Persönlichkeit und Bindung in der therapeutischen Beziehung - Eva Neumann - E-Book

Persönlichkeit und Bindung in der therapeutischen Beziehung E-Book

Eva Neumann

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Beschreibung

Jeder Mensch hat eine Persönlichkeitsstruktur und jeder Mensch hat eine bestimmte Art gelernt, Bindungen zu anderen herzustellen und innerlich überhaupt an andere Personen gebunden zu sein. In Psychotherapien kommen oft Personen, die sowohl ein auffälliges Muster der Persönlichkeit zeigen als auch unsichere Bindungsmuster. Gerade Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sind für Psychotherapeuten eine Herausforderung, weil die Störung nicht offen sichtbar und selten der Grund für einen Therapiebeginn ist und gleichwohl die dysfunktionalen Muster nicht unterschwellig bestärkt werden dürfen. Im Verlauf der Behandlung müssen Therapeutinnen darüber hinaus ein Gespür für Konfrontationen entwickeln, ohne die – da sind sich beide Gesprächspartner einig – keine Therapie bei diesen Patienten gelingt. Konfrontationen aber brauchen eine gute Vertrauensbasis. Eva Neumann und Rainer Sachse diskutieren das Zusammenspiel der Persönlichkeitsstrukturen von Klient/-in und Therapeut/-in sowie die Frage, welche Art Bindung das Therapeut-Klient-Verhältnis darstellt. Eine erfolgreiche Therapie mit persönlichkeitsbeeinträchtigten Menschen ist jedenfalls davon abhängig, dass der Therapeut seine eigene Persönlichkeitsstruktur und sein eigenes Bindungsverhalten gut kennt .

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Herausgegeben von Uwe Britten

Eva Neumann/Rainer Sachse

Persönlichkeit und Bindung in der therapeutischen Beziehung

Eva Neumann und Rainer Sachseim Gespräch mit Uwe Britten

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com

Texterfassung: Regina Fischer, Dönges

Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-753X

ISBN 978-3-647-90118-3

Inhalt

Person und Persönlichkeit verstehen

Die Unmöglichkeit der Konsistenz

Empathie und Empathiegrenzen

Das therapeutische Beziehungsangebot

Die sozialkulturelle Konstruktion der Persönlichkeit

Was ist eine »Persönlichkeit«?

Die Stigmatisierungsfalle

Zur Stabilität von Persönlichkeitsmustern

Person, Situation und Bindungsverhalten

Begrifflichkeiten verändern!

Persönlichkeit und Bindungsmuster bei Klienten und Therapeuten

Bindungsmuster und therapeutische Begegnung

Wenn zwei Muster aufeinanderkrachen

Herausforderungen der Therapeut-Klient-Interaktion

Manipulieren

Konfrontieren

Scheitern

Vom gelingenden Schluss

Gute Lösungen lernen

Die Virtualisierung von Beziehungen

Ausgewählte Literatur

Bochum, Juli 2017. In einer kleinen Nebenstraße treffen sich Professor Rainer Sachse und Doktorin Eva Neumann im Institut für Psychologische Psychotherapie, um über das Zusammenwirken von Persönlichkeitsstrukturen und Bindungsmustern zu sprechen. »Bindung« ist in der Psychotherapie noch ein vergleichsweise neues Thema und gilt – ähnlich wie die Persönlichkeit eines Menschen – als relativ stabiler Aspekt einer Person, der sich in jeder zwischenmenschlichen Begegnung finden lässt und damit auch für die Passung von Therapeut und Klient von großer Bedeutung ist. Das heißt, dass Therapeutinnen und Therapeuten selbst ihre eigenen Muster gut kennen sollten für ihre Beziehungsarbeit während der Psychotherapie. Insbesondere bei stark akzentuierten Persönlichkeitsstilen mit ihrer Notwendigkeit, die Klientinnen und Klienten auch mal entschieden zu konfrontieren, ist die Beziehungsgestaltung überaus wichtig und gelingt am besten, wenn Interventionen adäquat die Bindungsstruktur mitberücksichtigen.

Eva Neumann, Dr. phil., Jahrgang 1962, ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut für Seelische Gesundheit am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der klinischen Bindungsforschung, den Krankheitsbildern Persönlichkeitsstörungen, Depression und Somatoforme Störungen sowie den psychodynamischen Therapieansätzen. In der Lehre beschäftigt sie sich mit der Kommunikation im Gesundheitswesen. Sie tritt für eine klare und auch konfrontative Herangehensweise in der Psychotherapie ein und veröffentlichte mehrere empirische Studien und Übersichtsartikel zum Thema »Bindung und Persönlichkeitsstörungen«.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LVR-Klinikums Düsseldorf, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität.

Rainer Sachse, Prof. Dr., Jahrgang 1948, ist Professor am Institut für Psychologische Psychotherapie der Ruhr-Universität in Bochum. Ausgehend von der Gesprächspsychotherapie und in Verbindung mit der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelte er die »Klärungsorientierte Psychotherapie«, in der es insbesondere darum geht, den Klientinnen und Klienten jene psychodynamischen Schemata und Verhaltensmuster bewusst zu machen, die zu ihren Interaktions- und Beziehungsstörungen führen. Besonders bei Persönlichkeitsstörungen sind solche Schemata verantwortlich für die biografisch sehr stabilen und Veränderungen nur schwer zugänglichen Verhaltensmuster. Auch er plädiert entschieden dafür, Menschen mit starken Persönlichkeitsbeeinträchtigungen zu konfrontieren, und hält alles andere für einen Kunstfehler der Psychotherapie. Zu seinen Hauptveröffentlichungen zählen »Klärungsorientierter Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Grundlagen und Konzepte« sowie »Persönlichkeitsstörungen verstehen. Zum Umgang mit schwierigen Klienten«. Außerdem ist er Mitherausgeber der Schriftenreihe »Klärungsorientierte Psychotherapie«.

PERSON UND PERSÖNLICHKEIT VERSTEHEN

»Je besser Therapeuten empathisch sein können, alsodie Klienten mit ihrer Dynamik verstehen, desto mehr treten ihre eigenen Vorurteile zurück.«

Rainer Sachse

Die Unmöglichkeit der Konsistenz

Frau Doktorin Neumann, Kinder und Enkelkinder von deutschen Nazis mussten oft nach dem Krieg erkennen, dass sie ihre Väter abends und in der freien Zeit als liebevolle Väter erlebt hatten, dass dieselben Väter aber tagsüber in ihren Büros die Befehle für den Abtransport von Männern, Frauen und Kindern in Konzentrationslager ausgaben und unterschrieben. Wie erklären Sie solche Geschichten?

NEUMANN Ähnliche Beispiele gibt es heute auch noch, und zwar Männer, die Kinder sexuell misshandeln und sogar töten, die aber gleichzeitig eine eigene Familie haben und ihren Kindern gegenüber sehr liebevoll sind. Die Familienmitglieder dieser Täter fallen aus allen Wolken, wenn sie erfahren, was ihr Vater und Ehemann getan hat. Ich denke, dass diese Täter situationsabhängig reagieren; sie leben innerlich in zwei Welten. Wahrscheinlich empfinden sie für ihre eigenen Kinder wirklich Liebe; ich glaube jedenfalls nicht, dass sie sich verstellen, die Gefühle scheinen wirklich vorhanden zu sein. Bei ihren Opfern allerdings schalten sie die Empathie aus. Sie nehmen sie nicht mehr als Mitmenschen beziehungsweise als kleine, schutzbedürftige Kinder wahr, sondern sehen nur noch ihre eigenen Bedürfnisse und befriedigen diese. Sie reagieren situationsabhängig: Je nachdem, mit welchen Personen sie zu tun haben, handeln sie komplett verschieden.

SACHSE Mir fallen dazu die klassischen Milgram-Studien aus der Sozialpsychologie ein, in denen untersucht wurde, wie weit Leute Anweisungen von Autoritätspersonen folgen, bei denen sie anderen Schmerzen zufügen. Es wurde herausgefunden, dass die meisten Personen bereit waren, anderen Schmerzen zuzufügen, selbst wenn die angeblichen Opfer darum baten, es nicht zu tun. Stanley Milgram hat gesagt, man finde im Grunde in jeder Kultur und in jeder einzelnen Stadt genug Menschen, die das tun. Ich erinnere mich noch, dass er mal gesagt hat, er würde in jeder kleineren amerikanischen Stadt genug Leute auftreiben, um ein Konzentrationslager zu betreiben.

Das ist ein ganz generelles Phänomen: Wenn ich Menschen habe, die autoritätsgläubig sind, dann tun sie das, was man ihnen sagt, ohne dass sie selbst Psychopathen sind. Natürlich gab es unter den Nazi-Größen sehr viele Psychopathen, aber da gilt das eben nicht, worauf Eva gerade verwiesen hat, denn die konnten wirklich nicht empathisch sein. Die konnten zwar auch Empathie abschalten, aber erst einmal schaffen solche Menschen es kaum mehr, emotionale Empathie überhaupt zu realisieren. Das, was du, Eva, sagtest, gilt tatsächlich für den normalen Bürger: Ich bin ein liebevoller Vater; wenn ich aber in einen anderen Kontext wechsle, dann tue ich das, was dort von mir erwartet wird, ganz egal, was es ist.

Dieser Aspekt, Empathie abzuschalten, ist empirisch sehr gut belegt. Es gibt Menschen, die können das relativ leicht. Sie können völlig abschalten, dass sie Schmerz zufügen, dass es anderen schlecht geht aufgrund ihrer Handlungen. Dadurch kommen solche vermeintlichen Paradoxien zustande – tatsächlich aber sind die, glaube ich, weniger paradox, als man denkt. Wir nehmen viel zu oft an, Menschen seien konsistent, seien völlig »einheitlich«. Das ist nicht der Fall.

Warum bringen wir denn den Menschen nicht auf den berühmten einen Punkt?

SACHSE Weil es keinen berühmten einen Punkt gibt. Das sieht man bei unseren Klienten übrigens auch immer, dass die fragen: Ich merke mehrere widersprüchliche Tendenzen in mir, wie kann das sein? Aber das ist völlig normal. Wir sind nicht einheitlich. Wir haben völlig unterschiedliche Bedürfnisse, völlig unterschiedliche Normen, völlig unterschiedliche Moralvorstellungen und wechseln, wie Eva schon sagte, zwischen diesen situationsabhängig. In diesem Kontext leben wir die einen Persönlichkeitsanteile, im anderen Kontext die anderen. Ich glaube, wir müssen endlich mal begreifen, dass das völlig normal ist und dass es so etwas wie eine konsistente und einheitliche »Person« nur in der Fiktion gibt.

NEUMANN Es gibt in der Sozialpsychologie den Begriff des Akteur-Beobachter-Unterschieds. Damit ist gemeint, dass Menschen von anderen annehmen, sie würden immer gemäß ihren Einstellungen handeln. Daher schließen sie aus den Handlungen einer Person auf deren Einstellung. Die beurteilten Personen selbst sehen das oft anders. Sie sehen sich eher von äußeren Zwängen geleitet und handeln dann danach. Das heißt, die Person würde nicht sagen, dass das, was sie gerade tut, ihrer Einstellung entspricht, sondern sie denkt eher: »Ich tue das, weil dies und das mich dazu veranlassen.« Ein gutes Beispiel hierfür wäre eine Arbeit, die einem keinen Spaß macht. Hier ist es nicht so, dass die Person die Arbeit wegen eines echten Interesses und aus einem inneren Antrieb heraus macht, sondern sie tut es schlicht wegen des Geldes. Sie ist in diesem Bereich außengesteuert und erlebt das selbst auch so.

Würden Sie sagen, dass bei den oben genannten Beispielen alles einzig und allein über dieses Einsteigen in die und Aussteigen aus der Empathie funktioniert?

SACHSE Nein. Es gibt ganz unterschiedliche Annahmen oder Schemata. Das ist auch wieder so diese Vorstellung, dass wir »eigentlich« einem einheitlichen Konstrukt oder einer geschlossenen Annahme folgen würden, dass wir keine Annahmen hätten, die sich gegenseitig beißen oder ausschließen würden. Doch, das ist so.

Ich habe Klienten, wenn man denen zuhört, bekommt man den Eindruck, dass die massive Vorurteile gegenüber Flüchtlingen, Muslimen oder insgesamt Ausländern haben, aber wenn man sie sieht, wie sie mit denen interagieren, dann handeln sie diesen Menschen gegenüber völlig sozial. Das heißt, sie haben Einstellungen und Annahmen, die völlig inkompatibel sind. Sie wechseln sozusagen von einem »State of Mind« in den anderen, also von einem mentalen Zustand in einen anderen. Das genau führt eben dazu, dass, wie Eva sagt, wir Menschen nicht »konsistent« sind. In einigen Kontexten sind bestimmte Annahmen aktiviert, in anderen Kontexten andere, und wenn wir beide Kontexte sehen, könnten wir auf die Idee kommen, es seien zwei verschiedene Personen. Also, noch mal: Das ist völlig normal.

Als ich zum ersten Mal mit ungefähr achtzehn Jahren George Orwells »1984« gelesen habe, in dem der Begriff »Zwiedenken« vorkommt, dass man also zwei Annahmen hat, die überhaupt nicht kompatibel sind, habe ich gedacht, das könne ja gar nicht sein. Ich muss heute sagen, nach vierzig Jahren Psychotherapie, dass genau das völlig normal ist.

NEUMANN Bei Leuten, die Straftaten begehen wie schwere Gewaltakte gegenüber anderen, wie etwa in der Nazi-Zeit, sollte man auch bedenken, dass das damals nicht strafbar war. Dennoch handelte es sich um schwere Gewaltverbrechen bis hin zum Mord. Eine Rolle spielt hier sicherlich auch eine narzisstische Komponente: Diese Menschen ziehen eine Befriedigung daraus, Macht über andere zu haben. Andere zu demütigen und zu verletzen scheint solchen Menschen etwas zu geben. Wenn sie in Situationen sind, in denen ein solches Verhalten straffrei möglich ist, nutzen sie sozusagen die Gelegenheit und schlagen zu. Drohen ihnen hingegen Sanktionen, verhalten sie sich durchaus wieder sozial angepasst.

Sie sprachen das Flüchtlings- und Ausländerthema an: Fremdenfeindlichkeit hat es immer gegeben, aber die vom christlich-islamischen Konflikt angeheizte Auseinandersetzung um Flüchtlinge hat nicht nur in Deutschland eine Schärfe erhalten, die mich zutiefst erschreckt hat. Die humane Geste einer Regierung führt in der Bevölkerung zu tiefer Ablehnung. Überall, wenn man unterwegs war, kamen einem Statements dazu zu Ohren. Die Ablehnung dieser Flüchtlinge wurde von vielen Menschen mit einer unglaublichen Brachialität vorgetragen, völlig ausblendend, welche Schicksale sich dahinter verbergen. Die »Empathie« für den eigenen Wohlstand ist größer als für menschliches Leid. In ihren eigenen Familien werden diese Menschen aber vermutlich nicht genauso reagieren.

SACHSE Nein, ganz sicher nicht. Das ist dasselbe Thema: Wenn sich jemand mit dem Flüchtlingsthema beschäftigt, kann es sein, dass einerseits seine Empathie angeregt wird und in ihm eine Tendenz dafür entsteht, zu sagen: »Okay, wir müssen uns bemühen, diese Menschen zu integrieren.« Es kann aber ebenso sein, dass in einem anderen Kontext existenzielle Ängste so sehr angeregt werden, dass diese Person wirklich zu denken beginnt, die Fremden seien gefährlich, würden ihm selbst zukünftig den Arbeitsplatz streitig machen, nun würde die Kriminalitätsrate steigen und so weiter. Dann setzen zwei völlig unterschiedliche Prozesse ein. Und solche eher irrationalen Annahmen werden dann, weil sie emotional bedeutsam sind, von der Person in diesem Augenblick auch geglaubt.

Wenn in einer Gesellschaft solche Dinge gerade en vogue sind, dann haben wir natürlich sehr viele Menschen, die sich genau auf diesem Angstniveau befinden und darauf ansprechen. Wir gehen dann in die Kneipe und hören um uns herum nur noch Leute reden, die sagen, das mit den Flüchtlingen ginge ja gar nicht, die Leute müssten wieder raus und ein Asylrecht oder das subjektive Leiden sei ihnen scheißegal. Trotzdem kann es sein, dass dieselben Personen morgen schon wieder völlig anders denken. Das ist genau das: Wir können nicht davon ausgehen, dass Menschen, die in bestimmten Kontexten bestimmte Sprüche machen, immer so sind und bleiben werden.

Ängste sind bekanntlich sehr prägend für unsere Verhaltensweisen.

SACHSE Wenn man sie hat! Nicht alle Leute haben von ihrer Einstellung her diese genannten Ängste. Aber wenn sie diese Ängste haben, dann können die natürlich aktiviert werden. Gerade Menschen in jenen sozialen Schichten, die die wenig qualifizierten Arbeiten erledigen und denen die Ausländer tatsächlich den Job wegnehmen könnten, weisen natürlich solche Ängste in viel höherem Maße auf. Als Akademiker denken wir vielleicht eher: »Na ja, gut, bis diese Leute so weit sind, mir den Job wegzunehmen, das dauert.« Im Grunde hängt das also auch wieder vom Kontext ab, in dem wir stehen. Viele Ressentiments scheinen mir durchaus schichtspezifisch zu sein, allerdings gibt es auch Akademiker mit Ressentiments, ohne Frage, aber eben deutlich weniger.

NEUMANN Ich denke, dass Menschen mit einem geringen Bildungsniveau, die eher wenig qualifizierte Tätigkeiten ausüben, tatsächlich einen realen Interessenkonflikt haben. Die konkurrieren mit den Migranten um Arbeitsplätze, günstigen Wohnraum und auch um Sozialtransfers. Die Ängste dieser Menschen sind meiner Meinung nach realistisch und nicht etwa überzogen oder gar pathologisch. Daher muss man diese Ängste ernst nehmen und sollte sie nicht abwerten, was leider häufig geschieht.

Höher gebildete Personen können sich natürlich bequem zurücklehnen und sich sagen: »Ach, was soll uns schon passieren?« Wir beide zum Beispiel haben einen stark sprachorientierten Beruf. Es wird dauern, bis viele Migranten die deutsche Sprache so sicher beherrschen, dass sie einen solchen Beruf ausüben könnten. Leute wie wir stehen beruflich also erst mal nicht in Konkurrenz mit ihnen.

Wenn wir beruflich dann doch mal auf Migranten treffen, handelt es sich meist nicht um den Typus, der sich hier mit der Integration schwertut. Ich übernehme an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf die Lehre im Fach Medizin. Viele meiner Studierenden haben einen Migrationshintergrund; ich empfinde sie als nette, aufgeschlossene junge Frauen und Männer. Diese Studierenden sind bereits integriert, denn dass sie ein Medizinstudium aufgenommen haben, zeigt, dass sie die Sprache gut beherrschen, beruflichen Ehrgeiz haben und somit ein Teil dieser Gesellschaft sein wollen. Sie werden auf ihrem weiteren Lebensweg sicherlich erfolgreich sein.

Ganz anders sieht es aus, wenn man es mit Migranten in prekären Verhältnissen zu tun hat, zum Beispiel mit Nordafrikanern, die ihren Lebensunterhalt mit Kleinkriminalität wie Drogenhandel und Diebstählen bestreiten. Hier ist die Prognose sicherlich düster. Ich befürchte, ein größerer Teil dieses Typus von Migranten wird sich nicht integrieren. Deswegen finde ich es wichtig, Einwanderung differenziert zu betrachten. Das wird in der öffentlichen Debatte meiner Meinung nach in unzulässiger, unzutreffender Weise alles gleichgesetzt. Die Fähigkeit und der Wille zur Integration sind jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich.

Sie sagen, den berühmten einen Punkt oder Kern einer Person hat es sowieso noch nie gegeben – ist das denn in Ihrer eigenen Fachwelt hinreichend angekommen?

SACHSE Immerhin sehr viel mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung. Es gibt auch in der Fachwelt noch Konzepte, bei denen man denkt, dass man diese Erkenntnis vielleicht doch noch ein bisschen mehr berücksichtigen müsste, aber ich glaube, im Psychotherapiebereich ist das eigentlich schon relativ klar. Sonst hätten übrigens die Menschen ja auch keine Konflikte. Wenn wir wirklich so einheitlich und konsistent wären, wie wir oft tun, dann wäre ja ganz schwer zu verstehen, warum man bestimmte innere Konflikte hat. Sie können ja nur Konflikte haben, wenn Sie widersprüchliche Tendenzen haben.

Wir lernen im Alltag jemanden neu kennen und ordnen ihn schnell in die zwei Kategorien »nett« oder »nicht so nett« ein. Wie machen wir denn diesen Gesamteindruck?

NEUMANN Es gibt auch die Unterscheidung »interessiert mich« oder »interessiert mich nicht«. Das ist erst mal stark vom äußeren Erscheinungsbild abhängig. Vor allem der erste Eindruck ist davon geleitet, wie jemand aussieht. Körperlich attraktive Menschen sind hier im Vorteil. Erst im weiteren Verlauf des Kennenlernens werden andere Werte wichtig, vor allem die Einstellungen eines Menschen. Wir suchen bevorzugt Kontakt zu Menschen, die die gleichen Einstellungen haben wie wir selbst. Am Anfang aber geht es tatsächlich ziemlich oberflächlich zu.

SACHSE Das ist ja auch notwendig, denn am Anfang sehen wir ja nicht mehr als die Oberfläche. Wir brauchen ungefähr drei Monate mit jemandem, bevor wir hinter die Fassade sehen und andere Eigenschaften einschätzen können. Es scheint mir notwendigerweise so, dass man erst auf äußere Merkmale eingeht, also tatsächlich auf Attraktivität, aber auch auf Verhaltensmerkmale wie Freundlichkeit, Zugewandtheit oder Humor. So etwas erkennen wir ja schon nach drei Minuten. Wenn wir aber Menschen näher kennenlernen, dann ändert sich das allmählich. Die Äußerlichkeiten treten in den Hintergrund, die persönlicheren Eigenschaften werden wichtiger.

Hilft da noch der alte, eher psychoanalytische Begriff des Charakters?

SACHSE Wir nennen es nicht mehr »Charakter«, aber im Grunde meinen wir mit »Persönlichkeit« mehr oder weniger doch viele Dinge, die auch schon im Charakterbegriff angelegt sind. Es gibt ja Überschneidungen der verschiedenen Konzepte. Wenn wir die Persönlichkeitspsychologie ansehen, dann orientiert die sich zwar kaum an der Psychoanalyse, aber wir gehen doch auch davon aus, dass es sich um Merkmale handelt, die stabil sind, die die Menschen über lange Zeit zeigen und die sich zwar ändern, aber eben doch relativ langsam.

Empathie und Empathiegrenzen

Wir lernen einen Menschen neu kennen und haben den Impuls, den Kontakt intensivieren zu wollen. Was macht diesen Wunsch aus? Gibt es neben der Attraktivität und den anderen genannten Stichworten einen zusätzlichen »Code«, der uns dazu verleitet, jemanden in unseren engeren Bekanntenkreis aufzunehmen, uns an ihn zu binden? Warum wollen wir das eigentlich?

NEUMANN Am Anfang wissen wir ja noch nicht viel über die Person und orientieren uns daher an äußeren Merkmalen. Beim Kennenlernen auf einer Party beispielsweise spielt die Attraktivität eine große Rolle, aber auch die Mimik und Gestik. Eine lächelnde, freundliche Person kommt natürlich besser an als ein verschlossener und mürrisch dreinblickender Mensch. Die ersten Sätze geben dann schon Hinweise darauf, ob die Person Einstellungen hat, die unseren ähnlich sind. Die Ähnlichkeit der Einstellungen spielt im weiteren Verlauf dann eine immer größere Rolle.

Bindungsmerkmale kann man erst dann einschätzen, wenn man die Person besser kennt. Hier ist es vermutlich so, dass sicher gebundene Menschen für andere attraktiver sind als unsicher gebundene. »Sicher gebunden« heißt, dass eine Person ein positives Bild von sich selbst und von anderen hat. Diese Menschen glauben daran, dass sie bei potenziellen Partnern Gefühle der Zuneigung und Liebe erwecken können. Sie glauben auch daran, dass potenzielle Partner ihrerseits interessiert an einer engen Bindung sind und sich fürsorglich und zuverlässig verhalten werden, wenn eine Beziehung zustande kommt. Man könnte auch sagen, sicher Gebundene verfügen über ein gesundes Selbstbewusstsein in Beziehungen.

SACHSE Auch da muss man wieder sagen, dass die inneren Konzepte sehr kompliziert sind. »Liebe« ist kein einheitliches »Konzept«. Liebe setzt sich aus einer Menge unterschiedlicher Motivationsanteile zusammen. Wenn ich eine Frau liebe, dann habe ich zum Beispiel Vorlieben für ein bestimmtes Aussehen. Es gibt Männer, die mögen starke Wangenknochen, andere reagieren negativ darauf. Das heißt, wir haben an ganz bestimmten Stellen Präferenzstrukturen für Merkmale, auf die wir positiv reagieren.

Beim ersten Eindruck nehmen wir lediglich viel von jenen Stimuli wahr, die auf unsere Präferenzen passen: schöne blonde Haare, Gesichtsanteile, das Lächeln. Je mehr solcher Präferenzen zutreffen, desto größer ist meine Tendenz, aktiv zu werden. Je besser wir aber jemanden kennenlernen, desto mehr spielen andere Präferenzen eine Rolle: Ist die Person zuverlässig, solidarisch, kann man mit ihr reden, sind wir auf einer Wellenlänge? Wenn zwei Männer zum Beispiel in eine Frau verliebt sind, finden wir mit absoluter Sicherheit unterschiedliche Präferenzprofile, das heißt, selbst wenn die beiden dieselbe Frau lieben, sind ihre Gründe dafür meist völlig andere. Das ist überhaupt nicht einheitlich.

Und dann gibt es noch das Phänomen, dass man auf einen Menschen trifft, der einen im ersten Moment unglaublich anmacht, aber nach dem dritten Treffen kann man ihn kaum noch ertragen.

SACHSE Genau. Sie sehen dann andere Anteile, die Ihnen überhaupt nicht passen, und denken: Sieht nett aus, aber geht gar nicht.

NEUMANN