sah sie Drake auf ihrem Platz sitzen, die Beine gemütlich ausgestreckt. Auf dem Tisch stand ein wunderschöner Blumenstrauß, weiße Orchideen, die sich leuchtend von dem grünen Papier des Floristen abhoben. Also hatte er es doch nicht vergessen.

Seine Augen waren von feinen Sorgenfältchen umgeben, die vor sechs Wochen noch nicht da gewesen waren. Immer noch ein wenig steifbeinig stand er auf. Er ahnte überhaupt nicht, wie froh er sein konnte, so schnell wieder auf die Beine gekommen zu sein. Es wäre ihm auch egal gewesen – er wollte nur wieder arbeiten.

»Wie war dein erster Tag?«, fragte er.

Cassie zuckte mit den Achseln. Die Episode mit Sterlings kleinem Patienten hatte sie angestrengt, aber das war sicher das Letzte, was ihn interessierte.

»Die sind wunderschön.« Sie beugte sich über die Blumen und atmete den süßen Duft ein. Da sich unter seinem Flanellhemd keine Waffe abzeichnete, war sein Tag wohl weitaus schlechter verlaufen als ihrer. »Was hat der Psychiater gesagt?«

Als er zusammenzuckte, biss sie sich auf die Zunge. Sie war wieder zu direkt gewesen. Es half nichts – dieses ständige Rücksichtnehmen in einer Beziehung lag ihr einfach nicht.

Cassie schlug die Tür zu und merkte, wie er sich bei dem Knall versteifte. Sie ging auf ihn zu, bis sich ihre Körper beinahe berührten, doch er wich vor ihr zurück. Was ihre Wut nur noch weiter anfachte. So am ausgestreckten Arm zu verhungern war unerträglich. Sie wollte endlich wissen, woran sie bei ihm war.

»Er will noch ein paar Sitzungen dranhängen, aber ab morgen darf ich zumindest Schreibtischarbeit machen.«

Schluss mit dem Small Talk. Cassie ging noch einen Schritt auf Drake zu, bis er mit dem Rücken gegen die Schreibtischplatte stieß. Noch bevor er etwas sagen konnte, vergrub sie die Finger in seinem Haar und zog seinen Kopf zu sich he- rab.

Sie genoss das überraschte Keuchen, das er ausstieß, als sie die Lippen auf seinen Mund presste. Er wand sich, aber sie ließ ihm keinen Spielraum, und nach einem Moment, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, gab er nach. Er legte ihr die Hände auf die Hüfte, und durch den dünnen Baumwollkittel konnte sie spüren, wie heiß sie waren.

Ja, dachte sie, als er die Lippen öffnete und ihren Kuss leidenschaftlich erwiderte. Das ist es – so sollte es sein.

Er schloss die Augen. Sie spürte, wie er tief einatmete. Dann riss er die Augen auf und schob sie weg. Cassie sog enttäuscht den Atem ein.

»Was ist los?« Sie stemmte die Händen in die Hüften. Hoffentlich bemerkte er nicht, wie sehr ihre Stimme zitterte. Sie hatte es vermasselt. Schon wieder.

Er betrachtete scheinbar fasziniert den Linoleumboden. »Ich will eigentlich nicht …«

»Du willst eigentlich nicht mehr mit mir zusammen sein? Ist es das?«, stieß sie hervor. Genau das hatte sie befürchtet.

Deswegen vermied er jede Berührung. Er suchte nach einem Weg, wie er ehrenhaft aus ihrer Beziehung herauskam. Was für ein Gentleman, brachte sogar noch Blumen mit, wenn er sich trennte.

Aber was er konnte, konnte sie schon lange. Und zwar besser. Sie würde ihm zuvorkommen.

»Wieso hast du das nicht einfach gesagt? Ich habe nichts davon, wenn du nur aus Mitleid oder Pflichtgefühl oder was auch immer mit mir zusammenbleibst.« Sie riss die Bürotür auf. Er schien etwas sagen zu wollen, aber sie war so enttäuscht und verletzt, dass sie ihm das Wort abschnitt. »Du musst mir nichts mehr vormachen. Geh schon, mach ohne mich weiter. Verschwinde!«

3

Drake starrte Hart an, eine zierliche Silhouette im Türrahmen, mit langen dunklen Locken, die auf und ab wippten, und wütend hochgezogenen Schultern. Ihre blassen Wangen glühten, die Augen funkelten vor Zorn.

Herrgott, er wollte sie am liebsten schütteln. Warum zog sie bloß immer voreilige Schlüsse?

»Geh einfach«, wiederholte sie und zeigte auf die offene Tür.

Drake verlor die Beherrschung. Er ging auf Cassie zu, langte über sie hinweg zur Tür und schlug sie zu. Dann drängte er Cassie rückwärts dagegen, obwohl er genau wusste, dass es für sie kaum etwas Schlimmeres gab, als sich eingeengt oder ausgeliefert zu fühlen.

»Eigentlich wollte ich sagen, …« Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, damit sie ihn nicht wieder unterbrach. »… dass du mir zu wichtig bist. Wir müssen nichts überstürzen. Ich wollte sagen …« Er senkte den Kopf, bis seine Stirn an ihrer lag und sie den Atem anhielt. »… dass ich nicht wie dein Exmann bin und dich zu nichts drängen werde.«

Sie sah ihm in die Augen. Inzwischen war sie dunkelrot im Gesicht. Erleichterte stellte Drake fest, dass neben der Wut auch eine gewisse Belustigung in ihrem Blick mitschwang. Eines musste man Hart lassen. Sie war zwar aufbrausend, aber ihre Wut verrauchte auch schnell wieder.

»Es tut mir schrecklich leid«, sagte sie spöttisch. »Du wolltest mich also nur über dein neues ›Gehen-wir-es-langsam-an‹-Konzept informieren?«

Er setzte zu einer Antwort an, doch plötzlich hakte sie ihr gesundes Bein um sein verletztes und beförderte ihn mit einer blitzschnellen Bewegung auf den Stuhl. Er stieß überrascht den Atem aus. Dann saß sie auch schon rittlings auf seinem Schoß.

»Wenn ich es nun aber nicht langsam angehen will?« Sie zog ihn am Hemd zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich.

Zunächst leistete er Widerstand, wenn auch nur um seiner Selbstachtung willen, dann erwiderte er ihren Kuss mit demselben Feuer. Dabei sah er ihr fest in die Augen und versank förmlich in den dunklen Tiefen. Beinahe war es, als wären jene Schüsse nie gefallen. Er spürte keine Angst mehr, sondern nur noch Erregung.

»Darüber ließe sich reden«, sagte er, als sie sich kurz voneinander lösten, um Atem zu schöpfen.

Sie legte ihm eine Hand ins Kreuz und tastete sich zu der empfindlichen Stelle vor, die stets sein Blut zum Kochen brachte. Er schloss genießerisch die Augen.

»Genug geredet.« Sie knabberte an seinem Ohrläppchen.

Da musste Drake ihr zustimmen.

Jemand klopfte laut an die Tür. Es hallte wie eine Gewehrsalve von den kahlen Wänden wider. Sofort hämmerte Drakes Herz wie wild. Er sprang auf und stieß Hart dabei fast zu Boden. Bei der schnellen Bewegung fuhr ein heißer Schmerz durch seinen Oberschenkel.

Hart zupfte ihr Oberteil zurecht und öffnete die Tür. Drake hörte eine Männerstimme. Seine Hand glitt zur Hüfte. Doch da war natürlich keine Waffe. Ihm wurde schwindlig, sein Herz raste. Er sank wieder auf den Stuhl, rieb mit den schweißfeuchten Händen über die rauen Jeans und versuchte, seinen Oberschenkel zu entspannen und wieder ruhig zu atmen.

»Dr. Hart? Hier ist das Video«, sagte der Mann an der Tür.

»Das ging aber schnell. Vielen Dank.«

Hart schloss die Tür und warf eine Kassette auf ihren Schreibtisch. Bei dem Klappern zuckte Drake erneut zusammen. Es fiel ihm schwer, Hart in die Augen zu sehen. Bestimmt dachte sie jetzt ebenfalls an jene schreckliche Nacht zurück, als er es nicht geschafft hatte, sie zu beschützen, und stattdessen hilflos mit ansehen musste, wie sie dem Mörder gegenübertrat.

»Verrätst du mir, wo das Problem liegt?« Sie lehnte sich an den Schreibtisch und sah auf ihn herab.

An der Innenseite ihres linken Arms hatte sie eine lange, gezackte Narbe. Er kniff die Augen zusammen und sah im Geist all die anderen Narben vor sich, die sie in jener Nacht davongetragen hatte. Das wäre nie passiert, wenn sie sich nicht so unüberlegt in gefährliche Ermittlungen gestürzt hätte. Nein. Drake verbot sich diesen Gedanken. Er war derjenige gewesen, der überstürzt gehandelt hatte.

Seine Gefühle für Hart hatten seinen gesunden Menschenverstand, seine Ausbildung und sein Urteilsvermögen außer Kraft gesetzt. Das hätte nicht geschehen dürfen. In seinem Beruf musste er immer einen kühlen Kopf bewahren.

Er würde nicht zulassen, dass es noch einmal vorkam. Die Leidenschaft, die Hart in ihm entfachte, durfte nicht dazu führen, dass er unachtsam wurde. Nie wieder.

Er rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Hart immer noch vor ihm und betrachtete ihn stirnrunzelnd.

»Du bist wütend auf mich. Du gibst mir die Schuld an dem, was vorgefallen ist …«

»Nein, natürlich nicht.« Er stand auf, ohne den Schmerz im Bein zu beachten. »Ich bin nur müde, das ist alles. Ich sollte jetzt gehen. Morgen muss ich ganz früh zu diesem Psychofritzen.«

»Wir müssen das besprechen.«

Er erwiderte nichts, sondern ging rasch zur Tür und aus dem Zimmer, ehe er es sich anders überlegte. Ehe er ihr seine wahren Gefühle verriet.

Richard King rollte auf Ellas Büro zu. Er dachte nie als Cassandra Hart an sie – für ihn würde sie immer seine Cinderella bleiben. Seine Prinzessin.

Er bremste ab, als ein großer dunkelhaariger Mann das Büro verließ. Der Kerl war Polizist, so viel wusste Richard noch. Es war der Mann, dem Ella das Leben gerettet hatte. Richard fühlte Zorn in sich aufsteigen. Bestimmt hatte er den Typ schon früher nicht ausstehen können, auch vor dem Unfall, der sein Erinnerungsvermögen so stark geschädigt hatte. Drake, so hieß dieser Bulle.

Richard lehnte sich nach hinten und kippelte nachdenklich mit dem Rollstuhl, eine neue Angewohnheit, wenn er nachdenken wollte. Das rhythmische Auf und Ab beruhigte ihn und sorgte dafür, dass er nicht von den Gefühlen überwältigt wurde, die oft so unvermittelt über ihn hereinbrachen.

Ella kam aus dem Büro, eine Videokassette in der Hand. Selbst von hier aus sah er, dass ihre Wangen gerötet waren. Hatten sie und Drake es etwa da drinnen getrieben – während er praktisch draußen zusah?

Der Gedanke machte ihn verrückt. Richard rammte den Rollstuhl gegen die gekachelte Wand. Er musste etwas unternehmen. Es war einfach nicht fair. Er war an den Rollstuhl gefesselt, während sie herumstolzierte und es in seinem Krankenhaus mit irgendwelchen wildfremden Kerlen trieb. Er hatte alles verloren – und das war allein ihre Schuld, so viel wusste er mit Bestimmtheit.

An das Wichtigste erinnerte er sich genau, und es füllte all die Tage und Nächte, in denen er versuchte, sein Leben wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen: Solange Ella zu ihm gehört hatte, war er glücklich gewesen. Er hatte ein Lieblingsfoto, das er sich immer wieder ansah. Da er nicht genau wusste, bei welcher Gelegenheit es aufgenommen worden war, starrte er es stundenlang an, malte sich die zugehörige Szene aus und erfand immer neue Geschichten von ewiger Liebe.

Auf dem Bild tanzten er und Ella an Deck der Riverstar. Hinter ihnen funkelten die bunten Lichter der Großstadt. Ella lächelte ihn verheißungsvoll an.

Richard würde alles tun, um zu dem Punkt zurückzukehren, an dem Ella für alle Zeit zu ihm gehörte. Nur diese Hoffnung hielt ihn davon ab, den Verstand zu verlieren.

»Ella!«, rief jemand hinter Cassie.

Sie drehte sich um. Ein blonder Mann im Rollstuhl kam auf sie zu. Richard. Was hatte er hier zu suchen? Sein Anblick weckte Erinnerungen, die Cassie eigentlich in ihre Albträume verbannt hatte.

Trotz allem, was Richard ihr angetan hatte, machte es ihr zu schaffen, ihn so zu sehen. Zwei Wochen im Koma hatten den talentierten Chirurgen in einen rechtsseitig gelähmten Mann mit starken kognitiven Einschränkungen verwandelt.

»Ella, Ella!«, wiederholte er laut, ein Spitzname, den Cassie nicht leiden konnte.

Statt der teuren italienischen Designeranzüge, die sie an ihm gewohnt war, trug er eine unförmige Jogginghose und ein T-Shirt. Und einen Sabberlatz. Sprechen konnte er nur langsam und zögerlich, aber immerhin verständlich. Er überholte sie, drehte sich um die eigene Achse, bis er sich ihr direkt gegenüber befand, und bremste. »Wie gefällt dir mein neues Spielzeug?«

»Schickes Gefährt«, sagte sie, unschlüssig, wie sie sich diesem neuen Richard gegenüber verhalten sollte. »Was willst du, Richard?«

»He, wo ist dein Ring?« Er griff nach ihrer linken Hand.

Ihr Ring? Den trug sie schon seit jener Nacht vor zwei Jahren nicht mehr, als sie ihn verlassen hatte. Dann entdeckte sie den vertrauten schmalen Goldring an seinem Finger. Er ging doch wohl nicht davon aus, dass sie noch verheiratet waren?

»Du hast ihn doch nicht verloren, oder? Keine Sorge, Cinderella, dein Märchenprinz besorgt dir einen neuen.« Er strahlte sie glücklich an und bestätigte so ihre Befürchtungen.

Sie beugte sich hinunter, damit sie auf Augenhöhe waren. »Richard, wir sind nicht mehr verheiratet. Schon seit anderthalb Jahren nicht mehr.«

Richard blinzelte und versuchte, die Worte zu verarbeiten, dann zog er die Stirn kraus. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich, bis es wehtat.

»Nein. Ich weiß es genau. Du hast versprochen, mich zu lieben, zu achten und …« Er suchte nach dem Wort und fuhr dann triumphierend fort: »… und zu ehren. Für den Rest deines Lebens. Das heißt für immer, für ewig, für alle Zeit. Amen.«

Er hielt ihre Hand so fest umklammert, dass Cassie fast die Knochen knirschen hörte. Sie wollte sich befreien, doch er zog sie nur noch näher zu sich heran.

»Dieses Versprechen darfst du nicht brechen, Ella«, zischte er und versprühte dabei Speicheltröpfchen.

Cassie sah ihm in die blassen Augen. Sie kannte diesen Blick nur zu gut. Richards Wutausbrüche hatten sie lange begleitet. Sie waren der Grund dafür gewesen, dass sie ihn verlassen hatte. Cassie hatte geglaubt, dieses Kapitel ihres Lebens sei abgeschlossen. Sie hatte es als schmerzliche Erfahrung verbucht. Aber jetzt ging alles von vorne los.

»Es tut mir leid, Richard. Zwischen uns ist es aus. Schon seit Langem. Du musst dich einfach noch an den Gedanken gewöhnen, das ist alles«, sagte sie so freundlich wie möglich. Zugleich entwand sie sich seinem Griff und richtete sich auf.

Er sah ihr fest in die Augen. »Nein. Du bist meine Frau. Bis dass der Tod uns scheidet.« Tränen stiegen ihm in die Augen, von der Wut war plötzlich nichts mehr zu spüren. »Bitte, Ella. Gib mir eine Chance.«

Cassie schaute in sein tränenüberströmtes Gesicht. Dies war noch schlimmer. Richard hatte alles verloren, was ihm je etwas bedeutet hatte – seine Karriere, die Kontrolle über seinen Körper und offensichtlich auch große Teile seiner Erinnerungen. »Tut mir leid, Richard«, sagte sie leise. »Das geht nicht.«

»Miststück! Glaubst du etwa, du kannst mich verlassen, nur weil ich in diesem Ding sitze?« Er schlug mit der Faust auf den Rollstuhl. Durch sein Geschrei wurden die anderen Mitarbeiter der Notaufnahme aufmerksam. Cassie blickte sich um und suchte nach einem möglichst taktvollen Weg, der Situation zu entkommen.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie.

»Du gehst nirgendwohin, bis ich es sage!« Er rollte vorwärts, bis er sie an die Wand gedrängt hatte. Jetzt wurde sie ärgerlich. Richards Riesenego hatte ganz offensichtlich keinen Schaden genommen. Außerdem konnte er seine Impulse nicht mehr gut kontrollieren, und damit war er so gefährlich wie ein in die Enge getriebener Straßenköter. Obwohl, bei seiner blaublütigen Abstammung war er wohl eher ein reinrassiger Rottweiler.

Verlegen stieg sie über die Fußstützen des Rollstuhls, denn ihr war nur allzu deutlich bewusst, wie viele Zuschauer sich an dem kleinen Drama weideten.

»Mach’s gut, Richard.«

Sie betrat die Schwesternstation, wohin er ihr im Rollstuhl nicht folgen konnte, ging nach hinten durch zum Aufenthaltsraum und schloss die Tür hinter sich. Dann atmete sie tief durch, wurde aber kaum ruhiger. Würde sie Richard je gegenübertreten können, ohne dass all die Erinnerungen wach wurden und Panik in ihr aufstieg? Sie hatte Fehler gemacht, schwere Fehler – wie lange würde sie noch dafür büßen müssen?

Nachdem Cassie sich einigermaßen gesammelt hatte, steckte sie die Videokassette ins Abspielgerät und drückte auf Play. Nichts passierte. Sie legte die Kassette neu ein und versuchte es wieder. Immer noch nichts.

»Verdammt!« Cassie schlug mit der flachen Hand auf das Gerät.

»Ja, zeig’s ihm«, hörte sie eine Frauenstimme hinter sich sagen. »Ist das ein privater Wutanfall oder darf man mitmachen?«

Sie drehte sich zu Adeena Coleman um, ihrer engsten Freundin im Three Rivers. Adeena war Sozialarbeiterin. »Dieser bescheuerte Rekorder will einfach nicht anspringen.«

»Das ist alles? Ich dachte, es hätte vielleicht mit Drake zu tun. Er ist mir eben auf dem Parkplatz begegnet, und er sah aus, als hätte er seinen besten Freund verloren.«

»Selbst wenn, wäre er ganz allein schuld!« Cassie malträtierte die Wiedergabetaste. Ohne Erfolg.

Adeena trat zu ihr, warf die Kassette aus, steckte sie wieder ein und drückte die Rückspultaste. Sie wurde mit einem lauten Surren belohnt. »Möchtest du darüber reden?«

Cassie starrte auf das Gerät, wütend darüber, dass ihre Freundin so viel besser damit zurechtkam. Wieso konnte das Krankenhaus nicht endlich zur Digitaltechnik übergehen wie der Rest der Welt? Cassie und Adeena hatten zusammen die Grundschule Our Lady of Sorrows besucht und waren dort beide Außenseiter gewesen: das stämmige schwarze Mädchen und das dürre weiße. Die Erfahrung hatte sie fest zusammengeschweißt.

Von ihnen beiden war Adeena immer die folgsamere gewesen. Sie geriet nie in Schwierigkeiten, verhielt sich stets vernünftig und konnte jede Situation mit Worten entschärfen. Cassie hingegen galt schon damals als Unruhestifterin, weil sie gegen die Nonnen aufbegehrte, Schlägereien anzettelte, den anderen Kindern Schimpfwörter beibrachte und sie über die Tatsachen des Lebens aufklärte, statt sich mit dem Katechismus zu befassen.

Gemeinsam waren sie ein unschlagbares Team gewesen, das allen Lehrern und Mitschülern gewachsen war. Cassie seufzte, als sie daran zurückdachte. Hoffentlich war Drake nicht bald auch nur noch eine schöne Erinnerung.

»Er mauert total«, gab sie zu. Adeena schenkte ihnen beiden Kaffee ein. Cassie trank einen Schluck und starrte in die Tasse.

»Ihr habt eine Menge durchgemacht«, sagte Adeena. »Drake wäre beinahe gestorben …«

»Das weiß ich!« Sie senkte die Stimme. »Tut mir leid. Ich kann ja auch nachvollziehen, wie er sich fühlt. Wie sehr er darunter leidet, noch nicht wieder arbeiten zu dürfen. Aber mir ging es doch genauso. Und ohne ihn hätte ich das gar nicht durchgestanden. Also warum sagt er mir nicht, was los ist, und lässt mich helfen?«

»Mit solchen Dingen geht jeder anders um.« Adeena verkündete dieses Klischee, als wäre es eine ganz neue Erkenntnis. Sie hob die Hand, um Cassies Widerspruch abzuwehren. »Wenn du mit irgendetwas nicht klarkommst, schottest du dich vollkommen von der Außenwelt ab.«

Cassie zuckte mit den Achseln. »Manchmal brauche ich eben Zeit für mich, um in Ruhe über etwas nachzudenken und es zu verdauen.«

»Von außen betrachtet kann das ziemlich selbstzerstörerisch wirken. Als wärst du depressiv.«

»Aber das bin ich nicht! Und das weißt du auch. Nur weil ich mich eine Zeitlang zurückziehe, habe ich doch nicht gleich psychische Probleme.«

»Es ist eben deine Art, etwas zu verarbeiten.« Adeena verfiel in ihren Sozialarbeitertonfall. »Und wie macht es Drake?

»Das weiß ich nicht«, gab Cassie zu. »Als er letzte Woche von seiner Mutter zurückgekommen ist, schien es ihm ganz gut zu gehen.«

Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie schön es gewesen war, Drake wieder um sich zu haben. Er hatte ein Aquarell für sie gemalt, ein Porträt ihrer Eltern, das jetzt in ihrem Wohnzimmer hing. Sie hatten über alles Mögliche gesprochen: die Schule, ihre Familien und Freunde, die Arbeit. Nur nicht darüber, dass er angeschossen worden war. Oder über ihre Beziehung. Und sobald sie versucht hatte, ihm körperlich näher zu kommen, hatte er ihr unmissverständlich signalisiert, dass außer ein bisschen Händchenhalten oder einer Umarmung jede Form von Intimität für ihn tabu war. »Ich glaube, er hatte das Gefühl, mir helfen zu müssen.«

»Aber du wolltest möglichst schnell weg von ihm und wieder arbeiten.«

»Ich konnte mich einfach nicht ständig von ihm bemuttern lassen. Diese Fürsorglichkeit hat mich förmlich erstickt. Aber das war doch keine Zurückweisung …«

»Möglicherweise war es Drakes Versuch, das Ganze zu verarbeiten: aktiv sein, sich um jemanden kümmern, damit er nicht über das Erlebte nachdenken oder sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen muss.«

»Aber warum will er mich nicht mehr anfassen?«, fragte Cassie verzweifelt. Sie ließ den Kopf hängen. »Vorhin habe ich sogar versucht, ihn zu verführen«, vertraute sie Adeena an. »Ich bin mir sicher, dass es ihm gefallen hat … Er wollte es auch. Aber dann kam nichts mehr. Er ist einfach gegangen.«

»Warum lässt du ihm nicht etwas Freiraum?«, schlug Adeena vor. »Gib ihm Zeit, wieder zu sich zu kommen. Dir würde das auch nicht schaden. Du siehst erschöpft aus.«

Ein Klick kündigte an, dass die Videokassette bis zum Anfang gespult hatte. Adeena drückte auf Play, und eine Frau erschien auf dem Bildschirm. »Ist das Virginia Ulrich?«, fragte Adeena. »Geht es Charlie wieder schlecht? Ich dachte, er hätte sich gefangen.«

»Sie waren heute in der Notaufnahme. Woher kennst du sie?«

»Ich hatte schon mit ihr zu tun. Wegen Charlie und auch wegen George, ihrem anderen Sohn. Bevor George gestorben ist.« Adeena schüttelte den Kopf, dass die Perlen in ihren Zöpfen klickten. »Kaum vorstellbar, was diese arme Frau alles durchgemacht hat. Einen Sohn zu verlieren ist schlimm genug, aber wenn man dann noch erfährt, dass der andere an derselben Krankheit leidet … Und sie kümmert sich wirklich großartig um alles.«

»Wie lautet die Diagnose?«

»Es gab bestimmt schon zwei Dutzend. Ich glaube, momentan halten sie es für einen seltenen Gendefekt, der die Muskulatur beeinträchtigt.«

Cassie dachte darüber nach. Das wäre einleuchtend. Wenn die Muskulatur an Brust und Bronchien nicht richtig funktionierte, konnte das zu Atemschwierigkeiten führen. Aber das erklärte weder den Krampfanfall noch die Petechien.

»Virginia ist ein Phänomen«, fuhr Adeena fort. »Irgendwie findet sie sogar noch die Zeit, sich ehrenamtlich für die Children’s Coalition zu engagieren. Die Organisation setzt sich für Kinder mit schweren, seltenen Erkrankungen ein. Vielleicht hast du Virginia schon mal in einem ihrer Werbespots gesehen.«

»Hier kommt der intraossäre Zugang.« Cassie konzentrierte sich auf das Geschehen auf dem Bildschirm.

Adeena verzog angewidert das Gesicht. »Da gehe ich lieber. Ich möchte eh noch schnell Virginia und Charlie begrüßen. Und du … Geh nach Hause und ruh dich ein wenig aus, ja?« Sie verließ rasch das Zimmer, bevor das Video den Eingriff zeigte.

Cassie studierte die Aufnahme. Wie aus dem Lehrbuch. Sie spulte zurück und sah sich die Stelle noch einmal an. Dann stutzte sie und konzentrierte sich auf Virginia. Sie schaute sich die Szene ein weiteres Mal in Zeitlupe an. In dem Moment, als die Nadel ins Schienbein ihres Sohns gestoßen wurde, schien Virginia Ulrich zu lächeln.

Cassie drückte auf Pause und lehnte sich zurück. Der Gesichtsausdruck der Mutter wirkte fast grotesk. War das wirklich ein Lächeln oder doch eher eine Grimasse? Vielleicht war Virginia Ulrich ja einfach erleichtert, weil ihr Sohn nicht mehr in Gefahr schwebte.

Oder genoss sie es, ihren Sohn leiden zu sehen?

Cassie schüttelte den Kopf. Sie war zwar darauf geschult, immer vom Schlimmsten auszugehen, während sie zugleich auf das Beste hoffte, doch bisher wies nichts darauf hin, dass Virginia Ulrich ihren Sohn misshandelte.

Außerdem genossen es selbst gewalttätige Eltern normalerweise nicht, ihr Kind leiden zu sehen. In den meisten Fällen von Misshandlung durch die Eltern war nicht Lieblosigkeit die Ursache, sondern ein Mangel an Impulskontrolle. Sie dachte an ihre eigenen Erfahrungen mit Richard. Er war nur dann gewalttätig geworden, wenn er getrunken oder Drogen genommen hatte. Und sie war überzeugt, dass er sie trotz allem geliebt hatte, wenn auch auf krankhafte Art.

Sie war einfach nur müde. Und sah plötzlich überall Bedrohungen, weil es ihr nicht gelungen war, ihren Streit mit Drake auszufechten.

Virginia Ulrich zog die Hand unter Charlies Kopf hervor und schüttelte sie, bis wieder Blut in die Finger floss. Er war endlich eingeschlafen, Gott sei Dank. Sie richtete sich auf, streckte sich und massierte sich den unteren Rücken. Das Baby strampelte viel in letzter Zeit. Vielleicht sorgte sich die kleine Samantha um ihren großen Bruder. Virginia machte sich auf den Weg zur Schwesternstation. Dort saß ihre Krankenschwester Emily und machte Eintragungen in Krankenakten.

»Er schläft«, berichtete Virginia. »Ich möchte seinen Vater anrufen. Würden Sie ein Auge auf ihn haben?«

Emily schaute mit leicht gerunzelter Stirn auf. Sie war neu hier und hatte bislang weder mit George noch mit Charlie zu tun gehabt.

»Ich lasse ihn nie unbeaufsichtigt«, erklärte Virginia. »Er hat so viel durchgemacht. Und Unfälle kommen nun mal vor. Sein Bruder George …« Auf ihr Räuspern hin seufzte Emily mitfühlend. Also hatten ihr die anderen Schwestern und Dr. Sterling berichtet, was George zugestoßen war, damit Virginia nicht selbst über diese schlimme Zeit reden musste. »George war auch oft hier. Einmal wäre er beinahe gestorben, weil ihm eine Schwester zu viel Kalium gegeben hatte.«

Emily nickte verständnisvoll. »Selbstverständlich. Ich werde mich mit dem Papierkram zu ihm setzen.«

»Danke, Emily.« Virginia beugte sich vor und drückte der Schwester die Schulter. Sie wusste es immer zu schätzen, wenn sich jemand vom Pflegepersonal besonders um eines ihrer Kinder bemühte. Nach einem langen Blick zurück zu ihrem Sohn verließ sie die Kinderintensivstation. Niemand verstand, wie anstrengend es war, ein so schwer krankes Kind wie Charlie zu haben, besonders, wenn man es auch noch vor den Ärzten und Schwestern schützen musste, die ihm doch eigentlich helfen sollten. Man musste ständig wachsam sein. Aber sie durfte es eben nicht darauf ankommen lassen.

Sie ging zum Elternraum, der direkt gegenüber der Intensivstation lag. Dort gab es frischen Kaffee, und sie fand auch eine ruhige Ecke, wo sie sich hinsetzen und Paul anrufen konnte. In sämtlichen Ratgebern hieß es zwar, während der Schwangerschaft solle man auf koffeinfreien Kaffee umsteigen, aber der schmeckte ihr einfach nicht. Außerdem hatte sie auch in den früheren Schwangerschaften Kaffee und gelegentlich ein Glas Wein getrunken, ohne dass es etwas geschadet hätte.

Virginia ließ sich vorsichtig in dem niedrigen Sessel nieder, lehnte sich zurück und legte die Füße auf dem kleinen Tischchen ab, das Handy auf dem Bauch. Ihre Beine waren geschwollen, über die Schenkel wanden sich Adern wie hässliche blaue Würmer. Diese Seite der Schwangerschaft mochte sie überhaupt nicht. Sie konnte es kaum erwarten, bis das Baby endlich da war und sie wieder ein Mensch sein durfte, nicht nur eine Brutmaschine. Aber es war schön, wie man nach der Geburt verwöhnt wurde – Steak und Champagner noch im Krankenhaus, all die Blumensträuße und die Besucher, die nach der frisch gebackenen Mutter sehen wollten.

Während sie wählte, betrachtete sie die vertraute Aussicht. Von dieser Seite des Krankenhauses blickte man auf einen alten Friedhof. Hinter den schmiedeeisernen Toren, zwischen den immer noch kahlen Ahornbäumen, schimmerten weiße Marmorgrabmäler in der Sonne. Virginia fand schnell den großen Engel, den sie zu ihrem Schutzengel erkoren hatte. Wie oft hatte sie gemeinsam mit ihm schon hier Wache gehalten?

Paul meldete sich beim vierten Klingeln. »Ja?«

»Ich bin’s. Charlie liegt auf der Intensivstation.«

»Wieso? Was war denn los? Hast du nicht gesagt, es geht ihm gut, und du bringst ihn nur vorsichtshalber ins Krankenhaus?«