Peter Pan - James Matthew Barrie - E-Book

Peter Pan E-Book

James Matthew Barrie

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kommen Sie mit auf die Insel Nimmerland, wo Peter Pan wohnt, Anführer der Verlorenen Jungs, die nie erwachsen werden wollen. Fiebern Sie mit, wenn sie Abenteuer gegen Captain Hook bestehen, und lassen Sie sich von der Geschichte um das Mädchen Wendy berühren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 230

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



James Matthew Barrie

Peter Pan

Aus dem Englischen von Christiane Buchner und Martina Tichy

Diogenes

{7}ERSTES KAPITELPeter rauscht an

Alle Kinder werden erwachsen. Also, bis auf eines.

Und dass sie erwachsen werden, merken sie ziemlich bald. Bei Wendy ging das so: Mit zwei spielte sie einmal im Garten, pflückte eine Blume und rannte damit zu ihrer Mutter. Vermutlich sah sie dabei sehr niedlich aus, denn Mrs. Darling fasste sich ans Herz und rief: »Ach, wenn du doch auf immer und ewig so bleiben könntest!« Mehr passierte gar nicht, doch von nun an war Wendy klar, dass sie erwachsen werden musste. Mit zwei weiß man so was einfach. Zwei ist der Anfang vom Ende.

Sie wohnten übrigens in Nummer vierzehn, und bis Wendy kam, hatte ihre Mutter dort das Sagen gehabt. Sie war bildhübsch, hatte ein romantisches Wesen und unerhört reizende, spöttische Mundwinkel. Ihr Sinn für Romantik saß in lauter kleinen, ineinander verpackten Schächtelchen, wie man sie aus dem Orient kennt: Man kann so viele öffnen, wie man will, es kommt immer noch eins. Und in {8}ihren reizenden, spöttischen Mundwinkeln klebte ein Kuss, an den Wendy nie herankam, obwohl er unübersehbar dort hockte – im rechten Mundwinkel übrigens.

Mr. Darling hatte sie folgendermaßen für sich gewonnen: Die unzähligen jungen Männer, die noch kleine Jungs waren, als Mrs. Darling noch ein kleines Mädchen war, entdeckten alle gleichzeitig, dass sie in sie verliebt waren. Also rannten sie alle gleichzeitig zu ihr nach Hause, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Bis auf Mr. Darling, der nahm nämlich ein Taxi, kam als Erster an und kriegte sie. Er kriegte sie mit Haut und Haar, nur das allerinnerste Schächtelchen und den Kuss im Mundwinkel nicht. Von dem Schächtelchen hatte er keine Ahnung, und das mit dem Kuss gab er irgendwann auf. Den hätte höchstens Napoleon gekriegt, dachte Wendy, aber selbst der wäre wahrscheinlich entnervt wieder abgezogen und hätte die Tür hinter sich zugeknallt.

Mr. Darling gab vor Wendy immer damit an, dass ihre Mutter ihn nicht nur liebte, sondern auch Hochachtung vor ihm hatte. Immerhin war er ein gescheiter Mensch, der sich mit Aktien und Wertpapieren auskannte. Natürlich kennt sich da keiner so richtig aus, aber er erweckte erfolgreich den Anschein, und wenn er im Brustton der {9}Überzeugung verkündete, die Aktien stünden gut, aber die Wertpapiere schlecht, hätte jede Frau vor ihm Hochachtung gehabt.

Die Hochzeit war ganz in Weiß. Anfangs führte Mrs. Darling die Bücher noch makellos, ja geradezu eifrig, als wäre alles ein schönes Spiel, und nicht das kleinste Rosenkohlröschen fehlte in ihrer Aufstellung. Mit der Zeit jedoch kullerten ganze Blumenkohlköpfe davon, und dafür tauchten Babys auf, Babys ohne Gesichter. Die kritzelte sie hin, statt Zahlen zu addieren, kritzelte sie einfach aufs Papier, und so nahmen sie Gestalt an.

Wendy kam als Erste, dann John und dann Michael.

Ein, zwei Wochen lang stand es Spitz auf Knopf, ob sie Wendy behalten könnten. Mr. Darling war einerseits furchtbar stolz auf seine Tochter, andererseits war er ein rechtschaffener Bürger. Folglich setzte er sich zu Mrs. Darling aufs Bett, hielt ihre Hand und rechnete ihr die zusätzlichen Ausgaben vor. Sie blickte ihn flehentlich an und wollte es auf alle Fälle riskieren, aber das war seine Sache nicht; er nahm Papier und Bleistift, und wenn sie ihn mit ihren Vorschlägen aus dem Konzept brachte, musste er jedes Mal wieder von vorn anfangen.

»Jetzt unterbrich mich mal nicht«, brummte er dringlich. »Ich habe hier ein Pfund und siebzehn {10}Shilling, und im Büro noch zwei Shilling und sechs Pence. Den Kaffee im Büro kann ich einsparen, sagen wir für zehn Shilling, bleiben zwei Pfund neun Shilling und sechs Pence. Zusammen mit deinen drei achtzehn sind das drei neun sieben, mit den fünf null null auf meinem Scheckbuch macht das acht neun sieben – wer strampelt da so? – acht neun sieben, Strich und sieben gemerkt – sag jetzt nichts, mein Herz – mit dem Pfund, das du dem Mann an der Tür geliehen hast – Ruhe, Kind – Strich und Kind gemerkt – da! Jetzt hast du mich schon wieder rausgebracht. Hatte ich neun neun sieben gesagt? Doch, neun neun sieben, genau, die Frage ist: Können wir es mit neun neun sieben ein Jahr lang riskieren?«

»Natürlich können wir, George«, rief Mrs. Darling. Wobei sie eben voreingenommen war und er von den beiden eigentlich den nobleren Charakter hatte.

»Denk bloß mal an Mumps«, unkte er, und dann ging es schon wieder los. »Mumps ein Pfund, so steht das jetzt da, aber vermutlich werden es eher dreißig Shilling – psst, nicht unterbrechen – Masern eins fünf, Röteln eine halbe Guinee, macht zwei fünfzehn sechs – jetzt droht sie mir mit dem Finger – Keuchhusten sagen wir fünfzehn Shilling –«, und so ging es weiter, und jedes Mal kam eine {11}komplett andere Summe heraus. Aber am Ende wurden Masern und Röteln als ein und dieselbe Krankheit gezählt und Mumps heruntergestuft auf zwölf sechs, und Wendy durf‌te bleiben.

Bei John war die Aufregung genauso groß, und bei Michael wurde es sogar noch knapper, doch beide schafften es, und ehe man sich’s versah, trabten alle drei im Gänsemarsch zu Miss Fulsoms Kindergarten, betreut von ihrem Kindermädchen.

Mrs. Darling liebte die Ordnung, und Mr. Darling hatte gern alles genau so wie die Nachbarn, also verstand sich das mit dem Kindermädchen von selbst. Da die Darlings sehr wenig Geld hatten – schließlich tranken die Kinder Unmengen von Milch –, war dieses Kindermädchen ein sittsamer Neufundländer namens Nana, der mehr oder weniger herrenlos herumgestreunt war, bis die Darlings ihn eingestellt hatten.

Ein Kindernarr war Nana jedoch schon immer gewesen; die Darlings hatten ihre Bekanntschaft denn auch in Kensington Gardens gemacht, einem Park, in dem Nana einen Großteil ihrer Freizeit damit zubrachte, die Schnauze in Kinderwägen zu stecken. Pflichtvergessenen Kindermädchen war sie ein Greuel, denn sie trottete glatt mit ihnen nach Hause und schwärzte sie bei ihrer Mistress an. Als Kindermädchen dagegen war sie ein Juwel: Beim {12}Baden so gründlich wie keine, und wenn einer ihrer Schützlinge nachts auch nur muckste, stand sie sofort parat. Ihre Hundehütte befand sich natürlich im Kinderzimmer. Nana wusste von Natur aus, wann mit einem Husten nicht zu spaßen war und wann ein Halswickel genügte. Sie glaubte felsenfest an alte Hausmittel wie Rhabarberblätter und schnaubte verächtlich, wenn man ihr mit so neumodischem Zeug wie Bazillen kommen wollte. Wie sie die Kinder in die Schule begleitete, davon konnte man sich eine Scheibe abschneiden: Waren sie brav, so trottete sie friedlich neben ihnen her, tanzten sie jedoch aus der Reihe, stupste sie mit der Schnauze so lange, bis wieder Ordnung herrschte. Wenn John Fußballtraining hatte, dachte sie verlässlich an seinen Pullover, außerdem trug sie grundsätzlich einen Schirm im Maul, es konnte ja regnen. In Miss Fulsoms Kindergarten gab es unten ein Zimmer, in dem die Kindermädchen warteten. Sie saßen auf Bänken, Nana dagegen lag auf dem Boden, das war eigentlich der einzige Unterschied. Natürlich behandelten sie die anderen wie Luft, denn sie dünkten sich etwas Besseres, und Nana wiederum fand ihr Geplapper reichlich albern. Sie mochte es auch nicht, wenn Freundinnen von Mrs. Darling ins Kinderzimmer hereinschneiten; falls aber so ein Besuch anstand, schnappte sie sich Michaels Lätzchen und {13}band ihm das mit der blauen Borte um, strich Wendys Schürze glatt und fuhr John energisch durchs Haar.

Eine gewissenhaftere Führung des Kinderzimmers war schlicht nicht vorstellbar, das wusste Mr. Darling genau, trotzdem machte er sich manchmal Gedanken, ob die Nachbarn nicht doch redeten.

Schließlich hatte er auf seine gesellschaftliche Stellung zu achten.

Nana machte ihm auch auf andere Weise zu schaffen. Manchmal hatte er nämlich das Gefühl, dass sie ihn nicht bewunderte. »Aber sie bewundert dich immens, George, das weiß ich ganz genau«, beruhigte ihn Mrs. Darling dann und bedeutete den Kindern, dass sie heute zu ihrem Vater besonders nett sein sollten. Worauf alle ausgelassen durchs Kinderzimmer tanzten, manchmal machte sogar Liza mit, die einzige andere Hausangestellte. Winzig klein wirkte sie mit ihrem langen Rock und dem Spitzenhäubchen, obwohl sie bei ihrer Einstellung Stein und Bein geschworen hatte, dass sie weit über zehn Jahre alt sei. War das ein fröhliches Getobe! Und am allerfröhlichsten war Mrs. Darling, die so wilde Pirouetten drehte, dass man von ihr nur noch den Kuss sah, und wenn man dann auf sie zugestürmt wäre, hätte man ihn vielleicht erhaschen {14}können. So einfach und so glücklich war diese Familie – bis Peter Pan kam.

Mrs. Darling hörte von Peter zum ersten Mal, als sie in den Köpfen ihrer Kinder aufräumte. Jede gute Mutter räumt in den Köpfen ihrer Kinder auf, sobald sie eingeschlafen sind. Dann rückt sie alles, was untertags durcheinandergeraten ist, wieder zurecht und stellt für den nächsten Morgen die gute Ordnung wieder her. Wenn du wach bleiben könntest, was natürlich nicht geht, könntest du deine Mutter dabei beobachten und fändest das bestimmt ausgesprochen interessant. Es ist ungefähr so, wie wenn man seinen Schrank aufräumt.

Wahrscheinlich würde deine Mutter vor dir knien und bei so manchem Fundstück lächelnd den Kopf schütteln – wo er das nur wieder herhat? –, sie würde so dies und das entdecken, manches Schöne und manches Schlimme, würde sich dies an die Wange drücken wie ein kuschliges Kätzchen und jenes schnell in einer Ecke verstauen. Und wenn du morgens aufwachst, sind aller Unfug und alle bösen Gedanken, mit denen du eingeschlafen bist, auf dem Boden deines Verstandes ordentlich zusammengelegt, und obendrauf liegen schön gelüf‌tet deine freundlichen Gedanken, damit du gleich hineinschlüpfen kannst.

Ich weiß nicht, ob du schon mal eine Zeichnung {15}vom Inneren eines menschlichen Kopfes gesehen hast. Ärzte malen einem Körperteile manchmal auf, und das kann schon sehr interessant sein, wenn man zum Beispiel seinen Fuß so von innen sieht, aber am allerinteressantesten ist eine Zeichnung vom Inhalt eines Kinderkopfes, in dem es ja nicht nur drunter und drüber, sondern auch immer im Kreis geht.

Da finden sich dann zum Beispiel Zickzacklinien wie bei einer Fieberkurve: Das sind vermutlich die Inselstraßen, denn das Nimmerland ist praktisch immer eine Insel, voller berauschender Farben, mit Korallenriffen und verwegenen Schiffen vor der Küste, mit Ureinwohnern und einsamen Höhlen, mit Zwergen, die meistens Schneider sind, mit Höhlen samt Fluss in der Mitte, mit Prinzen, die sechs ältere Brüder haben, mit einer längst verfallenen Hütte und einer hutzeligen Frau mit Hakennase. Wenn das schon alles wäre, könnte man es natürlich leicht malen, aber da sind ja noch: der erste Schultag, die Religion, Väter, der runde Teich, Strickzeug, Mörder, Gehenkte, Verben mit Dativ, Schokoladenpudding, die neue Zahnspange, die drei Pennys Belohnung, dass du dir den Zahn selber rausgezogen hast, und so weiter und so fort. Und das gehört alles zum Nimmerland oder zu einem zweiten Bild, das unter dem ersten durchscheint, alles sehr verwirrend. Vor allem, weil es sich dauernd verändert.

{16}Natürlich sieht kein Nimmerland so aus wie das andere. In dem von John zum Beispiel gab es eine Lagune, über die Flamingos flogen, in dem von Michael hingegen, der ja noch sehr klein war, gab es einen Flamingo, über den lauter Lagunen flogen. John wohnte in einem umgedrehten Boot am Strand, Michael in einem Wigwam und Wendy in einem Haus aus lauter fein säuberlich zusammengenähten Blättern. John hatte überhaupt keine Freunde, Michael hatte abends ein paar, und Wendy hatte einen mutterlosen Wolf als Haustier; insgesamt ähneln die Nimmerländer aber einer Familie, und wenn sie sich mal hintereinander aufstellen würden, stünden sie Rüssel an Hinterteil in einer ellenlangen Reihe. Alle Kinder legen mit ihren Paddelbooten an diesen verzauberten Ufern an, wenn sie spielen. Wir selbst waren auch mal dort; wir hören sogar noch die Wellen rauschen, bloß an Land gehen können wir nicht mehr.

Von allen herrlichen Inseln ist Nimmerland die kleinste. Also nicht groß und weitläufig, so dass man von einem Abenteuer zum nächsten endlos rennen müsste, nein, da liegt alles schön dicht beieinander. Wenn man tagsüber in seinem Kinderzimmer so tut, als wäre man dort, indem man sich eine Höhle aus ein paar Stühlen und einer Decke drüber baut, ist das Ganze harmlos, aber in den {17}zwei Minuten vor dem Einschlafen kommt einem Nimmerland ziemlich echt vor. Und deswegen gibt es Nachtlichter.

Manchmal stieß Mrs. Darling beim Aufräumen in den Köpfen ihrer Kinder auf etwas, das sie nicht verstand, und das Allerunverständlichste davon war das Wort Peter. Sie kannte keinen Peter, trotzdem spukte er in den Köpfen von John und Michael herum, und in Wendys Kopf stand allmählich überall in Fettschrift sein Name. Bei näherem Hinsehen fand Mrs. Darling, dass er irgendwie frech aussah.

»Doch, frech ist er schon«, gab Wendy zu. Ihre Mutter hatte sie nämlich zur Rede gestellt.

»Aber wer ist das, mein Schatz?«

»Na, Peter Pan eben, du weißt schon.«

Mrs. Darling wusste erst mal nicht, aber als sie sich in ihre Kindheit zurückversetzte, fiel es ihr wieder ein. Da hatte es so einen Peter Pan gegeben, der angeblich bei den Feen wohnte. Um den rankten sich allerlei Geschichten: Wenn etwa ein Kind starb, begleitete er es ein Stück des Wegs, damit es keine Angst hatte. Als sie noch klein war, hatte Mrs. Darling an ihn geglaubt, aber jetzt, wo sie verheiratet war und vernünftig, bezweifelte sie stark, dass es so jemanden überhaupt gab.

»Außerdem wäre der ja längst erwachsen«, sagte sie zu Wendy.

{18}»O nein, erwachsen ist er nicht«, versicherte ihr Wendy im Brustton der Überzeugung. »Er ist nicht mal größer als ich.« Weder größer noch älter, meinte sie damit. Woher sie das wusste, wusste sie nicht, sie wusste es einfach.

Mrs. Darling besprach sich mit Mr. Darling, doch der wiegelte nur ab. »Pah«, sagte er, »das ist bloß so ein Unsinn, den Nana ihnen in den Kopf gesetzt hat; so was ist typisch Hund. Achte nicht weiter darauf, dann vergeht es wieder.«

Aber es verging nicht; und kurze Zeit später jagte der vorwitzige Junge Mrs. Darling einen ziemlichen Schrecken ein.

Kinder erleben die erstaunlichsten Abenteuer, ohne sich im Geringsten daran zu stören. Womöglich erwähnen sie erst eine Woche, nachdem sie im Wald waren, dass sie dort ihren toten Vater getroffen und eine Runde Fangen mit ihm gespielt haben. Genauso beiläufig ließ Wendy eines Morgens eine Bombe platzen: Im Kinderzimmer fanden sich ein paar Blätter auf dem Boden, die am Vorabend beim Schlafengehen mit Sicherheit noch nicht dagelegen hatten. Als Mrs. Darling sich darüber wunderte, sagte Wendy mit einem nachsichtigen Lächeln:

»Ach, das war wohl wieder Peter.«

»Wie meinst du denn das?«

»Dass der sich auch nie die Füße abtritt«, sagte {19}Wendy mit einem Seufzer. Sie war ein sehr ordentliches Kind.

Und dann erklärte sie nüchtern, dass Peter wohl manchmal nachts ins Zimmer kam, sich am Fußende zu ihr aufs Bett setzte und Panflöte spielte. Dummerweise wachte sie nie davon auf, deshalb wusste sie nicht, woher sie das wusste – sie wusste es einfach.

»Unsinn, mein Schatz. In unser Haus kommt doch keiner, ohne anzuklopfen.«

»Ich glaube, er kommt zum Fenster rein«, sagte sie.

»Liebes, euer Zimmer ist im dritten Stock.«

»Aber die Blätter lagen doch unterm Fenster, oder?«

Und das stimmte; die Blätter hatten direkt beim Fenster gelegen.

Mrs. Darling wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn Wendy kam das Ganze so normal und natürlich vor, dass man es wirklich nicht als Traum abtun konnte.

»Mein Kind«, rief Mrs. Darling, »warum erzählst du mir das erst jetzt?«

»Vergessen«, sagte Wendy achselzuckend. Sie wollte jetzt endlich frühstücken.

Also, das hatte die Kleine doch bestimmt geträumt.

{20}Andererseits waren da eben die Blätter. Mrs. Darling nahm sie unter die Lupe: Sie waren gerippt, stammten aber nicht von einem Baum, der in England wuchs, da war sie sich sicher. Sie kroch mit einer Kerze auf dem Boden herum, auf der Suche nach fremden Fußspuren. Sie stocherte mit dem Schürhaken im Kamin herum und klopf‌te die Wände ab. Und sie ließ ein Maßband auf die Straße hinunter: Neun Meter hoch lag das Zimmer, und weit und breit keine Regenrinne zum Klettern in Sicht.

Bestimmt hatte Wendy geträumt.

Aber Wendy hatte nicht geträumt, wie sich schon am nächsten Abend herausstellte – an dem, so kann man wohl sagen, die ungewöhnlichen Abenteuer der Kinder begannen.

An dem bewussten Abend lagen die Kinder bereits im Bett. Nana hatte frei, also hatte Mrs. Darling die Kinder gebadet und ihnen vorgesungen, bis eins nach dem anderen ihre Hand losließ und ins Land der Träume hinüberglitt.

Alle sahen so wohlig und behütet aus, dass Mrs. Darling über ihre Befürchtungen lachen musste, sich in aller Ruhe an den Kamin setzte und ihr Nähzeug in die Hand nahm.

Sie arbeitete an einem Geburtstagsgeschenk für Michael, der jetzt alt genug für ein richtiges {21}Hemd wurde. Doch das Feuer verbreitete eine so gemütliche Wärme, im Kinderzimmer brannten nur drei schwächliche Nachtlichter, und bald sank Mrs. Darling ihr Nähzeug auf den Schoß. Dann nickte sie sehr, sehr elegant – und war auch schon eingeschlafen. Da schliefen sie nun alle vier, Wendy und Michael dort drüben, John hier vorne und Mrs. Darling vor dem Kamin. Es fehlte nur noch das vierte Nachtlicht.

Und dann hatte Mrs. Darling einen Traum. Sie träumte von Nimmerland; es rückte ganz nah an sie heran, und ein fremder Junge sprang heraus. Der beunruhigte sie gar nicht besonders, denn sie glaubte, seine Züge schon oft im Gesicht kinderloser Frauen gesehen zu haben. Vielleicht fand er sich sogar in den Mienen mancher Mütter. Aber in ihrem Traum zerriss er den Schleier, der das Nimmerland verdeckt, und aus dem Loch guckten Wendy, John und Michael.

Der Traum allein hätte sie nicht weiter gestört, doch mittendrin flog das Kinderzimmerfenster auf, und tatsächlich landete ein Junge auf dem Fußboden. Mit ihm kam ein eigenartiges Licht herein, nicht größer als eine Faust, und das irrlichterte durchs Zimmer, als wäre es lebendig. Von diesem Licht ist Mrs. Darling wahrscheinlich überhaupt erst aufgewacht.

{22}Mit einem Schrei fuhr sie hoch, sah den Jungen und wusste komischerweise sofort, dass es Peter Pan war. Wenn ihr oder ich dabei gewesen wären, hätten wir wahrscheinlich gesehen, dass Peter große Ähnlichkeit mit Mrs. Darlings Kuss hatte. Er war ein hübscher Junge mit einem Gewand aus Blättern und Baumharz und hatte noch alle Milchzähne im Mund, das machte ihn nahezu unwiderstehlich. Als ihm bewusst wurde, dass da eine Erwachsene saß, knirschte er böse mit seinen kleinen Perlchen.

{23}ZWEITES KAPITELDer Schatten

Mrs. Darling stieß einen Schrei aus, und wie auf Kommando ging die Tür auf und Nana kam herein, gerade zurück von ihrem freien Abend.

Sie knurrte und sprang den Jungen an, doch der hüpf‌te federleicht aus dem Fenster. Wieder schrie Mrs. Darling, diesmal aus Angst, er könnte tot sein; in Windeseile rannte sie die Treppe hinunter und suchte die Straße nach seinem kleinen Körper ab, aber da war nichts. Und als sie nach oben blickte, zischte nur etwas über den Nachthimmel, das sie für eine Sternschnuppe hielt.

Sie eilte zurück ins Kinderzimmer, und dort stand Nana und hatte etwas im Maul, das sich als Peters Schatten entpuppte. Als der Junge mit einem Satz zum Fenster gesprungen war, hatte Nana es nämlich blitzschnell zugemacht – zu spät, um Peter aufzuhalten, aber seinen Schatten hatte es erwischt: Zack, hatte ihn der Fensterflügel abgetrennt.

Mrs. Darling besah sich den Schatten natürlich {24}genauestens, das könnt ihr euch denken, doch es war ein ganz normaler Schatten.

Nana wusste sofort, was man damit am besten machte: Sie hängte ihn aus dem Fenster, denn bestimmt kam Peter wieder, um ihn sich zu holen. »Und wenn er dann leicht an ihn rankommt, weckt er die Kinder nicht auf«, so ihre praktische Überlegung.

Mrs. Darling jedoch brachte es nicht fertig, den Schatten einfach dort hängen zu lassen, das sah so furchtbar nach Wäsche aus, und die Leute könnten reden. Eigentlich wollte sie ihn ihrem Mann zeigen, aber Mr. Darling war – mit einem nassen Handtuch um den Kopf gewickelt, damit der nicht zu rauchen begann – damit beschäftigt, die Anschaffung von Wintermänteln für John und Michael durchzurechnen, und dabei störte sie ihn lieber nicht. Außerdem wusste sie sowieso, was er sagen würde: »Das kommt davon, wenn man einen Hund als Kindermädchen einstellt!«

Folglich beschloss Mrs. Darling, den Schatten zusammenzurollen und im Schrank zu verstauen, bis sich eine günstige Gelegenheit ergeben würde, bei der sie ihrem Mann davon erzählen konnte. Oje.

Die Gelegenheit ergab sich eine Woche später, an jenem Freitag, den sie nie vergessen sollten. Ein Freitag, was sonst!

{25}»An einem Freitag hätte ich doch besonders vorsichtig sein müssen!«, sagte sie später oft zu ihrem Mann, manchmal mit Nana an der Seite, die ihr die Hand hielt.

»Nein, nein«, erwiderte Mr. Darling dann schnell, »ich bin für alles verantwortlich. Ich, George Darling, bin der Übeltäter, mea culpa, mea culpa.« Er hatte schließlich eine humanistische Bildung genossen.

So saßen sie Abend für Abend da und riefen sich jenen verhängnisvollen Freitag ins Gedächtnis, bis er dort so tief eingegraben war, dass er sich auf der anderen Seite schon durchdrückte.

»Hätte ich doch bloß die Einladung zum Abendessen in Nummer 27 nicht angenommen«, sagte Mrs. Darling.

»Hätte ich doch bloß meine Medizin nicht in Nanas Napf gekippt«, sagte Mr. Darling.

»Hätte ich doch bloß so getan, als würde die Medizin schmecken«, sagten Nanas feuchte Augen.

»Mein Faible für Partys, George.«

»Mein verteufelter Sinn für Humor, Liebste.«

»Meine Überempfindlichkeit bei Kleinigkeiten, wertes Herrchen und Frauchen.«

Und dann brach mindestens einer in Tränen aus, Nana meistens mit dem Gedanken: »Es stimmt, sie hätten eben doch keinen Hund als Kindermädchen nehmen sollen.« Mehr als einmal tupfte {26}ausgerechnet Mr. Darling ihr mit seinem Taschentuch die Augen ab.

»Dieser Bengel!«, rief Mr. Darling, und Nana bellte ein Echo, Mrs. Darling jedoch machte Peter keine Vorwürfe. Etwas in ihrem rechten Mundwinkel hielt sie davon ab, auf Peter zu schimpfen.

Immer wieder saßen sie zu dritt im leeren Kinderzimmer und ließen liebevoll jede Einzelheit dieses schlimmen Abends Revue passieren. Alles hatte so unspektakulär begonnen, so völlig normal, wie an hundert Abenden zuvor. Nana hatte Michael die Wanne eingelassen und trug ihn auf dem Rücken ins Bad.

»Ich will aber nicht ins Bett«, zeterte Michael, als hätte er hier das letzte Wort. »Will nicht, will nicht! Nana, es ist überhaupt noch nicht sechs. Ach Mensch, ich hab dich gar nicht mehr lieb! Ich will nicht in die Badewanne! Will nicht! Will nicht!«

Dann kam Mrs. Darling in ihrem weißen Abendkleid ins Kinderzimmer. Sie hatte sich schon zeitig umgezogen, weil Wendy sie immer so gern in ihrem Abendkleid sah, mit der Halskette, die George ihr geschenkt hatte. Dazu trug sie Wendys Armreif; sie hatte Wendy extra gebeten, ihn ausleihen zu dürfen. Wendy lieh ihr den Armreif nämlich für ihr Leben gern.

Ihre beiden Ältesten spielten gerade Mutter und {27}Vater, also Mr. und Mrs. Darling, und zwar bei Wendys Geburt.

»Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, Mrs. Darling, dass Sie nun Mutter sind«, sagte John in einem Tonfall, den der echte Mr. Darling bei der Gelegenheit durchaus angeschlagen haben mochte.

Wendy vollführte einen Freudentanz, so wie es die echte Mrs. Darling bestimmt auch getan hatte.

Dann wurde John geboren, mit allem Tamtam, das er für die Geburt eines Jungen für angemessen hielt, und als Michael aus der Wanne kam, wollte er auch geboren werden, bekam von John jedoch schnöde zu hören, zwei Kinder seien genug.

Michael wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. »Keiner will mich«, rief er, was die Dame im Abendkleid natürlich nicht auf sich sitzen lassen konnte.

»Doch, ich!«, rief sie. »Ich will so gern noch ein drittes Kind!«

»Mädchen oder Junge?«, fragte Michael ohne allzu große Hoffnung.

»Einen Jungen.«

Und dann hatte er sich ihr in die Arme geworfen. Eine Kleinigkeit nur, jetzt, da sich Mr. und Mrs. Darling und Nana daran erinnerten, aber so gering auch wieder nicht, wenn das Michaels letzter Abend im Kinderzimmer gewesen sein sollte.

{28}»Und da kam ich ins Zimmer gefegt wie ein Wirbelsturm, stimmt’s?«, sagte Mr. Darling schuldbewusst. Wirbelsturm war noch eine nette Umschreibung.

Aber vielleicht konnte er mildernde Umstände geltend machen. Er hatte sich ja ebenfalls für die Einladung angekleidet, und bis zum Schlips war auch alles gutgegangen. Doch so erstaunlich es klingt, dieser Mann, der sich mit Aktien und Wertpapieren so hervorragend auskannte, kam mit seinem Schlips einfach nicht zurecht. Manchmal parierte das Ding, ohne aufzumucken, oft jedoch hätte das ganze Haus sonst was dafür gegeben, wenn Mr. Darling über seinen Schatten gesprungen wäre und sich einen Fertigschlips umgehängt hätte.

Diesmal war so eine Gelegenheit. Mit dem zerknüllten Übeltäter in der Hand kam er ins Kinderzimmer gestürmt.

»Lieber Vater, was ist denn los?«

»Was los ist?«, schrie er; jawohl, er schrie. »Dieser Schlips lässt sich nicht binden.« Er wurde bedrohlich spitz. »Jedenfalls nicht mir um den Hals! Um den Bettpfosten schon, klar, zwanzigmal darf ich ihn um den Bettpfosten binden, aber mir um den Hals? Kommt nicht in Frage. Kann er nicht, will er nicht.«

Das machte auf Mrs. Darling offenbar noch nicht {29}den gewünschten Eindruck, deshalb fügte er streng hinzu: »Mutter, ich warne dich. Wenn dieser Schlips nicht um meinen Hals sitzt, gehen wir heute Abend nicht aus, und wenn ich heute Abend nicht ausgehe, kann ich mich im Büro nicht mehr blicken lassen, und wenn ich mich im Büro nicht mehr blicken lasse, werden wir beide verhungern, und die Kinder landen auf der Straße.«

Mrs. Darling ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Lass mich mal«, sagte sie, und genau darum hatte er sie ja bitten wollen. Mit ruhiger Hand band sie ihm also den Schlips, während die Kinder herumstanden und abwarteten, welche Wendung ihr Schicksal wohl nehmen würde. Mancher Mann wäre nun beleidigt gewesen, weil Mrs. Darling das Schlipsbinden so leicht von der Hand ging, aber für so etwas hatte Mr. Darling einen viel zu großmütigen Charakter. Er bedankte sich achtlos, seine Wut war verraucht, und im nächsten Moment nahm er Michael huckepack und tanzte mit ihm durchs Zimmer.

»Was haben wir getobt!«, sagte Mrs. Darling jetzt bei der Erinnerung daran.

»Zum letzten Mal getobt!«, stöhnte Mr. Darling.

»Ach George, weißt du noch, wie Michael mich plötzlich gefragt hat: ›Mami, woher kennst du mich eigentlich?‹«

{30}»Aber natürlich!«

»Sie waren so süß, was, George?«

»Und sie waren bei uns. Bei uns! Und jetzt sind sie weg.«

Das ausgelassene Toben hatte gedauert, bis Nana auf‌tauchte. Bedauerlicherweise stieß Mr. Darling mit ihr zusammen, worauf an seiner Hose lauter Hundehaare klebten. Es war nicht nur eine neue Hose, sondern seine erste mit Borte, so dass er sich die Tränen verbeißen musste. Natürlich bürstete Mrs. Darling die Hose aus, aber er fing wieder damit an, dass man eben keinen Hund als Kindermädchen engagieren solle.

»George, Nana ist ein Juwel.«

»Das ist sie, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sie unsere Kinder als Welpen betrachtet.«

»Oh, nein, Schatz, sie weiß ganz genau, dass die Kinder eine Seele haben. Da bin ich mir sicher.«

»Hm«, machte Mr. Darling. »Hm.« Das war doch die Gelegenheit, fand Mrs. Darling, ihm von dem seltsamen Jungen zu erzählen. Erst wollte Mr. Darling die Geschichte abtun, aber als seine Frau ihm den Schatten zeigte, wurde er nachdenklich.

»Er kommt mir zwar nicht bekannt vor«, sagte er, während er den Schatten fachmännisch untersuchte, »aber er sieht aus wie ein Schurke.«

»Wir waren uns noch nicht einig, erinnerst du {31}dich«, sagte Mr. Darling, »als Nana mit Michaels Medizin hereinspaziert kam. Die Flasche wirst du nie mehr im Maul haben, Nana, und das ist alles meine Schuld!«

So vorbildlich, wie er sonst als Vater war, bei der Angelegenheit mit der Medizin hatte er sich wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Mr. Darling bildete sich nämlich ein, sein Leben lang heldenhaft seine Medizin eingenommen zu haben. Deshalb sagte er nun vorwurfsvoll zu Michael, der sich vor dem Löffel in Nanas Maul wegduckte: »Sei doch ein Mann, Michael!«

»Will nicht, will nicht«, rief Michael frech. Mrs. Darling ging hinaus, um ihm ein Stück Schokolade zu holen, aber das fand Mr. Darling nun allzu nachgiebig.

»Mutter, du verwöhnst ihn«, rief er ihr nach. »Als ich in deinem Alter war, Michael, habe ich meine Medizin immer ohne Murren genommen. ›Danke, liebe Eltern‹, habe ich gesagt, ›danke, dass ihr mir etwas gebt, damit ich wieder gesund werde.‹«

Er glaubte das tatsächlich, und Wendy, die inzwischen ihr Nachthemd angezogen hatte, glaubte es ebenfalls. Um Michael zu ermuntern, sagte sie deshalb zu ihrem Vater: »Diese Medizin, die du manchmal nimmst, schmeckt doch noch viel scheußlicher, oder?«

{32}