Pforte der Verdammnis - C.J. Sansom - E-Book
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Pforte der Verdammnis E-Book

C.J. Sansom

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Beschreibung

Shardlake: jetzt als Serie bei Disney+ England, im Jahre 1537: Die Reformation ist in vollem Gange, Heinrich VIII hat sich selbst zum "Oberhaupt der Kirche" ernannt und unter Thomas Cromwells Befehl reisen Kommissare durchs Land, die die Klöster inspizieren sollen.  Im Kloster von Scarnsea an der Südküste Englands sind derweil die Dinge gänzlich außer Kontrolle geraten. Einem von Cromwells Kommissaren ist dort mit einem einzigen Säbelhieb der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden. In der folgenden Nacht wird ein schwarzer Hahn auf dem Altar geopfert. Wer steckt dahinter? Und warum? Matthew Shardlake, Rechtsanwalt und lange Zeit ein Befürworter der großen Reformation, wird von Cromwell nach Scarnsea beordert, um die Sachlage zu klären. Aber je mehr er ermittelt, desto klarer wird ihm auch, dass er im Grunde niemandem und nichts trauen kann..... Ein furioser Kriminalroman, der hinter den Mauern eines südenglischen Klosters ein teuflisches Szenario entfaltet. Alle Bände der Matthew-Shardlake-Serie: - Die Pforte der Verdammnis - Das Feuer der Vergeltung - Der Anwalt des Königs - Das Buch des Teufels - Der Pfeil der Rache - Die Schrift des Todes - Die Gräber der Verdammten

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Seitenzahl: 636

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C.J. Sansom

Pforte der Verdammnis

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Irmengard Gabler

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigKapitel ZweiundzwanzigKapitel DreiundzwanzigKapitel VierundzwanzigKapitel FünfundzwanzigKapitel SechsundzwanzigKapitel SiebenundzwanzigKapitel AchtundzwanzigKapitel NeunundzwanzigKapitel DreißigKapitel EinunddreißigKapitel ZweiunddreißigEpilogGeschichtlicher Nachtrag

Für die Schreibgruppe:

Jan, Luke, Mary, Mike B., Mike H, Roz, William

und besonders Tony, unsere Inspiration. Die Feuerprobe.

 

Und für Caroline.

Kapitel Eins

Ich weilte im Auftrag Lord Cromwells in Surrey, als mich der Ruf ereilte. Die Ländereien eines aufgelösten Klosters waren einem Mitglied des Oberhauses zuerkannt worden, dessen Unterstützung der Generalvikar bedurfte, doch die Übertragungsurkunden für einige Wälder waren unauffindbar. Sie aufzuspüren hatte sich als nicht schwierig erwiesen, und anschließend war ich der Einladung des Mannes gefolgt, noch einige Tage bei ihm und seiner Familie zu verbleiben. Ich genoss die kurze Rast, sah die letzten Blätter fallen, bevor ich in London meine Kanzlei weiterzuführen gedachte. Sir Stephen bewohnte ein stattliches neues Backsteinhaus von gefälligen Proportionen, und ich erbot mich, es für ihn zu zeichnen; doch hatte ich erst ein paar flüchtige Skizzen zu Papier gebracht, als der berittene Bote kam.

Der Bursche war von Whitehall aus die Nacht durchgeritten und traf im Morgengrauen bei mir ein. Ich erkannte in ihm einen von Lord Cromwells persönlichen Boten, und nichts Gutes ahnend erbrach ich das Siegel auf der Nachricht. Sie stammte von Sekretär Grey und besagte, dass Lord Cromwell mich unverzüglich in Westminster zu sehen wünsche.

Früher hätte mich die Aussicht, meinem mächtigen Dienstherrn persönlich gegenüberzutreten, ihn im Glanz seines Amtes zu sehen, in freudige Erregung versetzt, doch im letzten Jahr war ich müde geworden, der Politik und Juristerei ebenso überdrüssig wie der menschlichen Hinterlist und ihrer zahllosen Winkelzüge. Zudem beunruhigte mich, dass der Name Lord Cromwells mittlerweile noch größere Furcht verbreitete als jener des Königs. In London hieß es, die Rotten der Bettler zerstreuten sich, sobald sie ihn in der Nähe wüssten. So hatten wir jungen Reformatoren uns die Welt nicht vorgestellt, wenn wir uns im Geheimen zu endlosen Gesprächen zusammenfanden. Wie Erasmus hatten wir einst geglaubt, dass sich religiöse Zwistigkeiten allein mit dem Glauben und der Nächstenliebe schlichten ließen; doch mittlerweile, zum Winterbeginn des Jahres 1537, war ein Aufstand blutig niedergeschlagen, stieg die Zahl der Hinrichtungen von Tag zu Tag und suchte ein jeder gierig an sich zu raffen, was einst im Besitz der Mönche war.

Da es in diesem Herbst wenig geregnet hatte und die Wege noch immer gangbar waren, traf ich trotz meiner Behinderung, die kein schnelles Reiten zulässt, schon am Nachmittag in Southwark ein. Nach einem Monat auf dem Lande reagierte mein braves altes Pferd Chancery nervös auf die vielen Geräusche und Gerüche, die ihm entgegenschlugen, und mir erging es nicht anders. Als ich mich der London Bridge näherte, wandte ich, der ich von Natur aus empfindsam bin und auch kein sonderliches Vergnügen an der Bärenhatz habe, den Blick vom Torbogen, den, auf lange Pfähle gespießt und von hungrigen Möwen umkreist, die Köpfe all derer säumten, die man als Verräter hingerichtet hatte.

Auf der breiten Brücke herrschte wie üblich ein großes Gedränge; viele aufstrebende Handelsleute trugen Trauer um Königin Jane, die vor zwei Wochen im Kindbett gestorben war. Aus den ebenerdigen Läden der Häuser, die so knapp am Brückenrand klebten, dass sie augenblicklich in den Fluss zu stürzen drohten, boten Händler lautstark ihre Waren feil. In den oberen Stockwerken holten Frauenzimmer ihre Wäsche ein, weil von Westen her Wolken den Himmel verdunkelten. In meiner düsteren Stimmung erinnerte mich ihr Gerufe und Geschwätz an das Gekrächze von Krähen in einem mächtigen Baum.

Ich seufzte und rief mir meine Pflichten ins Gedächtnis. Ich hatte es zum großen Teil Lord Cromwells Fürsprache zu verdanken, dass ich im Alter von nur fünfunddreißig Jahren eine gut gehende Anwaltskanzlei und ein schönes neues Haus mein Eigen nennen konnte. Und sich in seinen Dienst zu stellen war Dienst an der Reform, hieß, würdig zu sein vor Gott; daran glaubte ich damals noch. Und was nun meiner harrte, musste wichtig sein, da ich meine Aufträge normalerweise von Grey erhielt. Den Lordkanzler persönlich, der mittlerweile auch das Amt des Generalvikars bekleidete, hatte ich schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Mit einem Schütteln der Zügel lenkte ich Chancery durch das Gewühl von Reisenden und Handeltreibenden, Beutelschneidern und Möchtegernhöflingen, mitten hinein in den brodelnden Hexenkessel Londons.

*

Während ich den Ludgate Hill hinunterritt, bemerkte ich einen Stand, auf dem sich Äpfel und Birnen häuften, und da ich hungrig war, stieg ich ab, um mir ein paar zu kaufen. Als ich Chancery mit einem Apfel fütterte, sah ich in einer Seitengasse knapp drei Dutzend Menschen vor einer Schenke, die halblaut miteinander redeten. Ich fragte mich, ob etwa schon wieder ein Scholar nach einer halb verdauten Lektüre der neuen Bibelübersetzung schlagartig zum Propheten geworden sei. Falls dem so war, nahm er sich besser vor dem Konstabler in acht.

Am Rande des Gedränges hielten sich ein paar besser gekleidete Herren auf, von denen ich den einen als William Pepper erkannte, einen Anwalt im Dienste Lord Cromwells, der neben einem jungen Mann im grellbunten, geschlitzten Wams stand. Neugierig geworden nahm ich Chancery am Zügel und führte ihn über das Pflaster auf die beiden zu, wobei ich sorgsam die mit Pisse gefüllte Gosse vermied. Pepper drehte sich um, als ich ihn erreichte.

»Nanu, Shardlake! Ich habe Euch dieser Tage noch gar nicht durch die Gänge kreuchen sehen. Wo seid Ihr denn gewesen?« Er wandte sich an seinen Begleiter. »Gestattet mir, euch Jonathan Mintling vorzustellen. Er hat die Rechtsschule absolviert und ist jetzt für mich tätig. Jonathan, dies hier ist Master Matthew Shardlake, der gerissenste Bucklige am englischen Gerichtshof.«

Ich verbeugte mich vor dem jungen Mann, wobei ich Peppers ungebührlichen Hinweis auf mein Gebrechen kurzerhand überhörte. Ich hatte erst unlängst einen Prozess gegen ihn gewonnen, und Juristen sind von Natur aus rachsüchtig.

»Was geht hier vor?«, fragte ich.

Pepper lachte. »Es heißt, hier wohne eine Frau mit einem Vogel aus Westindien, der frei von der Leber weg rede wie ein Engländer. Sie wird ihn gleich herausbringen.«

Die Gasse führte steil nach unten, so dass ich trotz meiner mangelnden Zoll einen guten Ausblick hatte, als eine feiste Alte in schmierigen Gewändern in die Tür trat, in der Hand einen dreibeinigen Eisenständer. Auf einer Querstange balancierte der seltsamste Vogel, den ich je gesehen hatte. Er war größer als die fetteste Krähe, sein kurzer Schnabel krümmte sich zu einem Furcht erregenden Haken, und sein rotes und goldenes Federkleid leuchtete so grell, dass es gegen das schmutzige Grau der Gasse beinah blendete. Die Menge schob sich näher heran.

»Zurück mit euch«, kreischte die Alte. »Ich hab euch Tabitha rausgebracht, aber sie sagt kein Wort, wenn ihr euch so an sie randrängelt.«

»Das Vieh soll reden!«, rief jemand.

»Ich will Geld sehen für die Mühe!«, kreischte die Vettel verwegen. »Wenn jeder von euch einen Viertelpenny springen lässt, wird Tabitha reden!«

»Bin gespannt, was für ein Trick das ist«, schnaubte Pepper, warf dem Weib jedoch wie die anderen eine Münze hin. Die Alte kratzte das Kleingeld aus dem Dreck und wandte sich dann an den Vogel. »Tabitha«, rief sie, »sag ›Gott schütze König Harry! Eine Messe für die arme Königin Jane!‹«

Das Tier schien sie zu ignorieren, trat von einem schuppigen Fuß auf den anderen und beäugte die Menge aus glasig starren Augen. Auf einmal rief es – und klang dabei ganz wie die Alte: »Gott schütze König Harry! Eine Messe für Königin Jane!« Die Leute ganz vorne wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, viele bekreuzigten sich. Pepper pfiff durch die Zähne.

»Was sagt Ihr dazu, Shardlake?«

»Ich weiß nicht. Wird wohl ein Trick dabei sein.«

»Noch mal«, rief jemand verwegen. »Mehr davon!«

»Tabitha, sag ›Tod dem Papst! Dem Bischof von Rom!‹«

»Tod dem Papst! Dem Bischof von Rom! Gott schütze König Harry!« Das Tier breitete die Flügel aus, und ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Ich sah, dass man ihm die Federn grausam bis zur Hälfte gestutzt hatte; der Vogel würde nie wieder fliegen. Er vergrub den Hakenschnabel im Brustgefieder und begann sich zu putzen.

»Kommt morgen zu den Stufen von St. Paul’s«, rief das Weib, »dann bekommt ihr noch mehr zu hören! Sagt allen, die ihr kennt, dass morgen Schlag zwölf Tabitha, der sprechende Vogel aus Westindien, dort zu sehen sein wird. Er stammt aus dem fernen Land Peru, wo hoch oben auf den Bäumen in einer großen Kolonie Hunderte solcher Vögel nisten und Konversation treiben.« Nachdem die Alte noch ein paar Münzen an sich gerafft, die sie zuvor übersehen hatte, packte sie den Ständer, wobei der Vogel, um sein Gleichgewicht zu halten, wild mit den gebrochenen Flügeln schlug, und verschwand im Haus.

Die Menge zerstreute sich unter aufgeregtem Raunen. Ich führte Chancery wieder auf die Straße zurück, Pepper und sein Gefährte begleiteten mich.

Peppers übliche Arroganz hatte einen Dämpfer erfahren. »Man hat mir schon viel Wunderliches von diesem Peru erzählt, das die Spanier erobert haben, und ich war immer der Meinung, die Hälfte der Geschichten sei nicht zu glauben, aber so etwas hab ich noch nie erlebt, bei meiner Seele!«

»Es ist ein Trick«, sagte ich. »Habt Ihr denn nicht gesehen, wie leer der Vogel glotzte? Und wie er aufhörte zu sprechen, um sich die Federn zu putzen?«

»Aber er hat gesprochen, Sir«, warf Mintling ein. »Wir haben’s doch gehört!«

»Man kann auch reden, ohne zu begreifen, was man sagt. Könnte der Vogel nicht einfach auf die Äußerungen des Weibs reagieren, indem er sie nachäfft, so wie ein Hund dem Ruf seines Herrn gehorcht? Eichelhäher sollen derlei tun.«

Wir waren inzwischen am Ende der Steigung angelangt und blieben stehen. Pepper grinste.

»Nun ja, Gläubige reagieren ja auch auf das lateinische Gemauschel der Priester, ohne es zu verstehen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Noch war eine solche Meinung zur lateinischen Messe unorthodox, und ich wollte mich nicht auf eine religiöse Debatte einlassen.

Ich verbeugte mich. »Tja, ich muss Euch leider verlassen. Ein Termin mit Lord Cromwell in Westminster.«

Der Junge schien beeindruckt, und Pepper tat sein Möglichstes, es nicht zu sein, als ich Chancery bestieg und mich ironisch lächelnd wieder unter die Leute mischte. Anwälte sind die größten Schwätzer, die Gott je geschaffen, und es wäre meinem Ruf nicht abträglich, wenn es sich durch Pepper herumspräche, dass der Generalvikar mich persönlich empfing. Doch mein Vergnügen währte nicht lange. Als ich die Fleet Street entlangritt, klatschten schon erste dicke Tropfen auf die staubige Straße, und alsbald fiel ein schwerer Regen, den mir der scharfe Wind ins Gesicht trieb. Ich zog mir die Kapuze tief ins Gesicht, während ich gegen den Sturm anritt.

*

Als ich den Westminster Palace erreichte, goss es in Strömen, und ich bewegte mich wie durch einen dichten Regenvorhang. Die wenigen Reiter, denen ich begegnete, saßen wie ich zusammengesunken und in ihre Mäntel gehüllt auf den Pferden, und gemeinsam fluchten wir auf den kalten Guss, den man uns verabreichte.

Der König hatte vor einigen Jahren Westminster verlassen, um in seinen stattlichen neuen Palast in Whitehall zu ziehen; seither beherbergte Westminster hauptsächlich die Gerichtshöfe. Peppers Ressort, der Court of Augmentations, war erst vor kurzem ins Leben gerufen worden, um den Vermögenszuwachs aus den kleineren Klöstern, die im Jahr davor aufgelöst worden waren, zu verwalten und neu zu verteilen. Auch Lord Cromwell und seine ständig wachsende Schar von Urkundenschreibern hatten ihre Kanzleien hier, und so war das Gebäude dicht bevölkert.

Für gewöhnlich wimmelte es im Hof von schwarzgekleideten Juristen, die über Gesetzestexte debattierten, und von Beamten, die in ruhigen Ecken Streitgespräche führten oder Intrigen ausheckten. Heute jedoch hatte der Regen sie alle ins Haus getrieben, und so war der Hof nahezu menschenleer. Nur ein paar verdreckte, zerlumpte Gestalten standen eng aneinander gedrückt und triefend nass im Eingang des Gerichtsgebäudes: Ehemalige Mönche, die von den aufgelösten Klöstern gekommen waren, um die Laienpfarreien einzufordern, die man ihnen in Aussicht gestellt hatte. Der zuständige Jurist schien nicht im Haus zu sein – vielleicht war es Master Mintling. Ein alter Mann mit stolzer Miene trug nach wie vor die Kutte der Zisterzienser, und von seiner Kapuze tropfte der Regen. In dieser Gewandung vor Lord Cromwell zu treten dürfte ihm kaum zum Vorteil gereichen.

Ehemalige Mönche ließen normalerweise unterwürfig die Köpfe hängen, doch diese Gruppe blickte mit einem Ausdruck des Grauens hinüber zu zwei großen Wagen, deren Inhalt einige Träger gegen die Mauer stapelten, auf das Wasser fluchend, das ihnen dabei in Augen und Mund tropfte. Beim ersten Hinsehen dachte ich, sie hätten Holz für die Kaminfeuer der Beamten herbeigeschafft; doch als ich Chancery zum Stehen brachte, sah ich, dass sie Schreine mit gläsernen Vorderfronten ausluden, Statuen aus Holz und aus Gips, und große, reich mit Schnitzwerk versehene Holzkreuze. Allem Anschein nach handelte es sich um die Reliquienschreine und Figuren aus den aufgelösten Klöstern, deren Anbetung wir Reformatoren zu beenden trachteten. Von den Ehrenplätzen geholt und im Regen aufgestapelt, waren sie ihrer Macht beraubt. Einen Anflug von Bedauern zurückdrängend, nickte ich der kleinen Gruppe von Mönchen grimmig zu, bevor ich Chancery durch den Torbogen lenkte.

*

Im Stall rieb ich mich, so gut es ging, mit einem Tuch trocken, das der Knecht mir reichte, und betrat dann den Palast. Ich zeigte Lord Cromwells Brief einem Wachmann, der mich, die glänzend polierte Hellebarde schulternd, aus dem öffentlichen Bereich in ein Labyrinth innerer Korridore führte.

Er wies mir den Weg durch eine große Tür, vor der zwei weitere Soldaten Wache standen, und ich fand mich in einem langen, schmalen Saal wieder, hell mit Kerzen erleuchtet. Einst hatten hier Bankette stattgefunden, wo sich jetzt von einem Ende zum anderen die Katheder reihten, an denen schwarz gewandete Schreiber Berge von Korrespondenz sichteten. Ein höherer Beamter, untersetzt und mit Fingern, die vom jahrelangen Umgang mit Feder und Tinte geschwärzt waren, eilte mir entgegen und meinte beflissen:

»Master Shardlake? Ihr kommt früh.« Ich fragte mich, woher er mich kannte, bis mir einfiel, dass man ihm wohl einen Buckligen angekündigt hatte.

»Das Wetter war günstig – bis vor kurzem«, sagte ich mit einem Blick auf meine durchweichten Beinkleider.

»Der Generalvikar wies mich an, Euch zu ihm zu führen, sobald Ihr angekommen wärt.« Er führte mich quer durch den Saal, wobei wir im Vorübergehen die Kerzen der geschäftigen Beamten flackern ließen. Ich erkannte, wie ausufernd das Kontrollnetz war, das mein Dienstherr gesponnen hatte. Jeder kirchliche Kommissar, jeder Friedensrichter hatte seine eigenen Spitzel und war angehalten, jede Unmutsäußerung, jeden Verrat zu melden, woraufhin der Fall mit aller Schärfe untersucht und von Jahr zu Jahr härter bestraft wurde. Einmal hatten die Menschen bereits gegen die religiösen Veränderungen rebelliert; ein zweiter Aufruhr konnte das Königtum ins Wanken bringen.

Vor einer Flügeltür am Ende des Saals blieb der Beamte stehen. Er hieß mich warten, klopfte und trat mit einer tiefen Verbeugung ein.

»Master Shardlake, Mylord.«

*

Im Gegensatz zur Vorhalle war Lord Cromwells Zimmer düster, denn nur eine kleine Wandleuchte neben dem Schreibtisch kämpfte gegen die Dunkelheit des Nachmittags. Während die meisten hohen Würdenträger ihre Wände mit prunkvollen Gobelins hätten schmücken lassen, waren die seinen mit Schränken vollgestellt, die bis unter die Decke reichten und Hunderte von Schubladen aufwiesen. Überall standen Tische und Kommoden herum, auf denen sich Berichte und Listen stapelten. Hinter einem breiten Rost prasselte ein großes Holzfeuer.

Zunächst konnte ich ihn gar nicht sehen. Dann entdeckte ich seine untersetzte Gestalt am anderen Ende des Zimmers, neben einem Tisch. Er hielt eine Schatulle in die Höhe und maß mit verächtlichem Stirnrunzeln ihren Inhalt, wobei sich der breite, schmallippige Mund über dem gespaltenen Kinn nach unten zog. In dieser Haltung erinnerte sein Kiefer an eine große Falle, die jeden Moment aufschnappen konnte, um mich beiläufig, mit einem einzigen Bissen zu verschlingen. Er wandte sich nach mir um und hob mit einer dieser sprunghaften Mimikänderungen, die ihm so leicht zu fallen schienen, freundlich lächelnd die Hand zum Gruß. Ich verneigte mich, so tief ich konnte, wobei ich unter Schmerzen feststellen musste, dass der lange Ritt meine Glieder hatte steif werden lassen.

»Hier herüber, Matthew.« Seine tiefe, raue Stimme hieß mich willkommen. »Ihr habt gute Arbeit geleistet in Croydon; ich freue mich, dass Ihr den verworrenen Fall um Black Grange gelöst habt.«

»Ich danke Euch, Mylord.« Als ich näher kam, fiel mir auf, dass das Hemd unter seinem pelzverbrämten Gewand schwarz war. Er bemerkte meinen Blick.

»Ihr wisst bereits, dass die Königin verstorben ist?«

»Ja, Mylord. Es tut mir leid.« Ich wusste, dass Lord Cromwell nach Anne Boleyns Hinrichtung sein Glück auf die Familie von Jane Seymour gesetzt hatte.

Er knurrte. »Der König ist außer sich.«

Ich blickte auf den Tisch hinunter. Zu meinem Erstaunen stapelten sich darauf Reliquienbehälter unterschiedlicher Größe. Alle schienen aus Gold oder Silber zu sein; viele waren mit Edelsteinen besetzt. Durch altes, fleckiges Glas konnte ich Stofffetzen darin erkennen und Knochensplitter, die auf samtenen Kissen ruhten. Ich blickte auf den Schrein, den er immer noch in Händen hielt, und sah, dass ein Kinderschädel darin lag. Er hob das Behältnis mit beiden Händen in die Höhe und schüttelte es, dass im Inneren ein paar lose Zähne rasselten. Der Generalvikar lächelte grimmig.

»Dies hier dürfte Euch interessieren. Reliquien, auf die man mich besonders aufmerksam machte.« Er stellte den Schrein auf den Tisch und zeigte auf eine lateinische Inschrift auf der Vorderseite. »Seht Euch das an.«

»Barbara sanctissima«, las ich. Ich besah mir den Schädel, der noch vereinzelt Haare aufwies.

»Der Schädel der heiligen Barbara«, stellte Cromwell fest und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Schrein. »Ein junges Mädchen, zur Römerzeit vom eigenen heidnischen Vater hingeschlachtet. Aus dem Cluniazenserkloster in Leeds. Eine hochheilige Reliquie.« Er bückte sich und griff nach einer silbernen Schatulle, besetzt mit edlen Steinen, Opalen, wie mir schien. »Und hier – der Schädel der heiligen Barbara, aus dem Frauenkloster Boxgrove in Lancashire.« Er ließ ein raues Lachen hören. »In der Neuen Welt soll es ja angeblich zweiköpfige Drachen geben. Nun, hier bei uns haben die Heiligen zwei Köpfe.«

»Herr Jesus!« Ich musterte die Schädel. »Ich frage mich, wem sie wohl wirklich gehört haben?«

Wieder ließ er sein bellendes Lachen hören und versetzte mir einen herzhaften Schlag auf die Schulter. »Haha, ganz mein Matthew! Ihr geht den Dingen auf den Grund. Und genau dieser forschende Verstand ist jetzt gefragt. Dieser goldene Schrein soll tatsächlich im römischen Stil gefertigt sein. Ich lasse ihn trotzdem mit den übrigen im Schmiedeofen des Tower einschmelzen, und die Schädel werfen wir auf den Mist. Menschen sollten keine Knochen anbeten.«

»Dabei gibt es so viele.« Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen goss es nach wie vor in Strömen. Der Regen schwemmte den Schmutz vom Hof, wo die Männer noch immer mit Ausladen beschäftigt waren. Lord Cromwell trat neben mich. Obwohl er mittlerweile zum Peer aufgestiegen und somit befugt war, den Purpurmantel zu tragen, unterschied sich seine Kleidung, ein schwarzes Gewand nebst flacher schwarzer Kappe, wie Juristen und Kleriker sie trugen, nach wie vor nicht von meiner. Allerdings war seine Kappe aus Samt und Seide und sein Gewand pelzverbrämt. Ich bemerkte einzelne graue Strähnen, die sein langes braunes Haar durchzogen.

»Ich muss den Plunder ins Haus schaffen lassen«, sagte er. »Ich brauche ihn trocken. Wenn ich den nächsten papistischen Verräter brennen lasse, möchte ich das Zeug als Feuerholz benutzen.« Er wandte sich um und setzte mit grimmigem Lächeln hinzu: »Dann kann jeder sehen, dass der Ketzer, dessen Scheiterhaufen aus den eigenen Götzenbildern besteht, nicht minder laut schreit als die anderen, geschweige denn Gott dazu bringt, das Feuer zu löschen.« Wieder verwandelte sich seine Miene, wurde sachlich und nüchtern. »Jetzt nehmt Platz. Wir beide haben Wichtiges zu besprechen.« Er setzte sich an sein Schreibpult und wies mir brüsk den Stuhl ihm gegenüber. Ein stechender Schmerz im Rücken ließ mich das Gesicht verziehen.

»Ihr seht müde aus, Matthew.« Er musterte mich aus großen braunen Augen, die wie der Rest des Gesichts unentwegt ihren Ausdruck veränderten. Im Augenblick ruhten sie kalt auf mir.

»Ein bisschen. Es war ein langer Ritt.« Ich besah mir seinen Schreibtisch. Er war übersät mit Papieren; auf etlichen schimmerte das königliche Siegel. Ein paar kleinere Goldschatullen dienten als Briefbeschwerer.

»Ihr habt gute Arbeit geleistet, indem Ihr die Übertragungsurkunde für diesen Wald aufgestöbert habt«, sagte er. »Die Angelegenheit hätte sich womöglich noch Jahre hingezogen.«

»Der frühere Bursar des Klosters hatte sie an sich genommen, als das Haus aufgelöst wurde. Offenbar wollten die Bewohner der umliegenden Dörfer den Wald gemeinschaftlich nutzen. Sir Richard argwöhnte einen Widersacher vor Ort, doch ich suchte zunächst den klösterlichen Bursar auf, der die Urkunde ja als Letzter in Händen gehalten hatte.«

»Gut. Ein logischer Schritt.«

»Ich fand ihn in der Dorfkirche, in der er nun als Pfarrer tätig ist. Er war alsbald geständig und rückte das Schriftstück heraus.«

»Sicher haben die Dörfler den ehemaligen Mönch bestochen. Habt Ihr ihn der Gerichtsbarkeit übergeben?«

»Er hatte kein Geld genommen. Er wollte den Bauern nur zu Diensten sein, glaube ich, denn ihre Äcker sind nicht sehr ertragreich. Deshalb hielt ich es für klüger, kein Aufhebens zu machen.«

Lord Cromwells Gesichtsausdruck wurde hart; er lehnte sich zurück. »Der Mann hat sich eines Vergehens schuldig gemacht, Matthew. Ihr hättet ihn zur Verantwortung ziehen, ein Exempel statuieren müssen. Ihr werdet mir doch nicht weich? In diesen Zeiten kann ich nur harte Männer in meinen Diensten gebrauchen, Matthew, harte Männer.« Sein Gesicht zeigte plötzlich jenen Zorn, den ich schon bei unserer ersten Begegnung vor zehn Jahren darin gesehen hatte. »Dies Land hier ist nicht Thomas More’s Utopia, hier leben keine unschuldigen Wilden, die nur darauf warten, dass Gottes Wort ihr Glück vervollkommnen möge. Wir haben ein grausames Königreich, in den Fangstricken einer verkommenen Kirche.«

»Ich weiß.«

»Den Papisten ist doch jedes Mittel recht, um uns an der Errichtung eines christlichen Gemeinwesens zu hindern; so soll auch mir jedes Mittel recht sein, sie zu vernichten, das gelobe ich beim Blute des Gekreuzigten.«

»Es tut mir leid, wenn mein Urteil falsch war.«

»Einige sind in der Tat der Meinung, Ihr wäret zu weich, Matthew«, sagte er ruhig. »Sie sagen, es fehle Euch an Leidenschaft, an gläubigem Eifer, vielleicht sogar an Loyalität.«

Lord Cromwell konnte einen so lange anstarren, bis man sich genötigt sah, die Lider zu senken, nur um festzustellen, wenn man endlich wieder aufzublicken wagte, dass seine harten braunen Augen sich noch immer in die eigenen bohrten. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich war stets bemüht gewesen, mir Zweifel und Überdruss nicht anmerken zu lassen, und hatte natürlich mit keiner Menschenseele darüber gesprochen.

»Mylord, ich bin nach wie vor ein Gegner der Papisten.« Bei diesen Worten musste ich unwillkürlich an all jene denken, die bereits, nach ihrer Loyalität gefragt, dasselbe beteuert hatten. Jähe Angst durchfuhr mich, und in der Hoffnung, er möge es nicht bemerken, holte ich zur Beruhigung tief Luft. Nach einer Weile nickte er bedächtig.

»Ich habe eine Aufgabe für Euch, die eurer Begabung entspricht. Die Zukunft unserer Reform könnte davon abhängen.«

Er beugte sich vor, griff nach einer kleinen Schatulle und hielt sie in die Höhe. Im Inneren lag, auf einem aufwändig ziselierten Silberbett, ein Glasfläschchen mit rotem Pulver.

»Das hier«, sagte er ruhig, »ist das Blut des heiligen Pantaleon, dem Heiden bei lebendigem Leibe die Haut abzogen. Die Reliquie stammt aus Devon. Angeblich verflüssigt sich das Blut am Festtag des Heiligen. Auf allen vieren kriechend, strömten Jahr für Jahr Hunderte herbei, dem Wunder beizuwohnen, und griffen tief für dieses Privileg in die Taschen. Und jetzt will ich Euch etwas zeigen.« Er drehte das Kästchen um. »Seht Ihr dieses kleine Loch hier in der Rückwand? Im Mauerwerk der Kirche befand sich just hinter der Schatulle ein weiteres Loch, durch welches ein Mönch mittels einer Pipette tröpfchenweise gefärbtes Wasser in das Fläschchen spritzte. Und siehe da – das heilige Blut, besser gesagt die gebrannte Umbra, wurde flüssig.«

Ich beugte mich nach vorn und ertastete mit dem Finger die kleine Öffnung. »Von derlei Täuschungen habe ich bereits gehört.«

»Das gesamte Klosterwesen ist nichts als Lug und Trug, Götzendienst, Gier und heimliche Loyalität gegenüber dem Bischof von Rom.« Er drehte die Reliquie in den Händen, wobei winzige rote Flöckchen herausrieselten. »Es ist wie ein Krebsgeschwür, das am Herzen des Königreichs frisst, und ich werde es herausreißen lassen.«

»Der Anfang ist doch schon getan. Die kleineren Klöster sind ja bereits aufgelöst.«

»Das hat doch kaum die Oberfläche angekratzt. Wenigstens ist dem König auf diese Weise Geld in die Truhen geflossen, genug, um seinen Appetit auf die großen Klöster zu wecken, in denen der wahre Reichtum zu holen ist. Es gibt nur zweihundert, und sie besitzen ein Sechstel des gesamten Vermögens im Land.«

»Wirklich so viel?«

Er nickte. »O ja. Doch seit dem Aufstand im letzten Winter, als am schottischen Don zwanzigtausend Rebellen lagerten und ihre Klöster zurückforderten, muss ich Vorsicht walten lassen. Der König will keinen Abt mehr in die Knie zwingen, und er hat recht. Was ich daher brauche, Matthew, sind freiwillige Unterwerfungen.«

»Die würden doch nie und nimmer –«

Er lächelte spöttisch. »Es gibt nicht nur eine Methode, ein Schwein zu schlachten. Hört jetzt gut zu. Diese Information ist vertraulich.« Er beugte sich vor, sprach leise und eindringlich.

»Als ich vor zwei Jahren die Klöster inspizieren ließ, gab ich Anweisung, sorgfältig jeden Tatbestand aufzulisten, der ihnen zum Nachteil gereichen konnte.« Er nickte hinüber zu den Schubfächern an den Wänden. »Ich habe alles hier drin verwahrt; Unzucht wider die Natur, Hurerei, ketzerische Predigten. Unter der Hand verkauftes Land. Und meine Spitzel in den Klöstern werden immer mehr.« Er lächelte grimmig. »In Tyburn hätte ich ein ganzes Dutzend Äbte hinrichten lassen können, aber ich wartete ab, hielt den Druck aufrecht, erließ strenge neue Richtlinien, an die sie sich zu halten haben. Sie sollen vor mir zittern.« Er lächelte erneut, schleuderte dann unversehens das Reliquienbehältnis in die Luft, fing es wieder auf und stellte es neben den Schriftstücken ab.

»Ich konnte den König überreden, mir ein Dutzend Häuser zu überlassen, auf die ich besonders viel Druck ausübe. In den vergangenen zwei Wochen habe ich meine Kommissare in die betreffenden Klöster entsandt, die die Äbte vor die Wahl stellen sollten, sich entweder freiwillig zu unterwerfen und üppige Pensionen zu beziehen oder sich der Verfolgung auszusetzen. Ich spreche von Lewes, wo verräterische Predigten gehalten wurden, von Titchfield, wo der Prior mir einige gepfefferte Informationen über seine Mitbrüder zukommen ließ, und von Peterborough. Könnte ich diese wenigen Äbte dazu bringen, sich freiwillig zu unterwerfen, müssten die Übrigen einsehen, dass das Spiel verloren ist, und widerstandslos das Feld räumen. Ich habe die Verhandlungen sorgfältig mitverfolgt, und alles verlief zu meiner Zufriedenheit. Bis gestern. Ist euch das Kloster Scarnsea ein Begriff?«

»Nein, Mylord.«

»Muss es auch nicht. Es ist ein Benediktinerkloster in einem versandeten Hafen am Ärmelkanal, an der Grenze zwischen Sussex und Kent. Das Laster hat dort Tradition, und der örtliche Friedensrichter – er steht auf unserer Seite – behauptet, der Abt habe zum Spottpreis Ländereien veräußert. Letzte Woche schickte ich daher Robin Singleton in dieses Kloster, damit er sich gründlich darin umsehe.«

»Ich kenne Singleton«, sagte ich. »Musste einmal vor Gericht gegen ihn antreten. Ein energischer Mensch.« Ich zögerte. »Vielleicht nicht der beste Jurist.«

»Mag sein, doch mir war es auch eher um seine Durchsetzungskraft zu tun. Ich hatte nicht genügend Beweise in der Hand und war gespannt, was Singleton aus den Brüdern herauspressen würde. Ich stellte ihm einen Kirchenrechtler zur Seite, einen alten Reformator aus Cambridge mit Namen Lawrence Goodhaps.« Er fischte zwischen seinen Schriftstücken einen Brief hervor und reichte ihn mir. »Er stammt von Goodhaps und kam gestern früh hier an.«

Der Brief war mit zitternder Hand auf ein Blatt Papier gekritzelt worden, das man aus einem Rechnungsbuch gerissen hatte.

My Lord,

hastig schreibe ich Euch diese Zeilen und lasse sie Euch durch einen Jungen aus dem Ort zukommen, da ich hier keiner Seele trauen kann. Mein Dienstherr Singleton ist im Herzen des Klosters meuchlings auf gar grässliche Weise ermordet worden. Man hat ihn heute Morgen in der Küche mit abgehacktem Kopf in seinem Blute liegend gefunden. Ein erbitterter Feind von Euer Lordschaft muss diese Gräueltat begangen haben, doch alle hier leugnen sie. Man hat die Kirche entweiht und die hochheilige Reliquie des Schächers vom Kreuz mitsamt den blutigen Nägeln entwendet. Ich habe bereits mit Richter Copynger gesprochen und gemeinsam mit ihm den Abt beschworen, Stillschweigen zu wahren. Wir fürchten die Konsequenzen, sollte die Kunde nach außen dringen.

Bitte schickt mir Hilfe, Mylord, und Anweisung, was ich tun soll.

Lawrence Goodhaps

»Einer unserer Kommissare ist ermordet worden?«

»Sieht ganz danach aus. Der alte Mann scheint panische Angst zu haben.«

»Sollte ein Mönch die Tat begangen haben, wäre es doch um das Kloster geschehen.«

Cromwell nickte. »Der Mörder muss irre sein, ein verrückter Klosterbruder, dessen Groll größer ist als seine Furcht. Erahnt Ihr die Auswirkungen? Mit der Unterwerfung dieser Klöster möchte ich einen Präzedenzfall schaffen. Das englische Recht basiert wie die englische Lebensart auf Präzedenzfällen.«

»Und das hier ist ein Präzedenzfall der besonderen Art.«

»Genau. Hier hat man die Autorität des Königs im wahrsten Sinne des Wortes totgeschlagen. Der alte Goodhaps hat gut daran getan, Anweisung zu geben, man möge nichts davon verlauten lassen. Denkt nur, auf welche Ideen man Eiferer und Wahnsinnige sämtlicher Ordensgemeinschaften des Landes brächte, wenn die Außenwelt Wind davon bekäme.«

»Weiß der König schon davon?«

Wieder starrte er mich scharf an. »Wenn ich es ihm sagte, geriete er außer sich vor Wut, würde seine Soldaten ausschicken und den Abt an seinem eigenen Kirchturm aufknüpfen. Und meinen Plänen wäre der Garaus gemacht. Ich will, dass wir in dieser Sache möglichst schnell und in aller Stille zu einer Lösung finden.«

Ich ahnte schon, worauf er hinaus wollte, und rutschte auf meinem Stuhl hin und her, weil mir der Rücken wehtat.

»Ich möchte, dass Ihr nach Scarnsea reist, Matthew, und zwar unverzüglich. Ich übertrage Euch sämtliche Befugnisse eines mir persönlich unterstellten Kommissars. Ihr sollt jeden Befehl erteilen, Euch überall Zugang verschaffen dürfen.«

»Würde sich ein altgedienter Kommissar nicht besser für diese Aufgabe eignen, Mylord? Ich hatte in meiner Laufbahn noch nie mit Mönchen zu tun.«

»Ihr seid doch von ihnen erzogen worden und wisst, wie sie sind. Meine Kommissare sind vortreffliche Männer, aber nicht eben für ihr Feingefühl berühmt, und hier ist Takt geboten. Ihr könnt Richter Copynger vertrauen. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber wir haben miteinander korrespondiert, und er ist ein eifriger Befürworter der Reformation. Von den übrigen Einwohnern der Stadt lässt sich wenig sagen. Zum Glück hatte Singleton keine Familie, also werden uns auch keine Hinterbliebenen belästigen.«

Ich holte tief Luft. »Was wissen wir über dieses Kloster?«

Er schlug ein dickes Buch auf. Es war die Comperta, wie ich sah, ein Kompendium sämtlicher Klostervisitationen vor zwei Jahren, dessen gepfeffertste Seiten dem Parlament vorgelegt worden waren.

»Ein großes Kloster, von den Normannen gegründet, reich bestückt mit Ländereien und herrschaftlichen Gebäuden. Nur noch dreißig Mönche leben dort und nicht weniger als sechzig Diener – man lässt es sich wohl ergehen, ein typischer Benediktinerorden eben. Laut Aussage des Kommissars ist die Kirche in skandalöser Weise mit Zierrat und Gipsheiligen überladen und birgt – oder barg – eine vorgebliche Reliquie des reuigen Schächers, der zur Rechten Unseres Herrn Jesu am Kreuze starb. Es handelt sich um die Hand des Schächers, an ein Stück Holz genagelt, das ein Teil des Kreuzes sein soll. Pilger pflegten offenbar weite Strecken auf sich zu nehmen, da die Reliquie im Rufe stand, Krüppel zu heilen.« Bei diesen Worten streifte sein Blick unversehens meinen krummen Rücken.

»Vermutlich die Reliquie, von der Goodhaps sprach.«

»Ja. Meine Visitatoren haben in Scarnsea ein Nest von Sodomiten ausgehoben, keine Seltenheit in diesen Pfuhlen der Sünde. Der Haupttäter, der ehemalige Prior, wurde daraufhin entfernt. Unzucht wider die Natur kann nach neuem Recht mit dem Tode bestraft werden, ein ausgezeichnetes Druckmittel. Singleton sollte prüfen, wie man es im Kloster damit hielt; außerdem sollte er wegen des von Copynger erwähnten Landverkaufs ermitteln.«

Ich dachte einen Augenblick lang nach. »Klüngeleien. Schwierige Sache.«

Lord Cromwell nickte. »So ist es. Deshalb brauche ich auch einen klugen Mann. Ich habe Euch meine Anweisungen nach Hause schicken lassen, mitsamt den relevanten Stellen aus der Comperta. Ich möchte, dass Ihr Euch schon morgen früh auf den Weg macht. Master Goodhaps’ Brief ist bereits drei Tage alt, und Ihr werdet womöglich weitere drei Tage für die Reise brauchen. Der Weg durch den Weald kann in dieser Jahreszeit sehr sumpfig sein.«

»Bis heute war der Herbst recht trocken. Ich schaffe es vielleicht auch in zwei Tagen.«

»Gut. Reitet ohne Diener und zieht nur Mark Poer ins Vertrauen. Wohnt er noch bei Euch?«

»Ja. Er hat sich in meiner Abwesenheit um die Geschäfte gekümmert.«

»Er soll Euch begleiten. Wie man mir bestätigt hat, verfügt er über einen wachen Verstand und zwei kräftige Arme. Beides kann Euch von Nutzen sein.«

»Aber, Mylord, womöglich droht uns dort Gefahr. Und Mark ist, mit Verlaub, nicht gerade fromm – er wird nicht verstehen, was alles auf dem Spiel steht.«

»Das braucht er auch nicht. Solange er loyal ist und tut, was man von ihm verlangt. Außerdem könnte der junge Master Poer sich wieder unser Wohlwollen verdienen, nach dem Skandal, den er verursacht hat. Womöglich erhält er seine Stellung als Schreiber zurück.«

»Mark hätte wissen müssen, dass ein Mann seines Standes nicht mit der Tochter eines Edelmanns anbändeln darf.« Ich seufzte. »Er ist eben noch sehr jung.«

Lord Cromwell knurrte unwillig. »Hätte der König davon erfahren, er hätte ihn auspeitschen lassen. Und auch gegen Euch, dessen Fürsprache er seine Stellung verdankte, zeugt sein Verhalten nicht von großer Dankbarkeit.«

»Ich tat es aus Pflichtgefühl, Mylord. Meiner Familie zuliebe. Es war mir sehr wichtig.«

»Tja, sollte er sich bei dieser Mission bewähren, könnte ich Rich bitten, ihm seinen Schreiberposten zurückzugeben, den er nur Eurem Gesuch verdankte«, fügte er spitz hinzu.

»Ich danke Euch, Mylord.«

»Jetzt muss ich nach Hampton Court fahren und den König ermahnen, seine Staatsgeschäfte wiederaufzunehmen. Matthew, sorgt mir dafür, dass kein Wort nach außen dringt, und zensiert jeden Brief, der das Kloster verlässt.«

Er stand auf, kam zu mir herüber und legte mir den Arm um die Schulter, als ich aufstand. Eine besondere Geste seiner Gunst.

»Bringt mir den Schuldigen her, und das schleunigst und ohne Aufsehen.« Lächelnd reichte er mir eine zierliche goldene Schatulle. Darin lag eine winzige bauchige Phiole mit einer dicken, hellen Flüssigkeit, die gegen das Glas schwappte. »Was haltet Ihr davon? Vielleicht findet Ihr den Trick, ich bin überfragt.«

»Was ist das?«

»Es stand vierhundert Jahre lang im Frauenkloster Bilston. Angeblich die Muttermilch der Jungfrau Maria.«

Ein Ausruf des Ekels entfuhr mir. Cromwell lachte.

»Ich würde zu gerne wissen, wie man auf den Gedanken kommen kann, die Jungfrau Maria habe sich melken lassen. Doch die Milch muss erst kürzlich ausgetauscht worden sein, seht Ihr? Sonst wäre sie nicht so flüssig; ich dachte, ich würde wie bei der anderen Reliquie ein Loch in der Rückwand finden, aber die Schatulle scheint fest versiegelt zu sein. Was meint Ihr? Versucht es damit.« Er reichte mir ein Uhrmacherglas, und ich untersuchte die Wände des Kästchens nach einer kleinen Öffnung, konnte aber keine entdecken. Auch nach einem verborgenen Scharnier tastete ich vergeblich. Ich schüttelte den Kopf.

»Ich kann es mir nicht erklären. Die Schatulle scheint vollständig versiegelt zu sein.«

»Schade, ich wollte sie dem König zeigen. Es hätte ihn amüsiert.« Er geleitete mich zur Tür und öffnete sie, den Arm auf meiner Schulter belassend, um den Schreibern draußen zu zeigen, dass ich in seiner Gunst stand. Doch beim Hinausgehen fiel mein Blick noch einmal auf die zwei grinsenden Totenschädel, über deren leeren Augenhöhlen das Kerzenlicht flackerte. Mein Herr und Meister hatte noch immer den Arm um mich gelegt, also unterdrückte ich mein Erschauern.

Kapitel Zwei

Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen, als ich Westminster verließ. Langsam ritt ich nach Hause, während die Dämmerung hereinbrach. Lord Cromwells Worte gaben mir zu denken. Ich hatte mich an seine Gunst gewöhnt, und die Vorstellung, er könne sie mir entziehen, machte mich schaudern; noch mehr beunruhigte mich allerdings, dass er meine Loyalität in Zweifel zog. Ich würde im Gerichtshof künftig mehr auf meine Worte achten.

Zu Beginn des Jahres hatte ich mir in der Chancery Lane, jener breiten Straße, die wie mein Pferd nach dem Hofe Seiner Majestät benannt war, ein geräumiges Haus gekauft. Es war ein stattliches Backsteingebäude mit Glasfenstern und hatte mich ein Vermögen gekostet. Joan Wood, die mir den Haushalt versah, öffnete mir die Tür. Sie war eine gutmütige, resolute Witwe, die schon einige Jahre bei mir war, und sie empfing mich aufs Wärmste. Sie pflegte mich ein wenig zu bemuttern, und ich ließ es mir gern gefallen, auch wenn sie ihre Befugnisse zuweilen überschritt.

Ich war hungrig, also bat ich sie, obwohl es noch früh am Abend war, das Nachtmahl zu bereiten, und begab mich in die Wohnstube. Ich war stolz auf diesen Raum, dessen holzvertäfelte Wände ich für teures Geld mit einer klassischen Waldlandschaft hatte ausmalen lassen. Feuerholz brannte im Kamin, und davor saß Mark auf einem Hocker und bot mir einen seltsamen Anblick. Er hatte sich des Hemds entledigt, so dass mir die blasse, muskulöse Brust entgegenleuchtete, und nähte Knöpfe aus kunstvoll geschnitztem Achat an den Kragen. Wohl ein Dutzend Nadeln, eine jede mit einem langen, weißen Faden versehen, stak in seinem nach neuester Sitte übergroßen Hosenbeutel. Ich verkniff mir das Lachen.

Er begrüßte mich mit breitem Lächeln und zeigte dabei die gesunden, im Verhältnis zum Mund ein wenig zu groß geratenen Zähne.

»Sir! Ich habe Euch bereits erwartet. Ein Bote Lord Cromwells brachte ein Paket und sagte, Ihr wäret bereits hierher unterwegs. Verzeiht, dass ich nicht aufstehe, aber ich möchte verhindern, dass eine der Nadeln herausrutscht.« Trotz des lächelnden Mundes nistete Argwohn in seinen Augen; ich war bei Cromwell gewesen: Gut möglich, dass auch sein schimpfliches Betragen zur Sprache gekommen war.

Ich brummte unwillig. Mark hatte sich die braunen Locken stutzen lassen; seit König Heinrich das Haar kurz trug, um seine zunehmende Kahlheit zu verbergen, und den gesamten Hofstaat angewiesen hatte, es ihm gleichzutun, waren geschorene Köpfe in Mode gekommen. Die neue Haartracht stand Mark recht gut zu Gesichte, auch wenn ich mein eigenes Haar lieber lang beließ, da es sich besser zu meinen kantigen Zügen ausnahm.

»Könnte nicht Joan dir die Knöpfe annähen?«

»Sie hatte Vorkehrungen für Eure Rückkehr zu treffen und keine Zeit.«

Ich nahm ein Buch vom Tisch. »Du liest meinen Machiavell?«

»Ihr sagtet doch, ich dürfte mir damit die Zeit vertreiben.«

Seufzend ließ ich mich in meinen Polstersessel sinken. »Und wie gefällt er dir?«

»Nicht sonderlich. Er rät seinem Fürsten zu Grausamkeit und Hinterlist.«

»Doch nur, weil er der festen Überzeugung ist, dass einem Herrscher, um gut zu regieren, keine andere Wahl bleibe, und dass die Ermahnung zur Tugend vonseiten der klassischen Schriftsteller die Realität des Lebens verkenne. ›Ist ein tugendhafter Herrscher von ruchlosen Männern umgeben, so ist ihm der Untergang gewiss‹.«

Er biss den Faden ab. »Eine bittere Behauptung.«

»Machiavell war verbittert. Er schrieb dieses Werk, nachdem der Fürst aus dem Hause Medici, an den es gerichtet ist, ihn hatte foltern lassen. Du tust gut daran, in Westminster nichts davon verlauten zu lassen, dass du das Buch gelesen hast. Es findet dort keinen Zuspruch.«

Meine Andeutung ließ ihn aufmerken. »Darf ich denn zurück? Hat Lord Cromwell –«

»Wer weiß. Lass uns beim Nachtmahl darüber sprechen. Ich bin müde und möchte mich ein wenig ausruhen.« Mühsam stand ich auf und ging aus dem Zimmer. Mochte Mark ruhig eine Weile schmoren. Es würde ihm nicht schaden.

*

Joan war nicht müßig gewesen; in meinem Zimmer prasselte ein munteres Feuer, und mein Federbett war frisch aufgeschüttelt. Auf dem Schreibtisch beleuchtete eine Kerze meinen kostbarsten Besitz, ein Exemplar der erst unlängst genehmigten Englischen Bibel. Es tat mir wohl, sie hier liegen zu sehen, in der Mitte des Zimmers, wo sie, vom Lichte beschienen, sogleich den Blick auf sich zog. Ich schlug sie auf und fuhr mit dem Finger über die gotischen Buchstaben, deren glatte Oberfläche im Kerzenlicht schimmerte. Daneben lag ein dicker Brief. Mit meinem Dolch erbrach ich das Siegel, dass das harte Wachs zersprang und in roten Krumen auf den Schreibtisch rieselte. Im Umschlag befand sich in Cromwells schwungvoller Handschrift ein Auftrag, dazu nebst einer gebundenen Ausgabe der Comperta diverse Schriftstücke, die sich auf die Visitation der Abtei Scarnsea bezogen.

Ich stand einen Moment lang versonnen am Fenster und blickte durch die kleinen Scheiben hinaus in den Garten, der von einer Mauer umgeben friedlich im Dämmerlicht lag. Wie gern bliebe ich hier, um den Winter in der behaglichen Wärme meines Heims zu verbringen. Ich seufzte und legte mich aufs Bett. Dabei spürte ich das Zucken meiner müden Rückenmuskeln, die sich allmählich entspannten. Schon morgen säße ich erneut zu Pferde; dabei wurde mir das Reiten von Jahr zu Jahr beschwerlicher und schmerzhafter.

*

Die Behinderung war über mich gekommen, als ich drei Jahre alt war; mein Rumpf hatte sich immer weiter schräg nach vorn gebeugt, und keine Schnürbrust konnte daran etwas ändern. Im zarten Alter von fünf nannte ich bereits einen ausgewachsenen Buckel mein Eigen, und der ist mir bis heute geblieben. Ich war stets neidisch gewesen auf die Kinder, die auf meines Vaters Hof frank und frei einhersprangen, während ich wie ein Krebs in der Schale gekrochen kam und darob gehänselt wurde. So manches Mal haderte ich ob der Ungerechtigkeit mit meinem Gott.

Mein Vater besaß bei Lichfield etliche Morgen Land, auf dem er Schafe weiden ließ und Felder bestellte. Dass ich das Land nie würde beackern können, war für ihn eine herbe Enttäuschung, zumal ausgerechnet ich als einziges seiner Kinder überlebt hatte. Ich empfand dies umso schmerzlicher, als er mir mein Gebrechen nie zum Vorwurf machte, sondern mich eines Tages mit ruhiger Stimme wissen ließ, dass er sich, sobald er zu alt wäre, um den Hof selbst zu bewirtschaften, einen Verwalter einstellen würde; der könne dann für mich arbeiten, wenn er selbst nicht mehr am Leben wäre.

Ich war sechzehn Jahre alt, als der Verwalter zu uns kam. Ich weiß noch gut, wie ich eine Aufwallung von Groll hinunterschluckte, als eines Sommertags William Poer vor mir stand, ein großer, dunkelhaariger Mann mit einem ehrlichen Bauerngesicht und schwieligen Pranken, die die meinen mit festem Griff umfassten. Er stellte uns seine Frau vor, ein hübsches, bleiches Geschöpf, und seinen Sohn Mark, damals noch ein wohlgenährter kleiner Lockenkopf, der Daumen lutschend am Rockzipfel seiner Mutter hing und mich mit großen Augen bestaunte.

Mittlerweile stand bereits fest, dass ich in London die Juristerei studieren sollte. Es war groß im Kommen, dass man den Sohn, so man ihn finanziell unabhängig wünschte und er über ein Quäntchen Verstand verfügte, den Beruf des Rechtsanwalts ergreifen ließ. Damit sei nicht nur Geld zu verdienen, so mein Vater, die juristischen Kenntnisse würden mir gute Dienste leisten, wenn es gälte, unserem Verwalter auf die Finger zu sehen. Er hatte fest damit gerechnet, dass ich mich eines Tages in Lichfield niederließe, doch das tat ich nicht.

1518, ein Jahr, nachdem Martin Luther seine herausfordernden Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt hatte, begab ich mich nach London. Ich weiß noch, wie schwer es mir zunächst fiel, mich an den Lärm, die vielen Menschen und vor allem an den allgegenwärtigen Gestank in der Hauptstadt zu gewöhnen. Doch in meinen Seminaren und Unterkünften fand ich bald angenehme Gesellschaft. Damals war die Kontroverse bereits im Gange, wehrten sich die weltlichen Anwälte gegen die zunehmende Vereinnahmung der Rechtsprechung durch die kirchliche Gerichtsbarkeit. Ich war wie viele der Meinung, dass damit die königlichen Gerichte um ihr Vorrecht gebracht würden – denn was hat es einen Erzdiakon zu kümmern, wenn zwei sich um die Einhaltung eines Vertrags streiten oder sich gegenseitig in üble Nachrede bringen? Es war nicht nur die schnöde Gier nach Gewinn; die Kirche hatte sich inzwischen zum riesigen Kraken ausgewachsen, der mit seinen Tentakeln jeden Bereich des weltlichen Lebens an sich brachte, und das aus purer Raffsucht und ohne Absegnung durch die Heilige Schrift. Ich las Erasmus und sah meinen unreifen Kniefall vor der Kirche meiner Jugend alsbald in neuem Licht. Meine Verbitterung, vor allem gegen die Mönche, hatte persönliche Gründe, die ich nun berechtigt fand.

Ich brachte mein Studium zu Ende und bemühte mich anschließend um Kontakte und Klienten. Mein überraschendes Talent zum gerichtlichen Disput verschaffte mir bei den Rechtschaffenen unter den Richtern gewisse Vorteile. Und als gegen Ende der zwanziger Jahre die Auseinandersetzung des Königs mit dem Papst um die Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon die Gemüter erhitzte, wurde ich Thomas Cromwell vorgestellt, einem Anwaltskollegen, dem unter Kardinal Wolsey der Aufstieg gelungen war.

Ich lernte ihn bei einer unserer Gesprächsrunden kennen, die wir regelmäßig in einer Londoner Wirtsstube abhielten – im Geheimen, denn viele der Bücher, die wir lasen, waren verboten. Cromwell ließ mir bald Arbeit aus verschiedenen Abteilungen zukommen. Auf diese Weise machte ich meinen Weg im Schlepptau Lord Cromwells, der bald schon Wolsey ablösen, zum Sekretär des Königs, zum Lordkanzler und zum Generalvikar aufsteigen sollte, ohne dem Herrscher das Ausmaß seines religiösen Eifers zu offenbaren.

Allmählich suchte er bei juristischen Angelegenheiten, die seine Günstlinge betrafen – er spann sich ein großes Verbindungsnetz –, immer häufiger meinen Beistand, und bald war ich einer von ›Cromwells Männern‹. Als mich daher mein Vater vor vier Jahren in einem Schreiben bat, William Poers Sohn eine Stellung in einer der aussichtsreichen Verwaltungsbehörden zu verschaffen, die meinem Dienstherrn unterstanden, war ich durchaus imstande, seine Bitte zu erfüllen.

Mark kam im April 1533 nach London, um Anne Boleyns Krönung beizuwohnen. In vollen Zügen genoss er die große Feier zu Ehren dieser Frau, die später als Hexe und Hure verschrien sein würde. Er war sechzehn damals, nicht hoch gewachsen, aber kräftig, mit großen blauen Augen im glatten Engelsgesicht, die mich an die der Mutter erinnerten, auch wenn die umsichtige Klugheit darin eindeutig die seine war.

Ich muss gestehen, dass ich ihn am liebsten gleich wieder losgeworden wäre. Ich hatte kein Verlangen danach, an diesem Burschen in loco parentis zu handeln, der – dessen war ich gewiss – alsbald mit den Türen schlagen und Schriftstücke zu Boden schleudern würde und dessen Gesicht und Gestalt jenen schmerzhaften Groll in mir aufleben ließen, den ich mit daheim verband. Und ich malte mir aus, wie mein armer Vater sich an meiner statt Mark zum Sohne wünschte.

Doch schließlich legte sich mein Verlangen, ihn loszuwerden. Er war mitnichten der Bauerntölpel, den ich erwartet hatte; er war ruhig und rücksichtsvoll und hatte im Ansatz angenehme Umgangsformen. Tat er anfangs zuweilen einen Fehlgriff, was Kleidung oder Tischmanieren anbelangte, wusste er meine Ermahnung mit humorvoller Selbstironie zu nehmen. Er galt als zuverlässige Kraft in den Stellungen, die ich ihm verschaffte, zunächst im Schatzamt, dann in Cromwells Court of Augmentations. Ich ließ ihn nach Belieben kommen und gehen, und wenn er mit seinen Kollegen durch Bierstuben und Bordelle zog, so kam er doch nie lärmend oder betrunken nach Hause.

Ohne es zu wollen, fasste ich eine gewisse Zuneigung zu ihm und vertraute schließlich seinem wachen Verstand, um knifflige juristische Probleme zu lösen. Einen Fehler jedoch hatte er: die Faulheit. Doch genügten für gewöhnlich ein paar scharfe Worte, um ihn aufzurütteln. Anstatt weiterhin darüber nachzugrübeln, ob mein Vater statt meiner nicht lieber Mark zum Sohn gehabt hätte, wünschte ich bald, er wäre mein Sohn. Wer konnte schließlich wissen, ob ich jemals einen Sohn haben würde, seit Kate 1534 an der Pest verstorben war. Ihretwegen trug ich noch immer als Symbol der Trauer den Totenkopfring, eine Anmaßung meinerseits, denn wäre Kate am Leben geblieben, hätte sie gewiss einen anderen geheiratet.

*

Eine Stunde später rief Joan mich zum Nachtmahl. Sie hatte uns einen Kapaun gebraten und dazu Karotten und Steckrüben aufgetischt. Mark saß still an seinem Platz. Er trug wieder sein Hemd und darüber ein Wams aus feiner brauner Wolle, auch dies, wie mir auffiel, mit Achatknöpfen verziert. Ich sprach das Tischgebet und zerlegte den Vogel.

»Nun«, begann ich, »offenbar möchte Lord Cromwell dich wieder bei Hofe sehen. Zunächst jedoch sollst du mir bei einer Aufgabe zur Seite stehen, die er mir gestellt hat, dann sehen wir weiter.«

Vor sechs Monaten hatte Mark sich mit einer von Königin Janes Kammerjungfern eingelassen. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen, viel zu jung und einfältig, um dem hohen Anspruch bei Hofe gerecht zu werden, ein Opfer ehrgeiziger Verwandter. Das Mädchen machte ihnen keine Freude, da es heimlich durch Whitehall und Westminster streifte, bis es schließlich in die Westminster Hall zu den Urkundenschreibern und Rechtsanwälten geriet. Dort lief die kleine Dirne Mark in die Arme und ließ sich prompt in einer leeren Schreibstube von ihm bespringen. Hinterher freilich plagte sie das schlechte Gewissen, und so beichtete sie ihren Fehltritt den anderen Damen, die ihn sogleich dem Kammerherrn zutrugen. Die Jungfer wurde vom Hofe entfernt, und Mark fand sich jäh statt in heißer Umarmung auf dem kalten Boden wieder, als hohe Beamte des Königlichen Haushalts den Erstaunten ins Verhör nahmen. Bei all dem Zorn, den ich gegen ihn hegte, tat er mir auch leid; er war schließlich noch sehr jung. So hatte ich mich an Lord Cromwell gewandt, darauf vertrauend, dass er Milde walten ließe, zumindest bei dieser Art Fehltritt.

»Danke, Sir«, sagte Mark. »Ich bedaure aufrichtig, was geschehen ist.«

»Du hast Glück. Leute unseres Standes erhalten selten eine zweite Chance. Nicht nach dem, was du dir geleistet hast.«

»Ich weiß. Aber – sie war verwegen, Sir.« Er lächelte schwach. »Ich bin auch nur ein Mann.«

»Sie war eine alberne Gans. Du hättest sie schwängern können.«

»Dann hätte ich sie zur Frau genommen, bei meiner Ehre. Ich bin kein Schurke, Sir.«

Ich schob mir ein Stück Fleisch in den Mund und fuchtelte ihm mit dem Messer vor der Nase herum. Diese Diskussion war nicht neu. »Mag sein, aber ein hirnloser Narr bist du. Sie ist von Stande, nur darauf kommt es an, das weißt du genau! Schließlich bist du seit Jahren im Dienste der Regierung und kennst die Regeln. Commoners wie du und ich müssen ihre Grenzen kennen. Männer niederer Geburt wie Cromwell und Rich verdanken ihren Aufstieg allein der Gunst des Königs. Er könnte sie im Handumdrehen vom Sockel stürzen. Hätte der Kammerherr seine Beschwerde nicht Lord Cromwell, sondern dem König vorgetragen, dann säßest du jetzt im Tower; doch zuvor hätte man dich mit der Peitsche traktiert, dass du ein Leben lang gezeichnet wärst. Ich wähnte dich schon im Kerker.« In der Tat hatte mir die Angelegenheit einige schlaflose Nächte beschert, doch das brauchte er nicht zu wissen.

Er sah niedergeschlagen drein. Ich tauchte die Hände in die Fingerschale.

»Nun, diesmal bist du ja mit dem Schrecken davongekommen«, lenkte ich ein. »Wie läuft das Geschäft? Hast du mir die Vertragsurkunde für die Fetter Lane aufgesetzt?«

»Ja, Sir.«

»Ich werde sie mir nach dem Essen ansehen. Ich habe noch weitere Schriftstücke zu prüfen.« Ich legte mein Mundtuch ab und blickte ihn mit ernster Miene an. »Morgen müssen wir hinunter an die Südküste reiten, nach Sussex.«

Ich erklärte ihm unsere Mission, verschwieg jedoch ihre politische Bedeutung. Marks Augen weiteten sich, als ich auf den Mord zu sprechen kam: Da war sie wieder, die sorglose Erregung der Jugend.

»Es könnte gefährlich werden«, warnte ich. »Noch ahnen wir nicht, was dort unten vor sich geht, und müssen auf alles gefasst sein.«

»Ihr scheint mir besorgt, Sir.«

»Es ist eine große Verantwortung. Und offen gestanden bliebe ich im Augenblick lieber hier. Die Gegend jenseits des Weald ist so trostlos.« Ich seufzte. »Doch wie Isaiah müssen wir uns aufmachen und für Zion kämpfen.«

»Wenn Ihr erfolgreich seid, wird Lord Cromwell Euch reich belohnen.«

»Ja, vor allem bliebe ich in seiner Gunst.«

Bei diesen Worten merkte er auf, und ich hielt es für ratsam, das Thema zu wechseln. »Du hast noch nie ein Kloster betreten, nicht wahr?«

»Nein.«

»Du warst ja auch nicht in der Klosterschule so wie ich. Die Mönche beherrschten kaum genügend Latein, um die alten Bücher zu entziffern, aus denen sie uns lehrten. Zum Glück hat mich die Natur mit etwas Klugheit ausgestattet, sonst wäre ich heute genauso unwissend wie Joan.«

»Geht es in den Klöstern wirklich so verderbt zu, wie man sagt?«, fragte Mark.

»Du hast es doch auch gesehen, das Schwarzbuch, diesen berühmten Auszug aus den Visitationen.«

»Ganz London kennt dieses Buch.«

»Tja, Geschichten von ungeratenen Mönchen liest man gern.« Ich verstummte, als Joan mit einer Schüssel Kompott ins Zimmer trat.

»Aber es stimmt, sie sind verdorben«, räumte ich ein, als sie wieder gegangen war. »Ich kenne die Regel des heiligen Benedikt, und sie schreibt den Mönchen ein Leben vor, das dem Gebet und der Arbeit gewidmet sei, in Abkehr von der Welt und auf das Notwendigste beschränkt. Dennoch bewohnen diese Mönche meist große Gebäude, lassen sich bedienen und führen ein lasterhaftes Leben in Saus und Braus.«

»Es heißt aber doch, die Kartäuser in Tyburn hätten ein strenges Leben geführt und fröhliche Hymnen gesungen, als man ihnen den Bauch aufschlitzte.«

»O, einige Orden halten sich in der Tat an die Regel. Aber vergiss nicht, dass die Kartäuser sterben mussten, weil sie sich weigerten, den König als Oberhaupt der Kirche anzuerkennen. Sie wünschen sich allesamt den Papst zurück. Und jetzt sieht es ganz danach aus, als hätte sich einer von ihnen zu einem Mord verstiegen.« Ich seufzte. »Es tut mir leid, dich in diese Sache hineinziehen zu müssen.«

»Ein Gentleman sollte die Gefahr nicht scheuen.«

»Unsinn. Lässt du dich immer noch im Fechten unterweisen?«

»Jawohl, und ich mache gute Fortschritte, sagt Master Green.«

»Sehr schön. In den stilleren Gassen gibt es allenthalben rohes Gesindel.«

Nachdem er mich eine Weile versonnen angeblickt hatte, sagte Mark: »Ich bin Euch sehr dankbar, Sir, für meine Stellung bei Hofe, aber ich wünschte mir dort ein anderes Klima. Die Hälfte des neu gewonnenen Vermögens fällt doch an Richard Rich und seine Spießgesellen.«

»Du übertreibst. Die Einrichtung ist neu; da ist es doch nur natürlich, dass die Verantwortlichen Loyalität mit gewissen Vorteilen vergelten. Auf diese Weise sichern sie ihre Macht. Du träumst von einer idealen Welt, Mark. Und hüte deine Zunge. Hast du schon wieder Thomas More’s Utopia gelesen? Cromwell hat heute eine Stelle daraus zitiert.«

»Utopia lässt einem noch Hoffnung, was die Kondition des Menschen anbelangt. Der Italiener treibt einen in die Verzweiflung.«

Ich deutete auf sein Wams. »Nun, wenn du es den Utopisten gleichtun willst, dann solltest du die feinen Kleider gegen schlichtes Sackleinen eintauschen. Was ist das übrigens für ein Motiv auf deinen Knöpfen?«

Er zog sein Wams aus und reichte es mir herüber. Jeder Knopf wies eine winzige Gravur auf, einen Mann darstellend, der ein Schwert trug und den Arm um eine Frau gelegt hatte; hinter den beiden stand ein Hirsch. Eine anmutige Arbeit.

»Ich habe sie auf dem Sankt-Martins-Markt billig erstanden. Der Achatstein ist nicht echt.«

»Das sehe ich. Doch wie deutet man die Symbolik? Ah ja, ich weiß schon, der Hirsch steht für Treue.« Ich gab ihm das Kleidungsstück zurück. »Diese neue Vorliebe für Sinnbilder, die es zu enträtseln gilt, ist mir zuwider. Es gibt doch genug echte Rätsel auf dieser Welt.«

»Aber Ihr malt doch auch, Sir.«

»Sofern ich die Zeit dafür finde. Doch bemühe ich mich – so gut ich es eben vermag – wie Meister Holbein um eine klare, direkte Darstellung des Menschen. Die Kunst sollte uns die Geheimnisse des Seins erschließen, anstatt sie noch mehr zu verhüllen.«

»Hattet Ihr in jungen Jahren nicht auch eine Vorliebe für dergleichen Konzetti?«

»Damals entsprachen sie nicht dem Geschmack der Zeit.« Ein Satz aus der Bibel kam mir in den Sinn. Ich zitierte ihn etwas wehmütig. »›Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind, da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.‹ Tja, ich lasse dich jetzt allein, ich habe noch viel zu lesen.« Mit steifen Gliedern raffte ich mich auf, und sofort war er zur Stelle, mir auf die Beine zu helfen.

»Lass das!«, fuhr ich ihn an und zuckte zusammen, als mir ein Stich durch den Rücken fuhr. »Weck mich im Morgengrauen. Und bitte Joan, uns ein herzhaftes Frühstück zu bereiten.«

Ich nahm mir eine Kerze und stieg die Treppe hinauf. Rätsel lagen vor uns, die nicht so leicht zu lösen sein dürften wie das Bild auf den Knöpfen, und ich konnte jede Hilfe gebrauchen, die das ehrliche gedruckte englische Wort mir böte.

Kapitel Drei

Wir brachen im Morgengrauen auf; es war der zweite November, Allerseelen. Nachdem ich den Abend lesend verbracht und gut geschlafen hatte, war ich besserer Stimmung und sogar ein wenig gespannt. Früher war ich ein Schüler der Mönche gewesen, dann aber zum Feind all dessen geworden, wofür sie standen. Und nun war ich in der Position, ihre Geheimnisse und Verderbtheiten zu ergründen.

Ich trieb einen schläfrigen Mark durchs Frühstück und scheuchte ihn hinaus an die frische Luft. Über Nacht war das Wetter umgeschlagen; ein trockener, schneidend kalter Ostwind hatte die schlammigen Pfützen auf der Straße gefrieren lassen. Er trieb uns Tränen in die Augen, als wir aufbrachen, in unsere wärmsten Pelze gehüllt, mit dicken Handschuhen, die Kapuzen unserer Reitmäntel fest um die Gesichter gezurrt. Ich hatte meinen Dolch in den Gürtel gesteckt, den ich normalerweise nur zur Zierde trage; doch heute Morgen hatte ich ihn noch am Küchenwetzstein geschärft. Mark trug sein Schwert, eine zwei Fuß lange Klinge aus Londoner Stahl, rasiermesserscharf, die er sich von den eigenen Ersparnissen für seine Fechtlektionen gekauft hatte.

Um mir das Aufsitzen zu erleichtern, das mir stets Schwierigkeiten bereitet, formte er mit den Händen einen Steigbügel. Er selbst schwang sich auf Redshanks, seinen kräftigen Rotschimmel, und so ritten wir los, die Pferde mit schweren Satteltaschen beladen, die Kleidung und Papiere enthielten. Mark sah immer noch verschlafen drein. Er schob seine Kapuze zurück, kratzte sich den ungekämmten Kopf und stöhnte auf, als der Wind ihm durch die Haare fuhr.

»Beim Blut Gottes, ist das kalt!«

»Du hast dich zu lange in warmen Kanzleien herumgedrückt. So etwas verweichlicht«, sagte ich. »Dein Blut muss wieder dicker werden.«

»Ob es wohl schneien wird, Sir?«

»Hoffentlich nicht. Der Schnee könnte uns Tage kosten.«

Wir ritten durch die erwachende Stadt und auf die London Bridge. Ein Blick über den Fluss zeigte mir jenseits der dräuenden Masse des Towers eine stattliche Ozeanfregatte, die vor der Hundeinsel vertäut lag und deren mächtiger Bug und hohe Masten im Nebel ihre Konturen verloren, wo die graue Flut den grauen Himmel traf. Ich wies Mark darauf hin.

»Ich möchte zu gern wissen, woher das Schiff kommt.«

»Die Menschen segeln heutzutage in Länder, von denen unsere Väter noch nicht einmal träumten.«

»Und kehren mit Wundern beladen wieder.« Der seltsame Vogel fiel mir ein. »Neue Wunder und wohl auch neue Täuschungen.« Wir ritten weiter über die Brücke. Am jenseitigen Ende lag in der Nähe der Pfähle ein zerschmetterter Schädel auf dem Boden. Von den Vögeln bis auf die Knochen abgenagt, war er vom Spieß gefallen, und die Trümmer würden hier liegen, bis Andenkenjäger oder Hexen, die nach Zutaten für ihre Zaubertränke suchten, sie holten. Tags zuvor die beiden Barbaraschädel in Cromwells Kanzlei, und jetzt dieses Relikt irdischer Gerechtigkeit. Böse Vorzeichen, dachte ich unwillkürlich, und schalt mich sogleich einen abergläubischen Hasenfuß.

*

Zunächst war die Straße gen Süden in recht annehmbarem Zustand, führte uns durch die nunmehr braunen, brach liegenden Äcker, die die Hauptstadt mit Nahrung versorgten. Der Wind hatte sich gelegt, der Himmel war jetzt milchig weiß, und das Wetter versprach noch eine Weile zu halten. Nach einem halben Tagesritt hielten wir bei Eltham eine kurze Rast, um zu Mittag zu essen, und bald darauf erreichten wir die North Downs und sahen die Wälder des alten Weald vor uns hingebreitet, ein Meer von kahlen Baumwipfeln, das sich bis zum dunstigen Horizont erstreckte, überzogen mit Sprenkeln von Immergrün.

Der Weg verjüngte sich, erstickte fast in welkem Laub, wälzte sich an bewaldeten Hängen vorbei, über die sich kleine Pfade zu entlegenen Gehöften wanden. Nur selten trafen wir auf Fuhrwerke. Am späten Nachmittag erreichten wir den kleinen Marktflecken Tonbridge und ritten weiter gen Süden. Wir hielten sorgfältig nach Räubern Ausschau, erspähten aber nur ein paar Rehe, die auf einer Lichtung ästen und in den Wald flüchteten, kaum dass sie unser gewahr wurden.