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Grandioses russisches Epos über das ewig Menschliche und Politische: In einer Linie mit Solschenizyn und Tolstoi Die Handlung des Romans spielt in den Jahren 1949–1953 in der abgelegenen sibirischen Siedlung Jermakowo, wo nach einer Laune Stalins ein ebenso gigantisches wie sinnloses Bauprojekt geplant war. Mithilfe von bis zu 120.000 Gulag-Häftlingen sollte am Polarkreis, durch Taiga und Sümpfe eine anderthalbtausend Kilometer lange Eisenbahnstrecke verlegt werden, die den Unterlauf des Jenissejs mit dem Nordural verbindet. Das Projekt wird zur Metapher für den stalinschen Totalitarismus. Wie der Jenissej ist auch dieser Roman ein mächtiger, breiter, ruhiger Fluss – ohne plötzliche, unerwartete Windungen oder Stromschnellen. Bis zu den Verzweigungen der Nebenflüsse erlebt der Leser die vielfältige Schönheit und den Reichtum einer kargen Landschaft, in die der Mensch eindringt, um sie zu unterjochen, zu versklaven und zu zerstören. Und doch: Wenn man einmal an Bord von Kapitän Belows Schlepper gegangen ist, kann man sich der Kraft seiner Strömungen und Unterströmungen nicht mehr entziehen. Der ruhige Erzählfluss fesselt den Leser und lässt ihn bis zum letzten Satz und noch lange danach nicht los. Der Autor schildert menschliche Schicksale zwischen den Mühlsteinen der Geschichte, ohne die Realität zu übertreiben oder literarisch zu verschleiern. Das Böse wird nicht teuflischer geschildert, als es ist, das Gute nicht heiliggesprochen. Jede einzelne Handlung wird als das Ergebnis der emotionalen Entscheidung eines Menschen gezeigt, der versucht, sich selbst treu zu bleiben oder zumindest einigermaßen rechtschaffen im Fluss des Lebens mitzuschwimmen – oder wenigstens nicht darin unterzugehen. Die zunehmend tragische Verflechtung der einzelnen Hauptfiguren entfaltet eine unterschwellige Spannung und emotional nachhaltige Wirkung, der man sich kaum entziehen kann. Viktor Remizov hat für sein Werk, an dem er sieben Jahre schrieb, umfangreiches historisches Material studiert, das ihm die mittlerweile in Russland verbotene Menschenrechtsorganisation »Memorial« zur Verfügung stellte.
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Seitenzahl: 1795
Veröffentlichungsjahr: 2025
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VIKTOR REMIZOV
ROMAN
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Vorwort des Autors
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
KAPITEL 78
KAPITEL 79
KAPITEL 80
KAPITEL 81
KAPITEL 82
KAPITEL 83
KAPITEL 84
KAPITEL 85
KAPITEL 86
KAPITEL 87
KAPITEL 88
KAPITEL 89
Glossar
Hauptfiguren des Romans
Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten. Alle Fälle von willkürlicher Gewalt gegen Menschen und Völker, die Schicksale der Verfolgten und Verbannten sind dem Leben, Archiven und den Erinnerungen mittlerweile verstorbener Zeitzeugen entnommen.
Mit Hochachtung danke ich Alexander Albertowitsch Snowski, der eine zehnjährige Lagerstrafe in Jermakowo, Igarka und Norilsk verbüßte, und Vitali Alexandrowitsch Kosatschenko, dem Jenissej-Kapitän, dessen Dampfer »Poljarny« für die Baustelle der Stalinbahn im Einsatz war.
Ohne ihre Hilfe wäre dieses Buch nicht möglich oder ein anderes geworden.
Außerdem danke ich meinem Sohn Stepan für unsere gemeinsame Reise per Motorboot und teilweise zu Fuß entlang der Route Norilsk – Dudinka – Igarka – Jermakowo – die Zwangsarbeitslager – Turuchansk – den Fluss Turuchan hinauf und zurück nach Dudinka und Norilsk. Das sind fast anderthalbtausend Kilometer hinter dem nördlichen Polarkreis.
Wir besuchten das von jungen Bäumen und Brennnesseln überwucherte Jermakowo, das gut erhaltene ehemalige Straflager Barabanicha und fuhren dreihundert Kilometer den menschenleeren Taiga-Fluss Turuchan hinauf. Dort verlief einst die Stalinbahn.
Nachts am Feuer sprachen wir über das Gesehene. Wir sannen darüber nach, welch widersinniges Gespann Staat und Individuum in Russland bilden, wie einfach und alltäglich die Barbarei sein kann. Stepan meinte, daraus könne ein Buch darüber entstehen, wie menschliche Liebe die Gewalt überwindet. Liebe ist das Einzige, was einem nicht genommen werden kann. Dass einen Zwanzigjährigen diese Fragen beschäftigten, bestimmte in vielem meine weitere Arbeit.
Dieses Buch ist Stepan und mit ihm allen jungen Menschen gewidmet.
Es war ein sonniger Tag Anfang Juni. In der Nähe der Siedlung war der Schnee geschmolzen, stellenweise sogar getrocknet, in der Taiga jedoch konnte man in den Niederungen noch hüfttief einbrechen. Die zweite Woche zogen Schwärme von Gänsen und Enten eilig über den Jenissej, zur Tundra, zu den nahen Ufern des Arktischen Ozeans. Sie trugen auf ihren Flügeln keinen frühen, keinen verspäteten, sondern den ganz normalen Frühling des Jahres 1949. Mehr als zweitausend Werst flogen die Vögel über den gewaltigen sibirischen Fluss, der schlammig und menschenleer war, so wie immer im Frühling. Hier, in der Taiga-Siedlung Jermakowo – fünf Hütten und zwei lange Baracken auf dem hohen Ufer – ging es hoch her wie sonst nirgends.
Direkt an die Eismassen waren drei Lastkähne vertäut. Über Landestege, die schief und krumm zwischen Presseishügel gelegt worden waren, liefen Menschen mit Lasten auf den Schultern und rollten Fässer. Dampfwinden zogen aus den Laderäumen Kisten und Ballen. »Hiev!« oder »Ab!« tönte es mal fröhlich, mal mit harschen, antreibenden Fluchworten durch die Frühlingsluft. Die Sonne brannte, die Eisbrocken zerflossen, über nackte Männerrücken lief der Arbeitsschweiß.
So weit das Auge reichte, war das Ufer bei Jermakowo vom starken Eisgang überfrachtet. Weiße, grünliche, doch vor allem schmutzige Eisbrocken hatten sich zu einer unebenen, stellenweise haushohen Wand aufgetürmt, die bedrohlich über dem Wasser hing. Kreischend und juchzend hüpfte eine Kinderschar zusammen mit bleichfelligen Hunden über die Schneehügel.
Selbst in der grellen Sonne sah der Jenissej unwirtlich aus. Die Eismassen waren zum größten Teil vorbeigezogen, aber das Wasser stieg immer noch. Kleine Seitenflüsse brachen durch die Mündungsengstellen, warfen einen vielfarbigen und gefährlichen Wust von Eismassen in den Jenissej. Zeitweise entstanden auf dem Fluss ganze Felder mit aufragenden, winterlich zackigen Presseishügeln und darin eingefrorenem Gestrüpp von Büschen.
Eine solche Eisscholle, schwer und kompakt, strebte auf den sandigen Schweif der Insel zu, peitschte dabei an ihren Rändern verschlammtes Wasser auf. Über die Eisscholle huschte ein Hase. Die Leute hörten auf zu arbeiten. Zwei Seeadler staksten ungeschickt mit ausgestreckten Flügeln über das Eis. Der Hase gab nicht auf, verkroch sich hinter den Eisbrocken. Dort wollten sie ihn schnappen. Er sprang hervor und entschwand erneut in Deckung. Sowohl der Hase als auch die Raubvögel waren nass.
Am Kap der Insel schwamm die Eisscholle dem Ufer zu, verlangsamte ihre Fahrt, vollzog eine Drehung und kroch nun in den ruhigen Durchfluss bei Jermakowo. Der Hase preschte mit angelegten Ohren auf die rettenden Büsche zu. Verzweifelt wollte er wie ein Kanonenschuss über das Wasser auf die Insel gelangen. Nur knapp verfehlte er sein Ziel, plumpste spritzend ins Wasser und wurde sofort kopfüber in die Strömung gezogen. Die Seeadler, die leicht mit ihren Flügeln zusammenstießen, flogen scheinbar schwerfällig, doch rasch auf, und schon zog einer mit ausgestreckten Krallen das graue, zappelnde Knäuel aus dem Wasser. Das Langohr schien in seinen Krallen winzig, es schlug verzweifelt um sich und schrie sogar, wie viele meinten, verstummte jedoch rasch und hing nun wie ein nasser Lappen herab.
Die Frauen am Ufer waren mit Blick auf die davonfliegenden Raubvögel erstarrt. Unteroffiziere und Wachschützen mit entkleideten, bleichen Oberkörpern, in Schirmmützen mit roten Rändern und Sternen, reagierten überheblich, als hätten sie ihn selbst geschnappt.
»Ausgehüpft!«
»Haha! Ein Hund, ein guter, hätte ihn, zack, sofort gekriegt.«
Eine Gruppe von Gefangenen zertrümmerte Eishaufen unter der Anlegestelle. Auch sie hatten aufgehört zu arbeiten.
»Futtert der etwa den ganzen Hasen allein?« Ein kahl rasierter Bursche starrte unablässig zum Geschehen.
»Oder er bringt ihn dir.«
»Schluss mit Qualmen, meine Fresse!«, erschallte der Ruf des Brigadiers. »Noch nie ’n Hasen gesehen?«
Das lehmige Ufer von Jermakowo erhob sich nicht steil, sondern sanft vom Fluss. Kahl wie überall am Jenissej, war es vom Eisgang durchfurcht. Nur Gras und Steine. Einen Wald sah man nirgends in Wassernähe. Die Siedlung Jermakowo befand sich in einer günstig gelegenen Senke zwischen Taiga-Hügeln am Flüsschen Jermatschicha, das in den tiefen und schiffbaren Durchfluss bei Jermakowo mündete.
Die ersten Lastkähne aus Turuchansk waren am Vortag eingetroffen. Sie wurden nun entladen – Zelte, Eisenöfen, Stacheldrahtrollen, Lebensmittel in Kisten und Säcken. Zum sonntäglichen Arbeitseinsatz waren alle geholt worden, jeden Tag erwartete man große Karawanen aus Krasnojarsk. Es gab keinen Platz zum Entladen – keine Anlegestellen, keine Lagerhäuser –, am Ufer erstreckte sich die undurchdringliche Taiga.
Ein junger Wachschütze stieg mit einem schweren Sack auf den Schultern den Landesteg hinab. Der gut aussehende Mann mit ausrasiertem Nacken und langem blondem Schopf hatte am Vortag im Speisesaal eine froh gestimmte Serviererin kennengelernt – Njura hieß sie, eine Zivilbeschäftigte aus Turuchansk. Während er nun den Sack trug, stellte er sich vor, wie er im Sommer Njura auf einem Bötchen zum Baden an die sandige Insel rudern würde. Bei diesen Gedanken wären ihm fast die Beine eingeknickt. Der Wachschütze leistete schon das zweite Jahr seinen Wehrdienst, immer an abgelegenen Lagerpunkten, hatte nur männliche Häftlinge und Natschalniks1 zu Gesicht bekommen. Er konnte noch nicht glauben, hierher versetzt worden zu sein. Mit Njura hatten gestern zwar alle gescherzt, auch die Offiziere, aber trotzdem hoffte er, ja, hatte sogar bemerkt, dass er dem Mädchen gefiel. Er warf den Sack mit angehärtetem Zement auf einen Haufen und schaute Richtung Speisesaal, wo seine Njura arbeitete, bekam einen Sack ab, der von den Schultern eines anderen flog, und mit froh gelauntem, nervösem Beben im ganzen Körper lief er über den schwankenden Steg auf den Lastkahn.
Bei diesem sonntäglichen Einsatz arbeiteten auch die Bewohner der Siedlung mit, ihnen waren für diesen Tag je ein Pfund Brot und eine Fleischkonserve versprochen worden. Der stellvertretende Leiter der Baustelle 503, der kleine und hagere Hauptmann des Innenministeriums Jakow Semjonowitsch Kligman, der selten eine Uniform trug, lief mit einem Koppel umgürtet umher. Von Zeit zu Zeit packte er zusammen mit anderen ein schweres Sperrstück an und schleppte es unter den Kommandos des Brigadiers. Dann wieder stand er da, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn unter der Schirmmütze und betrachtete sorgenvoll das unzugängliche Taiga-Ufer, das es zu bezwingen galt.
Am Ufer des Jenissej entstand das Straflager für den Eisenbahnbau »Jenissej-SheldorLag«. Es handelte sich um eine neu geschaffene Struktureinheit des Innenministeriums und bestand aus dem Jenissej-Besserungsarbeitslager und der geheimen Baustelle 503.
Hauptmann Kligman diente wie die meisten Offiziere des Bauvorhabens gleichzeitig in zwei Positionen – er war stellvertretender Vorgesetzter des Straflagers und leitete die Abteilung Baustoffversorgung. Wie kein anderer wusste er, wie viele Schiffe und Lastkähne mit Material, Ausrüstung und lebendem »Spezkontingent«2 gerade unterwegs waren, und hatte absolut keine Ahnung, wo er das ganze Hab und Gut entladen sollte. Und er – selbstverständlich Kommunist und Atheist – flehte kleinmütig jemanden ganz, ganz oben an, er möge die Ankunft der Fracht um wenigstens ein, zwei Tage verschieben.
Das Hauptbüro der Baustelle 503 lag hundert Kilometer den Jenissej abwärts in Igarka. Es nannte sich Direktion Nord der Hauptverwaltung des Lager-Eisenbahnbaus des Innenministeriums der UdSSR. Auch dort waren umfassende Arbeiten im Gange: der Ausbau von Straßen, Anlegestellen und Lagerhallen, eilige Errichtung von Unterkünften für Offiziere und freiwillig zugezogene Fachleute, die Schaffung eines großen Verwaltungsgebäudes sowie die Erweiterung des Durchgangslagers von Igarka entsprechend den bevorstehenden Erfordernissen, sodass man dort siebentausend Bauarbeiter unterbringen konnte.
Ende Mai, als der Jenissej noch ruhte, war die gesamte Obrigkeit von Jermakowo zu einer Beratung nach Igarka geflogen, hatte jedoch nicht so schnell zurückkehren können: Der Jenissej war in Bewegung gekommen und hatte den Flugplatz auf dem Eis mit sich gerissen. Als Verantwortlicher befand sich jetzt in Jermakowo nur Hauptmann Kligman, zusammen mit einem Leutnant des NKWD3 sowie zwei Dutzend Wachschützen.
Der mächtigste Fluss Russlands fließt von Süd nach Nord, deswegen ist das Frühjahr hier immer beschwerlich. In Krasnojarsk beginnt der Frühling im April, aber flussabwärts, in Dudinka, fängt er erst zwei Monate später an, und die ganze Zeit macht das Wasser, was es will. Zuerst schmelzen die Oberläufe am Sajangebirge und die Zuflüsse. Der Jenissej erwacht, strebt voran und stört sich selbst dabei, ist noch ganz winterlich, gefesselt im meterdicken Eis. Alles bäumt sich auf, Presseis verbarrikadiert den Fluss von Ufer zu Ufer, reicht stellenweise bis zum Grund, und so steigt das Wasser um zehn, fünfzehn, manchmal zwanzig Meter. Eine Unmenge von Eis reißt die Vegetation aus den Ufern und nimmt alles mit sich, was der Mensch unvorsichtigerweise zurückgelassen hat. Arbeiten kann man in dieser Zeit weder auf dem Wasser noch an den Ufern.
So war es jetzt auch in Jermakowo, aber hier wurde gearbeitet.
Das Klopfen von Hämmern und Äxten, Schreie und Gelächter, das Gebell frei laufender Dorfkläffer und staatseigener Schäferhunde erschallte über dem Fluss. Lautstark ratterte ein kleines Lokomobil, zog die allerschwersten Kisten über den provisorischen Bodenbelag. Der Abstieg von Jermakowo zum Jenissej wurde derart durchgeknetet, dass er unbegehbar war. Kligman hatte vier Zimmerleute unter den Häftlingen beauftragt, eine Treppe zu bauen. Sie waren eine Stunde lang hin- und hergegangen, hatten Baumstämme aus dem Schlamm in den Schlamm gewälzt, gestritten und mit ihren bis zum Ellbogen schwarzen Armen gestikuliert, und so hatte er sie wieder zum Holzfällen geschickt.
Mal verschwand die Sonne, mal blendete sie zwischen den rasch vorbeiziehenden Wolken hindurch. Der Jenissej, das Arbeitstier, schwerfällig und schmutzig, strebte wie ein ewiger Sträfling voran, ohne sich umzusehen. Eisbrocken wurden unterspült, stürzten ins trübe, graue Wasser, tauchten schwerfällig auf, nahmen langsam Fahrt auf und strebten nach Norden.
Über einer entfernten Biegung zeigten sich schwarze Rauchschwaden, jemand hatte sie entdeckt, und nun spähten alle dorthin, die Hand gegen die Sonne haltend. Es war ein Schlepper mit einer Aufreihung von Lastkähnen, die erste Karawane nach sieben Monaten Winter.
Der Architekt Nikolaj Mischarin, ein hagerer Bursche mit modischem Hauptstadt-Haarschnitt, kletterte auf einen hohen Bretterstapel. »Drei … nein … vier Lastkähne, Jakow Semjonowitsch«, meldete er dem unten stehenden Kligman.
Kligman kniff die Augen kurzsichtig zusammen und schaute unter seiner Hand hervor auf das kalte, glitzernde Wasser des Jenissej. »Fünf Lastkähne schon, das sehe ich genau.«
Nikolaj Mischarin war in Jermakowo, um eine Siedlung zu projektieren. Vor Wochen war er mit dem Flugzeug angekommen, seitdem lief er stets gut gelaunt umher, lächelte alle freundlich an und versuchte überall zu helfen, weil er selbst noch nichts zu tun hatte – von den Planern aus seiner Gruppe war niemand da, es fehlte sogar ein einfaches Zeichenbrett zum Arbeiten. Im Frühjahr zuvor hatte er sein Studium am Moskauer Architekturinstitut mit Auszeichnung abgeschlossen, am Lehrstuhl für Stadtplanung, hatte um einen Einsatz auf einer fernen sibirischen Baustelle gebeten und war so an dieses öde Ufer zum Geheimobjekt »Jenissej-SheldorLag« gekommen. In Moskau galt es als Schwerpunktvorhaben des Komsomol4 am Jenissej.
Er stand im prallen Sonnenlicht auf schwankenden Brettern über dem großartigen sibirischen Fluss und meinte, der glücklichste Mensch zu sein. ›Auf diesem kleinen Flecken Erde, das der Taiga abgerungen wurde, beginnen großartige Taten‹, schrieb er gedanklich in sein Tagebuch. ›In weniger als fünf Jahren wird hier eine Stadt stehen, mit modernen Häusern und Alleen, die zum Jenissej hin verlaufen. Eine geschwungene, elektrisch beleuchtete Brücke von fünf Kilometern wird zum Ostufer reichen, Züge mit Schildern Moskau – Igarka, Leningrad – Igarka, Sotschi – Norilsk werden an einem solchen sonnigen Frühlingsmorgen vorbeirasen. Und das alles beginnt jetzt! Ich muss mir dieses unberührte Ufer mit den jahrhundertealten sibirischen Zedern und Kiefern gehörig einprägen, diese starken Menschen, die eine große Sache beginnen. In zwanzig, dreißig Jahren, vielleicht auch früher, wird die gesamte Jenissej-Region aus Schnee und Taiga bis zur Unkenntlichkeit verändert sein.‹
»He, du Artschitekt, verflucht noch mal«, hörte Mischarin auf einmal. »Hau ab da, aber flott«, brüllten die rüden Packer vom Lastkahn.
Mit nervösem Quietschen hob die Winde aus dem Laderaum ein langes, sich gefährlich biegendes Bretterbündel. Mischarin störte. Freundschaftlich lächelte er den Packern zu und ging hinunter. Das muss ich am Abend unbedingt aufschreiben, befahl sich Mischarin. Ständig vergaß er es zu tun.
Der näher kommende Dampfer tutete, verkündete die Ankunft der Zivilisation in der Abgeschiedenheit der Taiga. Die Kähne zog der kleine Schlepper »Poljarny«, unter dem Kommando von Alexander Below, dem jüngsten Kapitän der Reederei. Sie waren von Krasnojarsk in einer langen Karawane aufgebrochen. Mehr als drei Wochen hatten fünf Dampfer hintereinander zwei Dutzend Lastkähne gezogen, waren langsam hinter den nach Norden zurückweichenden Eismassen vorangekommen, immer wieder zurückbleibend, um gefährlichen Auswürfen des Eises auszuweichen. Below war mit zwei Lastkähnen aufgebrochen, nun zog er bereits sechs – er hatte die Karawane der defekten »Jakutien« mitgenommen. Der junge Kapitän wollte sich unbedingt hervortun und war heute Morgen im dichten Nebel vor allen anderen aufgebrochen. Und nun kam er als Erster an.
Der Schlepper näherte sich, vollzog vor den Augen des Publikums eine Wendung5 und stemmte sich, der Strömung widerstehend, den unverhältnismäßigen Kräften entgegen, die Wolken mit einem Schweif aus schwarzem Rauch färbend. Gerade vollendeten die Lastkähne das Manöver und schlossen achtern auf.
Die »Poljarny« war ein Schlepper niederländischer Bauart mit 300 PS. Vierundzwanzig Meter lang und sechs Meter breit, mit einem Funkturm und einem hohen Schornstein von fast einem Meter Durchmesser in der Mitte. Sie kam gerade aus der Generalüberholung, der Rumpf war mit schwarz glänzender Farbe lackiert, die Aufbauten beige, der Schlepper sah funkelnagelneu aus. Der Kapitän wurde kameradschaftlich beneidet, man wusste um das geradezu väterliche Verhältnis des Reedereidirektors zu ihm.
Als die »Poljarny« nun die Lastkähne aus der Strömung führte, drückte sie sie riskant dicht ans Ufer. Immer wieder musste die Karawane halten, und es schien, als käme das Dampfschiff mit seinem vielfältigen Gefolge, das sich in einer langen Reihe an sein Heck klammerte, nicht gegen die frühlingshafte Kraft des Flusses an. Übles Schlammwasser schwappte immer wieder gegen den Bug, sodass das Schleppseil hinten bis zur Wasseroberfläche durchhing, aber die »Poljarny« schob sich kräftig rußend wieder voran, in die Stille des Durchflusses von Jermakowo. Der hochgewachsene Kapitän in weißer, sommerlicher Uniformjacke und schwarzer Hose kommandierte, für das gesamte Ufer sichtbar, souverän seine Mannschaft. Dann verließ der letzte Lastkahn der Karawane die Strömung in den Durchfluss, der Schlepper zog noch weiter, brachte ihn zur Insel, und kurz danach flogen die Anker der Lastkähne ins Wasser.
Die Fahrt von eintausendsiebenhundert Kilometern war beendet.
Die »Poljarny« legte den Rückwärtsgang ein, die gesamte Mannschaft warf die Wattejacken6 ab und kam auf Kommando flott an Deck, um das zweihundert Meter lange Schleppseil einzuholen. Der Bootsmann schaffte es kaum, die Leinen am Heck zusammenzulegen. Auf den Lastkähnen wurden die Ankerketten gespannt – dichtgeholt, wie man bei der Schifffahrt sagt. Mancher entdeckte einen Bekannten auf einem der inselnahen Dampfer, die Männer lächelten müde, rauchten.
Der Schlepper stieß, das Presseis auseinanderschiebend, ans Ufer. Below kam aus dem Steuerhaus, an seiner weißen Uniformjacke trug er die Schulterklappen eines Flottenleutnants und den rubinroten Orden »Roter Stern«. Hauptmann Kligman stand auf einem Lastkahn am Ufer, der gerade gelöscht wurde.
»Ich grüße Sie, Genosse Hauptmann«, salutierte Below nachlässig mit der Miene eines Künstlers nach einer ihm gewidmeten Ehrenvorstellung. Seine Wangen glühten wie bei einem jungen Mädchen, und seine Augen suchten am Ufer nach Bekannten.
»Bringen Sie die Lastkähne zum Entladen des Lagerkontingents«, sagte Kligman, ob nun als Befehl oder als Vorschlag, und schaute zu Below, als wolle er fragen: Wieso muss ich das noch extra sagen? Jakow Semjonytsch Kligman, der sein Leben lang in der Materialversorgung gedient hatte, verstand sich nicht aufs Erteilen von Befehlen, das stand ihm auf der Stirn geschrieben.
»Zuerst essen, Genosse Hauptmann. Die Mannschaft hat seit der Nacht nichts bekommen«, beharrte Kapitän Below dreist und gut gelaunt. »Aus den Laderäumen kann ja niemand entwischen.«
»Ach, junger Mann … Was soll das?!« Kligman drehte sich um zum NKWD-Leutnant.
»Die männlichen Seki7 zur entfernten Anlegestelle, die weiblichen hierher! Keine Widerrede!«, befahl der NKWDler Below.
Der Schlepper setzte zurück, warf achtern eine verärgerte Sturzwelle auf, wendete. Schwarzer Ruß strömte reichlich aus dem Schornstein. Lastkähne mit Gefangenen gab es zwei. Beide waren aus Holz, mit flachen Decks, auf denen Frachten lagen – nie wäre man darauf gekommen, dass sich in den Laderäumen darunter Menschen befanden. Ein Kahn, der größere, hatte in der Mitte einen Holzaufbau für den Schiffsführer, aus dessen Schornstein es dampfte. Bald roch das ganze Ufer nach Kohlsuppe. Die Wachen drängten sich vor einem Verkaufskiosk, jemand erzählte etwas Lustiges – das Gelächter hallte über das Wasser. In diesem Lastkahn warteten in Laderäumen mit dreistöckigen Pritschen achthundertfünfundneunzig männliche Häftlinge auf die Entladung.
Das Deck des kleineren Nachbarkahns war mit Rollen nagelneuen Stacheldrahts beladen. In seinem Laderaum drängten sich fünfhundertneunzig Frauen.
Der kleine Lastkahn dockte als Erster an. Die Taue wurden ans Ufer gebracht. Der Befehlshaber – der Natschalnik der angekommenen Begleitmannschaft – einigte sich mit dem NKWDler, wo der Gefangenentransport übergeben werden sollte, auf dem Schiff oder an Land, und stellte dann die Wachen auf. Zwei Soldaten entriegelten die Luke am Bug, rissen die breiten Türen und Metallgitter auf, und aus dem Laderaum drang ein dumpfes Geheul, Köpfe von Frauen zeigten sich.
»Mädels, passt auf! Das hier ist verdammt noch mal nicht Sotschi«, kreischte gleich die Erste albern auf. Sie trug ein schönes Tuch auf den Schultern und hatte ein geblümtes Bündel in den Händen. Sie war auch schmuck gekleidet, sie hätte so ins Restaurant gehen können, wäre nicht alles durch die Fahrt zerknittert gewesen. Ihre Lippen waren grell geschminkt, die Augen umrandet.
»Geh schon, blöde Kuh«, drang es ohne Bosheit aus den Tiefen des Laderaums. »Lass uns endlich an die Luft!«
Die Frauen kamen streitend und sich gegenseitig schubsend nach oben, blinzelten im grellen Licht. Als Erste kamen die Kriminellen heraus, teils winterlich, teils sommerlich gekleidet, mit recht rundlichen Gesichtern. Sie trugen Bündel und Koffer, fluchten, qualmten Tabak oder flirteten mit dem schlanken Kapitän in weißer Uniformjacke. Eine zog sogar ihren Rock bis zur Unterhose hoch.
»In Fünfern zusammen! Vorwärts! Nicht zurückbleiben!« Die Wachschützen machten kein Aufheben, stießen sie an, wo nötig in den Rücken, in den Hintern … Die Frauen kreischten auf, hoben ihre Röcke, strömten ungeordnet voran, als seien sie auf einem Basar. Unter ihren Füßen schmatzte der Schlamm.
Kriminelle gab es hier vierzig oder fünfzig. Dann kam Artikel 588, gelockte und kahl geschorene Feindinnen des Volkes, Ehefrauen solcher Feinde, ihre Schwestern, Mütter und Töchter, hager und blass, junge und alte Konterrevolutionärinnen, vorwiegend gekleidet in Lagerwolljacken und Joppen. An den Füßen trugen viele Männerstiefel in Größe 45, die Frauen bewegten sich wie Zirkusclowns. Die Mehrheit war gesichtslos und Frauen kaum ähnlich, doch einige waren sehr schön. Kaum eine lächelte. Sie schauten sich ängstlich um, und beim Anblick des gut aussehenden Kapitäns drehten sie sich weg. Viele waren noch ganz jung, sahen aus wie Oberstufenschülerinnen.
Der kunterbunte Gefangenentransport bewegte sich langsam voran, schlängelte sich den Hang hinauf, schmatzte und rutschte im Schlamm. Als alle herausgekommen waren, kam es im Laderaum zu einer Verzögerung, von der Luke aus wurden die Wachen gerufen.
Der Natschalnik der Begleitsoldaten, der mit den Frauen auf dem langen Weg einiges hatte aushalten müssen, wollte zur Luke gehen, blieb aber stehen und wandte sich an die Arrestanten. »Hinsetzen!«, ertönte seine junge, für sein Alter unangemessen herrische Stimme.
»Hinsetzen! Hinsetzen!«, schallte es den Hang hinauf. »Auf den Boden! Auf den Boden, ihr Schlampen!«
»Setzt euch doch selbst hin, Sadisten! Fahrt zur Hölle! Wer gibt dir das Recht, Scheißeschlucker? Ha-ha-ha! Als wär’ Hochsommer«, kreischten die Diebinnen aufgebracht. Die Politischen gingen widerspruchslos in Reih und Glied zu Boden, manche in die Hocke, Hauptsache nicht in den Schlamm, manche, in Wattehosen, zogen ein Bein an und setzten sich darauf. Manche lächelten über das schöne Wetter und die freie Aussicht auf den breiten Fluss nach drei Wochen im Laderaum. Sie hatten sich zurechtgezupft und Tücher um den Kopf gebunden.
Zwei Wachschützen trugen an Armen und Beinen eine dürre und lange Lagergefangene aus dem Lastkahn. Hinter ihr trat eine junge Frau mit geschorenem Kopf hervor, die vergeblich versuchte, den grauhaarigen Kopf zu stützen. Der Kopf baumelte, ein knochiges Gesicht und ein weit geöffneter Mund mit blauen Lippen wurden sichtbar.
»Ist die hinüber, oder was?«, fragte der Befehlshaber wirsch.
»Keine Ahnung, ein Arzt muss her.« Die junge Frau legte ihr Ohr an die Brust der Alten.
»Wieso Arzt?!«, krächzte der Befehlshaber wütend. »Leg sie beiseite. Reih dich ein!«
Einen halben Kilometer flussaufwärts war die Arbeitszone mit Stacheldraht umzäunt. Menschen in schwarzen und grauen Arbeitsanzügen sägten Bäume, hackten Äste ab und verbrannten sie auf riesigen Feuerstellen, Funken und Asche flogen hoch, unter Schreien »Pa-a-ass auf!« stürzten jahrhundertealte Bäume mit schwerem Seufzer um, klirrten Äxte, jaulten Zweimannsägen. Für die Zone war ein Rechteck von dreihundert Metern entlang des Wassers und von der gleichen Länge in die Tiefe der Taiga abgeteilt worden. Die Bäume waren größtenteils gefällt, lagen aufeinander und wiesen in verschiedene Richtungen: Man hätte meinen können, das Chaos sei absichtlich angerichtet worden, damit niemand durchkam. Einige Kerle schleppten abgehackte Äste zum Fluss, warfen sie ins Wasser und auf die Presseishügel, wodurch sich der Eindruck von Gewirr und Sinnlosigkeit nur noch verstärkte.
Des Scheins halber zogen sie Stacheldraht in drei Strängen, nagelten ihn direkt an die Bäume mit abgesägten Spitzen, schief und krumm. Die Zone wurde für die Be- und Entladevorgänge am Lagerpunkt9 abgeteilt, zunächst jedoch konnte man hinter diesem Stacheldraht das ankommende Lagerkontingent in Empfang nehmen. Die Natschalniks hatten es eilig, es wurde eine Zone für tausend Gefangene eingerichtet, wobei ihnen klar war, dass hier auch leicht vier- oder fünftausend Gefangene Platz finden würden.
Alles war provisorisch, wurde hastig und mit geringen Anstrengungen erledigt, später würde man hier noch roden und aufräumen müssen, den Stacheldraht gemäß detaillierter Anweisungen neu ziehen, Wachtürme errichten und über dem Kontrollpunkt die unvergängliche Stalinsche Weisheit schreiben, die alle Lagertore vom Dnjepr bis zum Amur schmückte: »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, eine Sache der Tapferkeit und des Heldentums!«
So ging es los mit der Großen Stalinbahn. Anderthalbtausend Kilometer Schienen sollten entlang des Polarkreises verlegt werden, um den nördlichen Ural mit dem Unterlauf des Jenissej zu verbinden.
Alle Ressourcen, die ganze Unmenge von Baumaterialien, Technik, Nahrungsmitteln, Menschen, Begleitsoldaten für diese Menschen und für die Aufseher über diese Menschen waren in den Volkswirtschaftsplänen jahrweise festgeschrieben, wurden bereitgestellt und strömten durch das ganze Land ihrem Bestimmungsort zu.
1Natschalnik – Vorgesetzter
2Spezkontingent – Spezialkontingent von Häftlingen
3NKWD – Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR, gegründet 1934. Zu seinen Aufgaben gehörte u. a. der Strafvollzug.
4Komsomol – Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
5Angelegt wird immer gegen die Strömung. Fährt man also mit dem Strom, wird das Schiff gedreht, eine »Wendung« vollzogen.
6Wattejacke (telogrejka, watnik) – gesteppte Baumwolljacke, die den Träger bei Minustemperaturen über längere Zeit warm hält. Sie war mit den Wattehosen Teil der Winteruniform der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und charakteristisch als Bekleidung in Arbeitslagern des Gulag.
7Seka/Sek, Plural Seki – Kurzform für Strafgefangene
8Artikel 58 – politischer Paragraf (Verbrechen gegen den Staat) im Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderalen Sowjetrepublik in den Lesungen 1922 und 1926. Er wurde 1961 abgeschafft. Der Artikel war auch ein Synonym für politische Häftlinge.
9Separater Lagerpunkt (russ. OLP) – Basislager im System der Zwangsarbeitslager des GULag des NKWD der UdSSR in den 1920er- bis 1950er-Jahren zur Erfüllung bestimmter Produktionsaufgaben
So wie die Siedlung Jermakowo früher auf der Landkarte gefehlt hat, so gibt es sie auch heute nicht. Aber sie lässt sich leicht finden – der Jenissej macht an dieser Stelle die größte Kurve auf seinem gesamten Weg, man muss zwischen Turuchansk und Igarka suchen, an der Schnittstelle mit dem Polarkreis. Genau hier sollte nun die Eisenbahnlinie vom polarnahen Ural verlaufen. Am oberen Ende dieser Schleife, am steilen linken Ufer, war eine Kolonie geplant – die Verwaltung des Spezialbaus 503.
Die Siedlung Jermakowo wurde erstmals 1726 in historischen Dokumenten erwähnt. Beschrieben wurde sie als Ort des Fischfangs und des Gewerbes, mit einer Poststation. Zu jenem Zeitpunkt gab es hier einige Hütten, in denen drei Familien lebten.
Die Siedlung veränderte sich kaum. In Revolutionszeiten fiel sie dadurch auf, dass ein gewiefter Einheimischer, der sich als Beauftragter der Sowjetregierung ausgab und seinen leseunkundigen Stammesgenossen ein zufällig gefundenes Papierchen mit Siegel zeigte, seine Landsleute in der Umgebung einige Jahre ausplünderte. Sonst passierte nichts Auffälliges. Die Fische blieben nicht weg, das Wild auch nicht.
Zu ersten ernsthaften Veränderungen kam es im Krieg. Am 6. Januar 1942 wurde im fernen Moskau vom Rat der Volkskommissare und vom Zentralkomitee der Kommunistischen Allunions-Partei der Erlass »Über die Entwicklung des Fischfangs in den Flussbecken Sibiriens und in Fernost« ausgegeben. Zur Umsetzung des hohen Beschlusses wurden mehr als dreihundert Menschen in die Siedlung transportiert, die, karge Scheunen eingeschlossen, aus sieben Gebäuden bestand. Die meisten Ankömmlinge waren Russlanddeutsche, die bereits 1941 aus dem Wolga-Gebiet nach Sibirien verbannt worden waren und nun erneut deportiert wurden – in den äußersten Norden Sibiriens10.
Der Beschluss wurde unter Einsatz des NKWD erfüllt. Diese Menschen hatten keine Rechte. Sie kosteten nichts, außer den Transport, also holte man sie im Übermaß, unter Einrechnung eines natürlichen Schwunds. So hatte sich die Bevölkerung von Jermakowo 1942 auf einen Schlag verzehnfacht. Es gab zwölf kräftige Männer, alle anderen waren Frauen, Kinder, Alte und Jugendliche.
Wenn ein Historiker heute dieses Dekret aus vergangenen Zeiten liest, mag er über dessen Menschlichkeit erstaunt sein – es war Krieg, eine schwierige Zeit, und Moskau verlangte von den lokalen Behörden, dass sie eigene Verordnungen verkündeten, in denen den Umsiedlern Heuwiesen, Acker- und Weideland zugewiesen wurde. Das taten die Behörden dann auch. Allerdings gab es rund um Jermakowo nichts als die Taiga. Nie hatte sich hier Ackerland oder Vieh befunden. Noch wichtiger war Wohnraum, aber auch den gab es nicht.
Im ersten Winter lebten die Menschen in Erdhöhlen, die sie selbst ausgehoben hatten. Erst ein Jahr später, im Januar 1943, wurde eine Baracke mit zwölf Räumen fertiggestellt, in die hundertfünfzig Menschen einzogen, drei oder vier Familien pro Zimmer. Im folgenden Jahr, 1944, wurde eine weitere Baracke gebaut.
Für den staatlichen Fischfang wurde die Genossenschaft »Rybak« gegründet. Ihre drei Brigaden bestanden aus fünfzig Personen, außerdem arbeiteten dreißig in der Verwaltung, im Dienstleistungsbereich und in einer Baubrigade. Für alle anderen fast hundertfünfzig Arbeitsfähigen gab es keine Arbeit.
Zu Kriegsende stellte sich heraus, dass die ganze Sache dem Volk eher schadete als nützte – die meisten der neu gegründeten Genossenschaften und Kolchosen waren beim Staat mit astronomischen Summen verschuldet. Und so vergaß man rasch die Verordnungen und erlaubte den Verbannten einen Umzug nach Igarka und Dudinka, wo sie sich Arbeit suchen konnten. In der Siedlung blieben noch etwa fünfzig Menschen, Alte und Kinder eingerechnet.
1949 begann die neuere Geschichte der Siedlung Jermakowo. In den ersten Märztagen tauchte in der eingeschneiten, verschlafenen Siedlung zu Fuß und mit Schlitten eine kleine Brigade von Lagerhäftlingen mit Wachen auf. Sie ließen sich in einer der leeren Baracken nieder, reparierten sie ein wenig und brachten die Küche in Ordnung. Morgens gingen die Gefangenen in Reih und Glied unter Bewachung von Soldaten zum Jenissej und droschen dort den ganzen Tag auf das Presseis ein, um den Fluss und die Sandinsel zu befreien – für eine Landebahn.
Ab Ende März kamen auf dem vorbereiteten Flugplatz die Obrigkeit und wertvolle Fracht an. Zu Pferd, in Autos und zu Fuß zogen von Igarka entlang des Jenissej gut ausgebildete Häftlinge: Landvermesser, Zimmerleute, Köche, Bedienungskräfte. Eine gute Eisstraße11 gab es noch nicht, die Autos blieben stecken, gingen im Frost kaputt, deshalb war eine Fahrt über diese hundert Kilometer lang und gefährlich.
Vor Ankunft der ersten Lastkähne wurden in Jermakowo keine größeren Arbeiten ausgeführt. Am Bach errichteten Zimmerleute für die Obrigkeit aus Baumstämmen ein gutes Badehaus, dazu eine Laube mit Blick auf den Jenissej und mehrere Schuppen als Lagerraum.
10All das war im Erlass des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Kommunistischen Allunions-Partei der Bolschewiki vorgesehen. Allein in die nördlichen Bezirke der Region Krasnojarsk wurden 23 000 Deutsche »zum Einsatz beim Fischfang« gebracht.
11Eisstraße – Winterstraße über zugefrorene Sümpfe, Seen oder Flüsse
S/k12 Georgi Nikolajewitsch Gortschakow hackte gemächlich kleine Äste von den umgestürzten Kiefern, trug sie zu Haufen, rauchte ohne Eile und betrachtete aus der Ferne das Treiben am Hang vor Jermakowo. Dort polterte die Technik, lärmten Menschen, doch hier, am fernen Ende der künftigen Zone, war niemand, nur der Krankenpfleger Schura Beloserzew. Hin und wieder trug der Wind den starken Geruch von Dampfschiffrauch herüber. Gortschakow hob den Kopf, und seine Nasenlöcher sogen aus menschlicher Naivität unwillkürlich vertraute Gerüche ein, die sein Innerstes aufwühlten.
Der Lagerfeldscher Georgi Nikolajewitsch Gortschakow war siebenundvierzig, wirkte älter, wie etwa sechzig, aber nicht wie ein Greis, seine Augen waren nicht alt. Er war größer als der Durchschnitt, stark in den Schultern, leicht gebeugt. Gortschakows Gesicht war stets ruhig, man hätte es auch als willensstark bezeichnen können, aber eigentlich drückte es kaum etwas aus. Über die vielen Jahre eines reflexartigen Gehorsams hatte sein Gesicht gelernt, sich nicht am Geschehen zu beteiligen. Er hatte die ziemlich gewöhnliche Physiognomie eines alten Lagerhäftlings: tiefe Querfalten auf der Stirn, von Wind und Frost geplagte, tränende Augen, eine zweifach gebrochene Nase – Januar 1937 beim Verhör im Gefängnis von Smolensk und dann die Urki13 auf dem Gefangenentransport in Wladiwostok. In beiden Fällen war sie schief zusammengewachsen und hatte nun eine entstellende Delle. Ihm waren noch weitere Narben geblieben.
Gortschakow setzte sich auf einen kühlen Kiefernstamm zwischen dicken, noch unbeschnittenen Ästen. Sorgfältig putzte er seine runde Brille, und während er sich eine anzündete, starrte er unverwandt auf den mächtigen Fluss. Er mochte den Jenissej nicht. In seiner Jugend hatte er ihn einmal mit einem bärtigen Mann mit Axt verglichen, der in Erledigung seiner Angelegenheiten rasch vorüberzieht. Der Jenissej achtete nicht auf die Menschen. Er war kein bisschen schön, so wie ein düsterer und bedrohlicher Kerl eben nicht schön sein kann. Es kam nur vor, dass er sich ruhig verhielt.
Das erste Mal war Georgi Nikolajewitsch Gortschakow als junger Geologe Mitte der Zwanzigerjahre in diese Gegend gekommen, da war alles noch anders gewesen: viel Sonne, viel Kraft, froher Eigensinn, Erfolg und der naive Glaube, dass sich alles bändigen ließ, sogar der Bärtige mit Axt. Vieles gelang damals. Selbst später, als im Jahr 1938 Peregudow, der Natschalnik von Norilskstroj, den Gefangenen Gortschakow von Kolyma hierher holte, erlebte er noch drei hervorragende geologische Feldsaisons – 1938, 1939 und 1940. Dann musste er wieder in die Lager des Dalstroj14, dann nach Salechard, und nun hatte ihn das Schicksal wieder an den Jenissej gebracht. Die letzten beiden Jahre hatte Georgi Nikolajewitsch Gortschakow, Doktor der geologischen und mineralogischen Wissenschaften, ausgezeichnet vom Obersten Rat für Volkswirtschaft, S/k mit der Registriernummer 2338, seine Zeit als Feldscher in den hiesigen Straflagern verbracht.
Nur in der Zeit heftiger Herbststürme, wenn sein schurkiges Gemüt offen zutage trat, mochte Gortschakow den Jenissej stundenlang betrachten. Im Herbst war der Fluss erbarmungslos, aber ehrlich. Zu allen anderen Zeiten jedoch benahm sich Väterchen Jenissej wie ein düsterer, wortloser Sträfling, dem man besser nicht traute, den man nicht mit seinen Gedanken und Gefühlen behelligte. Sogar bei den Bächen und Flüssen in Kolyma hatte Gortschakow das Gefühl gehabt, sie würden einen verstehen und wären manchmal sogar zutraulich. Dem Jenissej waren derartige Regungen fremd.
Schura kam näher, wollte etwas sagen, aber als er in der Ferne seinen regungslosen Natschalnik sah, setzte er sich schweigend auf denselben Stamm. Die Überziehfäustlinge hatte er sich untergelegt. Schura Beloserzew war ein idealer Krankenpfleger – ihn schreckten weder Blut noch Drecksarbeit oder die Kriminellen. Wie alle alten Lagerhäftlinge pflegte Gortschakow keine engen Beziehungen zu anderen. Schura aber vertraute er, sie aßen zusammen, redeten manchmal.
»Völlig aussichtlos, ich sag’s ja«, setzte Schura seinen zuvor begonnenen Gedanken fort. »Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie ich wegkomme vom Fluss.« Er drehte sich um und sah Gortschakow streng an. »Man meint, man sei hier in Russland, aber niemals würde man es bis zu den Menschen schaffen. Widerwärtig ist das, Georgi Nikolajewitsch, als ob man im Jenseits wäre.«
Gortschakow nickte zustimmend, während er das verunstaltete Flussufer betrachtete. Eine Woche zuvor war es still hier gewesen wie in Abrahams Schoß, schlummernd die unberührte Taiga, der trübe frühlingshafte Fluss mit weißen Presseishügeln am Ufer. Vögel hatten gesungen. Aber in den letzten zwei Tagen waren viele Lastkähne gekommen, immer mehr Häftlinge, und mächtig viel Taiga wurde abgeholzt. Über drei Kilometer lag entlang des Ufers alles danieder wie abgemäht, Bäume wurden zersägt, weggeschleppt, in Feuern verbrannt und in den Fluss geworfen, um Platz für Freiflächen zu schaffen. Dutzende Lastkähne warteten auf das Entladen, die Berge mit Baumaterial wuchsen, und wie in einem riesigen Ameisenhaufen hasteten Menschen überall umher. Von Weitem war nicht zu erkennen, wer von ihnen die graue Gefangenenkleidung und wer die Felduniform mit Koppel und Halfter am Gürtel trug.
»He, Weißkittel!« Kosyrkow, der Brigadiersgehilfe, bahnte sich einen Weg durch die Aufhäufungen. »Überall such ich dich! Der NKWDler da ruft nach einem Arzt.«
Gortschakow erwachte aus seinen Überlegungen und blickte auf die Axt, die neben ihm im Baum steckte.
»Ich nehm sie mit«, begriff Schura seinen Gedanken.
Gortschakow zog seine Fäustlinge an und ging zum Fluss hinab. Der Brigadiersgehilfe folgte ihm, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch wenn Kosyrkow versuchte, wie ein Berufsverbrecher zu reden, war er keiner. Der Bauer aus der Provinz Tula saß das vierte Jahr für zwei Säcke Kartoffeln, die jemand in seinem Winterbienenhaus versteckt hatte. Er war schrecklich deprimiert wegen dieser Ungerechtigkeit und erzählte ständig, die Säcke hätte jeder sehen können, und wenn er sie hätte stehlen wollen, hätte er sie beiseitegeschafft. Am meisten ärgerte ihn, dass derjenige, der ihn verpfiffen hatte, dann diese Säcke bekam. Brigadiersgehilfe war er rein zufällig geworden, und ihm lag viel an diesem Posten. Es war die höchste Position in seinem ganzen Leben. Er hatte sogar schon gelernt, andere herumzukommandieren.
Vor ihnen wurde ein Lastkahn mit gefangenen Frauen entladen. Der größte Teil von ihnen stieg in einer ungeordneten Kolonne langsam den Hang hinauf, am Lastkahn reihten sich die letzten Fünfer auf und wurden durchgezählt. Je näher sie den Frauen kamen, umso lebendiger wurde Kosyrkow. Er betastete seinen spärlichen Schnurrbart, knöpfte seinen schwarzen, einfachen Arbeitsanzug auf und strich über eine löchrige Weste unklarer Herkunft. Er lächelte dümmlich und schaute verschwörerisch zu Gortschakow.
Zwei Frauen lagen mit Sackleinen bedeckt regungslos in der Sonne. Auffällig waren die nackten Füße der einen – es war ein junges Mädchen. Daneben lag auf einer Joppe eine stark angeschwollene Frau. Ein graues, abgetragenes Kleid war auf ihrem riesigen Bauch zerrissen. Sie atmete mit Unterbrechungen und keuchend, ihre Augen waren völlig verschwollen. Der Befehlshaber der Begleitsoldaten rügte wütend einen älteren Unteroffizier mit Maschinengewehr auf der Schulter. Dieser rauchte stinkenden Tabak aus Eigenanbau und blies den Rauch aus seinem grauen Schnurrbart höflich am Befehlshaber vorbei. Eine Gefangene hockte neben der Kranken, wärmte mit ihren Händen Wasser in einem Becher, dichtes dunkles Haar quoll unter ihrem Kopftuch hervor.
»Kolja, such mal ein paar Bretter als Trage«, bat Gortschakow den Brigadiersgehilfen und hockte sich neben die alte Frau. Er nahm ihre Hand, tastete nach dem Puls.
»Wassersucht«, sagte die Frau mit dem Becher leise. Sie hatte dünne Finger, zarte Gesichtszüge und große schwarze Augen. »Kaum Puls …«
»Sind Sie Ärztin?« Gortschakow blieb ruhig, als würde er nicht die Hand einer Sterbenden halten.
»Ja. Kinderärztin.«
»Können Sie einen Durchstich machen?«
»Hab ich noch nie.«
»Sie stirbt ohne einen Durchstich.«
»Ich versuch’s.«
»Geben Sie mir diese Frau als Assistentin«, wandte sich Gortschakow an den Kommandeur der Begleitsoldaten.
Der Befehlshaber antwortete nichts, stierte mit vor Schlafmangel roten Augen und wollte zum entfernten Lastkahn, wo bereits das Ausladen der Männer begonnen hatte. Auf einmal kehrte er jedoch um und stellte sich entschlossen vor Gortschakow, der immer noch hockte.
»Aufstehen!«, bellte er mit hasserfülltem Blick von oben nach unten.
Gortschakow ließ die Hand der alten Frau los, stand auf und trat gewohnheitsmäßig drei Schritte zurück.
»Ich höre!« Der Befehlshaber war einen halben Kopf kleiner und doppelt so jung, zu gern hätte er diesem Lagerweißkittel eine reingehauen.
»Seka Gortschakow, Artikel 58.10. Fünfundzwanzig Jahre … Feldscher der Rettungsstelle, Bürger Natschalnik«, rapportierte Gortschakow vorschriftsgemäß.
Seine Haltung, sein Gesicht, seine Stimme drückten nichts aus. Keine innere Regung, keine Emotionen. Er hatte diesen Satz schon Tausende Male ausgesprochen, er hatte ihn schon gesprochen, als dieser Befehlshaber noch mit herausgestreckter Zungenspitze seine ersten Buchstaben schief in ein Heft gemalt hatte.
»Keinen Respekt mehr, dieses übrig gebliebene Faschistenpack …«, zischte der Befehlshaber, schaute wütend zum Unteroffizier mit grauem Schnurrbart und ging mit wütendem Blick los zum entfernten Lastkahn.
»Was nun, nimmst du die Kleine mit? Sonst wird sie starr«, wandte sich der Unteroffizier gutmütig an Gortschakow. Er versuchte, sich eine Selbstgedrehte anzuzünden, aber sie ging wieder aus. »Wo kommen hier bei euch die Toten hin? Soldat Samojlow!«, rief er verhalten in Richtung des Lastkahns.
»Hier, Genosse Unteroffizier!« Der Soldat rannte über das Deck, seine Schritte hallten dumpf in der Leere des Laderaums wider.
»Hol dir ein paar Stubenälteste, die sollen sie begraben … das Mädel stinkt schon.« Der Unteroffizier sah auf die leblose Selbstgedrehte, zog noch einmal an ihr und warf sie dann zu Boden.
Vom entfernten Lastkahn wälzte sich über die schmutzigen Presseishügel eine dunkle Menge von Männern mit Bündeln und Koffern. Sie kamen in die im Bau befindliche Zone. Eine Wache gab es hier nicht, sie konnten niemandem übergeben werden, und anstatt sich auszuruhen, mussten sich die nach der langen Fahrt ermüdeten Begleitsoldaten als Wache am Ufer aufstellen. Ihr Befehlshaber war wütend, er wusste jetzt schon, dass in diesem Chaos jemand verloren gehen würde. Ein gepflegter NKWDler kümmerte sich zusammen mit einem halben Zug Soldaten um die Entgegennahme der weiblichen Gefangenen. Das ärgerte den Befehlshaber am meisten.
»Gerassimow«, schrie er, als er sich dem Entladen näherte, »alle Hunde ans Ufer! Flott!«
»Die brechen sich da die Beine, Genosse Zuständiger! Kasbek humpelt schon.«
»Was zum Teufel habe ich gesagt? Befehl ausführen! Scheiß auf Kasbek!«
Gortschakow und Schura gingen hinauf zur Rettungsstelle. Ende März, als sie mit einer der ersten Gruppen in Jermakowo angekommen waren, war weder von der Obrigkeit noch von den Schwerstarbeitern jemand zu sehen gewesen und das Leben erträglich. Die Obrigkeit hatte in einer stark geheizten Hütte gesessen, war hin und wieder mit dem Schlitten zum Stintfischen gefahren, und manchmal, wenn wegen eines Schneesturms lange keine Fluglieferungen kamen, waren sie zu Gortschakow gekommen, um sich Alkohol zu holen.
Schwere Jungs hatte es überhaupt keine gegeben, und so hatten bei ihrem ruhigen Leben nur die Kontrollen am Morgen und am Abend an das Straflager erinnert, sowie der Stubenälteste mit seinem »Wecken! Wecken, Leute!«, wonach Gortschakow und Schura für den ganzen Tag zur Rettungsstelle gegangen waren.
Als Natschalnik der dritten Abteilung15 diente Leutnant Iwanow. Von mittlerem Wuchs, stark und schneidig, war er ein Vorbild für das gesamte kleine Lager – er trank keinen Wodka, fuhr nicht zu feuchtfröhlichen Angeltouren, übergoss sich jeden Morgen am Bach mit eiskaltem Wasser und lief außerdem Ski, trainierte am Reck oder hackte mit freiem Oberkörper in der Kälte Brennholz. Außerdem war er belesen und philosophierte gerne über abstrakte Themen.
Sie waren immer satt gewesen, der Koch war ein Bekannter, manchmal waren die Einheimischen zur Rettungsstelle gekommen, hatten auch ihre Kinderlein mitgebracht und dafür gesalzenen Stör oder Elchfleisch dagelassen. Gortschakow hatte nicht zugenommen, Beloserzew hingegen war mittlerweile sogar rund, was ihm Unbehagen bereitete, wenn er sich im Spiegel betrachtete.
Nun war alles anders, Schura hatte mehrfach zerknirscht davon gesprochen. Gortschakow hingegen blieb ruhig – wie oft schon hatte sich in den letzten dreizehn Jahren sein Leben verändert. Es verlief in keiner menschlichen, sondern in irgendeiner anderen Dimension, die meist so eng war, dass dort kaum eine Schüssel mit Wassersuppe und Heringsschwanz Platz fand.
12S/k – Abkürzung für Seka: Strafgefangener
13Urka (Plural: Urki) – Gauner, Bandit, Verbrecher, Angehöriger der Unterwelt
14Dalstroj – staatlicher Trust für Straßen- und Industriebau in der Region Kolyma, dem zeitweise einer der größten Gulag-Komplexe der Sowjetunion unterstand
15Die dritte operative (Sonder-)Abteilung überwachte die politische Zuverlässigkeit und Moral von Häftlingen, Zivilisten und Wacheinheiten. Sie entlarvte Staatsverbrechen (Verrat, Spionage, Sabotage, Terrorismus), konterrevolutionäre Organisationen und Personen, die antisowjetische Agitation betrieben. Der Leiter der dritten Abteilung (im Lagerjargon »Gevatter« genannt) unterstand nicht der Verwaltung des Straflagers, sondern unmittelbar der dritten Abteilung des GULag (Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien des Innenministeriums der UdSSR).
Vier Männer von der Flotte tranken in der Morgensonne. Ganz oben, etwas abseits vom Hang nach Jermakowo, stand ein uralter, in die Erde gelassener Tisch mit zwei Bänken. Auf dem Tisch lagen ein dickes Stück Speck, feiner gesalzener Sterlet und fetttriefender Weißlachs auf einer Zeitung, dazu ein Stück Kochfleisch und frisches Brot. Über die Schliffkanten der Gläser hüpften die Strahlen der Frühlingssonne. Eine leere Halbliterflasche reinen Alkohols ruhte bereits unter dem Tisch. Kapitän Below kam im Matrosenhemd und ohne Uniformjacke mit einem Drei-Liter-Glas in der Hand vom Bach hinauf. Darin schwappte milchig trüb gerade verdünnter Sprit.
Zur trauten Runde gehörte der verdiente Skipper des dampfbetriebenen Leichters Iwan Podlassow, der nicht weniger verdiente Kapitän der »Kliment Woroschilow« Timofej Sementschuk sowie der weißhaarige Chefmechaniker mittleren Alters von der »Woroschilow« Pjotr Sasonow. Strenge dunkelblaue Offiziersuniformjacken mit gesäumten weißen Stehkragen, schwarze Hosen, Stiefel – die Uniformen der Flussschiffer unterschieden sich in jenen Zeiten nicht von denen der Kriegsmarine. Alles gebügelt, gereinigt. Nur der alte Skipper, der altersbedingt fröstelte, hatte sich übers Matrosenhemd eine neue schwarze Wattejacke gezogen.
Sie tranken ohne Eile, blinzelten zu den vertrauten Weiten des Jenissej. Die erste schwierige Fahrt den Eisschollen hinterher war beendet, der Jenissej klärte sich zusehends, und nun begann die Schifffahrtssaison, die schwere Arbeit auf dem Fluss, wo es weder Tag noch Nacht gab, wo man sich oft einen oder auch anderthalb Monate kaum ausruhen oder wie jetzt in aller Ruhe mit den Kameraden trinken konnte. Oder Neuigkeiten austauschen: Wer wohin fuhr, wie es mit dem Plan lief, wer sich etwas hatte zuschulden kommen lassen und wie es sich wieder eingerenkt hatte. Die Alten saßen am Tisch, Below stand aufgeregt da. Er hatte sich für einen Trinkspruch erhoben, war etwas gefragt worden und sprach nun schon zehn Minuten darüber, wie er seine Schiffskarawane durchgebracht hatte.
»Wir hatten die Steinige Tunguska passiert«, Belows Augen glühten vor Stolz, aber auch vor Respekt – er sprach vor erfahrenen Männern, »und hielten über Nacht. Gegen eins dann drehte der Wind, und es ging los. Berge von Eis kamen da, und alles gegen unser Ufer. Da zieht’s am Anker, den einen Kahn kriege ich noch, den anderen reißt’s weg. Wie wir sie alle eingekriegt haben, weiß ich nicht. Ich brachte sie alle ans linke Ufer, dort warteten wir ab …«
»Und die ›Jakutien‹?«, fragte der Mechaniker Sasonow.
»Die wurde vom Eis auf Steine gedrückt. Ich bekam die Kähne mit den Seki gerade so aus den Presseishügeln gezogen. Der Wind drückte die Eismassen, die Kähne knarrten, krängten, die Wachen waren völlig verschreckt und schrien, wir sollen sie von den Kähnen holen, ein Hund ging über Bord …«
Belows schöne, dunkelbraune Augen blitzten trunken auf. Er war klug, ein aufrichtiger Kerl, dem Alter entsprechend höflich und sogar schüchtern, aber ausreichend versessen auf seine Arbeit. Bereits als vierzehnjähriger Matrose war er respektvoll mit Vor- und Vatersnamen angesprochen worden – San Sanytsch. Wegen seiner Magerkeit und seines hohen Wuchses, aber auch wegen seiner altersuntypischen Gewandtheit.
»Gut, gut, kann vorkommen …« Sementschuk zerschnitt knirschend eine Zwiebel und hob sein Glas. »Also, trinken wir!«
Sie tranken. Nahmen einen Happen. Die Sonnenstrahlen brannten, Vögel zwitscherten wetteifernd in den Büschen, vom Fluss her drang der Lärm des Entladens.
»Dieses Jahr habe ich es gerade noch geschafft, den Garten umzupflügen.« Selbst wenn er scherzte, schaute Kapitän Sementschuk äußerst ernst. »Letztes Jahr nicht, da hat meine Frau mit der Schaufel umgegraben.«
»Was denn, konnte sie nicht den Nachbarn bitten? Du hast doch da den Gennadi Stepanytsch in der Nähe.«
»Ein Nachbar – das kann gefährlich werden. Erst der Garten, dann noch irgendwas, und schließlich bist du überflüssig.« Der alte Skipper blickte amüsiert unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
»Nein, nein, meine Holde ist aus Stahlbeton … nur ich bin ein Mistkerl.« Sementschuk kniff seine immer noch ernsten Augen zusammen.
Die Männer lachten wohlgelaunt.
»Was macht Smirnow, hat er geheiratet?«
»Hat er.«
»Die Köchin?«
»Genau.«
»Früher gab es eine Regel«, warf der alte Skipper gelassen ein. »Der Steuermann darf das auf seinem Schiff, der Kapitän nicht.« Er machte eine Pause und fügte philosophisch hinzu: »Da bandelt man besser mit einer Matrosin vom anderen Schiff an.«
»Früher hat man sich auch nicht dran gehalten«, widersprach Sementschuk, »das kam vor. Da gab es diesen Fall in Maklakowo, da hat ein Kerl eine Soldatin aus der Nachbarkaserne gepimpert … ja … nun, er sagte, er sei auf ›Dienstreise‹, wohnte einen Tag bei ihr, den zweiten, und am dritten Tag ging er den Müll rausbringen, im Bademantel und in Hausschuhen, und automatisch trugen ihn seine Beine nach Hause. Da kommt er rein in einem fremden Bademantel, in fremden Hausschuhen und mit einem fremden Mülleimer. Von der Dienstreise! Seine Frau guckt …«
Alle lächelten, der Fall war bekannt.
»Bei uns in Podtjossowo passierte diesen Winter Folgendes«, schloss sich Sasonow an. »Der Chefmechaniker ging von der ›Burny‹ in einen Hof, Brennholz holen, und dann ließ er sich mit den Jungs da gehörig volllaufen. Nach Hause kam er erst achtzehn Tage später – aber mit Brennholz! Seine Alte hat auch nicht gemeckert, schließlich wusste er noch, weswegen er losgegangen war.«
Sie hatten die zweite Flasche ausgetrunken. In gehobener Stimmung wollten sie auf dem Kahn des Skippers Pelmeni essen. Als er am Lokomobil vorbeikam, verlangsamte der Mechaniker Sasonow neugierig seinen Schritt. Zwei Gefangene – einer etwas dicker und größer, der andere klein, pockennarbig und mit zornigem Blick – hatten gerade die Maschine angelassen, standen mit schmutzigen Händen und Gesichtern da und lauschten, wie sie lief. Das Lokomobil zitterte von Zeit zu Zeit – dann beugte sich der Große schnell zur rotierenden Maschine, verringerte die Drehzahl und blickte den Zornigen fragend an.
Der Chefmechaniker der »Woroschilow« konnte sich nicht zurückhalten: »Ihr guckt nicht richtig, das Gestell da wird von zwei Bolzen gehalten.« Er hockte sich hin und streckte sich betrunken vor, konnte aber nicht standhalten und kippte mit seinem ganzen Körper und der Hand in die laufende Maschine.
Sofort packten ihn die Männer und zogen ihn zurück, aber der Ärmel seiner Joppe war bereits zerrissen, das weiße Hemd rot, und aus seiner Hand floss reichlich Blut.
»Ahhhh!«, krächzte der Mechaniker trunken mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Der Ventilator hat mich erwischt!«
Die Rettungsstelle und die Stabsbaracke hatten denselben Eingang. Davor rauchte auf einer Bank der Wachposten mit einem Karabiner. Er erhob sich, als er die Schifffahrtsoffiziere sah. Below riss entschlossen die Außentür auf, dann auch die Tür links mit der Aufschrift »Krankenstation«. Wie ein Eisbrecher ging er voran, bahnte seinen Kameraden den Weg.
Drinnen auf der Pritsche keuchte eine dicke alte Frau laut und schwer, neben ihr kniete die dunkelhäutige Ärztin von den Gefangenen und krempelte der Alten den Ärmel hoch. Gortschakow nahm mit der Pinzette eine abgekochte Spritze, warf einen kurzen Blick auf den lärmend eintretenden Below und die blutüberströmte Hand des Mechanikers. Im Raum war es eng, an der Schwelle lagen die Schuhe und Wolljacken der Frauen.
Below trat über die Jacken hinweg. Auch wenn das Geschehen die Männer von der Flotte ernüchtert hatte, standen sie nicht ganz fest auf den Beinen.
»Doktor«, übernahm Below das Kommando, runzelte jedoch die Stirn, als er Gortschakows Gefängnisanzug sah. »Bist du Arzt?«
»Feldscher.« Nachdem Gortschakow nochmals den Arm des Mechanikers gemustert hatte, wandte er sich ab und begann, die Spritze aufzuziehen.
»Was denn, hörst du mich nicht?!«, brauste Below hinter dem Seka auf.
»Ich höre.« Gortschakow spritzte in die Luft und beugte sich zu der alten Frau.
»Ich spreche mit dir!« Below packte Gortschakow an der Schulter.
Der Feldscher richtete sich auf, schützte mit der linken Hand die Spritze und drehte sich zu Below: »Erst die Spritze.«
Below unterdrückte seine Wut, trat schweigend zurück und wandte sich an den Mechaniker: »Gleich, Petja, gleich.«
Petja Sasonow stand da, ließ seinen Kopf hängen, seufzte nur schwer und trunken. Die Wangen auf seinem hellen Gesicht färbten sich dunkel vor Blut.
Gortschakow spritzte in die Vene, die Gefangene legte ihr Tuch unter den Kopf der Alten und schlüpfte geräuschlos aus der Rettungsstelle, nachdem sie sich ihre Kleidung gegriffen hatte. Gortschakow zog den Vorhang vor der alten Frau zu und stellte eine Küvette mit chirurgischen Instrumenten auf den Tisch.
»Kommen Sie hierher.«
Der Mechaniker wurde hingesetzt, er ließ den Kopf sinken, als wollte er sich hinlegen. Gortschakow wickelte die Taschentücher ab und untersuchte ihn sorgfältig. Es war nichts Wesentliches verletzt, aber der Anblick war überwältigend – die Haut an der Handfläche und am Handgelenk hing in Fetzen herab. Die wie durch ein Wunder unverletzt gebliebenen Adern pochten.
Gortschakow nahm mit der Pinzette einen Fetzen der abgerissenen Haut, glättete ihn und brachte ihn an seinen Platz, ein anderes Stück schnitt er mit der Schere ab. Dabei schaute er den Mechaniker aufmerksam an. Dieser verzog nur sein Gesicht, ächzte leise und wandte sich ab. Im ganzen Raum verbreitete sich sein Alkoholgeruch.
»Nichts Schlimmes«, schaute Gortschakow zu den beiden Flottenmännern hoch, die vor ihnen standen. »Das nähe ich. Und Sie gehen bitte hinaus, hier kann man auch so kaum atmen.«
Er öffnete den Sterilisator, wählte Instrumente aus.
»Ich will Sprit!« forderte der verwundete Mechaniker von Gortschakow: »An der Front wurde ich auch unter Alkohol zusammengeflickt. Zweimal …« Er versuchte zur Demonstration seine Uniformjacke an der Seite hochzuziehen.
»Sie haben schon genug«, verzog Gortschakow das Gesicht vom Geruch und drehte den Kopf des Mechanikers zur Seite, »schauen Sie dorthin. Und halten Sie aus.«
Die Männer gingen hinaus rauchen. Aus der Rettungsstelle drangen von Zeit zu Zeit ein leises, obszönes Gefluche und das aufmunternde Gemurmel des Feldschers. Below ging vom Schlepper eine Flasche hochprozentigen Alkohol holen. Die Angelegenheit dauerte eine halbe Stunde, dann öffnete sich die Tür.
Der Feldscher wischte sich mit einem Handtuch Hände und Stirn ab. »Nehmen Sie ihn mit, morgen wird der Verband gewechselt.«
Zwei Finger und der Arm des Mechanikers waren bis zum Ellbogen ordentlich bandagiert. Er selbst saß ernüchtert da, sein Gesicht war gräulich, die Haare klebten ihm vom getrockneten Schweiß an der Stirn. Below schaute durch die Tür. Gortschakow fühlte den Puls der alten Frau. Ihr ging es nach der Injektion besser, sie lag mit offenen Augen da.
»San Sanytsch, gieß dem Mann einen ein«, forderte der reparierte Mechaniker heiser.
Below trat ein, setzte sich auf die Pritsche, öffnete die Flasche, ließ etwas in ein vom Tee gebräuntes Glas auf dem Tisch gluckern und schaute sich nach weiteren Gefäßen um.
»Hierein?«, fragte er und zeigte auf die sauberen Messgläser.
»Lieber nicht.« Gortschakow beugte sich über die alte Frau.
»Komm, trink was, Bruder!« Der Mechaniker wollte noch mehr sagen, fand aber keine Worte, hob die verbundene Hand und nickte mit seinem blonden Schopf düster und dankbar Richtung Feldscher.
Below goss in zwei Messgläser ein, überließ das Glas Gortschakow, und dieser setzte sich auf seinen Platz und lächelte dem Mechaniker zu: »Prima ausgehalten …«
»Er ist Frontsoldat, Onkel. Mit Auszeichnung. Los! Auf die Heimat! Auf Stalin!« Der betrunkene Below war stolz auf seinen Kameraden, bedrohlich hob er sein Glas und richtete sich wie ein Adler zu voller Größe auf.
Auch der Mechaniker stand mit seinem schwappenden Messglas in der linken Hand auf. Sie stießen an und tranken. Gortschakow rührte das Glas nicht an, legte die blutverschmierten Instrumente in den Sterilisator. Below stellte sein leeres, dünnes Gefäß ab und musterte Gortschakow unfreundlich mit vom Alkohol verzogenem Gesicht.
»Was soll das?«, fragte er den Feldscher, auch wenn ihm bereits alles klar war. Gortschakow goss schweigend Wasser aus dem Kessel in den Sterilisator. Er wiegte nur den Kopf.
»Du willst nicht auf Stalin trinken?!«, bockte Below und ballte trunken die Fäuste. »He?!«
»Was soll das, San Sanytsch?«, fragte der bandagierte Sasonow.
»In den Karzer komme ich für dieses Glas«, sagte Gortschakow. »Und auch Ihnen, Bürger Natschalnik, steht es nicht an, mit einem Seka … Wir werden noch zusammen trinken, so Gott will.«
»Welcher Gott denn noch?!« Below richtete sich auf und schob dem Seka sein Gesicht entgegen. »Meinst du, ich hab’s nicht gesehen? Du hast schon die Hand ausgestreckt, um zu trinken, aber als ich ›auf Stalin‹ sagte, hast du den Mund verzogen … Was passt dir nicht, du Lump?!«
Gortschakow nahm seine Brille ab und schaute den betrunkenen Kapitän schweigend und fast gleichgültig an.
»Ohne Stalin würdest du Lump jetzt den Nazis die Stiefel lecken! Wie kannst du Schurke …«
»Gut, gut, San Sanytsch, was zankst du hier herum, lass ihn.« Der Mechaniker stellte sich vor den Feldscher und bewegte sich mit seinem bandagierten Arm auf Below zu. »Komm, wir gehen.«
»Wieso gehen?! Diese Lumpen hocken überall in den Straflagern, vom Staat durchgefüttert!« Below krümmte sich vor Wut, sein Gesicht war rot, das Haar zerzaust. »Ich hab als Rotzlöffel den ganzen Krieg für sie geschuftet!«
Sasonow schubste ihn aus der Rettungsstelle. Sie gingen zum Ufer hinab.
»Wieso machst du das?« Der Mechaniker verzog angewidert das Gesicht, entweder vor Schmerz oder wegen Belows Possen. »Schau, wie er …«, er zeigte seinen Arm.
»Der soll sich hüten, Faschist! Sie alle hassen Stalin. Hast du das gesehen?«
»Er ist kein Faschist, ich habe ihn mal an der Pjassina gesehen«, fing der alte Skipper Podlassow an. »Noch vor dem Krieg. Er war Leiter einer geologischen Expedition.«
»Dieser Feldscher?«, stutzte der Mechaniker.
»Na die haben damals eine große Lagerstätte entdeckt. Waren zwar Seki, aber ihnen wurden zwei Kisten hochprozentigen Alkohols mit dem Wasserflugzeug gebracht. Die Obrigkeit kam, ein Feuerwerk gab’s.«
»Alles unwichtig. Denen darf man nichts durchlassen!« Belows Schläfen pochten vor böser Erregung. »Die bessern sich nie! Hast du das gesehen? Wer ist er, dieser Lump, etwas gegen Stalin zu haben?«
»Es reicht, San Sanytsch, was schreist du hier herum. Wer hat denn was gegen ihn?«
Below wandte sich trunken zum Jenissej ab. Die Männer schwiegen.
»Also, gehen wir, oder was?« Der Skipper nickte in Richtung seines Lastkahns. Die Stimmung war verdorben. Sie verabschiedeten sich, jeder ging zu seinem Schiff.
Below war auf dem Weg zur »Poljarny«. Es ärgerte ihn, dass er dem Feldscher nicht eins aufs Maul gegeben hatte. Er blieb sogar stehen und schaute hinauf, stellte sich vor, zurückzugehen und die Tür zur Rettungsstelle aufzureißen. Stalin war ihm teuer wie sein Vater, an den sich Below nicht erinnern konnte, sogar mehr als sein Vater. Das Porträt des Führers mit einem Mädchen auf dem Arm hing nicht ohne Grund in seiner Kajüte. Das hatte er selbst aufgehängt.
Nachdem er sich nach Nachtwache und morgendlichem Gelage ausgeschlafen hatte, stand Below unter der heißen Dusche. Finster schalt er sich wegen des Zoffs mit dem Seka. Alle hatten gesehen, wie er sich wegen Stalin mit ihm angelegt hatte. Das alles war tödlich beschämend! Und der Feldscher … je mehr Below an ihn dachte, desto elender ging es ihm. Dieser Seka hatte ihn ohne ein Wort zu sagen in die Schranken gewiesen. Das war alles so dumm, so ekelhaft. Er rasierte sich und ging in seine Kajüte.
Es war gegen fünf Uhr abends, als Kapitän Below an Land ging. Das Entladen ging weiter, aber ohne den vorherigen Eifer. Jetzt arbeiteten nur noch die Häftlinge. Das Lokomobil, in das der Mechaniker geraten war, hatte danach nicht mehr anspringen wollen, und Männer in grauen Steppjacken schleppten die Zementsäcke auf ihren Schultern.
Below umging den Schlamm, zwängte sich durch die hastig abgeladenen Baumaterialien. Bei den großen, übereinandergestapelten Fässern stieß er auf ein paar Halbwüchsige. Sie spähten nach etwas und waren so abgelenkt, dass er ganz nah herankam. Aus den Fässern drang fauliger Heringsgeruch. Ein Stück weiter hatten zwei Lagerkerle ein Weib flachgelegt. Beide waren ohne Hosen, dürr, mit bleichen Hintern, die weißen Frauenknie ragten in den Himmel.
»Na na!«, zischte der Kapitän der »Poljarny« leise.
Zwei der Jungs bei den Fässern stießen daraufhin zusammen und huschten lautlos weg, der dritte verlor vor Schreck einen Stiefel in Einheitsgröße und setzte sich direkt in den Schlamm. Mit dem Rücken gegen ein Fass gedrückt, brüllte er laut:
»Onkel, ich hab nicht geguckt! Nicht schlagen!«
»Los, hau ab!«
Der Junge packte den Stiefel, stürzte seinen Freunden hinterher. Die Seki verschwanden bereits durch das knackende Gebüsch in verschiedene Richtungen. Die junge Dirne saß auf einer Kiste und knöpfte sich ihre Militärsteppjacke zu. Ihr helles Haar war zerzaust, sie schüttelte den Kopf, um es zu ordnen. Below errötete, wandte sich nervös ab, schaute den fortgelaufenen Jungen nach. Er umrundete die Fässer, stieß frontal auf die Dirne, sie ging ebenfalls hinauf. Sie war kräftig, flachsblond, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre und schon ganz Weib. Als sie Below sah, schaute sie missgelaunt und wandte sich zu den Lastkähnen. Below verspürte eine üble Erregung im ganzen Körper, trat beiseite und ging hastig, ohne auf den Weg zu achten, hinauf.
Das Mädchen war einer Deutschen sehr ähnlich gewesen. ›Die etwa auch?‹, schoss es Below durch den Kopf. Sie hat es gewollt, das war keine Vergewaltigung … Was er gesehen hatte, war nicht ungewöhnlich, an diesen Orten passierte so etwas stets und ständig. Ihn wunderte nur, dass das Mädchen eine Deutsche war. Die verbannten Deutschen und Balten waren kultivierter als andere, und Below wollte nicht, dass auch sie zu schmutzigen Seki verkamen.
Die Verwaltung befand sich in der Hälfte einer langen Baracke. Below trat ein, die erste Tür rechts stand offen, leise spielte das Radio.
»Einen guten Tag!«
»Kommen Sie herein, bitte.« Ein kleiner Kerl erhob sich vom Tisch. »Ich bin Mischarin. Nikolaj. Leiter der Abteilung Wohnbauplanung.«
»Kapitän des Dampfers ›Poljarny‹. Below. Ist hier die Kaderabteilung?«
»Da müssen Sie zu Hauptmann Kligman, er kommt gleich.« Mischarin betrachtete Below aufmerksam.
Sie schüttelten sich die Hände. Below stand da und überlegte, was er tun sollte. »Sagen Sie, sind Sie gebürtiger Sibirier?«, fragte ihn der junge Mann unvermittelt.
»Bin ich«, antwortete San Sanytsch.
»Haben Sie Gerassimows neuesten Film gesehen?« Mischarin betrachtete ihn unablässig.
»Ich?« Below runzelte die Stirn, ihm war nicht ganz klar, warum er so betrachtet wurde.
»Da spielen nur Sibirier. Sibirier sind ein besonderer Menschenschlag, ganz sicher. Ich überlege, eine Serie von Porträts zu zeichnen. Jung, alt, verschiedene Berufe, aber alle unbedingt gebürtige Sibirier. Darf ich Sie zeichnen?«