Pferdefrauen ticken anders - Tina Wolff - E-Book
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Pferdefrauen ticken anders E-Book

Tina Wolff

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Beschreibung

Von einem dickköpfigen Kaltblüter, eigensinnigen Singles und den Irrwegen der Liebe. Eigentlich ist die 31jährige Lisa mit ihrem Singledasein zufrieden. Auch Tom, Pferdehofbetreiber und allerbester Freund findet das in Ordnung. Ganz anders sieht das ihre esoterische Freundin und Tantra-Enthusiastin Anke. Sie befürchtet Lisa verwandle sich in eine einsame Amazone, seitdem sie zu viel Zeit mit dem Kaltblutpferd Heinrich verbringt. Kurzerhand bittet Anke das Universum um Beistand, das auch prompt den charismatischen Schotten Joe in die Dorfdisko schickt. Dass es sich dabei um Lisas verflossene Jugendliebe Johannes handelt, weiß Anke nicht. Auf einmal kommen alte Gefühle an die Oberfläche, die nicht in ihren Alltagstrott passen... Mit nordischem Charme und einer satten Prise Humor erzählt Tina Wolff von den Wirren der Gefühle, dem Glück auf dem Rücken der Pferde und der Hoffnung auf die große Liebe.

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ISBN 978-3-492-98366-2

 

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv: Thea Sütterlin

Coveridee: Tina Wolff

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Cover & Impressum

Immer Ich

Se junivörs

Endlich Urlaub

Die Stimme aus der Dunkelheit

Auweia

Studenten-WG

Und nun?

Überhaupt nicht alltagstauglich

Save the donkey

Also doch!

Happy New Year

Die falsche Erinnerung

Gefährten

Aus freien Stücken

Eine Runde Dankeschöns

Immer Ich

Norddeutschland, Eichenloh

»Heinrich! Du verdammter alter Sack!« Lisa konnte schon immer fluchen wie ein altes Kesselflickerweib, sehr zum Leidwesen ihrer Familie. Freunde hatten sich damit längst abgefunden. Heinrich, das war ein stoffeliges Kaltblutpferd mit einer unterirdischen Arbeitsauffassung. Sein braunes Fell glänzte in der Spätsommersonne, die lange Wuschelmähne ließ er gekonnt im Wind wehen, er pupste unverdrossen und bockte durch die Reitbahn, weil er davon ausging, dass seine Herrin auf seinem Rücken das genauso toll fand wie er. Ihrem Geschimpfe nach zu urteilen, hatte er wohl recht.

»Ich möchte einmal erleben, dass du auf diesem Pferd reitest und nicht schimpfst«, ließ sich Tom vernehmen, der natürlich genau in diesem Moment auf das Gatter stieg, das die Reitbahn begrenzte. In typischer Cowboy-Manier setzte er sich auf den obersten Holm und rückte seine Baseballkappe gegen die Sonne zurecht, damit er nur ja nichts von dem Schauspiel verpasste.

»Hä-hä-hä«, lachte Lisa und tippte sich an die Stirn. »Herkommen, selber reiten und besser machen.«

»Der Dicke und ich haben ein Gentlemen’s Agreement, was nicht übers Füttern und Saubermachen hinausgeht. Schon vergessen?« Tom blinzelte. Wenn er die Augen zukniff und Lisa auf dem wilden Heinrich gegen die Sonne betrachtete, kam sie ihm vor wie eine Walküre. Ein bisschen wie Brunhilde vom Isenland, die gegen Männer kämpfte, mit Speeren warf und Steine schleudern konnte. Lisas dicker blonder Zopf wirbelte, als Heinrich zum nächsten Bocksprung ansetzte, aber er schaffte es nicht, seine Reiterin abzusetzen. Tom war sich sicher, dass er das auch gar nicht beabsichtigte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass dieses braune Pferd – das Hufe wie Suppenterrinen besaß, einen Hintern so breit wie ein Sofa und das Gemüt eines störrischen Esels – genau wusste, wem es sein Leben zu verdanken hatte. Denn Lisa hatte vor fünf Jahren die Chuzpe besessen, diesen Berserker zu kaufen, damit er nicht in die Wurst musste.

Die beiden haben sich gegenseitig verdient, dachte Tom zufrieden, als Heinrich sich dann doch dazu herabließ anzugaloppieren, was Lisa in wahre Freudenjuchzer versetzte.

»Guck, Tommi, guck! Er kann Galopp auf dem Reitplatz.« Vor lauter Freude vergaß sie, sich weiter zu konzentrieren, und Heinrich beschloss daraufhin, die Stunde zu beenden. Er parierte selbstständig vom rumpeligen Kuh-Galopp zum Schritt durch, bog in die Mitte der Reitbahn ab und schlenderte seelenruhig auf Tom zu. Dass er dabei seine Reiterin verloren hatte, war ihm gar nicht aufgefallen.

Lisa hing am gegenüberliegenden Gatter und seufzte. »Möchte jemand ein dickes braunes Kaltblutpferd kaufen? Habe mich gerade dazu entschlossen, das Reiten aufzugeben.« Brummig rieb sie sich die Rippen und stapfte Heinrich hinterher, der sich von Tom mittlerweile mit Hustenbonbons füttern ließ.

»Nö, danke.« Tom grinste seine beste Freundin an. »Der Dicke ist eben ein Holzrücker und kein Dressurpferd. Aber es sah schon ganz gut aus.«

Kopfschüttelnd stand Lisa neben ihrem Pferd, das sich nun zu ihr umdrehte, als wolle es sagen: »Hey Lisa, auch da? Lange nicht gesehen. Du, der Tom hat Bonbons in der Tasche.«

Sie schnallte die Steigbügel hoch, nahm Sattel und Trense ab und wuschelte dem unmöglichen Ross durch den schwarzen Schopf.

Sie liebte dieses sture Pferd, weil es stur war oder besser selbstständig, wie Tom das nannte. Diese Charaktereigenschaft mochte sie, weil sie selber so war. Eine gewisse Art von Stolz war es wohl, die andere als Arroganz bezeichneten. Sollten sie doch. Lisa war das egal. Mit ihrer Körpergröße von eins fünfundachtzig konnte ihr sowieso kaum einer das Wasser reichen. Zumindest bildete sie sich das ein.

Sie setzte sich neben Tom, kramte einen zerknautschten Tabaksbeutel aus ihrer Reitweste und drehte sich eine Zigarette. Ihr war schon klar, dass sie damit eine Diskussion heraufbeschwor, von wegen Rauchen sei gesundheitsschädlich, auch für andere, die passiv mitrauchen müssen, Rauchen lässt die Haut früher altern und es gibt Krampfadern und schlimmen Husten und Mundgeruch und, und, und.

Aber Tom war damit beschäftigt, Heinrich dabei zuzusehen, wie er sich laut schnorchelnd einen Wälzplatz suchte, was sich minutenlang hinziehen konnte. Der Dicke war da sehr wählerisch. Endlich ließ er sich pupsend in den Sand fallen und begann sein Wälzritual. Erst umfallen, Kopf und Hals genüsslich im Sand scheuern, dann rumkullern auf die andere Seite, zurückkullern, das Gesicht an den Vorderbeinen abreiben und aufstehen. Wie ein Pistolenschuss knallte der letzte Pups hervor, und Heinrich bockte noch eine Runde ohne Lisa über den Platz.

»Du solltest wirklich mal was gegen seine Blähungen tun. Es ist doch nicht normal, dass ein Pferd so viel furzt«, sagte Lisa und pustete den Zigarettenrauch weit von Tom weg.

»Wieso ich? Ist doch dein Pferd.«

»Du bist hier der Futtermeister. Das kommt bestimmt von den Hustenbonbons, die du ihm immer zusteckst.«

»Er mag sie halt gerne.«

»Hmmh, von wegen Gentlemen’s Agreement. Hustenbonbon-Agreement trifft es wohl eher.«

Lisa entspannte sich bei dieser Unterhaltung. Blödsinn konnte sie mit Tom stundenlang machen. Manchmal waren sie so albern dabei, dass sie wie doof durch den Stall hopsten, sich mit Stroh bewarfen und Mickey-Maus-Stimmen nachahmten. Mit Tommi war es immer schön. Entspannt. Heimelig. Einfach. Gut.

»Wolltest du dich nicht wegen irgendwas beeilen?«, fragte Tom, und Lisa schoss hoch.

»Ach, du liebe Zeit! Oh Gott, ich muss ja noch in die Stadt. Wir treffen uns zum Essen. Oh-nein-oh-nein-oh-nein. Heinrich, komm schnell!«

Genüsslich verschränkte Tom die Arme. Es gab etwas, was niemals funktionierte, und das war: Heinrich und schnell.

»Lass mal gut sein, Lieschen. Fahr du los, ich mach das schon.«

Dafür kriegte er ein Küsschen auf die Wange und wurde um weitere Hustenbonbons angebettelt. Eins schob Lisa sich selbst in den Mund, das andere gab sie Heinrich. Sie schmatzte auch ihm ein Bussi auf und dann düste sie mit einem »Mach’s gut, Dicki« davon.

Tom öffnete das Gatter, denn er wusste, dass alles, was nicht mit Strom gesichert war, irgendwann von Heinrich kaputtgemacht wurde. Deshalb war der großzügige Offenstall ausgerüstet wie ein Hochsicherheitstrakt. Es ging dem dicken Pferd gar nicht darum wegzulaufen. Es wollte einfach nur ausbrechen. Und so ein lächerlich kleiner Holzzaun zerbarst vor seiner massigen Brust wie ein Streichholz. Seitdem Heinrich bei Tom eingezogen war, ging ständig irgendwas kaputt. Seinen Einstand hatte er mit einer abgebrochenen Tränke gefeiert und dabei den halben Stall unter Wasser gesetzt. Dann waren nach und nach alle kleinen Bäume und Sträucher im Auslauf verschwunden, weil Heinrich sie entweder aufgefressen oder umgeknickt hatte. Sämtliche Eimer waren von ihm geschrottet worden, ein Stuhl, die Trittleiter, die als Aufstieghilfe gedient hatte, ebenso zwei Boxenwände, die Heuraufe und die Bürsten, die als Kratzstation an der Wand angebracht waren. Und immer guckte der Dicke seinen Hustenbonbon-Geber an, als wolle er sagen: »Das ist irgendwie kaputtgegangen. Ich weiß auch nicht warum.«

So ein Pferd hatte Tom noch nie erlebt. Er glaubte nicht, dass das alles typisch für Kaltblüter war, denn hier in der Lüneburger Heide gab es noch einige, die Planwagen mit Touristen durch die wunderschöne Landschaft zogen, und von denen hatte er nie solche Geschichten gehört.

Sattel und Trense nahm Tom mit und ging Heinrich hinterher, der selbstständig den Weg zum Stall entlangdrömmelte. Weglaufen würde er nicht, da war Tom sich sicher. Das Einzige, was Heinrich nach der anstrengenden Gymnastikstunde interessierte, war seine Heuraufe. Dazu bräuchte Tom ihm nur die Tür zum Stall zu öffnen, auf die Heinrich zustolperte. Toms Blick schweifte über den großzügigen Hofplatz, die alten Eichen, die wie Wächter vor dem Fachwerkhaus standen, und die weiten Wiesen, die sich anschlossen.

Opa Günther rollerte mit seinem Gehwagen um die Ecke, er wollte wohl zu einem Pläuschchen mit Käthe gehen, die am Ortsausgang in einem kleinen Häuschen lebte.

»Moin Opa!«, rief Tom rüber.

»Moin min Jung. Wie geiht di dat?«, krähte der Alte.

»Alles gut«, antwortete Tom und kam zu ihm, um einen kurzen Klönschnack zu halten. Danach ging jeder seines Weges. Tom betrat von der anderen Stallseite die Sattelkammer, hängte den breiten Kaltblutsattel und die riesige Trense auf, nahm Halfter und Putzkasten für sein Pferd mit und ging durch eine zweite Tür in den Offenstall hinüber. Eine schmale Stallgasse trennte zwei Notboxen vom Heulager und dem Innenbereich, der den Pferden jederzeit zur Verfügung stand. Hier konnten sich alle Tiere unterstellen, sich ins Stroh legen und schlafen, wenn das Wetter draußen zu ungemütlich wurde oder die Stechfliegen im Sommer zu sehr ärgerten.

Nur auf einen Pfiff hin kam Smokey vom weitläufigen Sandpaddock auf ihn zu. Sein lackschwarzes Fell glänzte, und mit einem tiefen »Höhöhöhmm« begrüßte er seinen Herrn. Am Wochenende bekam er immer das schicke Lederhalfter mit den Messingbeschlägen um und natürlich den schönsten Strick dazu. Tom achtete sehr darauf, dass alles gut passte und miteinander harmonierte.

Er war harmoniesüchtig, wie Lisa es nannte, sonst hätte er sich schon längst von seiner langjährigen Freundin Sandy getrennt. Das meinte zumindest Lisa, die Sandy nicht leiden konnte, weil sie ziemlich oberflächlich war. Für Tom war das ärgerlich, denn er musste aufpassen, dass sich die beiden Damen nicht zu oft auf dem Hof begegneten, denn Lisa hatte eine unglaublich spitze Zunge und Sandy war nicht sehr pfiffig, um Paroli bieten zu können. Das betrübte den lieben Tom doch etwas. Aber da Sandy mit Pferden nichts am Hut hatte und seine Passion noch nie nachvollziehen konnte, tauchte sie nur sehr selten im Stall auf.

Nur mit dem Halfterstrick über dem Hals stand Smokey still in der Stallgasse und genoss das Striegeln wie eine angenehme Massage. Und Tom genoss es, nach jedem Putzstrich mit der Bürste in der rechten Hand mit der freien linken immer noch mal nachzustreichen über das seidige Fell mit dem schönen Schwarzschimmer.

Ein ohrenbetäubendes Poltern und Krachen riss ihn aus seiner Putzmeditation. Er hatte Heinrich ganz vergessen! Der stand vor der Tür zum Stall und begehrte auf seine liebliche Kaltblutart Einlass. So schnell Tom auch losflitzte, es krachte noch mal, und er sah, wie Heinrich mit aller Gewalt versuchte, sein rechtes Vorderbein aus der zertrümmerten Tür zu ziehen, wobei er die gesamte Tür aus den Angeln hob.

»Oh, Heinrich! NEIN!«

Es krachte noch einmal, und die alten Scharniere gaben nach. Tom ließ die Schultern hängen, und Heinrich stand da, die Tür platt auf dem Boden liegend und sein Huf im eingeschlagenen Loch.

»Na toll.« Tom seufzte und sah den Dicken tadelnd an. »Das ist mal wieder irgendwie kaputtgegangen, ne?« Heinrichs Unterlippe wippte. Stur versuchte er mitsamt der am Bein befindlichen Tür hereinzukommen, was Tom geradeso verhindern konnte. Irgendwie schaffte er es, das zottelige Pferdebein zu befreien, und leichtfüßig mit nur einem Stolperer gesellte sich Heinrich zu Smokey in die Stallgasse.

Nachdem Tom das Bein auf eventuelle Verletzungen hin untersucht hatte, aber nichts finden konnte, entließ er ihn in den Offenstall. Dann endlich widmete er sich wieder seinem Pferd. Die Tür würde er später reparieren. Hauptsache, dem Dicken war nichts passiert, und dieses Mal war es ja Tom’s Schuld gewesen.

Norddeutschland, Kreisstadt

Lisa sauste auf ihrem klapprigen Hollandrad quer durch die Fußgängerzone der Kreisstadt. Sie hasste es, wenn sie hetzen musste, und doch geschah das irgendwie ständig in ihrem Leben. Ein gut organisierter Tagesablauf war für sie zwar toll, aber realistisch betrachtet eher nicht zu erreichen. Warum, wusste sie auch nicht, sie war eben eine Tüdeltante. So hatte ihre Mutter sie schon als Kind betitelt. Eine Tüdeltante, die ihre Gedanken nicht im Dutt halten konnte. Wie konnte sie nur Papas Geburtstag vergessen? Alzheimer? Mit einunddreißig? Möglich wäre es.

Ihre Rippen schmerzten etwas, und das schnelle Treten auf dem ollen Drahtesel machte es nicht besser. Wie gut, dass Tom Heinrich übernommen hatte. Der war immer so ordentlich und super organisiert. Wenn Tom was machte, dann klappte das auch.

Lisa schüttelte den Kopf. Irgendwie klingelten ihre Ohren. Das kam wohl vom Fahrtwind. Sie umschlenkerte ein Rentnerehepaar, das fußlahm durch die Einkaufsmeile bummelte.

»Hier ist Rad fahren verboten, junge Frau«, moserte der Alte hinter ihr her. Lisa winkte lässig, bedankte sich für den Hinweis und gedanklich vor allem für die »junge Frau«.

Das China-Restaurant war wie immer gut besucht, denn am Samstag gab es Buffet. In den letzten Jahren war es Tradition geworden, dass die Familie Lehmann zu Geburtstagen hier einkehrte. Für jeden gab es tolles Essen, man konnte es sich nach Geschmack und Hunger zusammenstellen und der Laden war freundlich und sauber.

»Du bist mal wieder zu spät«, raunzte sie ihr Bruder Matze an, der gerade mit einem Teller in der Hand die erste Buffet-Runde machte, als Lisa ihre Jeansjacke oben auf die Ablage der Garderobe pfefferte. Vor dem Spiegel püschelte sie über ihre schwarze Sweatshirtjacke, um eventuell restliche Heinrichhaare zu entfernen, und überprüfte ihre Frisur. Den langen blonden Zopf hatte sie schnell mit ein paar Haarnadeln zu einem Kranz hochgesteckt, der allerdings etwas unter dem Fahrtwind gelitten hatte. Sie mochte diese altbackenen Frisuren. Was sollte man auch sonst mit so langen Haaren machen? Offen tragen kam für sie nicht infrage, da hatte sie schon schlechte Erfahrungen gesammelt.

Sie umarmte ihren Bruder zur Begrüßung. »Ich weiß. Aber ich bin vom Pferd gefallen und habe mir nun fünf Rippen gebrochen, wovon wenigstens drei in meiner Lunge stecken.«

»Ja, ist klar.« Ihr Bruder lachte kurz auf. »Wir sitzen da hinten, wie immer.«

Das war eine klare Aufforderung, sich zu beeilen, denn der Herr Direktor Lehmann konnte Unpünktlichkeit nicht leiden. Auf dem Weg durch das Lokal kam Lisa ihre Mutter mit der kleinen Enkelin Marie entgegen.

»Tante Lisa«, krähte die Lütte und wedelte mit einem Paar Essstäbchen. Lisa nahm ihre Nichte auf den Arm. »Uiih, du wirst ja immer schwerer. Willst du deshalb mit Stäbchen essen? Machst du Diät?«

»Neeeeiiinn! Oma hat gesagt, du bringst mir das bei.«

Etwas ungeschickt ließ die Tante das kleine Mädchen wieder runter, um einerseits ihre Rippen zu schonen und andererseits ihre Mutter mit einer herzlichen Umarmung zu begrüßen.

»Ach, Kind«, ließ diese sich vernehmen und Lisa wusste, was kommen würde. »Kannst du nicht mal was anderes anziehen, als immer nur Schwarz?«

Schwungvoll riss Lisa den Reißverschluss der Sweatshirtjacke auf, und zum Vorschein kam Micky Maus auf rotem Grund. Die seufzende Mutter wurde von Marie Richtung Buffet weitergezerrt.

Endlich konnte sich Lisa neben ihren Papa setzen, der ein wichtiges Gespräch mit seiner Schwiegertochter Ulli führte. Alle Gespräche, die der Herr Direktor führte, waren wichtig, auch wenn es nur um das Wetter oder den schiefstehenden Zaun des Nachbarn ging. Kam man neu dazu, musste man höflich warten, bis er einen bemerkte, die Kommunikation unterbrach und sich dem neuen Menschen zuwandte. Das konnte in ihrem Fall dauern.

Neidisch vor Hunger guckte Lisa auf die Nebentische. Herrlich duftendes Essen gab es da zu sehen. Knusprige Ente, Pekingsuppe und diese kleinen Frühlingsrollen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

Am Nebentisch saß ein großer Typ mit dem Rücken zu ihr, der eine Suppe löffelte und dabei in einem E-Book las. Das interessierte Lisa brennend. Welches Buch mochte so spannend sein, dass man die Lautstärke und das wuselige Tohuwabohu in diesem Restaurant so gelassen ausblenden konnte? Ihr Hals wurde lang und länger, sie konnte die Schrift erkennen, es war auf Englisch geschrieben. Was hatte denn ein Engländer in diesem Kaff verloren? Sie wurde immer neugieriger und verpasste somit die Gesprächspause ihres Vaters, auf die sie eigentlich gewartet hatte.

»Lisa?«, hörte sie ihren Papa fragen, drehte sich schnell zu ihm um und wischte dadurch das Geschenk vom Tisch. Das schön eingepackte Buch flog in Richtung Nachbartisch und klatschte dem Engländer an die Wade.

»Alles Gute zum Geburtstag, Papa«, sagte sie zu ihrem Vater und zum Nachbarn: »Sorry.«

Dieser hob das Buch auf und reichte es ihr. Schuldbewusst sah sie ihn an und stutzte, als ganz kurz ein Paar graue Augen ihren Blick streiften. Schnell wandte sie sich ab und reichte ihrem Papa das Geschenk.

»Danke«, sagte dieser und legte das Buch zur Seite. Das würde er später in Ruhe auspacken. »Wir hatten dich etwas früher erwartet.«

»Tja, ich mich auch«, konterte die Getadelte. »Ich bin vom Pferd gefallen, aber …«

Weiter kam sie nicht, denn ihre Mutter und Marie erschienen in Matzes Begleitung, und sofort begann ein Tumult, auf den sie gern verzichtet hätte. Es begann mit der aufgeregten Stimme ihrer Mutter: »Du bist vom Pferd gefallen?«

Tadellos ausgeschlachtet von ihrem Bruder: »Hat der Bock das überlebt? Oder ist er nun endlich in die Wurst gekommen?«

Von der kleinen Marie kam es zaghaft: »Hat Heinrich wieder richtig dolle gepupst?«

Und ihre Schwägerin, die den kleinen Sebastian auf dem Schoß hielt: »Such dir doch lieber ein anders Hobby.«

Bis die sonore Stimme ihres Vaters mühelos das Gewirr durchdrang: »Ich hoffe, du hast einen Helm getragen.«

Wieso ihr immer so etwas passierte, war Lisa schleierhaft. Sie konnte hingehen, wo sie wollte, sie fiel auf wie ein bunter Hund. Klar, durch ihre Größe war sie nicht zu übersehen, und die auffälligen Frisuren machten sie nicht gerade unscheinbarer. Ständig patschte sie in Fettnäpfchen, die ihrer Meinung nach gar keine waren. Irgendwie machte sie immer etwas falsch, aber es war nie mit Absicht.

Automatisch wandte sie sich vom Durcheinander ab, und ihr Blick blieb am breiten Rücken des Engländers hängen, der immer noch in sein E-Book vertieft war. Hoffentlich verstand er kein Deutsch, dachte Lisa. Wie gern würde sie jetzt mit ihm tauschen. Einfach nur gemütlich dasitzen, einen spannenden Roman lesen und sich einen Dreck um den Rest der Welt scheren. Die Schultern des Mannes zuckten. Entweder war das Buch sehr lustig oder sehr traurig … oder er verstand doch Deutsch und lachte sich über sie kaputt.

Es vergingen einige Minuten, in denen Lisa ihrer Familie erklärte, dass Heinrich nicht tot war, sie auch nicht, dass er ganz toll gepupst hatte und kein bösartiges Tier sei, das man erschießen müsste, und nein, sie hatte keinen Helm getragen. Verdammt und zugenäht.

Dann endlich durfte sie mit Papa zum Buffet gehen und sich etwas zu essen holen.

Das Familie-Lehmann-feiert-Geburtstag-Essen nahm seinen traditionellen Lauf. Lisa war abgefertigt worden, hatte gebüßt für die Verspätung und hergehalten als Klassenclown. Nun war sie wieder als vollwertiges Mitglied integriert und durfte ihrer Nichte beibringen, wie man sich mit Stäbchen Bratnudeln in den Mund schaufeln konnte.

Ihren endgültigen Sitzplatz fand Lisa also bei den Kindern, die ihre Tante mit Beschlag belegten. Nur konnte sie so leider nicht mehr erfahren, was der Engländer las. Vielleicht war er ja auch Amerikaner oder Australier oder von ganz woanders her.

Als dann aber eine elfenzarte Dame durch das Restaurant tippelte, in ein tadelloses Kostüm gekleidet, tippte Lisa ihre Nichte an. »Guck mal, Marie. Das ist eine echte Dame.«

»Uuiihh«, machte die Kleine erstaunt, obwohl es ihr völlig wurscht war. Sie meinte mit ihrem »uuiihh« eher die Nudel, die ihr vom Essstäbchen rutschte und nun in ihrem Kleid klebte.

Die Elfendame steuerte den Engländer an, der sie freudig begrüßte, und nachdem sie ihm ihre Handtasche überlassen hatte, gingen beide zum Buffet. Lisa grollte.

»Solchen Damen«, erklärte sie ihrer Nichte, die die Nudel suchte, »kann ich überhaupt nicht aufs Fell gucken. Frauen dieser Art sind meist zickig.«

»Meist zickig«, wiederholte Marie artig.

»Sie kletten an Männern und sind unselbstständig.«

»Sie petten an Männern und sind unständig.«

»Lisa!«, motzte Matze. »Was bringst du meiner Tochter bei?«

»Das Leben, Bruderherz. Das wahre Leben«, flötete sie und setzte nach: »Kommst du an das E-Book auf dem Nachbartisch ran?«

Matze guckte zum verlassenen Nebentisch und fragte verwirrt: »Das ist jetzt nicht dein Ernst, dass ich das klauen soll, oder?«

»Wieso denn nicht? Du bist Anwalt und kannst dich jederzeit freisprechen.«

»Freisprechen kann nur ein Richter«, korrigierte Matze, und Lisa hatte mal wieder das Gefühl, er habe seinen Beruf verfehlt und hätte Lehrer werden sollen wie ihr Papa.

»Na, dann sieh mal zu, dass du Karriere machst.« Diese spitze Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen.

Die letzte Buffetrunde für das Dessert wurde begangen, und müde-satt lehnten sich alle in die Stühle zurück. Die freundliche Bedienung kam vorbei und brachte Lesestoff für die Großfamilie in Form von Glückskeksen. Der Tradition entsprechend musste jeder seinen Zettel dem Geburtstagskind übergeben. Dieses durfte dann den Sieger mit dem besten Spruch küren und dem Verlierer mit dem blödesten Spruch sein Mitleid aussprechen. Lisas Vater nahm die Aufgabe sehr ernst, forderte Zettel um Zettel ein, las sie, zog die Augenbrauen hoch, nickte anerkennend, oder schmunzelte.

Lisa gab ihren Zettel widerwillig als Letzte ab. »Lies den bloß nicht vor, Papa. Ich weiß, ich habe verloren.«

»Ja«, nickte ihr Vater nach der Sichtung, kürte aber als Siegerin erst mal seine Frau. Er rückte seine schmale Lesebrille zurecht und las vom kleinen Zettel ab: You know a silent way to impose your will.

Allgemeine Zustimmung segnete die Wahl des Siegerspruchs ab. Die liebe Mama und Oma bekam ein Küsschen dafür, und dann wandte sich der Herr Papa seufzend seiner Tochter zu, die missmutig mit den Essstäbchen auf dem leeren Dessertteller trommelte.

»Und nun zu unserer Verliererin der Glückskeks-Challenge. Es tut mir wirklich leid, Lisa, aber dieser Spruch ist ganz und gar nicht deiner. Tomorrow you should be extremely diplomatic. Nein, selbst wenn es in der Hölle frieren sollte, wird es niemals einen Tag geben, an dem du auch nur ein Tüttelchen Diplomatie walten lassen würdest. Wirklich nicht.« Mitleidig liebevoll zwinkerte er ihr zu.

Matze lachte dröhnend los, Lisa maulte leise vor sich hin und am Nebentisch hatte sich der Engländer verschluckt und kämpfte mit einem Hustenreiz.

Um der blöden Situation zu entgehen, machte Lisa ihrem Bruder das Angebot, mit ihr nach draußen zu gehen, damit sie eine Zigarette rauchen konnten, statt dass er ihr einen Vortrag über Glückskeks-Sprüche hielt. Das Angebot nahm er gern an, denn seiner Frau und den Kindern zuliebe hatte er das Rauchen aufgegeben. Zumindest solange, wie sich keine Gelegenheit dazu bot.

Draußen auf der Raucherbank im Schatten einer noch jungen Eiche schmauchten die beiden Geschwister schweigend Lisas selbstgedrehte Zigaretten. Die zwei verstanden sich wirklich gut, nur manchmal gingen sie sich gegenseitig auf den Keks. So wie das für Geschwister nun mal üblich ist. Da Matze Schnellraucher war und ein schlechtes Gewissen hatte, beendete er die Rauchpause und ließ Lisa allein zurück.

Sie genoss die Ruhe, und mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Rascheln der Blätter. Schritte und Gemurmel kündigten den nächsten Suchtkranken an. Es klang wie »Shit« und »so stupid«, und Lisa war hellwach. Der Engländer. Oder Amerikaner. Oder Aussie oder …

Sie schaute sich um und sah, wie er sämtliche Taschen nach einem Feuerzeug durchsuchte, die Zigarette schon zwischen den Lippen.

Irgendwie kam ihr der Typ seltsam bekannt vor. Er kratzte sich am Kopf, wobei er seine straßenköterblonde Popperfrisur zerstörte und damit viel sympathischer wirkte. Lisa konnte kaum den Blick von ihm abwenden. Er selbst hatte sie im Schatten wohl nicht bemerkt. Schnell scannte sie die Umgebung, konnte aber die Elfe im Kostüm nicht ausfindig machen. Die war wohl Nichtraucherin. Wie passend. Und so nahm sich Lisa vor, dem armen Kerl zu helfen.

»Matches?« Sie klapperte mit der Zündholzschachtel. Sofort kam der große Typ an und setzte sich neben sie.

»Danke«, sagte er sehr deutsch und nahm ihr die Schachtel ab. Und erst, nachdem er zwei tiefe Züge genommen hatte, gab er sie ihr zurück. Wieder erhaschte Lisa einen Blick in seine grauen Augen, und ihr Nacken kribbelte.

Den kenne ich doch, dachte sie.

Er schwieg und rauchte. Sie schwieg auch und dachte nach. Bis zum Filter glühte ihr Glimmstängel runter, weil sie neben ihm sitzen bleiben wollte. Wer war der Kerl?

Ihre Familie kam aus dem Restaurant gepoltert, der Patriarch vorweg, und der Engländer verschwand mit einem »Bye« in Richtung Fußgängerzone.

»Lisa, fährst du bei uns mit?«, fragte ihr Vater, aber sie verneinte, denn sie war ja mit dem Rad hier und würde damit auch zu ihrem Elternhaus radeln, wo die Familienfeier weitergehen sollte. Bevor sie aufstand, nahm sie die Zigarettenschachtel des Engländers mit, der sie neben ihr liegengelassen hatte.

Vor dem Schaufenster eines alten Fotoladens stand er, in seinem legeren Anzug, ohne Krawatte, ohne irgendwas Besonderes. Lisa schob ihr Fahrrad auf ihn zu, betrachtete sein Profil im Spiegelbild des Fensters, und ihr wurde plötzlich sehr, sehr warm.

Wie ein Blitz durchdrang sie die Erinnerung an einen älteren Teenager mit einem schwarzgefärbten Irokesenschnitt, der mit Vorliebe langärmlige Shirts mit einem T-Shirt darüber getragen hatte und meist ein Karo-Hemd um die Hüften geknotet, weite Jeans, natürlich zerrissen, und Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln.

Sie konnte ihr Grinsen nicht verbergen, als sie neben ihm ankam und ihm die vergessene Schachtel reichte.

»Sieh dich an, Hannes.« Sie wies auf sein Spiegelbild. »Was ist nur aus dir geworden?«

Die Schachtel steckte er in die Anzugtasche und betrachtete eher Lisa im Spiegelbild als sich selbst. »Wie meinst du das?«

»Du bist ein Spießer geworden!« Sie giggelte und schnorchelte, versuchte, sich zu zügeln, aber das Lachen war stärker und brach sich Bahn. Ihre total bescheuerte Lache steckte auch den Mann an, der sich nun endlich zu ihr umdrehte und sie direkt ansah.

Lisa lachte Tränen und blickte in graue Augen, diese immer etwas dreisten grauen Augen, dazu das typisch schiefe Grinsen, und sie wusste, dass er nur nach Spießer aussah.

»Ich bin total enttäuscht von dir.« Sie kicherte immer noch. »Das hätte ich nicht gedacht. Alles mögliche habe ich von dir erwartet, aber nicht das. Du siehst furchtbar aus!«

»Vielen Dank.« Amüsiert musterte er sie frech von oben bis unten. »Du hast dich aber gar nicht verändert.«

»Hatte ich auch nicht nötig. Ich lasse mich nicht verbiegen.«

»Das habe ich von dir auch nicht erwartet.« Das kam so ernst von ihm, dass Lisa unwillkürlich aufhörte zu lachen, aber es blieb eine angenehme Wärme, die sie weiterhin lächeln ließ, obwohl beide nur dastanden und sich ansahen, nicht wussten, was sie zueinander sagen sollten.

»Joe?«, rief eine zarte Stimme vom Eingang des China-Fress-Tempels. Hannes wandte sich von Lisa ab und der hübschen Elfe zu, die sich suchend umsah. Er winkte ihr, und sie tippelte auf ihren High Heels in seine Richtung. Auf diese Fee hatte Lisa nun wirklich keinen Bock. Sie mochte kleine Frauen nicht. Wenn sie auch noch hübsch und schick aussahen, waren sie bei ihr untendurch. Schon im Kindergarten hatte sie schlechte Erfahrungen mit dieser Sorte von Mädchen gemacht, die immer gleich losgekreischt, ihr mit dibbernder Unterlippe die Puppe geklaut und so getan hatten, als wäre Lisa der Pirat gewesen. Sie seufzte abgrundtief, und Hannes, oder Joe, wie er nun wohl genannt wurde, blickte auf ihre Mickey Mouse, deren Ohren sich mitsamt dem darunterbefindlichen Busen bei dem Seufzer auf und wieder ab bewegten. Er grinste.

»Na ja, dann mach’s mal gut.« Lisa hoffte, ihre Stimme würde total unbekümmert klingen.

Hannes bewegte sich nicht vom Fleck. Er guckte sie weiterhin an, ihm schien es egal zu sein, dass sein Stelzchen im Coco-Chanel-Fummel nur noch zwanzig Meter entfernt war.

»Gibt’s die alte Disko im Wald noch?«, fragte er.

»Die Sumpfe? Klar.« Lisa hatte das Gefühl eines Flashbacks. »Solche Spelunken halten sich ewig.«

Nur noch zehn Meter, die Tak-Tak-Tak-Schritte waren schon deutlich zu hören.

»War ’ne geile Zeit damals.« Er lachte kurz auf.

Acht Meter. Tak-Tak-Tak …

»Ja.« Lisa schnippte ihm frech an den Hemdkragen. »Und nun bist du ein Spießer.«

Vier Meter. Tak-Tak-Tak …

»Gehst du da noch hin?« Er knibbelte an seiner Unterlippe, und Lisa sah eine kleine Narbe und wusste, woher sie stammte.

Zwei Meter. Tak-Tak-Tak …

»Hast Glück. Jeden ersten Samstag im Monat ist Ü-Dreißig.«

»Also heute?«

»Jupp.«

Punktlandung Tinker Bell. Als ob sie plötzlich keinen Halt mehr hätte, schnappte sich das Elfchen Joes Arm, und er ließ sie sich bereitwillig einhenkeln. Selbst auf diesen Mörderstilettos war die Frau so klein, dass sie dem großen Hannes geradeso an die Schulter reichte.

»Joe, I got lost«, säuselte sie, und Lisa starrte sie verwundert an. Mit ihrer Blässe und ihrem seltsam aschblonden Haar wirkte sie wie ein ätherisches Wesen, wie Öl auf Wasser. Zumindest sehr, sehr strange.

Hannes besann sich des weltweiten Reglements und stellte die beiden Frauen vor: »Joan, this is Lisa. Lisa, das ist Joan.«

Äußerlich freundlich reichte Lisa Joan die Hand, und selbst hier fühlte sie so gut wie nichts. Wie ein leichtes Durchgleiten war der Händedruck. Gänsehaut überlief Lisas Rücken, und sie atmete einmal tief ein und aus. Hannes besaß tatsächlich die Frechheit, wieder in ihr Dekolletee zu gucken. Ihr reichte es. Das war ihr alles zu doof, und sie wollte ja auch nach Hause zur Familienfeier.

»Mach’s gut, Hannes«, sagte sie, nickte dieser Joan kurz zu und musste sich doch noch einmal einen grauen Blick abholen, inklusive der kleinen Narbe am Mundwinkel.

»Bis später«, hörte sie ihn noch sagen, als sie schon auf ihr Hollandrad gestiegen war.

Erst am Ende der Fußgängerzone wurde ihr bewusst, dass sie in die falsche Richtung gefahren war. So verwirrt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Was war nur mit ihr los? Das waren bestimmt noch alles Nachwirkungen von dem Sturz auf den Zaun. Irgendwelche vegetativen Störungen durch eine Prellung der Rippen, aufsteigend zur Brustwirbelsäule? Oder war sie doch mit dem Kopf an den Zaunpfahl geschlagen?

Die wuselige Familie tat Lisa gut. Und wieder lief alles standardgemäß ab. Frotzeleien wegen ihres wiederholten Zuspätkommens, trotz des Hinweises, dass ihr Rad einen Platten hatte – allerdings nur, weil sie vor der letzten Straßenecke die Luft aus dem Vorderreifen gelassen hatte, um die Panne vorzutäuschen –, und weil sie feuerrote Ohren hatte, die wohl vom Fahrtwind kamen. Oder so.

Die Kinder spielten mit ihr Murmeln und Puzzle auf dem dicken Teppich im Wohnzimmer, und die Erwachsenen unterhielten sich über Politik und Wetter, was Lisa nun wirklich nicht interessierte. Zum Kaffee durfte sie am Kindertisch sitzen, was ebenso Familientradition war. Dort war sie die Aufpasserin, und die Lütten waren begeistert, dass sie mit Tante Lisa einen eigenen Tisch hatten.

Danach war sie wieder so weit hergestellt, dass sie sich normal fühlte. So setzte sie sich auf das schöne Ledersofa im Wintergarten neben ihren Papa und kommunizierte im Erwachsenenstil mit.

Es ging um die bevorstehende Pensionierung ihres alten Herrn, und das war ein Thema, das sie sich nicht entgehen lassen wollte. Denn wenn ein Direx eines Gymnasiums nach über zwanzig Jahren den Dienst quittierte, hatte er viel zu erzählen, und es gab auch viel über ihn zu berichten.

Nicht ganz uneigennützig nutzte der Direx solche Gespräche für eventuelle Themen seiner Abschlussrede, die kurz vor den nächsten Sommerferien gehalten werden würde. Ein knappes Jahr blieb ihm noch, aber was war schon ein Jahr?

Und so drehte sich das Gespräch um die Kindheit von Matze, der ja immer so brav gewesen war – »Gar nicht wahr!«, beschwerte sich Lisa. »Ihr habt nur nie mitgekriegt, was er für einen Mist verzapft hat.« Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass es nun um sie ging, die von einer Misere in die andere gestolpert sei. »Da kann ich doch nix für«, meinte sie matt.

Es ging um gute Schüler, die Freude gemacht hatten, und um schlechte Schüler, die man in die Realschule runterschicken musste so wie auch beinahe Lisa. »Das war ja wohl nicht meine Schuld, dass ich in der Neunten nur bescheuerte Lehrer hatte! Die waren eben unfähig, mir das Wissen zu vermitteln. Die hätten vielleicht mal Nachhilfe in Pädagogik gebraucht«, warf sie schnell ein. Und es ging um Schüler, die einen speziellen Eindruck hinterlassen hatten, weil man annehmen musste, dass sie zwar intelligent, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch kriminell gewesen waren.

»So wie der eine, hach, nun sagt doch, wie hieß der denn noch mal?« Fragend sah der Herr Papa seine Tochter an, die schon wieder rote Ohren kriegte. »Der war später in deiner Klasse, weil er wiederholen musste. So ein großer Typ mit einer fürchterlichen Frisur, wie ein Hahnenkamm auf dem Kopf. Ach, der war schwierig. So stur. Wie oft hat er in meinem Büro gesessen und mich stumpf angestarrt. Auf den konnte man einreden wie auf eine Wand. Irgendwann habe ich kapituliert und ihn gelassen.«

»Keine Ahnung, wen du meinst«, log Lisa, atmete gegen ihre schmerzenden Rippen und versuchte, ihre Ohren mit einem Glas Saft runterzukühlen.

»Ah!« Lehrer Lehmann erhob den rechten Zeigefinger. »Stockinger! Johannes Stockinger. So hieß der Zausel. Der Vater kam aus der Schweiz … oder nee, aus Österreich. Und die Mutter war geschieden und ist mit ihm hierhergekommen. So war das. Hat der mich Nerven gekostet. Die Hälfte meiner grauen Haare habe ich ihm zu verdanken.«

»Pöööh«, machte Lisa. »Der war doch nicht kriminell, der hat höchstens so getan, weil er sonst nix auf die Reihe gekriegt hat.«

»Das war ein seltsamer Bursche«, ließ sich nun auch Matze vernehmen. »An den kann ich mich auch noch erinnern.«

»Ach.« Lisa witterte Oberwasser. »Woher denn? Der war in meiner Klasse, und du warst doch immer so brav. Häääähh?«

»Wir wohnen in einer Kleinstadt, da läuft man sich eben über den Weg«, maulte Matze, der wesentlich mehr auf dem Kerbholz hatte, als seine lieben Eltern wussten. Aber Lisa wusste es, und Matze wusste Dinge über seine Schwester, die sonst niemand zu wissen brauchte. So herrschte Waffenstillstand zwischen den beiden.

Ihr Vater fragte: »Was ist aus dem eigentlich geworden? Weiß das einer von euch?«

Matze zuckte mit den Achseln. »Den habe ich ewig nicht mehr gesehen. Keine Ahnung. Vielleicht hat er sich ja inzwischen gefangen.«

… und ist zum Spießer konvertiert, dachte Lisa, sagte aber frech: »Der ist bestimmt tot. Hat sich totgekifft, totgesoffen, totgefeiert. Irgendwie totgegangen.« Sie stand auf und brachte das leere Saftglas in die Küche.

Was war das denn heute bitteschön für ein verrückter Tag? Wollte sie irgendjemand verarschen?

Wenn sie ihrem Vater gesagt hätte, dass er heute zum Mittag nur eine Armlänge von eben diesem Johannes Stockinger entfernt sein Schweinefleisch süßsauer gegessen hatte, dann hätte er sie wohl für absolut unzurechnungsfähig gehalten.

»Warum immer ich?«, quakte sie leise und bemitleidete sich sehr mit ihren heißen Ohren.

Ihre Mutter folgte ihr mit sahneverschmierten Tellern vom Kindertisch, die Lisa ihr abnahm und in die Spülmaschine stellte. Wie es eben nur Mütter können, streichelte sie Lisa über den Rücken und steckte ihr einen Fünfzigeuroschein in die hintere Hosentasche.

»Urlaubsgeld. Du fliegst doch Montag mit Anke nach Gran Canaria. Geht ihr beiden mal schön essen.«

»Danke, Mama.« Lisa nahm ihre kleine Mutter in den Arm.

»Und wegen dem jungen Mann … dem Johannes«, setzte die kluge Frau Mama nach, »lass dich von Matze und Papa nicht ärgern. Du mochtest ihn, nicht wahr?«

Still sah Lisa ihre Mutter an und fragte sich, wie viel sie wusste von damals. Sie nickte nur, und ihre Mutter lächelte, als sie wieder rausging zu den Enkeln, die froh sein konnten, so eine tolle Oma zu haben.

Wie gut, dass sie heute Abend mit Anke zum Pizzaessen verabredet war wie jeden ersten Samstag im Monat. In der Sumpfe … im Wald … und Hannes hatte gesagt: »Bis später.« Auweia!

Se junivörs

Norddeutschland, in der Sumpfe

Die Sumpfe war ein kleines Fachwerkhaus mitten im Wald. Eine der besten Diskotheken weit und breit, weil es weder Flickerflackerlicht gab noch eine Nebelmaschine und keine aufgetakelten Tussis oder Snobs. Deshalb galt dieser Schuppen schon immer als Öko-Disse. Hier konnte man bis heute in Ruhe auf dem Parkplatz seinen Joint rauchen. Da sagte keiner was.

Der einzige Nachteil war, dass sie von der Kreisstadt zu weit entfernt gewesen war, um mit dem Fahrrad hinzugelangen und so hatte Lisa öfter mal die Eltern bitten müssen, den Fahrdienst zu übernehmen. Was ihre Mutter nur allzu gern getan hatte, allein aus dem Grund, dass ihre Tochter nicht bei irgendwelchen jungen Leuten mitfahren musste, die sie nicht kannte und die vielleicht zu schnell fuhren und sonst was Böses getan hätten. Später hatte Lisa mit Freunden von Matze mitfahren können, die kannten die Eltern und kamen aus entsprechend guten Familien. Aber was da manchmal in den Autos und auf den einsamen dunklen Landstraßen abgegangen war, das brauchte Mama bis heute nicht zu wissen.

Um halb neun holte Lisa ihre Freundin Anke ab.

Anke war ein sehr spezieller Mensch. Lisa kannte sie aus dem Krankenhaus, wo sie als Physiotherapeutin angestellt war. Anke arbeitete dort in der Beschwerdestelle. Mit ihrer absolut naiven Art war sie prädestiniert für diesen Job, der schon viele Vorgänger in den Burn-out getrieben hatte. Anke war sehr spirituell und hatte ausnahmslos Verständnis für alles, was das Universum an Gut und Böse zu bieten hatte. Dadurch konnte sie stundenlange Gespräche führen mit Patienten, die sich beschwerten, aber auch mit Mitarbeitern, die Missstände im eigenen Haus aufdecken wollten. Anke hatte immer ein offenes Ohr, und da sie alles, was sie hätte belasten können, an das Universum abgab, führte sie ein Leben wie auf Wolke sieben. Wobei Lisa sich nicht ganz sicher war, ob Anke nicht auch noch andere Drogen konsumierte, als ihre Shisha und die Räucherstäbchen.

Die von einem bunten Stirnband zurückgehaltenen Haare frisch mit Henna dunkelrot gefärbt, eingehüllt in ein weites Walla-Walla-Shirt und mit Ketten bis zum Bauchnabel behängt, saß Anke in Lisas altem klapprigem Corsa und summte sich auf den Abend ein.

»Anki«, setzte Lisa an, »ich bin heute Abend zu nix zu gebrauchen. Ich habe vielleicht einen doofen Tag hinter mir.«

»Mmmmh-mmmmhhmmmm, lass es raus Lisa. Mmmmhhmm«, summte Anke.

»Nur wenn du aufhörst zu summen.«

Anke verstummte, und Lisa atmete erst mal tief durch. Wo sollte sie denn anfangen?

»Also damals, ich war so siebzehn, achtzehn … da ist mir was passiert, also nix Schlimmes … nur … also, da war so ein Typ in meiner Klasse, der musste wiederholen, und der war eben nicht so … einfach … und also, mein Papa konnte den nicht leiden, aber … also …«

»Er war deine erste große Liebe, dein Vater wusste nichts davon, und du hast ihn heute wiedergetroffen. Hmmmmh …«, summte Anke.

»Woher weißt du das?«

Ihre Freundin hob armreifenklimpernd die Hände und wedelte zum Autodach hoch. »Lisa, du bist ein offenes Buch für das Universum, und ich kann in dir lesen, weil ich eine Verbindung dazu habe. Du solltest mal mitkommen zum Selbsterfahrungsseminar. Es würde dir guttun.«

»Öhm, nee danke. Eher nicht. Hör bitte endlich damit auf, mich zu diesem Esoterikquatsch zu überreden. Ich möchte mich doch nur mit einem normalen Menschen unterhalten.«

»Da bist du bei mir genau richtig.« Anke tätschelte ihren Unterarm. »Hat dieses Mickey-Mouse-Shirt eigentlich eine bestimmte Bedeutung? Es ist ja sehr sexistisch. Das bin ich von dir überhaupt nicht gewohnt.«

»Sexistisch? Bist du blöd? Seit wann ist denn Mickey Mouse sexistisch?« Lisa war entsetzt, aber Anke klärte sie auf.

»Na ja, es ist fast hauteng, die Grundfarbe ist rot, die Ohren von Mickey sind genau auf deinem Busen, und bei dem V-Ausschnitt sieht man dein Dekolletee richtig gut. Und wenn du weiter so seltsam tief atmest, dann bewegen sich eben die Ohren, also sozusagen alle vier Ohren.« Sie zwinkerte mehr als auffällig, und Lisa wurde klar, dass sie zu Hause vielleicht doch lieber in den Spiegel hätte schauen sollen, bevor sie mit dem Shirt zu Papas Geburtstagsfeier aufgebrochen war.

»Wie gut, dass ich noch eine Jacke mithabe«, murmelte sie. Aber die hatte sie seit Stunden nicht mehr angehabt, weil ihr immerzu warm war. So als hätte sie Kortison genommen.

Auf dem schmalen Weg kilometerweit durch einen dunklen Wald, wo man besser nur fünfzig fuhr, wenn einem das Auto und das Leben der Wildtiere lieb war, hatte Lisa Zeit genug, um Anke in Ruhe von Hannes zu erzählen. Hin und wieder summte diese, unterbrach ihre große Freundin aber nie.

Und so purzelten alle Erinnerungen von früher aus Lisa raus, als hätten sie nur darauf gewartet. Und während sie sprach, wunderte sie sich darüber, denn sie war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass sie das Kapitel Johannes S-Punkt längst abgeschlossen hatte.

Da gab es die Geschichte, als er ihr im Sportunterricht – natürlich ganz aus Versehen und im Eifer des Gefechtes – das T-Shirt zerrissen hatte. Dass er ihr doofe Briefchen im Unterricht zugeschnipst hatte. Dass er sie auf dem Nachhauseweg gestalkt oder besser gesagt begleitet hatte. Hannes hatte ihr in der Disko den ersten Joint gedreht, er hatte mit ihr Tequila-Wetttrinken gemacht, er hatte mit ihr Billard gespielt, und sie hatten draußen am Rand des Parkplatzes auf einem umgestürzten Baum gesessen und sich über Gott und die Welt unterhalten. Und da hatten sie das erste Mal geknutscht. Hannes war auch derjenige gewesen, der eine sturzbetrunkene Lisa nach Hause gefahren hatte, wobei er mehrfach angehalten hatte, weil sie sich hatte auskotzen müssen. Seitdem gab es den Ausspruch: »Nie wieder Tequila und Flips«, den sogar Matze kannte. Er wusste nur nicht, welchen Ursprung er hatte.

Und Lisa hatte für Hannes die Hausaufgaben gemacht. Sie hatte im Büro ihres Vaters heimlich nach Klausurthemen geschnüffelt und mit Hannes gelernt. So gut es eben ging jedenfalls, denn er hatte ständig irgendwas anderes im Kopf gehabt. Es war eine angenehme Freundschaft gewesen, und mehr als das. Sie hatte sich bei ihm immer sehr wohlgefühlt und konnte die anderen nicht verstehen, die Hannes für doof und gefährlich hielten. Es gab sogar Mitschüler, die meinten, er hätte den bösen Blick. Doch Lisa fand ihn eigentlich nur trotzig und bockig. Von böse war da keine Spur.

»Verstehst du, Anki«, sagte sie, als sie auf den Parkplatz einbog, der noch sehr übersichtlich bestückt war. »Hannes war nie böse, oder kriminell. Ich meine, wir haben doch alle mal was geklaut oder Scheiße gebaut. Aber er hat eben so eine bestimmte Art, einen anzusehen, und das hat halt einigen nicht gepasst. Ach Mann, ich weiß auch nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich heute Morgen vom Pferd gefallen bin. Eigentlich auf die Rippen, aber ich glaube auch auf den Kopf.«

»Wie war denn sein Blick?«, fragte Anke und klang ganz normal, so ohne Summen und Universumstralala.

»Woher soll ich wissen, wie Heinrich geguckt hat, als er mich abgeladen hat? Sein Gesicht sehe ich doch nicht, wenn ich reite.«

»Lisa, ich bitte dich. Ich meinte diesen Hannes, nicht dein blödes Pferd.«

»Ach so. Von Hannes. Na ja, der war eben trotzig. Nee, bockig. Also er galt immer als arrogant, aber das stimmte nicht. Das war eher so eine Art von Stolz oder … Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.«

Sie parkte ein, stellte den Motor ab und vergegenwärtigte sich vor ihrem inneren Auge den typischen Hannes-Blick, und da wusste sie es. »Der guckte einen an, als wollte er einen herausfordern. Ja, genauso. Er hat einen immer herausgefordert. Man wusste nur nicht wozu.«

»Er hat DICH herausgefordert, und DU wusstest nicht wozu. Nicht MAN, Lisa.«

Lisa starrte in den dunklen Wald. »Meinetwegen. Aber wozu? Zum Knutschen braucht man doch nicht herausgefordert zu werden. Das passiert ja ganz automatisch.«

»DU! Nicht MAN«, korrigierte Anke wieder.

»Verstehe ich nicht.« Nun wurde Lisa bockig. Das war ihr zu doof. Sie machte vor Anke einen Teenager-Seelen-Striptease, und die hatte nichts Besseres zu tun, als in Rätseln zu sprechen. Scheiß Universum!

Neben der Disko, die erst um halb zehn aufmachte, gab es eine kleine Pizzeria mit einem Steinofen, und das war der Grund, warum die beiden Freundinnen sich einmal im Monat hier trafen. Erst schön essen und dann noch für ein Stündchen rüber in die meist noch recht leere Disko. Ein bisschen gute alte Musik hören, die nur so laut gespielt wurde, dass man sich noch unterhalten konnte. Meistens quatschten sie über das Krankenhaus, sie luden ihren Arbeitsfrust hier ab und hatten dann wieder vier Wochen Zeit, neuen zu sammeln.

An ihrem Lieblingstisch hinten in der Ecke saß schon ein Pärchen, deshalb mussten sie einen Tisch weiter vorn bei der Tür nehmen. Die Bedienung war heute nicht die schnellste, und so dauerte es eine ganze Weile, bis endlich zwei wunderbar duftende Pizzen mit Rucola serviert wurden. Das Lieblingsthema zum Essen war wie so oft Dr. Haverbeck, der Oberarzt der zweiten chirurgischen Abteilung. Er hatte schon lange ein Auge auf Lisa geworfen, und seit seiner Scheidung war er eindeutig hinter ihr her, worüber sich schon die halbe Abteilung amüsierte. Denn Lisa ließ ihn immer eiskalt abblitzen, da konnte er ihr Komplimente machen, wie er wollte.

Anke sprach mit Rucola zwischen den Zähnen: »Der arme Kerl tut mir allmählich echt leid. Du solltest wenigstens mal mit ihm ausgehen. Er ist immerhin größer als du.«

»Bist du gestört? Der ist der Schrecken der ganzen Station. DER ist arrogant. Wobei wir wieder beim ersten Thema sind.« Lisa stopfte sich schnell noch einen Bissen Pizza in den Mund.

»Na ja, ich meine, du bist doch schon ewig Single, und dass du einfach keinen Typen findest, kann ja nun nicht an deinem Aussehen liegen. Und nur alles auf deine Körpergröße zu schieben, ist auch Quatsch. Wie wäre es denn mit einem Mann, der kleiner ist als du?«