Phönix im Eis - Kristina Böhmer - E-Book

Phönix im Eis E-Book

Kristina Böhmer

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Beschreibung

Brüssel im Jahr 2047: Der 31-jährige Journalist und Umweltaktivist Patrick Ladeaux erhält seltsame Briefe mit abstrakten Aufzeichnungen über chemische und physikalische Vorgänge. Was ihn zunächst ratlos zurücklässt, entpuppt sich sehr bald als eine Umweltkatastrophe. Als ein englischer Physiker vom Atommüll-Verbrennungswerk TransVallsa tot aufgefunden wird, beginnt Patrick seine persönliche Jagd auf die Wahrheit. Dabei begegnet er der ebenso hübschen wie mysteriösen Europol-Agentin Eleni. Bald werden sie in die Tiefen des Falls hineingesogen, werden von Jägern zu Gejagten und finden sich am Ende an der Spitze des politischen Systems wieder: Beim Präsidenten des Vereinigten Europas!

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Kristina Böhmer wurde 1974 in Hamburg geboren und hat nach dem Abitur im juristischen Bereich ihr Zuhause gefunden. Dennoch liebt sie die Naturwissenschaften ebenso wie Musik und schreibt seit ihrer frühesten Kindheit sowohl Kurzgeschichten als später auch Romane. Das dritte abgeschlossene Werk soll nun ein größeres Publikum erreichen.

Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

Für Nils,

der mir bereits vor 25 Jahren in einem einzigen Satz die

Grundidee für diesen Roman lieferte.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: 12. Dezember 2047

Kapitel 1: Patrick

Kapitel 2: 18. Dezember 2047 - Eleni

Kapitel 3: Unerwartetes Treffen

Kapitel 4: Nachforschungen

Kapitel 5: Wiedersehen mit Danubien

Kapitel 6: Kennet

Kapitel 7: Familienangelegenheiten

Kapitel 8: Nouri

Kapitel 9: Wissensdynamik

Kapitel 10: Vincent

Kapitel 11: Glycyrrhizin

Kapitel 12: Verloren

Kapitel 13: Abgründe

Kapitel 14: Regulationsmechanismen

Danksagung

Anmerkungen

PROLOG

12. Dezember 2047

Er hatte Angst. Die Teetasse umklammerte er mit beiden Händen, als sei sie der letzte rettende Anker, der ihn vor dem Ertrinken bewahren konnte. Ein Stück Wahrheit. Ein Stück seines echten Lebens. Nicht die Lüge, die er hier draußen aufrecht zu erhalten gezwungen war.

Die meiste Zeit, die er dort regungslos in der viel zu großen Küche seiner viel zu großen Wohnung saß, starrte er hinaus in die Dunkelheit. Hinter den Lichtern der Straße konnte man weitere Häuserreihen ausmachen. In der Ferne erhob sich schemenhaft das Mecsek-Gebirge über die danubische Kleinstadt und ließ alles um sich herum winzig wirken. Er kannte das Gebirge so gut, wie diese Wohnung, in der er seit nunmehr vier Jahren lebte. Die Arbeit erforderte eine tägliche Fahrt in das kleine Bergdorf Nubuga, unweit seiner Residenz. Nubuga war ein wenige Jahre altes Dorf, das erst rund um das große Werk zu wachsen begann, in welchem er tätig war.

Er stellte die Tasse auf dem mächtigen Holztisch ab, senkte den Blick vom Fenster zu dem lieb gewonnenen Porzellanstück und musterte die Abbildung darauf. Es war eine Kleinkinderzeichnung, die drei Personen – zwar ohne Hände und Hals, aber mit deutlich lachenden Gesichtern – zeigte. Seine damals fünfjährige Stieftochter hatte diese kurz vor seiner Abreise gefertigt und mit Hilfe ihrer Mutter auf die Tasse drucken lassen. Die drei abgebildeten Personen waren natürlich sie selbst, ihre Mutter – seine Frau – und er. Sie warteten auf ihn. Seine Mädchen. Trotz der langen Trennung wollten sie eine Familie bleiben. Für immer. Er nippte einmal an dem Tee, der nach all der Zeit, die er beinah regungslos dort gehockt hatte, nur noch lauwarm und kaum mehr genießbar war, doch er bemerkte es nicht. Zu sehr konzentrierte er sich auf jedes Geräusch in dem weitläufigen Mehrfamilienhaus. Jedes kleine Knacken, jeder Schritt auf dem Flur ließ ihn zusammenfahren, innehalten und angestrengt lauschen.

Er konnte nicht sagen, gegen wen sich diese Angst richtete noch, worin genau sie sich begründete. Doch er hatte etwas entdeckt, was er nach zwei Jahren des Stillschweigens nicht länger hatte ertragen und hinnehmen können. Er hatte handeln müssen. Um sich selbst im Spiegel weiterhin in die Augen sehen zu können. Er wollte ein wenig Zivilcourage an den Tag legen, derer all seine Kollegen offenbar nicht fähig waren. Doch allmählich beschlich ihn eine Ahnung, wohin ihn sein Bedürfnis nach Fairness führte. Er wusste nicht, wer seine Gegner waren oder wie viel Macht sie besaßen. Er wusste nur, dass es sie gab. Und sehr bald würden sie sich offenbar als eine Nummer zu groß herausstellen, wenn er bedachte, wie verängstigt er nun in seiner vom Werk für ihn gestellten Wohnung hockte. Mitunter musste er seine Tat mit seiner Gesundheit bezahlen. Oder teurer. Dies schien ihm dennoch ein eher geringer Preis, wenn er an die Unversehrtheit der vielen tausend Menschen dieses Gebietes dachte. Ging sein Plan auf, so würde er einige Leben und ein gewaltig großes Stück Natur retten. Der Gedanke daran, weiterhin tatenlos zusehen zu müssen, wie über die Jahre mehrere hundert Quadratkilometer Erdboden verseucht, Grundwasser hochbelastet und Pflanzen regelrecht vergiftet wurden, löste in ihm eine Übelkeit aus, die ihn zu Würge- und Panikanfällen veranlasste. Diese waren in den letzten Monaten immer häufiger aufgetreten.

Und allmählich war es an der Zeit sich einzugestehen, dass er aus diesem Job nicht wieder entlassen wurde. Jedenfalls nicht lebendig. Nicht mit dem Wissen, das er besaß. Warum sahen seine Kollegen es nicht? Ein einziges Mal hatte er es gewagt, eine andere Physikerin – eine grauhaarige Mittfünfzigerin aus Schweden – darauf anzusprechen, doch diese hatte nur die Augen zusammengekniffen und eilig abgewunken.

„Lassen Sie mich damit in Ruhe“, hatte sie gemurmelt.

Er hatte verstanden. Ein Jahr verbrachte er damit, all seine Kollegen und Mitarbeiter zu beobachten. Er versuchte zu erkennen, wie viel jeder Einzelne wusste, für wen er arbeitete. Gewisse Zuordnungen waren ihm gelungen, doch jedes Mal, wenn er auch nur eine kleine Andeutung jemandem gegenüber wagte, erntete er lediglich verständnislose oder finstere Blicke. Konnten sie alle noch ruhig schlafen? Konnten sie die Dinge mit ihrem Gewissen vereinbaren? Und warum konnte er es dann nicht? In seinen Gedanken schwirrte die kleine Katie. Kinder wie seine Katie. Kinder, die hier lebten. Kinder, deren Urteil bereits gefällt war, noch bevor ihr Leben richtig begonnen hatte. Doch dieses Urteil würde nur Bestand haben, wenn sie alle weiterhin der Vogel-Strauß-Methode folgten und vor den Ungeheuerlichkeiten des Werkes die Augen verschlossen. Doch das würde nicht geschehen! Er hatte es verhindert! Wenigstens bestand die Hoffnung noch. An Beweise zu gelangen blieb selbstverständlich utopisch, immerhin lagen diese nicht für jedermann zugänglich herum und er war kein Detektiv oder Spion, sondern ein Physiker. Ein angesehener und auf seinem Gebiet hochbegabter Physiker mit weitem Blick für Neuentwicklungen und präzisen Experimenten. Genau das, was man hier benötigte. Ein intelligenter Mann von 48 Jahren, der stets auf dem Pfad der Tugend wandelte, der niemals den Gedanken zu denken gewagt hatte, ein Verbrechen zu begehen. Legal handeln, unauffällig bleiben. Aber genau diese Lebensweise erforderte auch ein hohes Maß an gutem Gewissen. Und wie weit hatte ihn dieses Gewissen getrieben? Er schrieb. Jeden Tag ein paar Seiten. Dinge, über die niemand in seiner Nähe stolpern würde. Physikalische Prozesse. Jeden zweiten Tag brachte er einen Brief zur Post und schickte sie einem Mann am anderen Ende des Kontinents, der sich zu Beginn sicher gefragt hatte, was er mit dem ganzen Quatsch bitteschön anfangen sollte. Er kannte ihn aus dem Fernsehen. Drei oder vier Auftritte. Er war sicher, dass dieser Mann dem nachgehen würde, wenn er erst einmal alle Unterlagen beisammen und verstanden hätte. Denn auch er schien im Besitz eines intakten Gewissens zu sein. Immer wieder fragte er sich, ob er nicht doch auf Nummer sicher gehen und das gesamte Dokument mit erklärenden Begleitworten an verschiedene Personen mailen sollte, doch die Angst, seine Tat könne bei einer Überprüfung des Laptops entdeckt werden, hatte ihn bislang dazu bewogen, andere Wege zu beschreiten. Immerhin ging es nicht nur um ihn allein, auch die Empfänger dieser E-Mail hätte er in große Schwierigkeiten, wenn nicht sogar in Lebensgefahr, bringen können. Und sollte er wirklich einmal Hilfe benötigen, so war er sicher, diese hier draußen in der Gebirgsprovinz der ehemals ungarischen Republik Danubien nicht zu erhalten.

Er wollte nach Hause. Er wollte seine kleine Familie wiedersehen, sie in die Arme schließen, mit seiner Stieftochter draußen im Garten umhertollen, den Drachen steigen lassen und gemeinsam mit seiner Frau und seinen Eltern Weihnachten feiern.

Und diesen Ort vergessen. Diese Wohnung vergessen, das Werk, seine Angst.

Die Angst, die ihm nun permanent im Nacken saß, die ihn überall hin verfolgte, die ihn nicht mehr in Ruhe schlafen ließ. Stattdessen hockte er jede Nacht mit einer Kanne schwarzem Tee bei minimaler Beleuchtung in der Küche und lauschte auf die Geräusche um sich herum.

Du bist einfach irre, dachte er und ein kleines bitteres Grinsen zog sich um seine Lippen. Du bist komplett durchgeknallt. Wahrscheinlich interessiert sich hier niemand für dich, nicht mal die kleinste Maus, und alles ist nur ein Hirngespinst, um die Einsamkeit irgendwie ertragen zu können. Alles ist nur in diesem kranken Kopf.

Er ließ die Tasse sinken, löste die Hände von ihr und wandte sich wieder zum Fenster um. Schwarz und bedrohlich thronte der Gipfel des Berges über Mánfa. Schwarz und bedrohlich wirkte er aber sicher auch nur, da es 3:00 Uhr in der Nacht und sein Betrachter höchstwahrscheinlich paranoid war.

Er seufzte.

Ich sollte mal duschen gehen, überlegte er. Das wäscht nicht nur den Angstschweiß fort, sondern macht auch den Kopf frei und klar.

Gerade hatte er beschlossen, sich zu erheben, als er plötzlich ein lautes Knacken im Hausflur hörte. Sofort zuckte er zusammen.

Noch ein Knacken.

Wieder eines.

Es waren Schritte dort draußen, da war er sicher. Schritte auf dem Flur. Schritte, die vor seiner Haustür verstummten. Entsetzt starrte er durch die weitgeöffnete Küchentür zu dem kleinen Spalt zwischen Fußboden und Türblatt, unter dem ein kleines Licht zuckte.

Eine Taschenlampe!

Da stand jemand vor seiner Tür und leuchtete mit einer Taschenlampe! Warum betätigte diese Person nicht einfach den Schalter für das Flurlicht? Vielleicht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen? Vielleicht, weil es sich hierbei um keinen offiziellen Besuch handelte?

Beinah hätte er vor lauter Nervosität ein lautes sarkastisches Lachen von sich gegeben.

Wer, in drei Gottes Namen, stattete ihm schon mitten in der Nacht einen offiziellen Besuch ab?

Er versuchte, seine aufflackernde Panik hinunterzuschlucken, und wagte ein paar vorsichtige Schritte zum Wohnzimmer hinüber. Zur Not konnte er hier möglicherweise über den Balkon flüchten, dachte er. Der Balkon zog sich über die gesamte beeindruckende Breite der Wohnung, lief jedoch nicht vollständig um die Seite herum. Und in seiner wachsenden Angst übersah er bei diesem Vorhaben die Höhe seiner Wohnung. Sie lag zwar im ersten Stock, doch das Gebäude befand sich in Hanglage und fiel auf der Rückseite etwa fünfzehn Meter in die Tiefe. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sagte er sich, wiederholte es noch an die zwanzig Mal und versuchte, normal weiter zu atmen, um sich nicht selbst außer Gefecht zu setzten, indem er mit angehaltener Luft zu kollabieren riskierte.

Das Licht auf der anderen Seite der Tür hatte zu zucken geendet, gleichzeitig vernahm er ein leises Scharren aus eben dieser Richtung. Seine Furcht wandelte sich in lähmendes Entsetzen, als er begriff, dass sich jemand an seinem Türschloss zu schaffen machte!

Die brechen hier ein!, schrie er sich in Gedanken selbst zu und wollte sich bewegen, wollte laufen, um sein Leben rennen, doch er verharrte in völliger Unfähigkeit auch nur einen Muskel zu rühren an demselben Fleck wie zuvor im Flur. Sein Atem stockte wieder. Er hielt den Sauerstoff in seinen Lungen gefangen und starrte vollkommen fassungslos auf die beiden Männer, die soeben das Schloss aufgebrochen hatten und in seinen Flur getreten waren. Fassungslos und weiterhin regungslos. Es dauerte einen Moment, ehe sie überrascht registrierten, dass er ihnen gegenüberstand, hellwach, panisch und sich der Dinge gewiss, die nun folgen würden. Einer der beiden, ein großer stämmiger und dunkelhaariger Mann, ebenfalls Engländer, wie er wusste, setzte einen beinah entschuldigenden Blick auf.

„Es tut mir leid“, erklärte er leise.

Doch er antwortete nicht. Er stand nur weiterhin wortlos da. In seinem Kopf herrschte ein Chaos, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Irgendwo hing noch immer der Fluchtgedanke fest, während er sich gleichzeitig jedoch darüber bewusst war, dieser Situation nicht mehr entkommen zu können. Emotionen wallten durch ihn hindurch; Erinnerungen an die Familie, seine Eltern; die Gewissheit darüber, all diese schrecklichen Dinge nun nicht mehr aus eigener Kraft ändern zu können.

Doch dieser Zustand währte nicht lange. Nur einen Augenblick später fühlte er eine Leere, dann einen Frieden in sich, dem er sich nur allzu gern hingab.

Kapitel 1

Patrick

Still und verlassen lag um diese Uhrzeit der Park vor ihm. Es war zu früh für eine Mittagspause, zu spät, um noch schnell ins Büro zu hetzen. Patricks kalte Finger kramten nervös in der tiefen Manteltasche, bis er endlich die vertraute Form des Feuerzeugs fühlte. Er zog es eilig heraus und entzündete die Zigarette, die als Fremdkörper zwischen seinen Lippen hing. Einen Atemzug später durchflutete der Rauch seine Lunge. Das Nikotin schoss in seinen Kopf, der Rauch ließ ihn einen Moment lang unkontrolliert husten, doch bereits beim zweiten Zug erging es ihm besser. Das Nikotin beruhigte seine Nerven. Das tat es immer. Auf die Zigarette war einfach immer Verlass.

Mit dem Rücken lehnte Patrick an einer kleinen baufälligen Holzhütte im kleinen Brüsseler Stadtpark in der Nähe seines Arbeitgebers, die bei wärmeren Temperaturen gern als Grill- und Picknickplatz genutzt wurde, jedoch jetzt, im Dezember, verlassen und eingeschneit da lag, wie ein trauriges vernachlässigtes Tier, dem man ausschließlich im Sommer seiner Aufmerksamkeit schenkte. Patrick blieb zu dieser Jahreszeit der einzige gelegentliche Besucher dieser Hütte. Sie diente ihm als Sichtschutz. Die Bäume wuchsen hier dicht, doch das Jahresende hatte das Laub bereits in den Winterschlaf gewiegt, so bildeten die vielen dürren Äste nur eine schwache Barriere. Um diese Uhrzeit gab es zwar kaum einen Menschen, der den Park durchquerte, doch Patrick schloss gern jedes unnötige Risiko aus, erwischt zu werden. Drogenkonsum in der Öffentlichkeit war kein Kavaliersdelikt mehr, eher eine Straftat, die eine Anzeige rechtfertigte. Und eine Anzeige wegen Drogenkonsums konnte er sich als junger, aber bereits erfolgreicher Journalist nicht leisten. Die Kollegen würden ihn in der Luft zerfetzen. Sie würden seinen Ruf so grundsätzlich ruinieren, bis ihm nichts anderes mehr übrigblieb, als sich in seiner Wohnung zu verkriechen und zu hoffen, dass die Leute vergaßen.

Patrick lehnte den Hinterkopf entspannt gegen die Holzwand und blickte in den klarblauen Himmel, während er die Zigarette genüsslich aufrauchte. Nein, er mochte keine Risiken. Doch hin und wieder war es nötig, die eigenen Tugenden zu untergraben und den strapazierten Nerven ein kleines Geschenk zu überbringen. Es war mehr als zehn Jahre her, dass er sich zu den Gelegenheitsrauchern gezählt hatte, jedoch hielt auch das damals nicht lange. Das Europäische Parlament hatte im Jahr 2037 mit einem einstimmigen Beschluss das Nikotin für eine illegale Droge befunden und somit ein für gesamt Europa gültiges Verbot ausgesprochen. Eine ganze Lobby wurde mit einem Schlag zerstört. Patrick erinnerte sich gern an diese Zeiten. Damals hatte er sich im Praktikum bei einem großen Zeitschriftenverlag in Brüssel befunden und es war eine helle Freude für alle Journalisten gewesen, dieses Verbot wieder und wieder zu diskutieren, über die niedergehende Lobby zu schimpfen und sie bis auf das Blut auszuschlachten. Aufgrund dieser nikotinverachtenden Umstände hielt Patrick sich gern versteckt, wenn seine Nerven nach ein wenig Heilung schrien.

Oft dachte er dabei an seinen Vater, der sich damals maßlos über die Diskussionen der Politiker aufgeregt und beinah einen Schock erlitten hatte, als das Verbot durchgesetzt wurde. Er war immer ein starker, überzeugter Raucher gewesen. Plötzlich jedoch musste er sich als ein Bürger fühlen, der mehrmals täglich eine illegale Handlung vornahm. Vor vier Jahren jedoch, als seine große Tochter ihm eine Enkelin schenkte, schwor auch er dem Nikotin ab. Seit geraumer Zeit nun nervte er seine gesamte Umwelt mit langen Vorträgen über die Bösartigkeit dieser Droge und hob die Politiker, auf die er zuvor noch so inbrünstig geschimpft hatte, in heldenhafte Sphären. Patrick grinste in sich hinein. Wenn der wüsste! Dabei hatte sein Vater sich über so viele Jahre selbst widersprochen: Der Rauch jeder Zigarette schadete schließlich der Umwelt und sein Vater, der Assistent eines Chemielabors, kämpfte nun bereits seit dreißig Jahren an der Seite der Umweltschutzorganisation „Nôtre Nature“, der auch Patrick an seinem zwölften Geburtstag beigetreten war und verurteilte häufig zu schnell die Leute, die über Naturschutz nicht so viel nachdachten wie er und in seinen Augen fahrlässig, wenn nicht sogar vorsätzlich handelten. Diese Leute gehörten sofort bestraft, forderte er.

Noch immer konnte Patrick den Vater in seinen Gedanken hören, als sie vor vielen Jahren gemeinsam auf kaltem Asphalt saßen und mit einer großen Gruppe Mitstreitern einen Atommülltransport behinderten. Lange Stunden hatten sie dort bei Temperaturen um den Gefrierpunkt gesessen, müde, hungrig, bis auf die Knochen durchgefroren. Und was ihnen bevorstand, versprach nicht unbedingte Besserung ihrer derzeitigen Lage. Wahrscheinlich würden sie es wärmer in einer Zelle der örtlichen Polizei haben, doch mit Sicherheit nicht komfortabler. Laurent, sein Vater, reichte ihm den letzten Keks aus ihrer Vorratsdose. Gerade, als Patrick diesen greifen wollte – sein Magen knurrte so laut wie ein gefräßiges Raubtier in Anbetracht seiner Lieblingsbeute – zog Laurent diesen mit einer kurzen Bewegung zurück. Patrick gab einen hohen unglücklichen Laut von sich. Er warf seinem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu, doch dieser ignorierte Patricks Frustration.

„Das hier ist kein Spielchen zum Zeitvertreib, Junior“, bemerkte er. Überflüssigerweise, denn Patrick taten schon seit Stunden sämtliche Glieder weh. Seine Beine waren eiskalt und wahrscheinlich längst am Boden festgefroren. Die linke Pobacke war offensichtlich schon tot. Er spürte sie nicht mehr. Umso deutlicher machte sich sein Magen bemerkbar. Nein, als Vierzehnjähriger konnte er sich weitaus angenehmere Situationen vorstellen als diese hier. Dennoch gehörten diese Dinge zu seinem Leben dazu. So selbstverständlich, wie er seine Eltern in all ihren Ansichten unterstützte.

„Papa“, setzte Patrick zu seiner Antwort an, während er spürte, wie sein Blick den Keks in der Hand seines Vaters nicht verlassen konnte. Die Magensäure wallte hoch und krabbelte unaufhaltsam seine Speiseröhre empor.

Laurent schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, du tust all diese Dinge, weil ich sie tue. Aber das ist kein Hobby, verstehst du? Wir sitzen hier nicht, weil wir die großen Atomfritzen ein bisschen ärgern wollen.“

„Das weiß ich, Papa“, versicherte er.

„Ich will sie irgendwann stürzen sehen. Die Kernenergie. Die ganze verdammte Bande. Ganz und gar. Dafür muss man manchmal in sehr kleinen Schritten beginnen.“

„Ja, Papa, das weiß ich doch.“

Der Blick seines Vaters hob sich in den wolkenverhangenen Himmel, über den die Abenddämmerung heraufzog. Die Fichten zu beiden Seiten der Bahngleise ließen ohnehin wenig Licht durch und bald würde auch der letzte kämpferische Sonnenstrahl keinen Weg mehr hierher finden. Nur der Keks zwischen Laurents Fingern glänzte in überirdischer Schönheit.

„Wir müssen kämpfen. Wir beginnen mit Kleinigkeiten und steigern uns über die Zeit. Am Anfang kämpfen wir vielleicht nur um einen Bissen von einem Keks, aber irgendwann kann es die Welt sein, die wir verbessern können.“

„Weiter Weg“, bemerkte Patrick grummelnd. „Ich hock noch beim Keks.“

„Aber wer weiß, wo du morgen bist, mein Sohn“, lächelte sein Vater, während er den Arm wieder senkte und ihm den verführerischen Keks hinhielt.

„Ich weiß wo“, erwiderte Patrick kauend. „Im Knast.“

Und eben dort konnte seine Mutter ihn und seinen Vater einen Tag später abholen. Eine Woche lang, hatte Patrick geschworen, wollte er nicht mehr mit seinem Vater sprechen, da er Schuld an einer sicher wachsenden kriminellen Karriere eines zuvor unschuldigen Jugendlichen war und er zweifellos niemals einen Job würde finden können, da sein Lebenslauf mit einem Gefängnisaufenthalt begann. Und doch hatte er die Beweggründe seines Vaters gut verstanden. Er hatte nicht nur begriffen, wie wichtig der Erhalt der Natur für das Fortbestehen des Menschen war, sondern auch, dass es bei kleinen Leuten wie ihnen lag, diesen Kampf aufzunehmen.

Ich tu mit meiner Zigarette ja niemandem weh, dachte er, während er ein paar Krähen am Himmel beobachtete, die spielerisch ihre Runden drehten und offensichtlich nur darauf warteten, dass irgendein Passant etwas Essbares verlor, auf das sie sich stürzen konnten. Wie die Geier, überlegte Patrick. Wie die Journalisten. Sie stürzen sich auf alles, was sich verwerten lässt. Jeden kleinen Bissen.

Er trat den Glimmstängel mit der Fußspitze aus, sammelte die Kippe mit zwei Fingern vom nassen Holz der Hütte auf und warf sie in den Mülleimer, der in einigen Metern Entfernung stand. Dann stopfte er die eiskalten Hände in die Taschen seines Kurzmantels und schlenderte langsam den Weg zur Straße zurück. Auf halber Strecke begann sein Telefon zu schnurren und er drückte eilig einen Knopf, um einen Moment später die Stimme seiner Freundin im Ohr erklingen zu hören.

„Hallo, Chéri, bist du gar nicht im Büro?“

Patrick hatte eine Weiterleitung auf sein Mobiltelefon eingerichtet, die man normalerweise als Anrufer nicht zu verfolgen imstande war, doch offenbar vernahm Suzanne die Straßengeräusche im Hintergrund. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die langen dunkelblonden Locken und seufzte.

„Ich habe eine kurze Pause im Park eingelegt. Habe mich aufgeregt. Und du?“

„Inès hat mich gerade angerufen. Tom und sie fragen, ob wir heute Abend zum Essen vorbeikommen und danach vielleicht noch ins Baroque Café gehen und was trinken wollen. Wie wär’s?“

Erneutes Seufzen. „Ja, Lust hätte ich schon. Aber es wartet noch viel Arbeit auf mich. Ich fürchte, ich werde nicht rechtzeitig fertig. Mein Chef will morgen einen Artikel auf dem Schreibtisch haben, den ich noch gar nicht angefangen habe und… na ja, da sind noch zwei Sachen, denen ich nachgehen muss. Können wir das mit Tom und Inès vielleicht auf morgen verschieben?“

„Morgen geht es bei mir nicht“, erklärte Suzanne kurz und Patrick rollte die Augen, da er an ihrem Tonfall bereits erkannte, wie beleidigt sie wegen seiner Absage war. Am liebsten hätte er sofort aufgelegt, dennoch versuchte er, die Harmonie wiederherzustellen. Ein Streit mit der Freundin sorgte nur für zusätzlichen Stress, den er zurzeit nicht riskieren wollte. Noch etwas Überflüssiges, über das er sich Gedanken machen musste.

„Das tut mir wirklich leid, aber heute geht es nicht. Sehen wir uns denn morgen? Oder wenigstens übermorgen?“

„Ich bin morgen den ganzen Tag unterwegs“, wandte Suzanne ein, klang jedoch versöhnlich. „Übermorgen kann ich zu dir kommen. Okay?“

„Ja, prima. Und vielleicht schaffen wir es mit Inès und Tom ja in der kommenden Woche.“

„Ich frage sie gleich mal. Lass dich nicht ärgern, Schatz.“

„Ich schau mal, was sich da machen lässt. Grüß Inès von mir.“

Patrick klappte sein Telefon zu. Heute würde er lange arbeiten müssen und morgen hatte er den ganzen Abend frei. Das klang vielversprechend. Er überlegte bereits, mit wem er durch das Quartier Saint-Gery-Dansaert bummeln könnte, eines der langjährigen Szeneviertel, in dem er sich besonders wohl fühlte. Brüssel war nicht seine ursprüngliche Heimatstadt, vielmehr eine Wahlheimat seit gut zwölf Jahren. Nach der Allgemeinen Hochschulreife hatte er sein Elternhaus in Momignies, einem kleinen Dorf in Südbelgien, verlassen und war für sein Journalismus-Studium hierher gezogen. Bereits nach wenigen Tagen war er sich sicher gewesen: Dies war seine Stadt. Hier lebte, liebte und arbeitete er mit allen Sinnen, er fühlte sich, als sei er aus einem Dornröschenschlaf erwacht, der ihn während seines Landlebens gefangen gehalten hatte. Plötzlich wusste er, wie seine Zukunft aussehen sollte, was er realisieren konnte. Sein Blick wurde weit und klar. Und es gelang ihm, dieses Attribut auf seine große Schwester zu übertragen, die ihm wenig später beruflich nach Brüssel folgte. Hier stand er nun, ein Mann von einunddreißig Jahren, erfolgreich und doch bodenständig; weitsichtig, doch nie das eigentliche Ziel aus den Augen verlierend. Jede seiner Reaktionen, jede seiner Bewegungen war geprägt von einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, das jedoch nie hochmütig wirkte. Frauen fühlten sich in seiner Gegenwart sofort beschützt und geborgen. Anderen Männern ging er entweder gehörig auf die Nerven oder sie schätzten ihn für seine freundliche, aufrichtige Art.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen betrat Patrick das zehn Stockwerke zählende Verlagshaus. Er grüßte die Empfangsdame der Nachmittagsschicht, an der er eine halbe Stunde zuvor entnervt vorbeigerauscht war.

„Es sieht nach Schnee aus“, bemerkte er und drehte die Augen zum Himmel, den man von seinem Standpunkt aus zwar nicht mehr sehen, durch die hohen Fenster jedoch durchaus erahnen konnte. Die langhaarige blonde Empfangsdame – Claire, wenn er es richtig erinnerte – lächelte höflich zurück.

„Im Wetterbericht heute Morgen sprachen sie von einem Hoch aus Russland“, entgegnete sie. „Das lässt auf eine weiße Weihnacht hoffen.“ Patrick tat, als zittere er vor Kälte. „Nichts gegen weiße Weihnacht, aber an die Minusgrade werde ich mich nie gewöhnen.“

„Südwallone, hm?“, fragte sie mit einer unvermittelt vertraulicher erscheinenden Stimme und ihre hellen Augen blitzten vor Schalk. Patrick zog eine Braue hoch.

„In der Tat. Und dieser Blick hier“, er deutete mit erhobenem Zeigefinger in ihr lachendes Gesicht, „verrät mir ganz eindeutig, dass Sie Flämin sind.“

Ihr Lachen wechselte zu einem mädchenhaften Kichern, während ihre Wangen von einer feinen Röte überzogen wurden und Patrick sich insgeheim die Hände rieb.

„Na ja, ich bin eine Nordseeschwalbe“, erklärte sie mit einiger Mühe, ihre durch sein an ihr gezeigtes Interesse wachsende Verlegenheit unter Kontrolle zu halten, „ich bin raues Klima gewöhnt.“

„Dann werde ich sie genau im Auge behalten, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinkt“, warnte er. „Und wenn ich dann auch nur ein angedeutetes Frösteln bei Ihnen feststelle…“

„Gott bewahre!“ Sie hob beschwörend die Arme gen Himmel, bevor sie ihn angrinste. „Gehen Sie lieber in Ihr Büro zurück, bevor Sie Dinge versprechen, die Sie nicht halten können, Monsieur Ladeaux.“

„Oh, es fallen Namen…“

Er verharrte eine Sekunde lang in der Bewegung, als sei er nicht sicher, wie er sich verhalten sollte, dann klopfte er mit der flachen Hand auf den Empfangstresen, warnte sie erneut mit einem „Denken Sie daran, ich behalte Sie im Auge“ und eilte zum Fahrstuhl hinüber. Er zwinkerte ihr zu und durfte noch einmal in ihr lachendes Gesicht blicken, bevor sich die Türen schlossen und Claire aus seinem Blickfeld verbannten.

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Patrick pfiff nun eindeutig besser gelaunt vor sich hin. Im vierten Stock entließ ihn der geräumige Fahrstuhl in einen langen breiten Flur, auf dem die Leute aus den unzähligen sich abzweigenden Zimmern hetzten. Termindruck war eine selbstverständliche und alltägliche Begleiterscheinung im Verlagsgeschäft, den jeder Journalist zu akzeptieren hatte. Für den gemeinen Belgier war dies trotz allem eine gewaltige Herausforderung. Im sonst so geruhsamen und allseits positiv gestimmten Alltag Brüssels, den die Bürger sogar im immerwährenden Stau stehend noch an den Tag zu legen vermochten, taten sie sich mit minutengenauen Fristen oft schwer. Auch Patrick hatte diese erforderliche Pünktlichkeit erst lernen müssen. Er war jedoch dankbar dafür, dass er nun, nach fünf Jahren im Job, fast ausschließlich für längere Fachartikel im Wirtschafts- und Wissenschaftsbereich zuständig war, für die er gelegentlich mehr als zwei Wochen Vorlaufzeit zugestanden bekam. Doch diese Zeit benötigte er auch, wenn er gründlich recherchieren und verstehen wollte. Einen Artikel über Schwarze Löcher im Universum oder die politischen Hintergründe der Aufspaltung Ungarns in zwei unabhängige Staaten schüttelte man sich schließlich nicht einfach aus dem Ärmel.

Patrick betrat sein Büro am Ende des Ganges. Beinah stieß er mit Fred zusammen, der den Raum soeben wieder verlassen wollte.

„Fred!“, rief Patrick mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme und drückte eine Hand auf seine Brust. „Himmel, ich krieg heute noch mal einen Herzkasper!“

„Haste was zu verbergen?“ Fred grinste, dann rümpfte er die Nase. „Du hast geraucht.“

„Hm.“

„Sind die Nerven dünn?“

Patrick ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und klopfte auf einen Stapel Unterlagen.

„Das hier bereitet mir Kopfzerbrechen. Und es macht mich unsagbar wütend.“

„Neuer Auftrag?“, mutmaßte Fred, lehnte sich bequem in den Türrahmen und nippte gelassen an seinem Becher Kaffee.

„Nicht direkt“, gestand Patrick. „Aubert nervt mich mit seinem Norwegen-Artikel, der morgen Nachmittag fertig sein muss und gleichzeitig hoffe ich, diesen Auftrag hier zu bekommen. Da hat mir irgendwer Unterlagen zum Atommüll-Endlager TransVallsa zukommen lassen. Ich verstehe zwar nicht mal die Hälfte – lauter Formeln, Physik und Mathe – aber da ist was faul.“

Fred zog verständnislos die Augenbrauen zusammen und wirkte nun etwa so intelligent wie das große Schlumpfposter über Patricks Bücherregal. „Was faul? An dem Bericht, oder wie?“

„Ich habe keine Ahnung, Fred, überhaupt keine Ahnung! Weder, wer die Person ist, die mich seit über drei Wochen mit diesem Mist versorgt, noch was das alles zu bedeuten hat, ob es echte Unterlagen sind, ob sich da jemand nur einen schlechten Scherz erlaubt oder mich oder gar den Verlag in irgendetwas reinreiten will.“

„Aber radioaktives Zeugs und so sind doch deine Spezialität. Vielleicht weiß das jemand.“

Patrick schnaubte entrüstet. „Halb Europa weiß das! Immerhin war ich damit schon in einigen Talkshows und Abendmagazinen zu Gast.“

„Na ja, eben.“ Fred kleckerte mit dem Kaffee auf sein Hemd und versuchte umständlich, diesen Schaden mit Hilfe seiner Krawatte wieder zu beheben. „Vielleicht will dich jemand auf etwas aufmerksam machen. Immerhin bist du ein kleiner Strahlen-Spezi und dazu noch Journalist. Mit Beweisen könntest du Dinge an die Öffentlichkeit bringen.“

„Aber das sind keine Beweise!“ Patrick hob den Stapel Papier mit beiden Händen an und ließ ihn resignierend auf die Schreibtischplatte zurückfallen. „Das ist nur ein Haufen Notizen mit lauter chemischen Formeln, in die sich hin und wieder ein zusammenhängender Satz verirrt hat! Es erschließt sich mir nichts! Anfang und Ende wirken für mich komplett identisch. Ich fürchte, ich brauche professionelle Hilfe in Chemie. Aber selbst dann kann ich daraus keinen fundiert belegten Artikel machen.“

„Dann solltest du dir erst einmal den Auftrag vom Chef besorgen, denk ich. Ohne Recherche keine Beweise oder was haben wir in der Ausbildung gelernt?“

Fred grinste vielsagend, wandte sich dann um und schlenderte in sein Büro zurück. „Bis später!“, rief er vom Flur aus, doch Patrick hörte ihn schon nicht mehr.

Beweise, überlegte er. Vielleicht hatte Fred recht und es ging hier in erster Linie nicht um Beweise, sondern schlicht darum, die Aufmerksamkeit von jemandem zu gewinnen. Ansonsten hätte sich der mysteriöse Unbekannte doch auch gleich an die Polizei wenden können. Die Polizei wurde – wie jeder Bürger wusste – erst aktiv, wenn ein dringender Tatverdacht vorlag. Ohne jegliche Beweise gab es keinen Tatverdacht und ohne Tatverdacht keine Nachforschungen. Die Presse hingegen interessierte alles, was nach Skandal roch. Und – der vielleicht wichtigste Aspekt, wie Patrick ohnehin längst vermutete – sie war von keiner Behörde abhängig. Niemand konnte einem Journalisten mit Suspendierung drohen, wenn er Dinge aufdeckte, die für die Regierung, eines seiner Ämter oder irgendwelcher elitären Kreise negative Schlagzeilen bedeuteten.

Sie könnten höchstens den europäischen Geheimdienst rekrutieren und mich in einer hochgradig wichtigen Mission ermorden lassen, überlegte Patrick und grinste vor sich hin. Diese achtzig Seiten voller Formeln würden ihn schon in keinerlei größere Schwierigkeiten bringen. Schlimmstenfalls stimmen die offiziellen Zahlen der in TransVallsa vorgenommenen Transmutationen an den überführten radioaktiven Abfällen mit den tatsächlichen Zahlen nicht überein, vermutete er und starrte gedankenverloren auf sein Schlumpf-Poster. Nach einem kurzen Moment der völligen geistigen Abwesenheit richtete sich Patrick plötzlich kerzengerade in seinem Stuhl auf und griff entschieden zum Telefon.

*

Niklaas Cornil war ein hochgewachsener, fast hagerer Mann mit dunklen Locken und freundlichen haselnussbraunen Augen. Er wirkte wie jemand, der der Welt mit viel Optimismus und einem steten Lächeln auf den Lippen begegnete, wie jemand, zu dem man schnell Vertrauen fasste und dazu neigte, sein Herz auszuschütten. Er war ein ausgezeichneter Zuhörer, erzählte jedoch kaum etwas von sich. Und zumeist stellten neue Bekannte in seiner Gesellschaft erst nach mehreren Gesprächen fest, wie wenig sie in all der gemeinsamen Zeit von ihm erfahren hatten. Nur schwer konnte man sich ihn in einer Führungsposition vorstellen. Ein Niklaas, der Befehle erteilte? Schwer vorstellbar. Und genau das tat Niklaas auch nur ungern. Er umgab sich am liebsten mit Mitarbeitern, die neben Intelligenz vor allem Freundlichkeit und Höflichkeit als ihre höchsten Güter bezeichneten und denen gegenüber er nur eine Bitte aussprechen musste, um eine Aufgabe erledigt zu bekommen. Gleichwohl arbeitete er seit zehn Jahren ausgezeichnet mit dieser Einstellung. Eine Karriere war ihm nie immens wichtig gewesen, doch sein umfangreiches Fachwissen und die jungenhafte, gelegentlich fast euphorische Neugier, mit der er immer wieder etwas Neues entdeckte, hatten ihn bis auf die Position eines Laborleiters aufsteigen lassen. Seit eben diesen zehn Jahren arbeitete Niklaas für einen großen Chemiekonzern in Antwerpen, beschäftigte sich mit der Herstellung von Farben und Lacken auf Nanopartikel-Basis. Er mischte sich jedoch hin und wieder gerne auch in andere Bereiche ein – allem voran der Physik, die der Entwicklung vorausging – um der Gefahr zu entgehen, zu einem Fachidioten mit Tunnelblick zu mutieren.

Auf seinem großräumigen Eckschreibtisch, an dem er derzeit eine neue Lacksubstanz – wenigstens theoretisch in Form einer Formel – zu entwickeln versuchte, verweilte ein großer silberner Bilderrahmen, auf welchem die digitalen Fotos seiner Frau Philine und ihrer gemeinsamen Tochter Estelle zu sehen waren.

Philine.

Seine Traumfrau.

Zwölf Jahre kannte er sie bereits. Zwölf Jahre, von denen er zwei benötigt hatte, um sie für sich zu gewinnen. Zu verschieden schienen ihre familiären Hintergründe. Er, der große Flame aus gutem Hause. Er, der Doktor der Chemie, gebildet, Sohn eines Mediziners sowie einer Pharmazeutin, Bruder eines Bankdirektors und eines Architekten. Niklaas, der gläubige Katholik, wohlerzogen, der klassischen Musik zugewandt. Und dann stand dort Philine. Eine ernste junge Frau mit hellblondem Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte. Schlank und seiner Meinung nach wunderschön, jedoch aus ärmlichen Verhältnissen stammend. Sie lernten sich auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennen – einem Sportereignis, das von dem ersten Europäischen Präsidenten ins Leben gerufen wurde und seither jedes Jahr in jeder Hauptstadt eines europäischen Landes zur Unterstützung von Opfern von Gewaltverbrechen zelebriert wurde. Philine nahm an der Brüsseler Veranstaltung teil, indem sie dort die Disziplinen Dauerlauf und Hochsprung absolvierte und zu guter Letzt eine großzügige Spende leistete. Sie spendete, obwohl sie mitten in ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin steckte, deren Abschluss sie bis in das Europäische Parlament führen sollte. Niklaas war tief beeindruckt. Eine Frau, die selbst nur knapp über die Runden kam, gab noch etwas von ihrem mageren Gehalt für andere her. So viel Selbstlosigkeit war ihm in seiner eigenen Familie noch nicht begegnet. Um sein Gewissen ein wenig zu beruhigen, spendete er die dreifache Summe und lud Philine am Abend zum Cocktailtrinken mit ein paar Freunden ein. Doch ihrer Meinung nach existierte eine zu große Kluft zwischen ihrer Herkunft und der seinen, zwischen ihren Ansichten und seiner Einstellung. Es hatte Niklaas monatelange Anstrengungen gekostet, bis er die selbstbewusste Wallonin davon überzeugt hatte, ein richtig guter Fang zu sein und dass finanzielle Klüfte keine Hindernisse für die Liebe sind. Philine konnte sich zwar noch immer nicht für klassische Musik begeistern und schrammelte ebenso wie ihr kleiner Bruder lieber ein paar Rocksongs auf der Gitarre, doch nach ihrer Ansicht gab es eben Vorlieben und Gewohnheiten, die man besser für niemanden aufgab. Und nun war er seit sechs Jahren mit ihr verheiratet und seit vieren ein stolzer Papa.

Er betrachtete soeben lächelnd das neueste Foto seiner Tochter, als das Telefon läutete. Gehetzt durchwühlte der Chemiker seine großen Papierhaufen auf dem Tisch. Irgendwo unter den zahllosen Blättern musste sich das Telefon verstecken. Der Anrufer schien Niklaas Vorliebe für Chaos zu kennen, denn er ließ es lange klingeln - so lange, bis der hagere Mann, unterdessen in Schweiß ausgebrochen, die Verbindung herstellte und sich meldete.

„Hallo Niklaas. Schon beim achten Klingeln heute. Respekt.“

Niklaas lachte leise. „Es gibt viel zu tun. Hallo Patrick. Irgendwelche Neuigkeiten?“

Er hörte Patrick am anderen Ende seufzen. „Ich habe hier einen Stapel Unterlagen mit lauter chemischen Formeln, die ich nicht verstehe. Da dachte ich mir... Könntest du dir das mal ansehen, wenn du Zeit hast?“ „Oh“, Niklaas rieb sich gestresst die Stirn. „Ist es sehr wichtig? Worum geht es denn?“

„Radioaktives Zeug. Endlager TransVallsa. Jemand möchte mir wohl etwas mitteilen, aber für mich sind das nur flämische Dörfer. Und ich wüsste zu gerne, was an TransVallsa faul sein soll. Kannst du mal drüber gucken?“

Niklaas stöhnte, doch Patrick wusste, dass diese Reaktion der bevorstehenden Mehrarbeit zuzurechnen war. Er würde der Überprüfung mit Sicherheit - wenn auch mit deutlichem Widerwillen - zustimmen. „Hast du die Unterlagen eingescannt?“

„Klar“, erwiderte Patrick. „Ein Mausklick und sie sind bei dir.“

„Na dann...“, erneutes Stöhnen, „dann ruf du deine Schwester an und erkläre ihr, warum ich heute nicht zum Abendessen erscheinen werde.“ „Himmel, dann muss ich mir wieder Vorträge über unflexible Kindergärten und die neuesten Lieblingsspeisen eurer Tochter anhören! Nee, lass mal. Aber grüß sie lieb von mir und gib Estelle einen Kuss von Onkel Patrick.“

„Wenn ich überhaupt rechtzeitig zuhause bin“, brummte Niklaas. „Bis später.“

„Danke, Lieblingsschwager.“

Niklaas trennte die Verbindung und legte das Telefon zurück in die Ladestation, um beim nächsten Anruf nicht wieder lange suchen zu müssen. Natürlich hätte er auch - wie ein Großteil der Bevölkerung - das Bildschirmtelefon nutzen können, für das man lediglich einen Klick in die entsprechende Verbindungsleiste benötigte, doch was die alltägliche Technik betraf, so liebte Niklaas es eher konservativ. Die Vorstellung davon, sein Gesprächspartner könne jedes kleine Augenrollen, jedes Kratzen und Strecken seinerseits beobachten, war für ihn mit mittelmäßigem Grauen behaftet.

Niklaas blickte auf und ruckelte an der Funkmaus. Sofort zeigte ihm der Bildschirm die neuesten Informationen. Die E-Mail von Patrick war bereits eingetroffen. Er lud den Anhang auf die Festplatte herunter und öffnete die Datei. Für ihn unverständlicher Text. Formeln. Chemische Verbindungen. Reaktionen. Soweit er scrollte nur Physik und Chemie. Nahezu achtzig Seiten. Niklaas seufzte, dann rief er Philine an, um sich für das Abendessen zu entschuldigen.

*

Gilles-Baptiste Aubert lehnte sich in seinem hohen Lederstuhl zurück und blickte seinen Mitarbeiter lange ernst an. Zwischen den Zeigefingern und Daumen beider Hände drehte er unschlüssig einen Kugelschreiber. Er hielt sich nicht für streng, engstirnig oder gar wählerisch, doch auch er musste eine gezielte und vor allem sinnvolle Auswahl unter sämtlichen Artikeln treffen, die die Journalisten ihm hereinreichten und zu veröffentlichen gedachten. Dass Patrick Ladeaux ausgerechnet wieder einmal mit einer Atommüllsache vor ihm saß, versetzte ihn nicht mehr in Erstaunen, machte ihn jedoch zusehends sensibel. Ladeaux war mittlerweile bekannt für seine harte Kritik an der gesamten atomaren Geschichte. Bei einem Auftritt zum Thema in einer erfolgreichen Talkshow hatte er öffentlich eine Kopie des Euratom-Vertrags zerrissen und der - offensichtlich pro-atomar eingestellten - Moderatorin die vielen kleinen Schnipsel mit einer höflichen Verbeugung in den Schoß gelegt. Nicht ein einziger Abgeordneter der Regierung noch sonst ein Politiker oder gar ein Mitarbeiter des Instituts zur Umwandlung und Lagerung radioaktiver Elemente (IRETS) hatte diese Handlung auch nur im Entferntesten interessiert. Bei den Zuschauern der Sendung hingegen war ein Sturm von kontroversen Diskussionen ausgebrochen, die selbst noch ein paar Zeitungen in den darauffolgenden Tagen beschäftigten. Die einen hielten ihn für einen arroganten Wichtigtuer, die anderen sahen in ihm einen couragierten Atomgegner, einen, der sich traute, öffentlich Tacheles zu reden. Gilles-Baptiste Aubert war über diesen Auftritt nicht erbaut gewesen.

„Wir sind kein billiges Boulevardblatt“, hatte er Patrick vorgehalten, „meine Journalisten liefern detailliert recherchierte Berichte. Diesen Berichten verdanken wir unsere Bekanntheit und unseren Erfolg.“

Patrick konnte nur ergeben die Hände heben. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass gleich ein paar tausend Leute von ihren Stühlen springen, nur weil ich ein paar Seiten Papier zerrissen habe.“

„Es war kein leeres Papier, sondern ein Vertrag der Europäischen Union!“

„Einer von 1957!“

„Einer, der seit beinah hundert Jahren Bestand hat. Sie haben damit sämtliche Staaten der Union angegriffen.“

Patrick konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. „Alle Staaten, Monsieur Aubert, alle Staaten dieses Vertrags haben mittlerweile den Atomausstieg beschlossen und teilweise sogar schon umgesetzt. Dieser Vertrag ist veraltet, längst überholt. Warum regen Sie sich auf?“

Aubert hatte darauf verzichtet, weiter mit Ladeaux zu diskutieren und ihm lediglich wiederholt eingeschärft, einen derartigen Auftritt nicht nochmals zu dulden. Wenn Ladeaux nun von sich aus mit einem dicken Stapel Unterlagen über Kernenergie bei ihm erschien und um einen Auftrag bat, schrillten bei Aubert sämtliche Alarmglocken.

„Na schön, Ladeaux“, begann er unentschlossen, „was für einen Artikel gedenken Sie da zu schreiben?“

Patrick grinste ein wenig schief. Er wusste, dass er faktisch nichts in der Hand hatte, noch sehr viele Recherchen anstanden und Aubert nicht erfreut sein würde, Geld und Zeit investieren zu müssen.

„Ich bin noch nicht sicher. Mein Schwager erstellt gerade eine erste Analyse der Daten, danach werde ich hoffentlich klare Anhaltspunkte dafür haben, was in TransVallsa nicht so läuft, wie es sollte.“

Aubert zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Er hörte auf, den Kugelschreiber zwischen den Fingern zu drehen, legte ihn auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Stuhl vor. „Ich fürchte fast, das ist Ihr Ernst, Ladeaux.“

Patrick versuchte, die plötzlich in ihm aufkeimende Unsicherheit zu ignorieren.

„Nun ... ich wusste mir nicht anders zu helfen. Aber ich möchte auch nicht ohne Ihr Wissen daran weiterarbeiten und riskieren, dass ...“

„Sie haben bereits einiges riskiert“, unterbrach Aubert ihn mit drohender, wenn auch noch immer ruhiger Stimme. „Zwei unerledigte Aufträge liegen auf Ihrem Schreibtisch. Ich erwarte, dass Sie umgehend dorthin zurückkehren und daran arbeiten. Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie nebenher in anderen Angelegenheiten herumschnüffeln, denen Sie nicht zugeteilt sind, sehe ich mich dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die Ihnen sicher nicht gefallen werden.“

Patrick spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er hatte geahnt, dass er mit seiner Bitte viel von seinem Boss verlangte, doch eine so offene Drohung hatte er weder erwartet noch jemals gehört. Er räusperte sich. Er nahm den Stapel Papier vom Tisch, erhob sich und sah peinlich berührt an Aubert vorbei. „Entschuldigen Sie, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe“, erklärte er mit gepresster Stimme und verließ eilig den Raum.

Aubert blickte ihm hinterher. Er seufzte. Ladeaux war ein guter Journalist. Jemand, der stets bis ins Detail recherchierte. Jemand, der auch komplizierte Fachabhandlungen verständlich formulieren konnte. Doch genauso akribisch, wie er forschte, genauso neugierig steckte er oft seine Nase in Dinge, die mit seinem Metier nichts mehr zu tun hatten. Rein persönlich empfand er Ladeauxs stetige Euphorie, Neues aufzudecken, als Bereicherung, doch er vergaß hin und wieder seinen eigentlichen Job. Aubert sah sich gezwungen, ihm dies als sein Boss gelegentlich deutlich zu machen.

Erneut seufzte Aubert, dann klickte er auf seinen Kugelschreiber, senkte den Blick und begann, die vor ihm liegenden Entwürfe zu korrigieren.

*

Schwer enttäuscht schlich Patrick in sein Büro zurück. Die TransVallsa-Unterlagen fanden ihren Platz nunmehr neben einem großen Haufen anderer unerledigter Vorgänge auf der Fensterbank und sahen einem wahrscheinlich langen Winter entgegen. Patrick ließ sich in seinen Stuhl sinken. Selten hatte er einen derartigen Rüffel von seinem Boss hinnehmen müssen. Es vermieste ihm gründlich den Rest des Tages. Eine Weile fragte er sich, ob er nicht doch lieber an die Kunsthochschule hätte gehen sollen, um Comic zu studieren und ein reicher und berühmter Comic-Zeichner vom Schlage eines Hergé zu werden, doch schließlich zog er eine Mappe mit abgeschlossenen Recherchen heraus und begann den von Aubert gewünschten Artikel zu schreiben. Je später es wurde, desto besser kam er voran. Die Sätze schienen nunmehr aus seinen Fingern zu fließen. Um 20:00 Uhr verließ er das Verlagsgebäude, um beim Bäcker gegenüber einen großen Becher Kaffee und ein Croissant zu besorgen. Als er wenig später an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, bemerkte er, dass in seiner Telefonleiste auf dem Monitor ein Fenster blinkte. Ein verpasster Anruf.

„Mist“, fluchte er leise vor sich hin. „Zehn Minuten weg und gleich so was.“

Er klickte auf ‚Rückruf‘ und es erschien Niklaas‘ Name in der Leiste. Die Büronummer. Sein Herzschlag beschleunigte sich vor Nervosität, als die Verbindung zu seinem Schwager hergestellt wurde. Was gab es wohl zu berichten?

„Patrick! Du bist noch im Büro? Ich habe es schon bei dir zuhause versucht!“

Patrick nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher und dankte dem dunklen Gold, dass es sich so warm und wohltuend in seinen Magen legte.

„Ich muss noch dringend einen Artikel schreiben. Mein Chef hat mir gedroht, weil ich den TransVallsa-Auftrag haben wollte.“

„Und? Was hat er gesagt?“

„Ich soll gefälligst meine Aufgaben erledigen. Basta. Das war das kürzeste Gespräch, das ich je mit ihm hatte“, er seufzte tief. „Na ja, abgesehen von den morgendlichen Grüßen auf dem Flur.“

„Dann werdet ihr morgen vielleicht ein längeres Gespräch haben“, mutmaßte Niklaas und Patrick richtete sich vor Spannung kerzengerade auf. „Warum? Hast du etwas Bedeutendes herausgefunden?“

„Hm, na ja“, schwächte Niklaas ab, „ich würde gerne deine Meinung dazu hören. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das richtig interpretiert habe, aber wenn das wahr ist, was da drinsteht und wenn…“, Niklaas‘ Stimme klang ungewohnt hoch. Er legte jedoch eine kurze Pause ein, um dann im normalen Tonfall weiterzusprechen. „Aber nein, du solltest entscheiden, wie das zu bewerten ist.“

„Schieß schon los“, bat Patrick, der mittlerweile seinen Kaffee in wenigen Zügen geleert hatte. Niklaas atmete tief durch.

„Dann hör mal zu. Ich beginne ganz am Anfang, also unterbrich mich, wenn ich dir irgendetwas erzähle, was du längst weißt.“

„In Ordnung.“

„Gut. Also, zu Beginn sind hier die radioaktiven Stoffe in ihrer chemischen und physikalischen Beschaffenheit aufgeführt. Allen voran U-235…“

„Klar, Uran ist ja der Ausgangsstoff“, fiel Patrick ihm ins Wort.

„Genau. Dann folgt der nächste Schritt. Na ja, ich bin kein Physiker und ich fürchte, man benötigt schon wenigstens ein paar Semester Physik-Studium, um gewisse Abläufe zu verstehen, aber ich versuche es trotzdem. Wenn im Kernkraftwerk das Uran gespalten wird, setzen sich die Kernreste zu neuen Atomen zusammen und wir erhalten sogenannte Transurane, also anderweitige radioaktive Substanzen, wie das hier aufgeführte Plutonium, Cäsium-137, Iod-129, Neptunium…“

„Curium, Americium und so weiter“, fiel Patrick ihm erneut ins Wort. „Und die sind da alle verzeichnet?“

„Ja“, bestätigte Niklaas und seine Stimme gewann wieder leicht an Höhe. „Sogar alle anderen Spaltprodukte wie Strontium, Technetium-99…“

„Hm, also sowohl langlebige als auch kurzlebige Isotope, okay. Mach weiter.“

„Diese ganzen Beschreibungen dauern allein über zwanzig Seiten an. Zumindest soweit, wie ich es verstehen kann. Dann ist hier detailliert ausgeführt, wie die Transmutation funktioniert, also, dass sie eine Art der nuklearen Müllverbrennung ist, bei der alle langlebigen Isotope in kurzlebige umgewandelt werden sollen. Das soll durch Spallation gelingen – was auch immer das bedeutet.“

Patrick räusperte sich ungeduldig. Er schwitzte, sehnte eine Erlösung seiner immensen Neugier herbei, wartete auf Antworten, wollte jedoch keine Erklärungen abgeben.

„Das ist der eigentliche Vorgang, der die Transmutation zur Müllverbrennung macht. Dabei wird ein Proton durch eine Beschleunigeranlage geschossen und schlägt schließlich in ein sogenanntes Target ein. Das Target ist, soweit ich weiß, eine Bleischmelze, aus der durch den Aufprall des Protons die Neutronen herausgeschlagen werden. Die Neutronen binden sich an den Kern eines langlebigen Atoms – beispielsweise Plutonium. Der Kern des Plutoniums zerfällt durch die zusätzlichen Neutronen zu einem kurzlebigen Isotop. Statt mit mehreren hunderttausend Jahren Abklingzeit muss man nach der Spallation nur noch etwa hundert Jahre für die Endlagerung einrechnen.“

Niklaas atmete noch einmal tief durch. Dann hörte Patrick, wie er offensichtlich nach einer Flasche griff und in einigen großen Schlucken trank. „Was machst du da?“, hakte er im kritischen Tonfall nach. „Säufst du?!“ „Nur Wasser“, versicherte Niklaas, sobald er geschluckt hatte. „Was Spallation ist, habe ich- verstanden. Passt zu meiner kleinen Theorie. Deshalb brauchte ich gerade eine Abkühlung.“

„Was zum Henker ist deine Theorie?!“, brach es aus Patrick heraus. Niklaas konnte ihn gelegentlich verdammt gut hinhalten! Er war mittlerweile von seinem Stuhl aufgesprungen und begann nun im Raum auf und ab zu laufen.

„Nein nein, alles zu seiner Zeit. Na schön, hier ist dann etwa…“, Niklaas blätterte hörbar durch die Unterlagen, „vierzig Seiten lang die Transmutation beschrieben, danach fünfzehn Seiten lang mögliche Endprodukte mit Halbwertszeiten unter hundert Jahren.“ Patrick nickte, unterbrach ihn jedoch nicht. „Und dann kommt das Kurioseste: Die am Schluss aufgelisteten Stoffe sind wieder exakt die gleichen, wie auf den ersten Seiten.“

Erneut nickte Patrick. „Ja, das ist mir auch aufgefallen. Was soll das?“

„Willst du jetzt meine Theorie hören?“, fragte Niklaas und nun klang seine Stimme nicht mehr nur erhöht, sondern ungewohnt schrill. Am liebsten wäre Patrick durch das Telefon gekrabbelt und hätte seinen Schwager geschüttelt, bis er endlich alle Informationen ausgespuckt hatte!

„Man, ich warte seit sechs Stunden darauf!“, blaffte er zurück.

„Ich glaube, das Ganze ist eine Lüge, Patrick! Nichts passiert da! Absolut nichts!“

Patrick stand auf der falschen Seite seines Schreibtisches und sah mit heruntergezogenen Augenbrauen aus dem Fenster auf den kleinen Park, in dem er am Vormittag seine verbotene Zigarette geraucht hatte. „Was meinst du damit? Da passiert nichts?“

„Ich meine damit, dass die Transmutation noch immer nur eine Theorie ist! Da wird nichts umgewandelt, aller Atommüll, der dorthin transportiert wird, lagert genauso ein, wie er ist, nämlich mit mehreren hunderttausend Jahren Halbwertszeit, die nur offiziell hundert geworden sind. TransVallsa ist nichts weiter als ein Fake!“

Noch immer starrte Patrick aus dem Fenster. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und er hatte das Gefühl, als hätten seine Knie soeben ihren Dienst gekündigt. Hatte er Niklaas richtig verstanden? Es war ihm egal, dass er das Chaos in seinem Büro noch vergrößerte, als er sich kraftlos auf die Fensterbank sinken ließ und dadurch sämtliche Papiere gen Fußboden segelten.

„Ach, du Scheiße“, stieß er hervor. „Wenn das wahr ist…“

„…dann haben wir es hier mit einem der größten Umweltskandale zu tun, die die Welt je gesehen hat!“, fiel Niklaas ihm ins Wort.

In Patricks Kopf purzelten die Gedanken wild durcheinander. Er war nicht mehr in der Lage, sich klar und deutlich zu artikulieren, als er seinem Schwager für dessen Hilfe dankte und ließ seine Stirn wenig später fassungslos auf das Holz seines Schreibtisches sinken.

Kapitel 2

18. Dezember 2047

Eleni

Die kalte Dezembersonne ließ die Eiskristalle des frisch gefallenen Schnees wie eine dünne Decke aus Millionen winziger Diamanten glitzern. Sie stand in ihrer Küche, einen eilig zusammengemixten Obstsaft in der Hand und blickte durch die große Fensterfront hinaus. Sie konnte von hier in den Garten hineinsehen, doch auch über die hohen Bäume hinweg, die diesen eingrenzten, bis in das Dickicht der sich anschließenden Parklandschaft. Die Pflanzen bogen sich unter der unerwarteten Last, die den Tag zuvor sowie über Nacht herabgeschneit war und das Grau der dunklen Jahreszeit unter einer strahlend weißen Schneedecke versinken ließ. Zwanzig Zentimeter Neuschnee waren nicht unbedingt die beste Voraussetzung für eine ausgedehnte Joggingrunde, dennoch freute Eleni sich darauf, Abdrücke in dem jungfräulichen Weiß hinterlassen zu können. Viel zu lange hatten sie auf richtige Winter verzichten müssen. Doch zu einem klassischen, gemäß der Familientradition ablaufenden Weihnachtsfest, gehörte ihrer Meinung nach nun mal auch der Schnee, der unter den Stiefeln knirschte.

Ein Winter blieb letztlich auch ohne weiße Pracht ein Winter, doch es hatte einige Jahre zwischen 2028 und 2037 gegeben, in denen der gesamte europäische Norden keine einzige Schneeflocke hatte sehen dürfen. Erst mit der allmählichen Klimaberuhigung, die nun offensichtlich einsetzte, kehrte auch der Dauerfrost zurück.

Sie nippte kurz an ihrem Saft, ließ ihn auf dem kleinen Frühstückstisch stehen und griff nach dem Haargummi, um ihre schwarze Lockenmähne zu bändigen. Spätschichten waren ihr die liebsten. Man konnte ausschlafen, sich sportlich betätigen und frisch zur Arbeit erscheinen. Wenn sie an einem komplexen Fall knobelte, funktionierte sie ohnehin zu später Stunde besser.

Sie lief durch den Flur, der von Unmengen verschiedener Bilder geziert wurde. Aquarelle, eines von August Macke, eine wirre Zeichnung Kokoschkas sowie Fotos ihrer zahlreichen Familienmitglieder. Während sie in ihre Sportschuhe schlüpfte, lächelte sie wie immer ihren Brüdern zu, dann den Großeltern, zuletzt den Eltern. Alle ihre Lieben an einer Wand.

Es empfing sie klare kalte Winterluft, als sie vor die Tür trat, und sie atmete tief durch. Man konnte den Schnee förmlich schmecken. Die Joggingrunde führte sie die Straße entlang, dann in den Park hinein, den sie zweimal umrundete und aus der anderen Richtung kommend die Straße wieder hinauf. 45 Minuten. Sie hätte noch weiterlaufen können, doch eine Dusche würde nun unerlässlich sein. Ausgedehnte Läufe verschob sie regelmäßig auf ihre freien Tage. Kaum, dass sie ihren Schlüssel ins Schloss schob und die Tür öffnete, hörte sie in ihrem kleinen Arbeitszimmer bereits das Telefon läuten. Sie fluchte, streifte mit einer kurzen Bewegung die schneenassen Laufschuhe von den Füßen und eilte durch die Wohnung. Der Bildschirm flackerte, als sie die mit einem Knopfdruck das Gespräch entgegennahm, wurde dann jedoch von einem ihr wohlbekannten Gesicht ausgefüllt. Ihr Kollege.

„Guten Morgen, John“, grüßte sie lächelnd, „bist du schon im Büro?“

„Allerdings“, knurrte er unfreundlich zurück. „Moreno hat mich aus dem Bett geholt. Und du sieh zu, dass du ebenfalls herkommst. Am besten vor `ner halben Stunde.“

Sie nickte. „Klar. Ich muss nur eben noch die Zeitmaschine aus dem Keller holen und abstauben. John, ich komme gerade vom Joggen und bin noch ungeduscht. Es wird als etwa noch eine Stunde…“

„Eleni Burkhard!“, unterbrach er sie mit strenger Stimme. „Schwing dich auf deinen Drahtesel und komm her! Jetzt!“

Ein wenig verärgert stemmte sie die Hände in ihre Hüften und legte den Kopf schräg. Eine Geste, die mit Sicherheit Ärger bedeutete. „Ändere deinen Ton, mein Freund“, warnte sie ihn, „und sag mir lieber, was los ist.“

Pause.

John atmete tief durch. „Entschuldige, Hardy. Moreno hat mich aus dem Tiefschlaf gerissen. Das war kein guter Start in den Morgen, ehrlich. In Süddanubien hat es einen Mord gegeben. In Mánfa, irgend so einem Bergdorf. Ein englischer Physiker, der in TransVallsa gearbeitet hat. Scheint kein unbedeutender Fall zu sein. Jedenfalls hat die danubische Polizei den Fall heute Morgen an Europol abgegeben.“

„TransVallsa?“, wiederholte Eleni stirnrunzelnd. „Was ist das?“

„Na, dieses Atommüllwerk. War doch vor ein paar Jahren groß in den Zeitungen.“

Sie fasste sich mit der linken Hand an die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. Ja, der Name sagte ihr etwas, doch Einzelheiten zu diesem Werk, musste sie eingestehen, hatten sie nie interessiert. John verstand ihre Geste und winkte ab.

„Näheres erkläre ich dir, wenn du da bist, aber bitte – und das meine ich jetzt ganz höflich und respektvoll – schwing deinen Hintern hierher! Und falls du arg verschwitzt sein solltest, dann macht das nichts. Ich steh auf animalische Gerüche.“

Sie schenkte ihm einen gelangweilten Blick. „Na schön, ich schmiere mir schnell noch ein Brot und mach mich auf den Weg. Und du erklärst Moreno inzwischen, warum seine kleine Agentin so stinkt.“

„Geht klar. Bis gleich.“

Eleni trennte die Verbindung. Einen Moment lang stand sie regungslos da, dann seufzte sie, entledigte sich ihrer Laufhose, schlüpfte in die Uniform und eilte in die Küche hinüber. Seit zwei Jahren arbeitete die hochgewachsene griechisch-deutsche Ungarin bei Europol in Den Haag. Nachdem Europol 2035 Hoheitsgewalt zugestanden worden war, war dieser Job ihr großer Traum gewesen und nach der Ausbildung zur Kommissarin in ihrer Heimatstadt Hamburg sowie einer anschließenden Weiterbildung bei CEPOL (Collège Européen de la Police) in Bramshill hatte sie sich sofort auf diese Stelle beworben. Es hatte dennoch drei Jahre gedauert (und unzählige Schreiben und Anrufe ihrerseits), ehe der Leiter der Abteilung SC 3 Gewaltverbrechen gegen Personen – Javier Moreno-Alvarez – ihre Bewerbungsunterlagen auf den Tisch gelegt bekommen hatte. Moreno war von ihrem Engagement und ihrer Hartnäckigkeit sehr beeindruckt gewesen, weshalb sie nach Den Haag eingeladen wurde und persönlich vorstellig werden durfte. Von dem Moment an, in dem sie dem Abteilungsleiter die Hand reichte, setzte Moreno alles daran, diese außergewöhnliche Frau für sein Team zu gewinnen. Sie war nicht nur ehrgeizig, selbstbewusst und von äußerster Schnelligkeit im Denken und Handeln, sondern brachte auch eine Fröhlichkeit in die Abteilung, die beinah alle ansteckte und für Teamgeist sorgte.

Eleni liebte ihre Arbeit in Den Haag. Ihre Heimatstadt Hamburg im Norden Deutschlands gehörte zwar ihrer Meinung nach zu einem der schönsten Orte auf der Welt, dennoch verband sie mit Den Haag etwas ganz anderes. Einen neuen Lebensabschnitt. Die Realisierung eines Traumes.

Sie jagte ihr Crossrad die Nieuwe Parklaan hinunter, schlitterte hin und wieder in dem frisch gefallenen Schnee, rutschte, fing das Rad mit dem Fuß ab und hetzte weiter. Als sie ihr Rad letztlich vor dem gewaltigen Europolgebäude abstellte, fühlte sie sich durchgeschwitzter als nach ihrer Joggingrunde und beschloss, in der Mittagspause im firmeneigenen Sportstudio duschen zu gehen.

„Guten Morgen!“ Sie winkte den Beamten im Eingangsbereich zu, während der Pförtner nur einen kurzen Blick auf ihre schlanke Gestalt und den erhobenen Ausweis warf, bevor er das Drehkreuz frei gab und sie passieren konnte. Sie lief mit langen Schritten an den Fahrstühlen vorbei und hüpfte die Stufen in den zweiten Stock hinauf.

„Eleni!“, hörte sie Johns Stimme am Ende des Ganges. „Bist du geflogen?!“

„Nein, eher geschlittert. Danke für den Kaffee“, nickte sie und zog ihrem verdutzten Kollegen den Becher aus der Hand. Dieser wandte sich gleich darauf wortlos um, um erneut die Teeküche aufzusuchen. Moreno winkte hinter seinem Schreibtisch sitzend durch die Glastür. Eleni genehmigte sich einen großen Schluck des für ihren Geschmack viel zu starken Kaffees und zog ein angewidertes Gesicht, bevor sie in sein Zimmer trat.

„Guten Morgen“, grüßte sie ihn und er gestikulierte wild auf seinen Besucherstuhl.

„Guten Morgen, Frau Burkhard. Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir haben es wirklich eilig, ansonsten hätte ich es uns niemals angetan und John zu so früher Stunde aus dem Bett geholt.“

Eleni grinste leicht. „Er hat in der Tat beste Laune. Um was für einen Mord genau geht es denn?“

Moreno blickte an ihr vorbei durch die Glastür und winkte erneut. „Moment, John kommt gerade.“

Der große schlaksige Engländer schlenderte in das geräumige Büro seines Chefs, schloss die Tür hinter sich, indem er ihr mit dem Knie einen Schubs versetzte und pustete in seinen frisch eingeschenkten Kaffee. Die Brille beschlug von dem heißen Dampf und Eleni kicherte, als er sich auf dem Stuhl neben ihr nieder ließ.

„Achtung! Fallnebel in Den Haag! Sichtweite unter fünf Zentimeter!“

John blinzelte über den Rand seiner Brille hinweg. „Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt“, erklärte er ihr, bevor er sich Moreno zuwandte. „Und? Jetzt will ich die ganze Geschichte hören.“

Moreno lehnte sich gewichtig im Stuhl zurück. „Die ganze Geschichte will ich von Ihnen hören, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind. Vorerst müssen wir uns mit den Informationen begnügen, die uns aus Süddanubien erreicht haben.“

„Und wie viel wissen wir?“, hakte Eleni nach.

„Ein Engländer“, erklärte Moreno, während er ihnen einige Zettel über den Tisch zuschob. „Alan Robinson, ein Physiker, der einen befristeten Job bei TransVallsa hatte. Befristet deshalb, da er maßgeblich an der Entwicklung und Perfektionierung der Transmutation mitgearbeitet hat. Als TransVallsa 2042 offiziell in Betrieb genommen wurde, wäre sein Job eigentlich erledigt gewesen, aber sie haben seine Befristung immer wieder verlängert. Weshalb genau, ist mir nicht bekannt. Es gab wohl irgendein weitergehendes Projekt. Genaueres werden Sie sicher von Robinsons Frau oder anderen Wissenschaftlern bei TransVallsa erfahren.“ „Oh“, Eleni stützte missmutig den Kopf auf die Finger der linken Hand. „Eine schöne Aufgabe zu Weihnachten. In tiefster Trauer befindliche Familienangehörige befragen und in ein Land fliegen, das sich noch immer im Kleinkrieg mit sich selbst befindet. Mein Urlaub für die Feiertage ist wohl gestrichen.“

„Das kommt ganz auf Ihre Schnelligkeit an, liebe Frau Burkhard“, bemerkte Moreno unbeeindruckt, „und natürlich auf die Situation. Selbstverständlich hoffen wir alle auf ein Fest im Schoße der Familie.“

Eleni verkniff es sich, ihm eine Grimasse zu schneiden, und kippte eilig einen weiteren Schluck Kaffee, bevor sie das Thema wechselte. „Was genau ist TransVallsa eigentlich und was sind Transmutationen?“

Moreno streckte den Arm aus und klopfte auf die Zettel, die er ihr zuvor gereicht hatte.

„Dazu steht hier etwas drin. TransVallsa wurde im Zuge des EU-Vertrags von Bratislava gebaut, um für die gesamten europäischen Staaten das Atommüll-Problem zu lösen. Die Transmutation ist ein physikalischer Vorgang, bei dem sämtliche radioaktive Elemente im Atommüll in ihrer nuklearen Form verändert werden. Aller hieraus resultierender Müll muss nur noch für maximal hundert Jahre eingelagert werden. Auch dieses Endlager befindet sich in Danubien, nämlich unter dem Werk in Stollen des Mecsek-Gebirges. 2042 waren sämtliche Forschungen und Zulassungsverfahren abgeschlossen. TransVallsa ging in Betrieb. Mehr kann ich Ihnen dazu leider auch nicht sagen. Sie werden vor Ort sicher sehr viel tiefgreifendere Informationen bekommen.“

„Ich werde nach Pécs reisen“, stellte Eleni mit leiser Stimme fest und wusste nicht mehr, wie sie sich fühlen sollte. Wehmütig? Erfreut? Oder doch eher auf eine beklemmende Weise erwartungsvoll? „Seit mehr als fünfzehn Jahren war ich nicht mehr dort.“

Moreno bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. „Noch hat die Spurensicherung in Mánfa ihre Arbeit nicht abgeschlossen. Robinsons Obduktion war erst gestern, die letzten Auswertungen werden morgen früh erwartet. Sie haben also genügend Zeit erst einmal nach London zu reisen und sich dort zu informieren, bevor die Ergebnisse der danubischen Kollegen zur Verfügung stehen.“ Und in einem väterlichen Tonfall fügte er hinzu: „Sie können sich also noch auf eine entsprechende Begegnung vorbereiten.“

Eleni nickte nicht überzeugt, John stellte mit einer kräftigen Bewegung seinen Kaffee auf den Schreibtisch seines Chefs. Die braune Brühe schwappte bedenklich.

„Na ja, das alles kriegt Frau Burkhard sicher auch allein hin. Nicht wahr? Ein paar Informationen zu sammeln ist ja nicht weiter schwierig.“ Eleni fuhr in ihrem Stuhl herum. Sie traute ihren Ohren kaum! Wenn John schlecht gelaunt war, konnte er ein verdammt großes Ekel sein! Sie öffnete soeben den Mund, um etwas Entsprechendes kundzutun, als Moreno ihr im gereizten Ton zuvorkam.

„Achten Sie auf Ihr Mundwerk, Mr. Cahill. Ich habe Sie gewiss nicht aus dem Bett geholt, um Miss Burkhard allein loszuschicken. Sie haben die englische Staatsbürgerschaft, Miss Burkhard verfügt neben der deutschen auch über die ungarische. Wir müssen daher in keinem der Länder einen ortsansässigen Ermittler hinzuziehen, was uns Zeit, Kosten sowie Erklärungen erspart. Im Übrigen können wir die Ausmaße dieses Falls noch nicht klar absehen. Demnach gilt Nummer Sicher. Habe ich mich klar ausgedrückt?“