Phoenixfluch - Jennifer Benkau - E-Book

Phoenixfluch E-Book

Jennifer Benkau

4,9

Beschreibung

Ein Fluch, eine grenzenlose Liebe und Magie Seit Jahrzehnten erträgt Samuel seine verfluchte Existenz. Einst hatte er in seiner Verzweiflung dem Werben des Teufels nachgegeben, der ihn in den Selbstmord lockte. Doch der Schicksalsgöttin Moira, die andere Pläne mit Samuel hatte, gelang ein Handel mit Satan und sie schickte Samuel zurück ins Leben. Aber alles hat seinen Preis - einen Preis, den Samuel jeden Tag bezahlen muss. Helena ahnt nicht, wie sehr das zufällige Zusammentreffen mit Samuel ihr Leben verändern wird. Als Nachfahrin einer alten Hexenzunft spürt sie, dass Samuel ihr etwas verheimlicht. Doch so sehr er sich auch sträubt, Helena gibt so schnell nicht auf. Für ihre Liebe zu Samuel ist sie bereit zu kämpfen, auch wenn der Gegner eine unbekannte Größe darstellt.

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Phoenixfluch

Jennifer Benkau

Phoenixfluch

Jennifer Benkau

© 2011 Sieben Verlag, 64372 Ober-Ramstadt

Umschlaggestaltung ©: Andrea Gunschera

Bildmaterial Umschlag: Shutterstock (Olly, Argus)

ISBN Printausgabe: 978-3-941547-11-7

ISBN E-Book: 978-3-941547-61-2

www.sieben-verlag.de

1

Nur wer dunkel ist mit der Nacht, wird mit dem Morgenrot erwachen.

Khalil Gibran, Sämtliche Werke

Helena hatte immer an das Schicksal geglaubt. Dieser halb nackte Mann, der vor ihren Augen das Geländer der Eisenbahnbrücke überkletterte, musste demnach etwas bedeuten. Es war kein Zufall, dass ihre Staffordshire Hündin auf diesen Weg bestanden hatte. Den höheren Mächten sei Dank, war sie Cat vertrauensvoll gefolgt.

„Hallo?“ Noch ehe ihr Verstand so weit war, zu akzeptieren, was der Mann überhaupt vorhatte, wusste sie, dass sie ihn aufhalten musste. „Klettern Sie lieber wieder zurück, es ist reichlich gefährlich, was Sie da machen.“

Wollte er wirklich springen? Eine Böe trieb ihr das Haar ins Gesicht, als sie die Brücke betrat. Wie rote Flammen zuckten die Strähnen vor ihren Augen, die eingeflochtenen Holzperlchen schlugen aneinander und peitschten ihr gegen Kiefer und Kinn. Sie nahm ihre Haare mit einer Hand zurück und hielt sie im Nacken fest. Langsam, die Finger der anderen Hand um Cats Halsband geschlossen, näherte sie sich dem Mann. Die Brücke war schmal, nur für Fußgänger und Radfahrer ausgelegt. In den Fichtenwäldern zu beiden Seiten der Schlucht, die von den Bahngleisen glänzend durchschnitten wurde, rauschten Regen und Wind.

Der Mann löste eine Hand von dem nassen Metallgitter und rieb sich über die Stirn. „Himmel, wo kommen Sie denn her? Ich habe Sie nicht gesehen. Ich dachte, ich sei allein.“

Helena war nun so nah, dass sie sein Gesicht erkennen konnte, solange die dahinjagenden Wolken das Licht des Mondes nicht verschleierten. Er war kaum älter als sie, trug nichts als Boxershorts am Leib und blickte ausgesprochen ungerührt aus der spärlich vorhandenen Wäsche. Jemanden, der kurz davorstand, seine Todessehnsucht in die Tat umzusetzen, hatte sie sich emotional bewegter vorgestellt. Doch dieser Mann schien lediglich ein wenig genervt über die Störung. Ob er Drogen genommen hatte?

Cat gab ein fragendes Winseln von sich.

Helena räusperte sich. „Hören Sie, es macht mich nervös, wenn Sie da rumturnen. Bitte kommen Sie wieder rüber, okay?“

Mist, warum hatte sie kein Handy dabei? Hilfe zu holen könnte einige Zeit dauern, sie waren mitten im Wald. Er würde gewiss nicht warten, bis sie das nächste Haus erreicht und die Polizei gerufen hatte.

Er atmete langgezogen ein und lächelte. „Können Sie mir einen Gefallen tun?“

„Natürlich, sobald Sie …“

„Gehen Sie einfach. Vergessen Sie, dass Sie mich gesehen haben. Ich weiß, Zivilcourage ist wichtig, aber machen Sie in meinem Fall bitte eine Ausnahme. Ich gehöre nicht zu denen, die aufgehalten werden wollen.“

Helena krallte die freie Hand in ihren bodenlangen Rock, was diesen ein Stück anhob. Sein Blick fiel auf ihre nackten Füße und er runzelte die Stirn. Jetzt hielt er sie vermutlich für geisteskrank, weil sie an einem späten Herbstabend barfuß im Wald spazieren ging. Womöglich lenkte ihn das hinreichend ab.

„Kommen Sie.“ Mit dem großen Zeh zog sie Linien in den von Fichtennadeln bedeckten Boden. „Sie wollen da nicht runterspringen.“

„Leider bleibt mir nichts anderes übrig.“

Keine beruhigende Antwort. Was sollte sie tun? In ihrer Kehle bildete sich ein dicker Kloß und ihre Beine begannen zu zittern. Sein Blick war sanft und seine regennasse Haut glänzte im Mondlicht wie mit Silber übergossen, was seine Muskulatur betonte. Sein Oberkörper war bis in die letzte Faser durchtrainiert. So ein Bild von einem Mann beging doch keinen Suizid.

Er seufzte. „Ich möchte wirklich nicht, dass Sie das mit ansehen müssen, also gehen Sie bitte. Und seien Sie vorsichtig, wo Sie hintreten, da hinten liegen Scherben.“

„Danke für den Hinweis.“ Helena trat einen Schritt näher an die Brüstung und legte die Hände darauf. Nun trennte sie nur noch ein knapper Meter von dem Mann. Sie fragte sich, ob sie ihn würde festhalten können. Wohl kaum, er wog bestimmt knapp dreißig Kilo mehr als sie. „Warum hier?“, wollte sie wissen. Vielleicht konnte sie Zeit schinden. Ihn irgendwie zum Reden bringen, bis ihm klar wurde, wie dumm es war, was er zu tun gedachte.

Er lehnte die Unterarme auf die Brüstung, wie sie es tat, nur von der anderen, weit unsicheren Seite des Geländers. Ein Schritt zurück und er würde fallen.

„Warum nicht? Was ist schlecht an diesem Ort?“

Sie warf einen abwertenden Blick nach unten. „Nun, das sieht nicht besonders tief aus, finde ich. Das sind allenfalls sieben oder acht Meter. Möglicherweise überleben Sie den Sturz. Und dann haben Sie wirklich ein Problem, wenn nicht bald der nächste Regionalexpress vorbeikommt. Was in diesem Kaff durchaus bis morgen früh dauern könnte. Wollen Sie die ganze Nacht mit zerschmetterten Knochen im Regen liegen?“

„Das lassen Sie bitte meine Sorge sein.“

„Ich könnte mir schönere Orte zum Sterben vorstellen.“ Reden war nun das einzig Wichtige. Sie musste ihn in ein Gespräch verwickeln.

Er lächelte erneut. „Ach wirklich?“

Nein, er würde jetzt nicht mehr springen. Jemand, der sich selbst töten wollte, würde doch niemals so amüsiert und freundlich lächeln.

„Ja. Das hier“, sie machte eine geringschätzende Handbewegung, „hat doch keinen Stil für ein würdiges Ende. Nehmen Sie doch lieber die Niagarafälle. Oder den Grand Canyon. Oder … oh, die Golden Gate Bridge. Es heißt, in der San Francisco-Bay tummeln sich massenweise Bullenhaie, die sich mörderisch über jeden Springer freuen. Dann wären Sie wenigstens nicht umsonst gestorben.“

Nun lachte er. Ein leises, warmes Lachen, das ihr in jeder anderen Situation im Magen gekribbelt hätte.

„Vermutlich haben Sie recht. Leider habe ich keine Zeit, um in die Staaten zu reisen. Nun, auch wenn ich wirklich gern noch ein wenig plaudern würde … es geht nicht.“ Seine Stimme wurde wieder ernst und kühl. „Und das ist auch besser so. Bitte gehen Sie jetzt.“

Helena rutschte ein Stück in seine Richtung. Cat blieb dicht neben ihr, der Blick der Hündin huschte zwischen Helena und dem Fremden hin und her.

„Sagen Sie mir, was geschehen ist“, bat Helena, so sanft sie konnte. „Warum glauben Sie, keinen Ausweg zu sehen?“ Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus und legte sie auf seinen Handrücken. Ein sichtbares Schaudern huschte seinen Arm entlang und verlor sich auf Höhe seiner Schulter. Sicher der Kälte wegen, es waren kaum zehn Grad und es regnete immer noch. Seine Haut war überraschend warm und sie spürte das leichte Kontrahieren der darunterliegenden Muskeln und Sehnen. Der Regen perlte aus seinen dunklen, kurzen Locken. Die Tropfen liefen ihm wie Tränen über die Wangen und bahnten sich ihren Weg über seinen Körper, um letztlich herunterzufallen. Meterweit in die Tiefe.

Für ein paar Sekunden starrten sie gemeinsam auf ihre Hand. Die Zeit schien stillzustehen, und doch bewegte sich der Sekundenzeiger ihrer Swatch Armbanduhr weiter, Schritt für Schritt. Sie konnte den Hauch eines Tickens hören. Bald war es zehn. Sie hatte diese Uhr schon seit elf Jahren, sie war ein Geschenk ihres Vaters zum dreizehnten Geburtstag gewesen und dementsprechend mädchenhaft mit den rosafarbenen Blumen auf weißem Grund. Peinlich, aber ein Glücksbringer. ‚Wann immer du auf diese Uhr schaust‘, hatte ihr Paps gesagt, ‚es wird genau deine Zeit sein.‘

Absurd, dass sie in diesem Moment daran dachte. Verdrängung der Gegenwart. Oder ein Schock. Hinter ihren Schläfen pochte es.

Seine gereizte Stimme zerstörte den Moment. „Gehen Sie jetzt weg!“

Er wischte ihre Hand fort wie einen Fussel und beendete mit dem Hautkontakt auch jede Hoffnung. Lächeln hin oder her. Er würde springen. Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen.

„Tun Sie’s nicht!“ Sie wollte ihn erneut berühren, doch fand nicht den nötigen Mut. „Egal, was passiert ist, aber bitte geben Sie sich noch Zeit! Kommen Sie mit zu mir, ich wohne ganz in der Nähe. Ich koche Ihnen einen Tee und Sie denken noch mal drüber nach.“ Ein Schluchzen drängte aus ihrer Kehle, aber sie verkniff es sich und wischte sich mit dem nassen Ärmel ihrer Regenjacke über die Nase. „Geben Sie mir eine halbe Stunde, danach können Sie gehen und tun, was immer Sie wollen, solange Sie es mir nur nicht sagen. Kommen Sie, bitte …“

Er kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. „Geh jetzt!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Puls hämmerte sichtbar an seiner Kehle und oberhalb seines Schlüsselbeins und strafte die bisherige Gleichgültigkeit Lügen. Er hatte Angst. „Sofort! Verschwinde, hau ab!“

Helena rückte noch näher, sodass sie direkt vor ihm stand, und umfasste seine Schultern mit beiden Händen. Er zuckte unter ihrem Griff zusammen.

„Sie tun mir das nicht an!“, sagte sie fest. „Was Sie mit Ihrem Leben machen, ist Ihre Entscheidung, aber Sie werden es sich nicht vor meinen Augen nehmen. Ich will niemanden sterben sehen – nicht so.“

Er öffnete die Augen, warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und dann einen langen in ihre Augen. „Geh!“ Mit diesem einen Wort riss er mühelos ihr Kartenhaus aus Beherrschung ein. Die Tränen vermischten sich mit den Regentropfen auf ihren Wangen. „Bitte glaub mir, du kannst mich nicht retten.“

„Aber ich kann’s versuchen.“ Ihre Stimme klang noch höher, als sie es für gewöhnlich tat. Sie verstärkte den Griff um seine Schultern, ihre Fingernägel bohrten sich in seine Haut.

Sein Gesicht verzog sich voller Schmerz. „Es tut mir leid.“

Dann stieß er sich mit aller Kraft von der Brüstung ab.

Seine Arme glitten unter Helenas Händen weg. Sie spürte noch, wie sie ihn kratzte, bei dem verzweifelten Versuch, ihn festzuhalten.

Er fiel.

Helena schrie.

Entsetzt lehnte sie sich weit über das Brückengeländer und sah, wie sein fallender Körper die Konturen verlor, während er in die Dunkelheit eintauchte. Der Aufprall erzeugte ein dumpfes, knirschendes Geräusch und presste zugleich einen letzten, stöhnenden Schmerzlaut aus seiner Kehle.

Sie erkannte seine Umrisse nur noch schemenhaft, aber klar genug, um den unnatürlichen Winkel auszumachen, den sein Rücken bildete. In der Stille, die folgte, stöhnten und ächzten nur noch die Bäume im Wind. Nach einer Weile begann Cat zu winseln.

Als Helenas Denken wieder einsetzte, rannte sie von der Brücke und versuchte, seitlich die Böschung hinunterzuklettern. Doch es war zu steil, die nasse Erde zu rutschig, um nach unten zu gelangen, ohne selbst zu stürzen. Sie musste Hilfe holen. Mit hochgerafftem Rock lief sie los, darauf hoffend, sich in ihrer Panik nicht noch zu verlaufen. Cat blieb dicht an ihrer Seite, ihr Hecheln war der einzige Fixpunkt im Chaos.

Auf dem nassen Erdboden geriet sie mehr als einmal ins Rutschen. Spitze Steine und Stöcke stachen ihr in die Sohlen, sie stolperte über Wurzeln, auf die sie nicht achtete. Nach wenigen Minuten bluteten ihre Füße, ihre Lungen brannten und über ihr Gesicht liefen heiße Tränen. Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen.

Wut machte sich breit.

Dieser Dreckskerl!

Warum hatte er gerade heute an gerade dieser Stelle sein verdammtes Leben beenden müssen? Wieso hatte er nicht auf sie gehört? Warum hatte sie ihn nicht festhalten können? Wenn sie doch nur nach seinen Händen gegriffen hätte. Wenn sie etwas anderes gesagt hätte. Etwas Verständnisvolles, statt bemüht lässiger Sprüche.

Warum war sie hergezogen und warum hatte sie ausgerechnet heute diesen Weg entlanggehen müssen!

Am ersten Haus klingelte sie Sturm, keuchend vor Anstrengung und Fassungslosigkeit, und wie betäubt von dem Unwillen, zu glauben, was sich soeben abgespielt hatte.

Stunden später saß Helena immer noch auf dem Polizeirevier. Unruhig trommelte sie mit Zeige- und Mittelfinger auf ihrer Unterlippe herum. Cat lag mit geschlossenen Augen über ihren Füßen, doch sie schlief nicht, ihr Körper war angespannt. Helenas Hinterteil schmerzte von dem unbequemen Plastikstuhl. Das hysterische Beben hatte irgendwann nachgelassen und war zu einem fröstelnden Zittern geworden. In dem Verhörzimmer lag Kälte sowie ein übler Gestank nach Putzmitteln und dem billigen Linoleum auf dem Boden. Jedes Wort hallte übertrieben laut, denn der Raum war bis auf einen Schreibtisch und ein paar Stühle leer. Zumindest sorgte man dafür, dass ihre Teetasse immer voll war. Pflaster und Desinfektionsmittel hatte man ihr auch gebracht. Vermutlich, weil jeder der anwesenden Polizisten einmal einen Blick auf die zierliche Rothaarige mit dem Kampfhund, den blutigen Füßen und den Halluzinationen vom halb nackten Selbstmörder werfen wollte.

„Noch mal, Frau Sanders.“ Kommissar Wassen raufte sich das lichte Haar. „Die Kollegen haben keine Hinweise auf einen Suizidversuch finden können. Keine Leiche, kein Blut. Nicht mal Abdrücke im Boden. Was auch immer Sie gesehen haben, von besagter Brücke hat sich niemand gestürzt. Absolut ausgeschlossen.“

Helena stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Stirn auf den Fäusten ab. „Aber er war da. Ich sah ihn fallen, hörte den Aufschlag und …“

„Hören Sie, möglicherweise hat Ihnen Ihre Fantasie einen Streich gespielt. Überdenken Sie bitte diese Möglichkeit. Wenn Sie darauf bestehen, dass dort tatsächlich jemand versucht hat, sich das Leben zu nehmen – ohne die geringste Spur zu hinterlassen – sind wir nachher noch gezwungen, ihr Blut auf illegale Substanzen zu untersuchen. Ich bin ganz ehrlich, Frau Sanders, ein paar der Kollegen können nicht nachvollziehen, warum ich das nicht längst veranlasst habe.“

Das war mal wieder typisch. Eine erwachsene Frau, barfuß, und mit ein paar ins Haar eingeflochtenen Perlen in den Farben Jamaicas. Das schrie ja nahezu nach Marihuana.

„Ich nehme keine Drogen“, erwiderte sie schwach. „Sind Sie sicher, dass Sie nichts gefunden haben? Was ist mit dem Seesack, den Ihr Kollege eben erwähnte?“

Der Polizist winkte ab. „Nur Kleidung, eine kleine Flasche Cola, Nugatschokolade und Aspirin. Das wird irgendjemand dort verloren haben.“

„Klar. Irgendjemand, der halb nackt von der Brücke gesprungen ist, zum Beispiel.“

Kommissar Wassen kratzte mit den Fingernägeln über die Tischplatte. „Sie bestehen also darauf, dass sich dort jemand heruntergestürzt hat.“ Es war keine Frage.

„Das tue ich, denn so war es. Genau so! Und wenn er nicht mehr da ist, dann muss er schwer verletzt irgendwo liegen. Oder Sie und Ihre Jungs haben die falsche Stelle durchkämmt. Sie sollten jetzt verdammt noch mal weiter nach ihm suchen, statt mich hier länger festzuhalten und mit ihren suggestiven Fragen in den Wahnsinn zu treiben!“

Der Polizist erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. „Andi!“, rief er über den Korridor. „Frau Sanders besteht auf ihren Drogentest.“

Helena vergrub das Gesicht in den Händen. Der erste Tag in einer neuen Stadt, von der sie sich die Erfüllung ein paar bescheidener Träume versprochen hatte, und er endete in einem Albtraum.

2

He’s a real nowhere man,sitting in his Nowhere Land,making all his nowhere plansfor nobody.

The Beatles, Nowhere Man

Zuerst kehrte immer das Bewusstsein zurück. Körperlos, aber nicht losgelöst. Von gar nichts. Da war zunächst nur das Wissen, dass er da war, dass er es ein weiteres Mal überstanden hatte. Dann kamen die Gedanken.

Überlebt.

Wenn es möglich gewesen wäre und ihm nicht höllische Schmerzen bevorstünden, hätte er gegrinst. Mal wieder den Tod überlebt. Wenn das kein Grund zur Freude war. Halleluja.

Eine weitere Nacht hatte er den Nebelfingern widerstanden, die ihn verführerisch lockten, und da er nicht nachgab, zu Klauen wurden, die an seiner Seele rissen. Er hatte sich geschworen, dass sie ihn nicht bekommen würden. Nie wieder. Ein einziges Mal war er der Versuchung erlegen, und die Folgen würden ihn durch die Ewigkeit begleiten.

Auch wenn er sich nach all den Jahren noch immer nicht zu erklären vermochte, wie es möglich sein konnte, so kehrten die Empfindungen stets zurück, noch ehe sein Körper sich materialisiert hatte. Er spürte sich selbst, all seine verbrannten, windverstreuten Moleküle, wie sie über den Boden krochen. Wie sie einander suchten und sich fanden. Die Fusion seiner Überreste war so faszinierend, wie sie ihn anwiderte.

Asche, die einen Körper formte. Blut und kalter Schweiß entstanden und durchtränkten das trockene Grau, verwandelten es in Fleisch und Knochen, Haut und Haar. Er wurde zu der perfekten Nachbildung eines Menschen. Womöglich war er sogar noch einer.

Wenn er am Abend verbrannte, hatte seine Seele ihn längst verlassen und er spürte den Schmerz nicht. Nicht diesen. Schön war es nicht, aus einiger Entfernung durch eine Art geisterhaften Nebel zusehen zu müssen, wie sein Körper Nacht für Nacht vernichtet wurde, doch zumindest tat es nicht weh. Der Morgen war nicht so barmherzig. Er brachte keine Flammen, dafür jedoch deren höllisches Brennen.

Sobald er auferstand, glaubte er, jede Stelle spüren zu können, die der Fluch acht Stunden zuvor zerstört hatte. Jeder Riss in jedem Knochen und jedes Stück verletzte Haut forderte seinen Tribut, was bedeutete, dass es keine Zelle seines Körpers gab, die nicht schmerzte, denn der Abend verbrannte seinen Körper zu feinstem Staub und zerstreute ihn, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er sollte dankbar sein, dass seine Stimme immer zuletzt zu ihm zurückkam, denn ansonsten hätte er geheult und geschrien wie ein Kleinkind.

Es verging eine schier endlose Zeit, ehe sich auch die dünne Haut seiner Lider regeneriert hatte und er die Augen öffnen konnte.

Blätter, Laub und kleine Ästchen.

Verdammt, er war ein solcher Idiot.

Er lag zusammengerollt unter einem Haselnussstrauch und die kühle Nässe des Waldbodens kämpfte auf seiner nackten Haut verbittert gegen das Brennen der Wiedergeburt an. Stöhnend drückte er das schmerzende Gesicht in sein Lager aus Laub und verfluchte sich selbst, als hätte er von Flüchen noch immer nicht genug. Erde knirschte zwischen seinen Zähnen und schmeckte nach Asche.

Seine Tasche war fort. Fantastisch. Ihm entwich ein Laut, der als zynisches Schnauben angesetzt war, jedoch eher klang wie ein Tier in den letzten Zügen. Ein seiner Würde beraubtes Tier in den letzten Zügen, korrigierte er sich. Warum hatte er es nicht schnell und sauber in seinem Haus erledigt, so wie er es fast immer tat? Der Hang zur Theatralik, der ihn manchmal überkam, würde irgendwann erneut eine Katastrophe heraufbeschwören. Einen weiteren Menschen ins Unglück zu stürzen, war das Letzte, was er wollte, doch vermutlich das Nächste, das er tun würde.

Die Gedanken verließen seinen Körper in dem Maße, wie die Kraft langsam zurückkehrte. Sie flatterten acht Stunden zurück und entblößten zaghaft Bilder, die er lieber vergessen, oder noch besser, nie gesehen hätte. Das Mädchen. Die junge Frau und ihr Versuch, die Angst mit morbidem Humor zu maskieren, ließ ihn erst lächeln und im nächsten Moment schmerzvoll die Lippen zusammenpressen. Mühsam bewegte er den Arm und berührte seinen Handrücken. Doch seine Hand war rau, kalt und nass. Da war nichts von der sanften, langsam feucht werdenden Wärme, die ihm ihre Berührung am Abend zuvor gegeben hatte.

Ihre Nähe war auf schreckliche Weise tröstlich gewesen. Er schämte sich für das Gefühl weit mehr als für die Tatsache, dass er nackt und hilflos – und darüber hinaus verflucht für die Ewigkeit – im Dreck lag.

Sie hatte Angst gehabt. Angst um ihn, zum Teufel noch mal. Und er hatte ihre Nähe genossen. Was war er nur für ein egoistischer Bastard. Er schnaubte, und diesmal klang der Laut zynisch. Vermutlich war es unter seinen Umständen nur eine Frage der Zeit, bis man alle Welt mitreißen wollte, um nicht allein zur Hölle fahren zu müssen. Er schloss die Augen und wartete die quälenden Minuten ab, bis sein Körper in der Lage war, aufzustehen. Der Moment würde eher kommen, als ihm lieb war. Im nächsten Haus am Waldrand würde er in den Wäschekeller einbrechen müssen, um Kleidung zu stehlen. Sich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaften zu lassen, kam nicht infrage.

Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen schwor er sich, es in Zukunft nur noch zu Hause zu tun. Mit seiner Beretta. Ohne Wind und Regen auf der Haut, der sich mit viel gutem Willen anfühlte, als würde jemand seinen Tod betrauern. Ohne den an Friedhöfe erinnernden Duft der Kiefern und Fichten in der Nase. Ohne den Strom von Adrenalin in den Adern, der eine Lebendigkeit vorgaukelte, die zu verspotten das einzig Vernünftige wäre, und trotzdem nicht infrage kam. Ganz sicher aber ohne die fassungslosen, tröstlichen Blicke aus den petrolgrünen Augen barfüßiger Frauen.

Schon seit Langem war ein gewisses Maß an Verzweiflung vonnöten, um die Dinge zu tun, die ihm noch etwas gaben. Der kurze Moment vor dem Tod zählte dazu, denn er erfüllte ihn wider besseres Wissen jedes Mal aufs Neue mit einem Schwall Angst, die den leeren Teil seiner Seele ausfüllte und ihn für diesen Bruchteil einer Sekunde vergessen ließ, dass er nicht vollständig war.

Er rief sich zur Vernunft. Geschehnisse wie am gestrigen Abend durften nicht mehr passieren, denn durch Leichtsinn wie diesen hatte er schon viele mitgerissen. Zu viele.

Als wüsste er es selbst nicht gut genug, drängten sich die Erinnerungen siedend heiß durch jede Windung seines Gehirns. Es war gar nicht mal so lange her.

Hannover, Dezember 1970

Sein Arm lag um Andreas Schultern, um sie, so gut es ihm möglich war, vor dem eisigen Wind zu schützen, der spätes Herbstlaub den überfrorenen Gehsteig entlangwehte und ihren Mantel aufbauschte. Mit der freien Hand umfasste er ihre Finger und warf einen kurzen Blick auf die goldene Uhr an ihrem Handgelenk. Kurz vor neun, es blieb noch ein wenig Zeit.

„Das Essen war wirklich wunderbar“, sagte sie behaglich und lehnte ihre Wange gegen seine Brust. „Und der Abend könnte noch so viel schöner enden, wenn du …“

Er lächelte sie an und stupste mit dem Finger gegen ihre Nase. „Du hast es mir versprochen, Süße. Keine Diskussionen. Du verbringst die Nächte in deinem Bett. Ich in meinem.“

„Ja, ja, ich weiß.“

Sie schmollte und schürzte auf entzückende Weise ihre Lippen, die so voll und weich waren und ihn damit so schmerzhaft an ihre Brüste erinnerte, dass er sie einfach küssen musste, und zwar jetzt und hier. Er zog sie fordernd an sich, schmeckte ihren Mund und genoss den Hauch von Afri-Cola auf ihrer Zunge. Alles hätte er getan, um diese Nacht bei ihr bleiben zu dürfen. Sie seufzte leise in seinen Kuss hinein, ein Geräusch, das sein ganz persönliches Höllenfeuer eine gute Stunde zu früh in seinem Magen entzündete.

Er drängte die Gedanken zurück und Andrea gegen die kalte Backsteinwand. Direkt an das blutrote Peace-Zeichen, das jemand dorthin gesprüht hatte.

„Ich verstehe dich nicht, Samuel“, hauchte sie. Er spürte ihre Enttäuschung ebenso sehr wie ihre Erregung. „Man könnte meinen, dich erwartet eine Ehefrau zu Hause.“

Nicht ganz. „Es gibt keine andere Frau, bitte glaub mir das.“

„Beweise es mir! Bleib über Nacht. Oder nur endlich ein wenig länger. Morgen zeigen sie den ersten Teil dieser neuen Krimireihe im Fernsehen. Tatort. Alle wollen das schauen. Lass es uns zusammen ansehen, Samuel.“

Er biss die Zähne zusammen. „So viel ist dir also dein Versprechen wert? Keine zwei Monate sind vergangen und schon reicht es dir nicht mehr, die Tage mit mir zu verbringen?“

Andrea wurde ungeduldig. „Was haben wir schon von den Tagen? Du arbeitest bis vier oder fünf, hast danach ein paar wenige Stunden für mich und lässt mich wieder allein. Ist es so schwer zu verstehen, dass eine Frau sich nach mehr sehnt? Mein Gott, Samuel, wir müssen nicht gleich heiraten, aber so … so kann ich das nicht mehr!“

Er griff sich wie nach Halt suchend in den Nacken. Wenn er ihr nur hätte sagen können, warum er ihr nicht geben konnte, wonach er sich ebenso sehnte. „Gib mir ein paar Tage, Andrea“, bat er und suchte erneut mit seinen Lippen die ihren.

Resigniert seufzte sie und verwandelte seinen zärtlichen Kuss in einen voller Forderung und Verlangen.

Vom Markt her schlug die Kirchturmuhr die neunte Stunde an. Jede einzelne schwebte, von einem tiefen Klang symbolisiert, an ihnen vorbei die Straße entlang. Vier Schläge, fünf, sechs … Jeder Schlag machte ihm schmerzhaft bewusst, dass seine letzte Stunde anbrach. Dass mal wieder sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Von denen gab es reichlich in seinem Leben. Sieben Schläge, acht …

Er summte die Melodie des Westernfilms, den sie neulich im Kino in einer Sonntag-Nachmittagsvorstellung angesehen hatten, an ihre Haut und sie kicherte.

Neun Schläge.

Und dann ein Zehnter.

Nein! Er fuhr herum. „Andrea, wie spät ist es?“

Sie brauchte ihm nicht zu antworten. Als der graublaue Opel Admiral mit quietschenden Reifen um die Kurve geschlittert kam, wusste er, dass es zu spät war. Das Heck schleuderte auf der vereisten Fahrbahn herum, wie der Schwanz einer aufgebrachten Klapperschlange.

Seinetwegen.

Er stieß Andrea zur Seite, doch in Panik krallte sie sich an seinem Arm fest, trieb ihre Nägel in seine Handfläche und schrie auf. Ihre Augen, die so graublau wie der Wagen waren, weiteten sich vor Entsetzen. Ein zweiter, grober Stoß warf sie auf die Knie, keinen Meter von ihm entfernt. Er wollte zur Seite weichen, um sie zu retten, denn der Wagen würde ihm folgen, doch ihm blieb keine Zeit. Ein gewaltiger Schlag schmetterte ihn gegen die Wand. Knochen und Metall knirschten. Der Wagen presste ihn hüftabwärts gegen das Gemäuer. Dort, wo der Kotflügel seine Beine zerquetschte und scharfkantiges Metall sein Fleisch zerschnitt, fühlte er Kälte und heißes Blut. Ein bisschen Schmerz. Nachlassend, sein Unterleib und seine Beine wurden bereits taub. Es ging immer schnell für ihn. Nur selten tat es weh. Er konnte Andrea nicht mehr sehen. Dort, wo sie am Boden gekauert hatte, war jetzt das Heck des Wagens. Ein paar Blutspritzer über dem Peace-Zeichen machten ihm klar, dass Andrea dennoch nicht weit war. Entsetzen, Trauer und Schuld versanken in Finsternis. Sein Oberkörper sank langsam, fast gemächlich auf die Motorhaube nieder. Wärme, ja … Wärme. Sein Blick verschwamm. Er sah noch einen Moment in die Augen des Autofahrers, dessen Kopf friedlich auf dem Lenkrad ruhte. Der Blick war leer, nichts als Resignation, weil es vorbei war.

Auch für ihn war es wieder einmal vorbei. Doch im Gegensatz zu Andrea und dem armen Kerl hinter dem Steuer würde er in acht Stunden erneut hier sein. Nackt, von Schmerzen gequält, die nicht annähernd ausreichen würden, seinen Fehler zu sühnen. Wissend, dass er durch seinen Fluch und seine Schuld seine Geliebte getötet hatte.

Und dann starb er endlich. Vorerst.

3

Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt,der wird nie die Wahrheit erobern.

Friedrich Schiller

Helena war erleichtert, als ihr erster Arbeitstag begann. Endlich sollte ihr nicht mehr die Zeit bleiben, über den mysteriösen Selbstmörder zu grübeln, wie sie es die letzten Tage immerzu getan hatte. Die Nächte waren noch schlimmer gewesen. Sie hatte sich beobachtet gefühlt, als schlichen im Schutz der Dunkelheit gestaltlose Geister um ihr Haus. Als hätten die Schuldgefühle und das Wissen, einen Fehler gemacht zu haben, ein Eigenleben entwickelt und beobachteten sie nun. Ohne ein Antlitz, dafür aus schwarzen, leeren Augen.

Ihr Job versprach ein wenig Ablenkung. Zumindest erhoffte sie sich das, während sie auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle war, dem Notenhaus in Freiburg. Den Job und den damit zusammenhängenden Umzug hatte sie Cat zu verdanken. Sie hatte Toni Samucca, den Inhaber des Notenhauses, kennengelernt, da er eine Pflegestelle für Tiere unterhielt. Er hatte ihr die milchkaffeebraune Staffordshire Hündin vermittelt und bei der Gelegenheit erwähnt, dass er eine Verkäuferin für sein Musikgeschäft suchte. Helena war es wie ein Wink des Schicksals erschienen, sie hatte sofort zugesagt. Spontaneität gehörte zu ihrem Leben wie Pfefferminztee und die Musik der Beatles, daher war sie ohne Zögern von Mainz nach Denzlingen gezogen. Nah genug, um wegen des Benzinverbrauchs kein allzu schlechtes Gewissen zu bekommen, und weit genug von der Großstadt entfernt, um ein preiswertes Dreizimmerhaus am Waldrand zur Miete zu finden. Sie hatte ihr winziges Hexenhäuschen vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Viele altmodische Fotografien des Vorbesitzers hingen noch an den Wänden und fügten sich stimmig in Helenas Mobiliar ein, das im Kolonialstil gehalten war. Nur die Jagdtrophäen hatte sie im Keller untergebracht, und die zurückgebliebenen Schatten an den Tapeten hinter Wandlampen aus mattem Scavo-Glas versteckt.

Cat liebte den Garten, der ohne einen Zaun direkt in den Wald überging.

Der Oktobermorgen war frisch, aber sonnig, und die Stadt zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Bunt getünchte Fassaden gepflegter Altbauten leuchteten im Morgenlicht und die über die Kopfsteinpflasterstraßen spazierenden Menschen schienen von Eile noch nie etwas gehört zu haben.

Das Notenhaus lag abseits der historisch gehaltenen Altstadt, nahe dem Markplatz, mit seinem auffällig zinnoberrot gestrichenen Historischen Kaufhaus, in einer Einbahnstraße. Am Straßenrand fanden sich die für die Stadt bezeichnenden Wasserrinnen, die Freiburger Bächle. Der Bau entstammte dem frühen 19. Jahrhundert und gab durch ein Relief oberhalb der bogenförmigen Tür zu erkennen, dass er einst als Post gedient hatte.

Helena parkte eine Straße weiter und schlenderte mit der angeleinten Cat zurück. Vor dem Eingang verharrte sie und bewunderte die torbogenähnlichen Schaufenster, hinter denen antike Geigen, eine Harfe und zwei moderne E-Gitarren so selbstverständlich nebeneinander auf dickem Samt arrangiert waren, als würden die dazugehörigen Musiker gleich um die Ecke kommen, die Instrumente aufheben und gemeinsam loslegen. Dass sie nicht zusammen harmonierten, schien undenkbar.

Sie öffnete die Glastür und trat ein, von einem Glockenspiel begrüßt. Sogleich kam ihr eine schwarz gelockte Verkäuferin entgegen. Die Frau war schätzungsweise Ende zwanzig, ignorierte Helenas Lächeln und stieß stattdessen ein euphorisches „Süße!“ aus. Sie ging in die Knie und streichelte Cat, die sich bereits in eindeutiger kraul-mich-Pose auf den Rücken geworfen hatte.

Für einen Moment stand Helena ratlos daneben und kam sich überflüssig vor, während die Schwarzhaarige ausgiebig den Hund begrüßte. Offenbar kannte man sich bereits. Endlich räusperte sich die Frau, richtete sich auf und reichte Helena die Hand.

„Entschuldige“, lächelte sie verschämt. „Aber ich kenne Cat noch aus der Zeit, als Toni sie hatte, und hab mich so gefreut, sie wiederzusehen. Wie unhöflich von mir, dich nicht erst mal willkommen zu heißen. Ich bin Steffi, Stefanie Maler. Wir duzen uns hier aber alle, ich hoffe, das ist okay für dich?“ Eine Antwort wurde nicht erwartet, denn Steffi ließ Helena nicht zu Wort kommen. „Toni hat schon einiges von dir erzählt, du heißt Helena und kommst aus Mainz, richtig? Und wohnst ganz allein direkt am Waldrand. Ist ja ganz schön unheimlich, wie ich finde. Na ja, du hast ja den Hund. Oh Gott, und was für einen. Da wagt sich sicher kein Einbrecher in die Nähe deines Hauses.“

Helena ließ einen Schwall von Fragen und Kommentaren auf sich herabregnen, lächelte oder nickte hier und da, und war froh, dass Steffi die komplette Konversation an sich riss. Sie war nicht schüchtern, brauchte in fremder Umgebung jedoch meist eine gewisse Aufwärmzeit. Steffis herzliche, redselige Art mochte sie vom ersten Moment an, und die Sorge, sich vor verschlossenen Kolleginnen beweisen zu müssen, die nach vorne lächelten und hintenherum tratschten, löste sich in Wohlgefallen auf.

„Stimmt es, dass du einmal deinen Geburtstag im Knast verbracht hast?“, unterbrach Steffi ihre Gedanken, nachdem sie dem unverfänglichen Smalltalk nach wenigen Minuten genüge getan hatte.

Helenas spürte, wie ihr Gesicht die Farbe reifer Himbeeren annahm. „Toni hat nicht wirklich viel für sich behalten, oder?“

„Gewöhn dich dran“, gab Steffi ungerührt zurück. „Er ist ein Schatz, und gleichzeitig die größte Klatschbase, die du dir vorstellen kannst. Aber Ablenkungsmanöver ziehen bei mir nicht. Ist was dran?“

„Ich bin zwanzig geworden, als ich mich für zwei Tage in Untersuchungshaft befand, ja.“ Die Erinnerung ließ Helena schmunzeln. „Aber meine Eltern saßen zum Glück ebenfalls ein und die Angestellten der JVA waren so nett, uns mit Torte zu versorgen. Wir waren damals wegen einer Demo gegen die Bedingungen der Wildtierhaltung in Zirkussen eingebuchtet. Diese lief aus dem Ruder und endete damit, dass ein verstörter Elefant durch Stuttgart rannte, besprüht mit der Parole ‚Free Willy’.“

Steffis Mund klappte auf.

„Womit wir aber nichts zu tun hatten, ehrlich“, fügte Helena rasch hinzu. „Aber wie heißt es? Mitgehangen – mitgefangen. Ich habe seitdem in so ziemlich jedem deutschen Zirkus Hausverbot.“

„Zeltverbot trifft es da wohl eher. Ist das cool!“ Steffi lachte schallend. „Und was ist mit deiner Mutter? Toni sagt, sie sei eine Hexe.“

Helena entwich ein Stöhnen. „Wenn sie eine wäre, würde ich sie anrufen und darum bitten, dass sie Toni in eine Kröte verwandelt. Und zwar in eine stumme Kröte! Nein, sie ist keine Hexe. Sie fliegt nicht auf einem Besen um den Blocksberg und hat weder Buckel noch eine schwarze Katze. Auch keine Warze auf der Nase.“ Theatralisch rollte sie mit den Augen. „Sie bezeichnet sich als moderne Wicca, aber das ist viel harmloser, als es sich anhört. Sie macht nicht viel mehr, als Tarotkarten zu legen, mit Engeln zu sprechen, und hin und wieder zieht sie sich nackt aus und umarmt Bäume. Soll das Karma stärken und die Seele erden. Was weiß ich.“

„Soll ich dir mal was sagen? Du hast offenbar eine verdammt coole Mutter, Süße! Machst du so was auch? Mit Karten die Zukunft orakeln?“

„Definitiv nicht, nein.“ Helena verkniff sich das Grinsen. Sie hatte nicht gelogen, allerdings auch nicht die volle Wahrheit gesagt. Doch sie würde eher nackt mit Bäumen kuscheln, ehe sie Steffi von dem Beutelchen voller alter Knochen erzählte, mit deren Hilfe sie sich damals hin und wieder Tipps für die Zukunft geholt hatte. Das war ohnehin Vergangenheit.

Steffi zeigte ihr das Geschäft bis in den hintersten Winkel und wurde nicht müde, lustige Anekdoten zu erzählen. Nach fünfzehn Minuten hatte Helena das Gefühl, die Stammkundschaft bereits in- und auswendig zu kennen, dabei hatte noch kein einziger den Laden betreten. Cat hatte sich unter einem Regal mit etlichen Keyboards zusammengerollt und schnarchte.

„Das Büro und der Pausenraum sind im ersten Stock“, erklärte Steffi abschließend und wies auf die schiefe Holztreppe, die hinter dem Kassenbereich nach oben führte. „Das zeigen wir dir später, ich möchte den Laden nicht unbeaufsichtigt lassen. Hinter der Tür da hinten findest du die Teeküche und im Keller liegt außerdem der Lagerraum für Tonis persönliche Schätzchen.“

„Er hat mir erzählt, dass er mit antiken Instrumenten handelt“, meinte Helena. „Ich hatte mich schon gefragt, wo die wohl sind.“

Steffi verdrehte die Augen und lächelte gutmütig. „Die hält er gut versteckt. Der Raum ist immer abgeschlossen, wenn er nicht im Haus ist. Er hat einen echten Spleen und lässt niemanden von uns an seine Kostbarkeiten, seitdem eine Verkäuferin mal eine Harfe aus dem 16. Jahrhundert für etwa zehn Prozent des Listenpreises verkauft hat. Sie war hinterher noch ziemlich stolz darauf, das olle Ding losgeworden zu sein und konnte die überschwängliche Freude des Käufers nicht ganz nachvollziehen. Toni ist fast in Ohnmacht gefallen, als sie es ihm erzählte. Seitdem sind jene ollen Dinger allein Chefsache.“

Helena konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Kann ich mir vorstellen. Er hat bestimmt getobt.“

Steffi wiegte den Kopf hin und her. „Eher geheult.“

„Hat er die Verkäuferin gefeuert?“

„Bis heute nicht, aber er wundert sich noch immer, warum er es nicht getan hat.“ Steffi zwinkerte schelmisch. Dann klatschte sie in die Hände. „So, aber jetzt genug von dem Geschwätz. Wir bekommen im Laufe des Vormittags ein halbes Dutzend Akustikgitarren im höheren Preissegment, für die sollten wir ein bisschen Platz schaffen. Gegen Mittag kommen erfahrungsgemäß die Familien mit Kindern. Das Schuljahr hat angefangen und damit auch etliche Musikkurse für Knirpse, die mit Blockflöten, Klanghölzern und Notenständern ausgestattet werden wollen. Da kannst du direkt ins kalte Wasser springen und zeigen, was du draufhast. Wer ein Klavier verkauft, wird Mitarbeiter des Monats. Das bedeutet Ruhm, Ehre und einen zusammengeschmolzenen Schokoladen-Osterhasen gratis, also streng dich an!“

Der Vormittag verging wie im Flug und Helenas erste Verkäufe verliefen weit besser, als sie vermutet hätte - auch wenn zu ihrem Bedauern kein Klavier über die Theke ging. Toni, ein früh ergrauter, aber dadurch nicht weniger attraktiver Italiener Ende vierzig, erschien gegen Mittag, begrüßte Helena herzlich und Cat, als wäre sie sein lang vermisstes Kind. Er scheuchte die beiden Frauen und den Hund zur Mittagspause für einen Spaziergang nach draußen und Steffi zeigte Helena die nähere Umgebung, sowie eine kleine Parkanlage, in der Cat zwar angeleint bleiben musste, aber zumindest auf ein paar Artgenossen zum Beschnüffeln traf.

Anschließend setzten sie sich in ein Straßencafé, tranken Cappuccino, fütterten den Hund mit Amarettini und genossen die letzten warmen Strahlen der Herbstsonne. Helena fühlte sich wohl in Gesellschaft ihrer gesprächigen und unkomplizierten Kollegin und wagte im Stillen die Hoffnung, vielleicht sogar eine neue Freundin gefunden zu haben.

Als es Zeit war, zu zahlen und zum Notenhaus zurückzugehen, fiepte Steffis Handy. Sie überflog die SMS und prompt färbten sich ihre Wangen rot.

„Hast du Lust auf ein Event am Freitag?“, fragte sie.

Ihr erwartungsvoller Blick aus blauen Augen machte klar, dass eine Absage einer Beleidigung gleichgekommen wäre. Helena zögerte und rollte eine gelbe Holzperle, die am Ende einer geflochtenen Haarsträhne befestigt war, zwischen den Fingern hin und her.

„Event? Was heißt das genau? Ich mag vielleicht so aussehen, aber ich bin eigentlich kein Partymensch. Mit stickigen Diskotheken kann ich nicht so viel anfangen.“

„Oh, das wird genau dein Ding sein!“, entschied Steffi und grinste von einem Ohr zum anderen, während sie den Kellner heranwinkte. „Ich schwöre dir, eine solche Feier hast du noch nicht erlebt.“

Helena wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Als man ihr das letzte Mal Derartiges versprochen hatte, war es auf eine Schaumparty hinausgelaufen. In dem Schaum hatte sie prompt hyperventiliert, weil sie Angst bekam, darin zu ersticken. Der Abend hatte damit geendet, dass sie sich unter dem Handtrockner im Damenklo die Haare föhnte, und noch Tage später hatte ein Ausschlag von dem aggressiven Schaum ihre Haut überzogen. Events aller Art trugen spätestens seit diesem Tag den Stempel ‚nicht Helenas Geschmack’. Andererseits wollte sie Steffi auch nicht abweisen.

„Hör zu“, murmelte ihre Kollegin verschwörerisch und strich sich die langen, schwarzen Locken hinter die vor Vorfreude glühenden Ohren. „Diese Partys sind der Hammer! Nur geladene Gäste bekommen Ort und Zeit genannt. Meist finden sie mitten in der Pampa statt, auf einer Waldlichtung oder irgendeiner Kuhweide. Immer Open Air und nie angemeldet. Angeblich kam einmal sogar ein mit der Mistgabel bewaffneter Bauer, um der Feier ein Ende zu bereiten. Man hat ihn dann mit reichlich Alkohol besänftigt.“ Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Das ist alles total geheimnisvoll. Niemand weiß, wer die Organisatoren sind oder woher sie kommen. Innerhalb von wenigen Stunden bauen sie eine Bühne auf, ziehen eine Show ab, die du niemals vergessen wirst, und verschwinden wieder. Die Musik ist eine Art Mittelalter-Rock, und alle kommen in authentischer Gewandung.“

Helena horchte auf. „Klingt archaisch und scheint tatsächlich mal was anderes zu sein.“

„Absolut. Also kommst du mit? Los, sag ja!“

„Na gut, überzeugt“, stimmte Helena zu und Steffi hüpfte auf ihrem Stuhl vor Freude auf und ab.

„Aber was Gewandung betrifft, muss ich passen“, fügte Helena hinzu. „Vielleicht kann ich improvisieren.“

Steffi winkte ab. „Damit sie uns gleich wieder fortjagen? Vergiss es, das muss schon authentisch sein.“ Sie maß Helenas Körper kritisch mit ihrem Blick ab und nickte selbstzufrieden. „Ich hol dich ab und bringe etwas mit. Ich hab ein Kleid, das mir schon eine Weile nicht mehr passt. Für dich dürres Gestell müsste es perfekt sein.“

Die erste Woche verlief genauso gut, wie sie begonnen hatte. Bis auf das eigentümliche Gefühl, in den Nächten beobachtet zu werden, und ein paar mehr als wirren Träumen, fühlte Helena sich pudelwohl in ihrem neuen Zuhause. Die Unruhe unterdrückte sie, so gut sie es konnte. Vermutlich war sie darauf zurückzuführen, dass sie zum ersten Mal völlig allein wohnte. Sie war noch zu sehr an das Leben in der Familie und in einer WG gewöhnt. Der Umzug in ein frei stehendes Haus, in dem es nur sie und den Hund gab, war schon eine Umstellung, und verbunden mit ihrem Erlebnis am ersten Abend in dieser Gegend, rechtfertigte dies wohl auch die Nervosität.

Tagsüber vergaß sie über ihren Job die Sorgen der Nächte. Nach wenigen Tagen fand Helena sich bereits blind im Notenhaus zurecht. Mit den Kunden hatte sie keine Probleme und so stand sie bereits am Freitag den ersten Nachmittag allein im Laden, während Steffi ihren freien Tag genoss und Toni sich nach eigenen Angaben beim Steuerberater langweilen musste.

Helena half einem Rentnerpaar bei der Auswahl einer Anfängergitarre und demonstrierte die unterschiedlichen Klangeigenschaften zweier Modelle, als die Tür unter leisem Bimmeln des Glockenspiels aufging. Das Erste, was Helena wahrnahm, war die seltsame Reaktion ihres Hundes. Cat schoss in die Höhe, winselte und blieb mit gesträubtem Nackenfell auf ihrer Decke neben der Theke stehen. Ihr Blick fokussierte den Eintretenden, huschte dann für einen Moment verunsichert zu Helena und zurück zu dem Mann in der Tür. Das Mittagessen kam Helena beinahe wieder hoch, als sie ihn erkannte.

Er!

Cats plötzliches Knurren ließ die Kundin zusammenschrecken. Helena blaffte ein erschrockenes „Aus!“ in die Richtung ihrer Hündin. Diese gehorchte nur widerwillig. Sodann war der Hund vergessen, ebenso die wartenden Kunden. Vor Schreck wie schockgefrostet, stand Helena mitten im Raum und starrte den Mann an, der sie jetzt erst zu bemerken schien.

Es gab keinen Zweifel. Es war der Kerl, der sich vor ihren Augen von der Brücke gestürzt hatte. Dieselben Gesichtszüge. Eine breite Stirn, dunkle, große Augen und eine markante Wangenpartie. Zudem sah er nicht nur ausgesprochen lebendig aus, er trug nicht einmal ein Anzeichen einer Verletzung. Wohl hätte Helena an ihrem Verstand gezweifelt, wenn er sie nicht einen Wimpernschlag lang mit einem ebenso schockierten Ausdruck angesehen hätte, wie sie ihn auch in ihrem eigenen Gesicht vermutete. Blankes Entsetzen lag in seinem Blick. Wenngleich er sich rasch unter Kontrolle brachte und eine unbeteiligte Miene zur Schau stellte, konnte er nicht verhindern, dass sie ohne jeden Zweifel durchschaute: Er hatte sie ebenfalls erkannt.

„Du …?“, japste Helena.

„Entschuldigung.“

In einer fließenden Bewegung drehte er sich um und schlug die Tür hinter sich zu, bevor sie auch nur ein weiteres Wort herausgebracht hatte. Das Glas zitterte im Rahmen. Doch dann verharrte er auf dem Gehweg vor dem Eingang und ließ die Schultern hängen. Einen Augenblick später erkannte Helena den zurückkehrenden Toni. Offenbar hatte Toni den Mann gesehen, denn er lächelte ihm zu, und aus irgendeinem Grund vereitelte dies seine Fluchtpläne. Die Männer begrüßten sich, Toni schlug dem mysteriösen Fremden freundschaftlich auf die Schulter und gemeinsam betraten sie das Notenhaus.

Neben dem schlanken, lang gewachsenen Toni, der sein übliches „Buongiorno zusammen!“ durch den Raum schmetterte, wirkte der Fremde klein. Er konnte allenfalls einen Kopf größer sein als Helena, also ungefähr einsfünfundsiebzig. Betreten senkte er den Blick und zuckte mit den Mundwinkeln, als er sich an Helena vorbeischob. Erst jetzt bemerkte sie den Violinenkoffer in seiner Hand.

Cat sträubte erneut das Fell und knurrte leise. Helena spürte das Vibrieren an ihrem Bein. Rasch nahm sie ihre Hündin am Halsband und führte sie ins Hinterzimmer, wo sie sie nach einem beruhigenden Streicheln zurückließ und wieder in den Verkaufsraum eilte. Toni und der Mann gingen soeben die Treppen in den Keller hinab. Helena bemühte sich, Puls und Atmung in durchschnittliche Frequenzen zu bekommen, und presste sich die eiskalten Finger an die Wangen, um die Röte zu mildern. Schließlich wandte sie sich wieder den Kunden zu, die über die seltsame Unterbrechung des Verkaufsgesprächs zwar verwundert, aber nicht verärgert schienen. Es war Helenas Glück, dass die Kaufentscheidung schon gefallen war, denn konzentrieren konnte sie sich nicht mehr. Ihre Gedanken entwickelten ihren eigenen Willen und schlichen immer wieder die Treppen hinab. Als dann noch Geigentöne erklangen, war es um Helenas Aufmerksamkeit völlig geschehen.

Toni spielte nicht besonders gut, das wusste Helena. Diese Klänge waren jedoch keinesfalls das Werk eines Anfängers. Sie glaubte, ein Stück aus Bizets Oper Carmen zu erkennen, doch dann drifteten die Töne in eine völlig andere Richtung und formten Melodien, die sie noch nie gehört hatte, vermutlich etwas Selbstkomponiertes. In jedem Fall klang es wunderschön. Da spielte jemand, der nicht nur ein gewaltiges Können, sondern auch ein nahezu beängstigendes Gefühl an den Tag legte.

Verärgert, dass er sie so von ihrer Arbeit ablenkte, biss sie die Zähne zusammen und stellte mit zitternder Hand und dementsprechend verkrampfter Schrift eine Quittung für ihren Kunden aus. Sie schlug drei Kreuze, als der alte Herr die bezahlte Gitarre unter den Arm klemmte und mit seiner Frau den Laden verließ.

Angespannt wie eine Saite lief sie zwischen Blechblasinstrumenten und Flöten auf und ab, darauf wartend, dass die beiden Männer wieder hochkommen und sie endlich ihre Fragen auf den Fremden abfeuern konnte. Aber was zum Teufel sollte sie ihn fragen?

‚Hallo, verzeihen Sie mal. Aber bestehen bei Ihnen irgendwelche Anomalien, Ihren Überlebenstrieb betreffend? Springen Sie häufiger von Brücken? Ungewöhnliches Hobby, was gibt Ihnen das? Und wie überstehen Sie das unverletzt?‘

Ob er ein Geist war? Helena ballte die Fäuste, bis ihre Fingernägel in den Handflächen schmerzten. Lange hatte sie keinen mehr gesehen. Aber nein, diesen Mann hatte sie berührt. Sie hatte versucht ihn festzuhalten, und seine Haut unter ihren Fingern gespürt. Geister waren körperlos, auch wenn sie noch so real aussahen. Niemals konnte man sie berühren. Regen rann durch ihre Leiber hindurch, perlte aber gewiss nicht von ihrer Haut ab.

Ein Bungee-Seil oder ein Netz war ebenfalls auszuschließen. Sie hatte ihn dort unten liegen sehen, und selbst wenn sie nur seine Umrisse erkannt hatte, war sie in einer Sache ganz sicher: Sein Rückgrat war gebrochen. Dass er nicht einmal zwei Wochen später munter in der Gegend herumlief und Geige spielte, war … nun, es war einfach ausgeschlossen.

Ungeachtet dessen war es Realität.

Das Geigenspiel verstummte und wenig später hörte Helena Schritte auf der Treppe. Ihr Herz raste und sie verfluchte sich, weil dieser Mann sie derart nervös machte. Mit leeren Händen trat er in den Verkaufsraum, Toni ging direkt hinter ihm. Erst jetzt fiel Helena die extravagante Kleidung dieses männlichen Mysteriums auf. Er trug eine dunkelbraune Cordhose, ein cremefarbenes Seidenhemd mit hochgeschlagenen Ärmeln und darüber eine abgewetzte Lederweste, die ebenso haselnussbraun war, wie seine Locken, die ihm bis zur Mitte der Stirn reichten. All das wirkte viel zu altmodisch für einen jungen Mann, aber es passte perfekt zu ihm. Mit einem Al-Capone-Hut wäre er als Darsteller aus einem in den Zwanzigern spielenden Film durchgegangen. Helena sah ihn in Gedanken neben Don Corleone in Der Pate ein Angebot machen, das man nicht abschlagen konnte.

„Freut mich immer wieder, mit dir Geschäfte zu machen, Samuel“, sagte Toni und schüttelte dem anderen zum Abschied die Hand. „Wir hören voneinander und es bleibt dabei. Solche Schätzchen wie diese Violine nehme ich grundsätzlich, da gehst du mit einem Spontankauf nie ein Risiko ein. Der Abnehmer steht vor dir.“

„Du bist mein Lieblingsabnehmer, alter Gauner.“

Der Mann – Samuel – lachte. Sein unbeschwertes, amüsiertes Gesicht verärgerte Helena. Wie konnte er Scherze machen, während ihr seinetwegen die Nerven durchgingen? Sie räusperte sich.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie fest, da er sie weiterhin ignorierte. Wut mischte sich tröpfchenweise ihrer Konfusion unter. Es wurden stetig mehr Tropfen. „Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?“

Im Hintergrund zog Toni ein verwundertes Gesicht. Helena presste die Lippen aufeinander, denn Samuels Lächeln gefror und er wich ihrem Blick aus.

„Ich bin ein wenig in Eile.“

„Warten Sie! Nur zwei Minuten. Ich möchte nur …“

„Ich habe wirklich keine Zeit“, knurrte er durch die Zähne und vermied nach wie vor, sie anzusehen.

Helena machte einen Schritt zur Tür, legte ihre Finger um die Klinke und versperrte ihm den Ausgang. „Bitte. Eine Minute.“

„Helena?“ Toni hob fragend eine Braue, doch sie schüttelte nur knapp den Kopf.

Samuels Blick klebte auf ihrer Hand. Den gleichen Blick hatte sie schon einmal gesehen, er ließ ihr einen Schauder den Rücken hinab rieseln und brachte ihren Arm zum Zittern. Aus dem Hinterzimmer drang Cats Bellen. Toni zuckte mit den Schultern und drehte sich weg, um den Hund zu beruhigen. Vielleicht spürte er auch, dass Helena einen Moment mit Samuel allein sein wollte. Sie hatte lange nicht mehr so viel Dankbarkeit für jemanden gefühlt, wie in diesem Moment für Toni.

„Also?“, sagte sie leise. „Wie können Sie mir … wie kannst du mir erklären, was da neulich Nacht passiert ist?“

„Neulich Nacht?“

Ein Eindruck, der an Schmerz erinnerte, flammte in seinen dunklen Augen auf. Unterdrückt, kaum wahrnehmbar; aber gerade dadurch noch viel intensiver. Es zog Helena den Magen zusammen, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Dann wurde sein Blick kühl und er schüttelte in bestens vorgespielter Ahnungslosigkeit den Kopf.

Nicht lügen. Lüg mich jetzt nicht an, dachte sie.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

Helena jagte der Wunsch durch die Adern, etwas kaputt zu schlagen. Sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien. „Ich denke schon.“

„Hören Sie, ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber Sie verwechseln mich. Ich kenne Sie nicht, wir haben uns nie zuvor gesehen.“

Sie schnaubte entrüstet. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich in dieser Nacht durchgemacht habe? Ich dachte, du … Ach, was soll’s! Ich saß stundenlang bei der Polizei, wurde als hysterisch bezeichnet. Ich musste mich einem Drogentest unterziehen.“

Tränen brannten in ihren Augen, doch sie hielt sie zurück und schluckte gegen das Bedürfnis an, einfach loszuheulen. Mit beiden Händen strich sie sich durchs Haar und ließ dabei die Tür los. Er packte die Gelegenheit beim Schopf, die Tür bei der Klinke, und schob sich an ihr vorbei.

„Das ist eine Verwechslung“, sagte er fest. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass Sie Schwierigkeiten hatten, aber das ist nicht meine Schuld, also belästigen Sie mich bitte nicht weiter. Sonst muss ich mich an Ihren Chef wenden.“

Damit verschwand er und ließ Helena wie mit eiskaltem Wasser übergossen stehen. Fassungslos verharrte sie in der Tür und sah ihm nach. Vielleicht hätte sie den Gedanken zugelassen, dass sie ihn wirklich nur verwechselte, sich blamiert hatte und ihm gerade schrecklich auf die Nerven gegangen war. Doch die Geschwindigkeit, mit der er die Straße runter eilte sowie die fahrigen Bewegungen, mit denen er sich über Gesicht und Nacken rieb, straften seine Worte Lügen.

Dann drehte er sich zu ihr um. Er setzte an, ihr etwas zuzurufen, schüttelte jedoch wortlos den Kopf. Schließlich sprach er doch, aber viel zu leise, als dass sie ihn hätte hören können. Anhand seiner Lippenbewegungen und dem gequälten Ausdruck in seinem Gesicht konnte sie auf die Entfernung nur vage erahnen, was er gesagt hatte.

„Es tut mir leid.“

„Was stimmt nicht mit dir, hm?“, rätselte Helena, während er um eine Ecke verschwand. „Was auch immer es ist, Samuel. Ich finde es heraus.“

4

Wenn du an mich denkst,erinnere dich an die Stunde,in welcher du mich am liebsten hattest …

Rainer Maria Rilke

Wie von einem Dämon gehetzt eilte Samuel zu seinem Wagen. Die Gedanken hielten ihn so eisern gefesselt, dass er zunächst ein paar Schritte an seinem Auto vorbeilief. Er fluchte leise, als er sich seiner Zerstreutheit bewusst wurde, und kehrte um. Frustriert ließ er sich hinters Lenkrad fallen, lehnte den Kopf gegen den Sitz und schloss für einen Moment die Augen.

Es war klar gewesen, dass seine Dummheit von dem Abend auf der Brücke ein Nachspiel haben sollte. Seine Fehler zogen immer Konsequenzen nach sich, womit er leben konnte, solange er es war, der diese zu tragen hatte. Tatsächlich war das nur selten der Fall. Moira mochte das Äußere einer kindlichen Fee verkörpern, doch in Wahrheit war sie nichts als eine garstige Hexe. Sie genoss es, mit ihm zu spielen, da war er sicher. Jeden Patzer, der ihm unterlief, strafte sie mit einem Rattenschwanz an Katastrophen, die die Menschen um ihn herum erlitten, während er hilflos zusehen musste. Sie musste ihn wirklich hassen.

Das wahrhaft Schlimme an der Sache war: Ihr gebührte jeder Grund dazu.

Manchmal glaubte er, sie wolle ihn ebenso viele Tode mit ansehen lassen, derer er schuldig war. Er hatte über Jahre hinweg die Augen geschlossen und sich verkrochen, statt zuzusehen, was er und seine Feigheit verantworten mussten. Doch vor der Göttin des Schicksals gab es weder Entkommen, noch Versteck. Moira wartete, lauerte, und sie hatte alle Zeit dazu.

Samuel stöhnte und rieb sich das Genick, das so verspannt war, als säße ihm das Gewicht der Welt im Nacken. Er startete den Motor und schoss aus der Parklücke heraus, ohne vom Lenkrad aufzusehen.

Komm schon, Idiot! Sind ja noch nicht genug Menschen deinetwegen gestorben. Bau halt einen Verkehrsunfall. Lass es mal wieder richtig krachen, Mr. Immortal.

Wenn er derartig in Selbstmitleid versank, dass ihm die ganze Welt egal und er somit zu einer Bedrohung wurde, empfand er abgrundtiefen Ekel vor sich selbst. Aber so sehr er auch dagegen ankämpfte, diese Momente kamen immer wieder. Immer, wenn er glaubte, seine Schuld in den Griff zu bekommen, wenn er begann, sich damit abzufinden, was das Schicksal ihm und er dem Schicksal angetan hatte, passierte etwas Unerwartetes. Dann feuerte Moira erneut vergiftete Pfeile in seine Richtung, die ihn und alles um ihn herum durchbohrten. Der neuste Pfeil hatte rotes Haar und grüne Augen, und offenbar beschlossen, ihm einmal mehr zu demonstrieren, was die menschliche Psyche alles einstecken konnte, ehe sie zerbrach. Sie musste einer von Moiras Plänen sein. Er erkannte es daran, dass er sich so sehr danach sehnte, sie wäre es nicht.