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Ingo Bott

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Beschreibung

Wir sprechen frei, wenn es keine Schuld gibt oder wenn sich nichts beweisen lässt. In diesem Unterschied kann ein Menschenleben liegen. Genau deshalb ist er so gefährlich.  Der dritte Fall für die beiden Strafverteidiger Sophie Mahler und Dr. Anton Pirlo von Strafverteidiger und Buchautor Prof. Dr. Ingo Bott Pempelfort brennt. In der Nacht ging ein riesiges Corona-Testzentrum am Düsseldorfer Rheinufer in Flammen auf. Emre Ben Hamid, Sohn einer Clan-Familie, die gerade richtig groß ins Maskengeschäft eingestiegen ist, soll sich auf diese Weise eines Konkurrenten entledigt haben. Doch Emre behauptet ganz was anderes. Dass er denjenigen kennt, der hier gezündelt hat. Und plötzlich weiß Pirlo, warum es besser ist, das Mandat anzunehmen und noch besser, einen Freispruch für Emre herauszuholen. »Das ist schon kriminell gut!« Ulli Wagner, Saarländischer Rundfunk SR3

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Ähnliche


Ingo Bott

Pirlo - Gefährlicher Freispruch

Der dritte Fall für die Strafverteidiger Pirlo und Mahler

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wir sprechen frei, wenn es keine Schuld gibt oder sich nichts beweisen lässt. In diesem Unterschied kann ein Menschenleben liegen. Genau deshalb ist er so gefährlich.  Der dritte Fall für die beiden Strafverteidiger Sophie Mahler und Dr. Anton Pirlo.

Pempelfort brennt. In der Nacht ging ein riesiges Corona-Testzentrum am Düsseldorfer Rheinufer in Flammen auf. Emre Ben Hamid, Sohn einer Clan-Familie, die gerade richtig groß ins Maskengeschäft eingestiegen ist, soll sich auf diese Weise eines Konkurrenten entledigt haben. Doch Emre behauptet ganz was anderes. Dass er denjenigen kennt, der hier gezündelt hat. Und plötzlich weiß Pirlo, warum es besser ist, das Mandat anzunehmen und noch besser, einen Freispruch für Emre herauszuholen.

»Das ist schon kriminell gut!« Ulli Wagner, Saarländischer Rundfunk SR3

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Aus einem Vermerk der Staatsanwaltschaft: DR. INGO BOTT ist nicht Dr. Anton Pirlo. Es ist aber davon auszugehen, dass er ihn gut kennt. Beide leben in Düsseldorf. Beide haben eine Wohnzimmerkanzlei gegründet. Über Ingo Bott ist einiges bekannt. Er war erst Partner in einer Wirtschaftskanzlei. Danach hat sich seine Wohnzimmergründung zu einer renommierten Kanzlei mit einem großen Team entwickelt. Man kennt ihn als Verteidiger von Unternehmen und Privatpersonen in vielen namhaften Fällen. Die WirtschaftsWoche listet Ingo Bott als einen der renommiertesten Anwälte im Wirtschaftsstrafrecht und die von ihm gegründete Einheit als Top Kanzlei in den Bereichen Wirtschaftsstrafrecht und Compliance. Ingo Bott hat den Europarat in Strafrechtsfragen vertreten und hält Vorträge im In- und Ausland. Er liebt Sprache und schreibt Romane.

Inhalt

Motto

Tatentschluss

1. Nüchtern.

2. Rückstand.

3. Schieflage.

4. Gaga.

5. Gesund. Und sexy.

6. Breasy.

7. Deprulierte Schwankungen.

8. Anwaltsantwort.

9. Fünf plus.

10. Nananananana.

11. Akquiserelevant. Vielleicht.

12. Weltreise.

13. Jahrhunderttalent.

14. Möglicherweise dumm.

15. Re-vo-lu-ti-on. Mindestens.

16. As usual.

17. Von Herzen.

18. Wie es lief. Wie es läuft.

19. Jura.

Tatermöglichung

1. Pferdchen.

2. Sashimi-Anliegen.

3. Harvard-Lebenslauf-Paradox.

4. Regel-Ausnahme-Verhältnis. Nur umgekehrt.

5. Windmühlen.

6. Unter dem Strich einfach.

7. Toilettentiefsinn.

8. Muay.

9. Eisbergscheiß.

10. Undercutmonster.

11. Kongnitionsdissonanzen, Baby.

12. Glückwunsch und so.

13. Eigeneuphemismus. Fortgeschrittenenversion.

14. Klobig.

Versuch

1. Gerichtssaalform.

2. Stressgekasper.

3. Küchengeflüster.

4. Haltungsfragen.

5. Atmosphärepegel.

6. Bertold Brecht. Kein Witz.

7. Professionelle Verbrecher.

8. Flipchartscheiß.

9. Tom-Hagen-Vordiplom.

10. Wahnsinnig schlau.

11. Nordisch by nature.

12. Des Glückes Tod.

13. Stürztorkeln. Vielseitigkeitsversion.

14. Habitathabibi.

15. Manche sagen so. Manche sagen so.

16. Hemmungslos. Begeistert.

17. Fett. Weinbar.

18. Zugangsfragen. Zugangsantworten.

Vollendung

1. Noch blasser.

2. Die Hackeschen Höfe. Schön da.

3. Entscheidungshengst.

4. Ständige Vertretung.

5. Märzschnee.

6. Wallah!

Beendigung

1. Hafen. Wind. Und all das andere.

2. Ganz schnell. Ganz düster.

3. Improvisation. Chaos.

4. Antizipierter Ablehnungsbeschluss.

5. Edison.

6. Kleine Bombe. Große Wirkung.

7. Jerusalem.

8. Letzte Wahrheiten.

9. Nero.

10. Zwischenwelt.

11. Drei.

12. Eigentlich ganz gut.

Grundzüge des Strafprozessrechts

Dank

Wir sprechen frei, wenn es keine Schuld gibt oder wenn sich nichts beweisen lässt. In diesem Unterschied kann ein Menschenleben liegen. Genau deshalb ist er so gefährlich.

 

Dieses Buch ist ein Roman. Die darin vorkommenden Personen sind fiktiv. Vieles, was ansonsten darin vorkommt, ist ebenfalls erfunden.

Zu einem Verrat sind die meisten Menschen pünktlicher zur Stelle als zu einer Tat der Treue.

 

Arthur Schnitzler

Man unterscheidet fünf Phasen einer Straftat, namentlich Tatentschluss, Tatermöglichung, Versuch, Vollendung und Beendigung. Sind alle fünf erfüllt, steht die Strafbarkeit fest. Sonst nicht.

 

Werner Arland, Philosophie der Strafverteidigung, 1992

Tatentschluss

1.Nüchtern.

Mitten in der Nacht

Pempelfort brennt. Pirlo steht vor dem Oberlandesgericht und schaut auf die Rheinwiesen, wo auf eine Initiative der Stadt seit ein paar Wochen ein riesiges »Corona-Testzentrum für ganz Düsseldorf« steht. Beziehungsweise: stand. Von dem gewaltigen Zeltkonstrukt ist nicht mehr viel übrig. Stattdessen starrt Pirlo in einen Flammenball. Sobald er wirklich versteht, was er da sieht, wählt er die Nummer der Feuerwehr. Kurz meldet sich zwar ein unwohles Gefühl. Ein Strafverteidiger ruft schließlich nicht gern irgendwo an, um ein Problem zu melden. Andererseits geht es hier nicht um eine Strafanzeige für eine Lappalie, sondern um ein echtes Problem. Die Flammen züngeln in Richtung der auf der Wiese stehenden Bäume und der angrenzenden Rheinterrassen. Woher das Feuer kommt, ist damit nicht die entscheidende Frage, sondern nur, wie es schnell wieder verschwindet.

Keine Minute später bremst ein Löschwagen auf der Straße. Die Feuerwehrzentrale ist nicht weit von hier. Trotzdem ist Pirlo beeindruckt davon, wie rasant alles abläuft. Womöglich war er auch einfach nicht der erste Anrufer.

Auf der Wiese geht es jetzt schnell. Feuerwehrleute verteilen sich. Rufe hallen durch die Nacht. Kurz darauf sind die Flammen besiegt. Übrig bleibt das traurige Skelett eines riesigen, vom Löschwasser triefenden Gestänges, das nur entfernt daran erinnert, dass hier in den letzten Monaten ein massives Zelt stand.

Ehe Pirlo die richtige Gelegenheit findet, seinen Blick loszureißen, taucht schon einer der Feuerwehrleute neben ihm auf. Der Mann mit dem Oberlippenbart wirkt durchtrainiert, fokussiert und wach. Eigentlich zählt Feuermelder Pirlo hier auch als kleiner Held. Trotzdem weiß er, in welcher zweifelhafter Verfassung er selbst ist. Pirlo ist müde. Was nicht nur an der Uhrzeit liegt. Und was man auch sehen kann. Leider.

»Haben Sie bei uns angerufen?«, fragt der Schnauzer.

»Ja«, antwortet Pirlo.

»Dann sind Sie Herr Hähle?«

»Nein.«

»Hm.« Während im Hintergrund zahllose Feuerwehrmänner durch die Gegend diffundieren und sich zu einer Vielzahl weiterer gesellen, die dort ebenfalls schon tätig sind, drückt der Schnurrbart auf seinem Telefon herum. »Frau Peters werden Sie jetzt auch nicht sein.«

»Genau erkannt.« Das Ausschlussprinzip beherrscht der Feuerwehrschnauzer also. Wie schön.

»Wahrscheinlich sind Sie dann Herr Khatib?«

»Richtig.«

Und schon ist Pirlo nervös. Er hat seine bürgerliche Identität als Anton Pirlo angemeldet. Trotzdem hat er bei der Feuerwehr seinen eigentlichen Namen angegeben. Es hatte ihn selbst überrascht, dass ihm das richtig vorgekommen war. Andererseits: Man übt solche Anrufe ja auch nicht gerade.

Als der Feuerwehrmann nickt, versucht Pirlo, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Hätte der Typ nach seinem Ausweis gefragt, wäre die Situation wahrscheinlich unangenehm geworden, zumindest aber ziemlich verworren. Wie das eben ist, wenn Ramzes Khatib und Anton Pirlo in derselben Lage auftauchen, da aber doch nur ein Mensch steht.

Der Feuerwehrmann reißt Pirlo aus diesen Gedanken. Er klopft ihm auf die Schulter. »Das haben Sie gut gemacht.« Die behandschuhten Finger deuten im groben Schwung in Richtung des ausgebrannten Testzentrums. »Gott sei Dank haben wir das hier schnell in den Griff bekommen, ehe sich das Feuer weiter ausgebreitet hat. Bei einem so heißen Brandherd weiß man schließlich nie. Da kann es auf wenige Sekunden ankommen. Gerade um diese Uhrzeit, wenn ansonsten kaum einer unterwegs ist, kann das mit Blick auf den Schaden schnell einen gewaltigen Unterschied machen.« Damit verstummt er und starrt mit nachdenklichem Blick auf die nassen Überbleibsel des Zeltes. Da Pirlo nichts weiter mit sich anzufangen weiß, starrt er einfach mit. Dann besinnt er sich. Der Feuerwehrmann hat die ungewöhnliche Uhrzeit angesprochen. Pirlo linst auf das Display seines Telefons. Es ist tatsächlich kurz nach fünf. An einem Mittwoch. Irgendwie ist ihm das unangenehm. Auch dass er keine gute Antwort parat hätte, wenn ihn der Typ jetzt fragte, was er hier eigentlich macht. Oder warum er mitten in der Nacht an einem Testzentrum steht, das zufällig gerade dann brennt. Sophie wüsste jetzt sicher, wie viele Brandstifter direkt am Tatort stehen bleiben, weil sie so ergriffen von sich und ihrem Werk sind, dass sie sich einfach nicht zum Loslassen durchringen können. Genauso wüsste sie, wie lange sich Pirlo hier noch zur Verfügung halten muss. Oder ob er sich einfach davonstehlen kann.

Der Feuerwehrmann klärt dankbarerweise zumindest das. »Wenn es nach mir geht, haben Sie Ihren Teil getan.« Wie auch immer er das meint. »Es kann aber sein, dass die Polizei oder die Staatsanwaltschaft in den nächsten Tagen auf Sie zukommen, um Sie als Zeugen zu befragen. Bitte halten Sie sich dafür zur Verfügung.«

»Sicher«, murmelt Pirlo.

»Gut. Danke.«

Damit darf Pirlo abtreten. Er schlägt den Mantelkragen hoch und trottet langsam davon, als ihn von hinten doch noch einmal der Feuerwehrmann ruft. »Eins noch!«

Pirlo dreht sich langsam um. »Ja?«

»Haben Sie eigentlich etwas getrunken?«

Pirlo überlegt, ob er antworten soll. Verpflichtet ist er dazu sicher nicht. Andererseits ist die Antwort heute leicht. Zumindest leichter als an einigen anderen Tagen in letzter Zeit. »Nein. Ich bin nüchtern.«

Der Feuerwehrmann hebt einen Daumen. »Gut. Hatte ich auch nicht anders erwartet.«

»Warum haben Sie dann gefragt?«

Der Schnauzbart vibriert. Pirlos neuer Bekannter lacht. »Sie wissen doch, wie das mit der Polizei ist. Irgendwie ist denen immer jeder verdächtig. Und dann ist es gut, das heute schon für den Bericht geklärt zu haben, den ich dorthinschicken muss.«

Pirlo weiß nicht, was er dazu sagen soll. Er wartet noch kurz, bis wirklich klar ist, dass hier nichts mehr kommt. »In Ordnung«, brummt er dann. Einfach so, um das alles irgendwie förmlich zum Abschluss zu bringen.

Der Feuerwehrmann hebt den Daumen. »Kommen Sie gut nach Hause, Herr Khatib. Passen Sie auf sich auf und schlafen Sie gut.«

Klar, denkt Pirlo. Wenn das denn mal so einfach wäre.

2.Rückstand.

Viereinhalb müde Stunden später in der Kanzlei

Um halb zehn treffen sich Sophie und Pirlo am Fahrstuhl. Geplant war das nicht. Es fällt auch nicht besonders angenehm aus. Zumindest nicht für Pirlo.

»Erwischt.« Sophie grinst.

»Wobei?«

»Beim Zuspätkommen. Es ist nach neun. Und zwar deutlich.«

Pirlo zieht eine Augenbraue hoch. Immerhin ist er überhaupt mal wieder da. Das sollte eigentlich schon genug Anlass für Jubel geben. Und nicht etwa für Sticheleien. »Wenn ich zu spät bin, bist du es auch.«

»Kann sein. Dann müssen wir eben beide in die Kaffeekasse einzahlen.«

»Oder keiner.«

Sophie lacht. »Das kannst du schön vergessen, Toni. Die Kaffeekasse gibt es überhaupt nur deinetwegen und wegen deiner Unpünktlichkeit. Wir haben gesagt, dass wir um neun Uhr hier sind. Und neun meint neun. Das hat irgendwer sogar auf den Notizzettel geschrieben, der auf der Kasse klebt.«

»Ja. Du.« Der Aufzug kommt. Beide steigen ein. Pirlo nimmt noch einen Anlauf. »Ich finde unsere gleiche Unpünktlichkeit hebt sich auf.«

»Und ich finde, dass neun Uhr neun Uhr heißt und unpünktlich ist, wer danach hier ist. Du kommst da nicht mehr raus, Herr Dr. Pirlo. Meinen Strafpunkt akzeptiere ich gern und gut gelaunt. Zumal es dann jetzt eben eins zu acht steht.«

»Oder null zu sieben«, brummt Pirlo trotzig. »Jedenfalls, wenn man richtig zählt.«

Der Aufzug hält. Als Sophie die Kanzlei betritt, zwinkert sie dem schon am Empfang sitzenden Wang zu. »Der neue Zwischenstand ist eins zu acht.«

»Ist notiert«, vermeldet Wang.

»Eigentlich ist es null zu sieben«, grummelt Pirlo.

Weder Sophie noch Wang gehen darauf ein. Dann kommt Sophie aber doch wieder aus ihrem Büro zurück. »So, die Aktentasche ist abgestellt, der Kaffee ruft!«

Sie tritt auf Pirlo zu und kneift ihn in die bärtige Wange. »Sei nicht so griesgrämig, Pirlo. Noch kannst du die Wette ja gewinnen. Zwei Strafpunkte hast du noch gut. Auch wenn ich keine Zweifel daran habe, wer hier am Ende den Abend für die beiden anderen im Paradise Now bezahlen muss.«

»Getränke übrigens inklusive«, vermerkt Wang von seinem Platz hinter dem Tresen.

»Selbstverständlich«, brummt Pirlo.

Sophie lacht. Dann holt sie ihm einen Kaffee.

»Hier. Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen.«

»Du meinst, wild entschlossen, hier gleich richtig durchzustarten und mindestens ein Dutzend neue Mandate zu akquirieren?«

Sie schüttelt den Kopf. Der blonde Zopf fliegt. »Eher so, als würdest du sonst gleich im Stehen einschlafen.«

Pirlo ringt sich ein schiefes Grinsen ab. Als er bemerkt, dass sie ihn besorgt ansieht, quält er auch noch ein Augenzwinkern hinterher. »Alles in Ordnung. Gleich bin ich in Topform.« Er hebt die von ihr übergebene Kaffeetasse mit Fortuna-Aufdruck. »Erst recht damit.«

Sie zögert. Dann kehrt dieses ihr eigene Lachen zurück, das er so sehr schätzt. Wenn auch nicht gerade jetzt.

Kurz darauf ist Sophie in ihrem Büro verschwunden. Wangs Finger klackern am Empfang über die Tastatur. Pirlo sitzt in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und pustet über die Tasse mit dem Kaffee. Bis zum Ende des Vormittags werden noch ein paar weitere folgen, so wie das in diesen Tagen eben immer ist, selbst wenn er sich keine Illusionen darüber macht, dass er damit einen Phantomschmerz bekämpft. Das Problem liegt nicht im Wachwerden, sondern im Wachbleiben. Er schläft nicht mehr. Und das seit Wochen. Stattdessen umkreist er die immer gleichen Sorgentempel. Ebenfalls seit Wochen. Und ohne jede vernünftige Aussicht auf Besserung.

Als er den nächsten klaren Gedanken fasst, ist beinahe eine ganze Stunde vergangen, ohne dass Pirlo einen Anruf getätigt oder eine E-Mail geschrieben hätte. Einfach so also, ganz ohne jeden Einfluss auf neue Mandanten oder Mandate. Die allerdings dringend nötig sind. Viel zu tun hat Pirlo sonst nicht gerade. Nicht mehr jedenfalls seit dem Desaster bei der Verteidigung von Faruk Maliki. Zwar war es ihm und Sophie gelungen, einen Freispruch für den Mandanten zu erreichen. Das Lob dafür galt allerdings allein ihr. Die Presseberichterstattung feierte sie dafür, dass sie im Prozess schonungslos die Wahrheit aufgedeckt hatte, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich gleichzeitig gegen ihren Vater und gegen ihren Chef stellen musste. Längst schrieb der Boulevard nicht mehr über das »Blonde Babe«. Sophie war zwischenzeitlich »Rechtsanwältin Knallhart, die dahin geht, wo es weh tut«. Und Pirlo war der Depp. Derjenige, der sich erst zu Lasten seines Mandanten hatte täuschen lassen und der dann zu allem Überfluss auch noch der entscheidenden Zeugin hinterherrannte, als Sophie sie der Lüge überführt hatte. Allerdings war diese Zeugin aber eben auch nicht irgendwer, sondern Alena, die Frau, der Pirlo zwei Wochen zuvor am Meer noch gesagt hatte, dass er sie liebe.

Seitdem hängt nicht nur Pirlo in der Luft. Sondern auch alles, was er tut. Oder besser: was er nicht tut. Besonders viel ist nämlich nicht gerade los. Insofern es der Kanzlei gelungen ist, ihre Mandanten zu halten, wollen sie nur noch von Sophie vertreten werden. Pirlo kann es ihnen noch nicht einmal verübeln. Für ihn bleibt daher die undankbare Aufgabe, sich um neue Fälle zu kümmern, was gar nicht mal so leicht ist, wenn keiner mit einem sprechen will. Dass Pirlo nicht mehr richtig schlafen kann und stattdessen nachts gedankenverloren durch die Stadt wandert, verbessert diesen Zustand denkbar wenig.

Umso mehr ist er überrascht, als Wang in der Tür auftaucht und erklärt, dass jemand dringend einen Termin brauche. Jetzt sofort. Und ausdrücklich bei Pirlo selbst.

Kurz irritiert Pirlo zwar noch Wangs offensichtliche Verwunderung darüber, dass tatsächlich jemand mit seinem Chef zu tun haben will. Dann gibt er sich aber einen Ruck und schleppt sich in den Besprechungsraum. Dort, am Ende des großen, eleganten Holztisches, sitzt Emre Ben Hamid. Pirlo erkennt ihn sofort. Daran ändert auch eine schwarze Corona-Maske nichts. Ihre Blicke treffen sich. Trotzdem sagt keiner etwas, ehe Wang den Raum vorsichtig verlassen hat.

»Emre«, murmelt Pirlo überrascht.

»Ramzes«, erwidert Emre. Dann geht er auf Pirlo zu und drückt ihn an sich. Pirlo lässt es geschehen. Den Gedanken daran, dass das seit einer Ewigkeit der erste nahe Körperkontakt ist, schiebt er beiseite.

»Ist es in Ordnung, wenn ich die Maske ablege?«, fragt Emre.

»Sicher«, antwortet Pirlo. »Wir sind hier alle mehrfach geimpft.«

Emre nickt, nimmt die Maske ab und verstaut sie sorgfältig in einer Tasche seines cremefarbenen Mantels. Dann sieht er Pirlo direkt an. »Ich bin seit gestern Beschuldigter in einem Strafverfahren.«

Pirlo wartet. Er kennt Emre schon seit der Grundschule. Die Familien haben sogar schon länger miteinander zu tun. Was aus Pirlos Sicht immer schon für die Ben Hamids sprach, ist, dass sie zwar erfolgreiche Gangster sein mögen, aber nie so wirken wollen. Womit sie quasi das Gegenmodell zu Pirlos eigenen Brüdern leben.

Emre streicht sich über den sauber gestutzten Bart. »Du hast sicher mitbekommen, dass gestern in Pempelfort ein Testzentrum gebrannt hat.«

»Ja. Ich wohne in der Ecke.«

Emre hält Pirlos Blick fest. »Heute Morgen standen zwei Polizisten bei mir vor der Tür. Sie sagen, dass ich der Brandstifter gewesen sein soll. Morgen soll ich bei Ihnen zur Vernehmung auftauchen.«

»Haben Sie dich als Beschuldigter belehrt?«

»Du meinst von wegen Recht zu schweigen, Möglichkeit der Rücksprache mit einem Anwalt und so weiter?«

»Genau.«

»Ja, haben sie. Alles weitere wollen sie dann morgen auf der Wache besprechen. Wobei mir einer zum Ende noch einmal zugeraunt hat, dass sie sowieso schon wissen, dass ich es war.«

Pirlo wartet wieder. Diesmal kommt von Emre aber nichts mehr. Pirlo fragt daher selbst nach: »Haben sie recht?«

Emre lächelt kurz. »Spielt das denn eine Rolle?«

3.Schieflage.

Am Nachmittag

Nachdem Sophie um kurz nach vier an Pirlos Büro geklopft hat, wartet sie eine kleine Weile. Dann wiederholt sie das Ganze mit noch mehr Schwung. Das sollte gereicht haben. Zumindest hofft sie das. Wenn es nach ihr geht, hat sie Pirlo in den vergangenen Wochen deutlich zu oft aus dem Schlaf gerissen. Was sie mindestens ebenso beunruhigt, wie es sie nervt. Selbst wenn sie versucht, sich das nicht anmerken zu lassen.

»Wir sollten dafür Verständnis haben«, hatte sie erst gestern noch gegenüber Wang erklärt. »Pirlo macht einfach aktuell eine Scheißphase durch.«

Wang hatte nicht besonders überzeugt ausgesehen. »Wenn du mich fragst, gehört zu einer Phase ein Anfang und irgendwie auch ein Ende.«

»Klar.« Sophie hatte genickt. Mehr war ihr nicht eingefallen.

Wang hatte sie allerdings nicht so leicht entkommen lassen. »Sophie, das geht jetzt schon seit Wochen so.«

»Ich weiß.« Was hätte sie sonst sagen sollen? Sophie hatte es mit einem Augenzwinkern versucht, der Standardantwort Pirlos auf alle Fragen. Zumindest des Pirlo, den sie mal kennengelernt hatte. Auch wenn diese Zeit verdammt lange her zu sein schien. »Mach dir keine Sorgen. Das geht vorüber.«

Wang hatte nachdenklich mit dem Kopf gewackelt. »Wann?«

Womit die entscheidende Frage gestellt war. Schon längst geht es nicht mehr darum, ob Pirlo in einer Krise steckt. Das ist auf jeden Fall so. Vielleicht ist es sogar eine Depression, ein Absturz, ein Trauma, was auch immer. Ihr Psychologe, Dr. Novincsak, hatte ihr erklärt, dass es gar nicht so sehr darauf ankam, wie man den Zustand bezeichnete. »Das Label ist nicht wesentlich, sondern das, was dahintersteckt.« Sophie hatte genickt. Mindestens ebenso wesentlich ist für sie allerdings, wann das alles endet. Für die Kanzlei übrigens auch.

Trotzdem bemüht sie sich bei ihren Terminen, Novincsak nicht allzu viel von ihrer Unsicherheit zu zeigen. Es mag zwar sein, dass das gerade gegenüber einem Therapeuten reichlich bescheuert ist. Die Ferndiagnosen über Pirlo fühlen sich für Sophie trotzdem irgendwie nicht richtig an. Der Psychologe kümmert sich schließlich um sie. Damit hat er genug zu tun.

Novincsak begleitet Sophie schon, seit ihr Bruder Patrick vor sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Auch Sophies Mutter nimmt zumindest dann und wann seine Dienste in Anspruch. Nur Ernst Mahler, ihr allmächtiger Vater, hat von Anfang an keinen Wert darauf gelegt, sich helfen zu lassen, sondern sich stattdessen manisch in seine Arbeit, den Ausbau einer internationalen Großkanzlei, gestürzt. Die Therapiestunden hat er zwar bezahlt, ansonsten aber unkommentiert gelassen. Wahrscheinlich waren sie ihm einfach egal.

Ob Sophie tatsächlich von Novincsak überzeugt ist, kann sie gar nicht mehr sagen. Er ist eben schon immer da. Jedenfalls fühlt es sich so an. Schwierig ist die Lage eigentlich erst, seit er sie dabei unterstützen soll, irgendwie zu Pirlo durchzudringen und ihn wieder auf die Spur zu bringen. Kompliziert ist dabei nicht etwa nur, dass Pirlo keine Hilfe haben will. Er leugnet schon das Problem als solches.

»Du solltest mal mit jemandem sprechen, Toni«, hatte Sophie zu ihm gesagt, als sie ihn das dritte Mal innerhalb einer Woche schlafend im Büro erwischt hatte.

»Mache ich doch gerade«, hatte Pirlo gemault.

»Ich meine jemand Professionellen.«

»Dank dir. Von Prostituierten habe ich nach der Maliki-Sache genug.« Pirlo hatte müde gegrinst. »Und zwar in jeder Form.«

Sophie hatte die Augen verdreht. »Du weißt, wie ich das meine. Wenn du mich fragst, brauchst du jemanden, der dich aus dieser Höhle herausholt.«

»Welcher Höhle?«

»Dem schwarzen Loch, in dem du Tag für Tag versinkst.« Sie hatte kurz überlegt, ob es in Ordnung war, noch etwas hinzuzufügen. Dann hatte sie es einfach getan. »Und in dem du dich auch versinken lässt.«

Statt etwas zu sagen, hatte Pirlo seine Haare sortiert. Als Antwort genügte das aber auch so. Irgendwann dann, als Sophie eigentlich schon gar nicht mehr damit rechnete, hatte er vor sich hin gebrummt. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Das allerdings hatte sie ihm dann doch nicht durchgehen lassen. Sie konnte es auch einfach nicht. Stattdessen hatte sie sich langsam genähert und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Toni, ich weiß, dass viel los war, und ich weiß auch, dass dich Alenas Verhalten hart getroffen hat.« Sie zögerte kurz. Dann sprach sie es aus, wie sie es sah und wie es einfach auch war. »Ihr Verrat.« Pirlo hatte nicht reagiert. »Dieser Moment im Gericht, als das alles rauskam, hätte den stärksten Mann umgehauen.« Leider merkte sie erst, was sie sagte, als sie es schon aussprach. »Was nicht heißt, dass du das für mich nicht bist. Also der stärkste Mann.« Das war übrigens der Moment gewesen, in dem sie entschieden hatte, dass sie dringend mal wieder selbst mit Dr. Novincsak sprechen sollte. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass du das ganz allein hinbekommst. Du solltest dir Hilfe suchen und sie auch annehmen.« Pirlo hatte sie nicht angesehen. Sophie hatte einfach weitergesprochen. Auch was sie dann sagte, meinte sie so. »Bitte.«

Seitdem war trotzdem nichts passiert. Was sich schnell mal sagt, wenn eigentlich gemeint ist, dass wenig los ist. Hier gilt es aber im Wortsinn: Es geschah tatsächlich nichts. Jedenfalls nichts Wesentliches. Weder war Pirlo bei dem Psychologen vorstellig geworden, noch war er bereit gewesen, weiter mit Sophie über seine Stimmung zu sprechen, geschweige denn, etwas daran zu ändern. Lange Tage vergingen, sammelten sich und klebten sich zu dunklen Wochen zusammen. Das Leben stand still. Und zwar in jeder Hinsicht. Eine kleine Weile war das sogar noch zu ertragen. Dann, vor zwei Tagen, stand allerdings Wang mit zerknittertem Gesicht bei Sophie im Büro: »Wenn das so weitergeht, sind wir in einem Monat pleite.«

»Sicher?«

Er hatte genickt. »Lass es zwei sein. Mehr ist aber nicht drin.«

Sophie hatte ihre langen blonden Haare zusammengefasst und in einen Zopf gezwängt. Das waren die Auswirkungen einer Zusammenarbeit mit Pirlo. Irgendwann fing man an, an den Haaren herumzuspielen. Bei Unsicherheiten. Bei Stress. Beim Nachdenken. Und bei ungefähr auch jeder anderen Gelegenheit. Jetzt gerade kam all das zusammen. Sie hatte durchgepustet und sich gesammelt. Dann war sie zu Pirlo marschiert, Wang im Schlepptau. Immerhin hatten sie dabei so viel Lärm veranstaltet, dass sie Pirlo gar nicht erst wecken mussten. Verstehen wollte er die Lage trotzdem nicht.

»Wie kann es sein, dass kein Geld mehr da ist?«

Wang hatte tief Luft geholt. Dann hatte er das Desaster heruntergerattert. »Für euren ersten großen Fall, die Sache von Späth, gab es zwar ein großes Erfolgshonorar. Davon ist aber nichts auf dem Konto gelandet.«

»Das waren die Gründungsausgaben«, hatte Pirlo gemurmelt. Als er die Blicke der anderen bemerkte, zuckte er mit den Schultern. »Kanzleien kosten.«

»Auch solche im Wohnzimmer?«

»Gerade die.«

Wang hatte sich davon nicht ablenken lassen und einfach weitergemacht. »Ansonsten haben wir die Einnahmen aus der Maliki-Verteidigung und die Sachen, die Sophie reinbringt. Dem gegenüber stehen die Kosten für die Miete, das Auto, die Ausstattung – und mich.« Er schien erleichtert zur Kenntnis zu nehmen, dass Pirlo nickte.

Was die Situation natürlich noch nicht besser machte. »Alles Schönreden hilft nichts mehr.« Sophie hatte selbst gemerkt, dass sie einen beschwörenden Ton angeschlagen hatte. »Wir sind in einer echten Schieflage.« Mühsam hatte sie versucht, Pirlos Blick einzufangen. »Du musst was tun, Toni. Ansonsten schaffen wir das als Kanzlei nicht.«

»Und dann verlässt du dich wieder darauf, dass dein Vater dir ein schönes Sicherheitsnetz spannt, oder was?«, hatte Pirlo gefragt, mehr müde als fies.

Sophie hatte ihn einfach ignoriert. Mochte ja sein, dass Pirlo darunter litt, dass sie vor ein paar Monaten tatsächlich überlegt hatte, ihrem Vater und dessen Werben für seine Kanzlei eine Chance zu geben. Nur dadurch hatte sie am Ende aber auch den Maliki-Fall gelöst bekommen. Außerdem konnte Pirlo ihr das kaum als schlimme Enttäuschung auslegen, erst recht dann nicht, wenn er die Loyalitätsmaßstäbe seines Umfelds ansetzte. Was hier aber auch alles nicht weiterbrachte. Sophie hatte ihre Antwort daher so kurz wie möglich gehalten. Ernst gemeint war sie sowieso. »Lass uns das einfach hinbekommen.«

»Und wie?«

»Wir müssen mehr raus. Mehr tun.«

»Trotz Corona?«

Sie hatte genickt. »Wenn wir es als Kanzlei schaffen wollen: Ja.«

»Und wenn wir krank werden?«

»Dann werden wir wieder gesund, und falls nicht, müssen wir uns wenigstens keine Sorgen mehr machen.«

Pirlo hatte kurz abgewogen. »Was schlägst du vor?«

»Wir zeigen uns bei Terminen und Veranstaltungen.«

»Was soll das denn bitte schön bringen?«

»Leute kennen uns und erinnern sich an uns, wenn mal was ist. Vor allem dann, wenn wir freundlich zu ihnen sind und uns nicht einfach nur stumpf hängen lassen, weil jemand unser kleines Seelchen verletzt hat.«

Pirlo hatte den Tiefschlag ertragen wie ein routinierter Boxer. Allerdings wie einer in der zwölften Runde.

»Von mir aus, wenn es dir denn tatsächlich so wichtig ist.«

»Es ist mir wichtig, Toni«, war Sophie sofort dazwischengegangen. »Und es ist auch dir wichtig. Weil es uns wichtig ist. Und weil es daher einfach sein muss.«

Er hatte sich auf ein erschöpftes Nicken beschränkt. »Sag Bescheid, wenn mal irgendwo was Gutes ist. Dann komme ich mit.«

Was zwar deutlich weniger war als beispielsweise eine motivierte Ankündigung, sich wieder selbst einzubringen und nach Kontakten zu suchen. Immerhin war Pirlo aber auch nicht mehr im Generalstreik verharrt. Manchmal muss man eben nehmen, was man bekommt. Was übrigens in beide Richtungen galt.

Entsprechend breit war Sophies Lächeln ausgefallen. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst.«

Pirlo hatte sie skeptisch angesehen. »Das klingt nicht gut.«

»Ganz im Gegenteil, mein Lieber. Das klingt sogar hervorragend. Und zwar nach Ausgehen. Du, ich, eine große Veranstaltung.«

»Wann?«

Ihr Grinsen war breiter geworden. »Heute Abend.«

»Ich kann nicht«, hatte er reflexhaft zurückgegeben. »Da habe ich schon etwas vor.«

»Lange nächtliche Spaziergänge und Trübsal blasen, zum Beispiel?«

»Wenn du es schon weißt, brauchst du mich ja nicht mit anderen Vorschlägen zu überfallen.«

Woraufhin sie einfach so getan hatte, als habe er einen Witz gerissen, und gegangen war. Was hätte sie auch sonst tun sollen?

Was sie jetzt, als sie bei ihm klopft, genau zu erwarten hat, weiß Sophie daher nicht so recht. Klar ist nur, dass Pirlo sie nicht mehr oft hängen lassen kann. Eigentlich sogar überhaupt nicht mehr. Ihre Überraschung ist daher umso größer, als sie noch nicht einmal dazu kommt, das zweite Mal zu klopfen. Pirlo öffnet schon nach dem ersten Anlauf von innen die Tür. Er steckt in einem schwarzen Anzug, der zwar nach der konsequenten Bewegungsverweigerung der letzten Wochen etwas eng sitzt, aber immer noch gut aussieht. Pirlo ist ein attraktiver Mann. Sophie weiß das. Und Pirlo weiß es auch. Gerade lässt er das sogar erkennen. Dazu grinst er schief.

»Geht es endlich los?«

Sophie lächelt. Diesmal meint sie es sogar so. »Klar.«

Pirlo klatscht in die Hände. Ein Meter achtzig geheuchelte Motivation. Erst auf der Treppe findet er zu seiner nächsten Frage. »Wo gehen wir eigentlich hin?«

»Zu einer Vorstellung von Freebree auf der Kö. Einen launch für neue Corona-Masken.«

»Einen was?«

»Einen launch.«

»Was soll das denn sein?«

»Na, du weißt schon. Englisch halt. Ein Start, eine Einführung. So was eben.«

»Aha.«

»Ja.«

»Und was führen sie ein?«

»Corona-Masken. Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?«

»Immer mal wieder. Jetzt aber gerade eigentlich schon. Ich kann trotzdem nicht folgen.«

Sophie grinst. »Das weiß ich schon lange. Aber du musst dich ja nicht jedes Mal dabei erwischen lassen, oder?« Ehe er daraus einen Grund zu schmollen zaubern kann, setzt sie direkt nach. »Freebree produziert mit breasy die neue Corona-Maske für den neuen Menschen.«

Pirlo hält kurz inne. »Das nennen die nicht wirklich so, oder?«

Sophie wedelt mit einem Stück Karton. »So steht es auf der Einladung.« Sie hält kurz inne. »Einladung zum feierlichen Launch von Freebree im Breidenbacher Hof auf der Königsallee. Die neue Corona-Maske für den neuen Menschen.«

»Ich dachte, die Pandemie sei vorbei.«

Sophie lacht. »Hier und jetzt mag das so sein. Also zumindest vielleicht. Aber wer weiß schon, wann das Ganze bei wem und wo die nächste Ehrenrunde dreht. In China, zum Beispiel. Ganz woanders. Oder eben hier. So oder so: Wenn das alles wiederkommt, soll es wenigstens chic ablaufen, trendy, so, dass sich niemand mehr davor fürchten muss, sondern dass die Pandemie, im Gegenteil, für alle eine echte Herausforderung ist, die wir alle gemeinsam angehen.«

Pirlo sieht sie skeptisch an. »Sind unsere Zahlen wirklich so beschissen, dass diese Freebree-Leute dich als Sprecherin verpflichten konnten?«

»Noch nicht«, antwortet Sophie trocken. »Aber ich habe mir zur Sicherheit vorhin trotzdem mal ihre Homepage angesehen. Also: Neue Masken, neue Menschen. Klingt doch super.«

»Neue Menschen?«

»Ich dachte immer, dein Interesse für Che Guevara gehe über die reine Frisur hinaus.«

»Manchmal.« Trotzdem muss er beinahe lachen. Sie hat es ganz genau gesehen. Dann schüttelt er sich. »Also gut. Neue Masken, neue Menschen. Ein launch. Wie viel mehr Glück kann man haben?«

»Na eben. Und wenn wir erst mal da sind, rennen dort ganz bestimmt auch noch eine Menge potenzieller Mandanten herum.«

»Mein Herz jubelt.«

»Schön. Lass das zur Abwechslung auch mal dein Gesicht wissen.«

»Bis wir da sind, ist die frohe Botschaft sicher angekommen.«

»Dann los?«

»Ja. Dann los. Nutzen wir die Gelegenheit. Immerhin waren die Leute freundlich genug, uns einfach so einzuladen.«

»Die potenziellen Mandanten.«

»Versuch immer auch den Menschen im Mandanten zu sehen.«

Sophie ringt sich zu einem Lachen durch, als habe Pirlo einen großartigen Witz gerissen. Vielleicht tut es ihm ja gut. Wenn sie seine sich kräuselnde Miene richtig deutet, hat ihm ihre Bestätigung jedenfalls nicht geschadet. Tatsächlich senkt er sogar seine Stimme. »Na, dann mal los, Frau Mahler. Wenn wir schon das Glück haben, dass sich jemand an das enfant terrible der Düsseldorfer Anwaltsszene erinnert, wollen wir die Leute ja nicht enttäuschen.«

Sicher, denkt Sophie und hofft von Herzen, dass der Abend Pirlos Vorstellung möglichst lange aufrechterhält und nicht etwa aus Versehen irgendwelche Realitäten dazwischenkommen.

4.Gaga.

Bei der Veranstaltung

Sophies Hoffnung hält nach ihrer Ankunft bei der Veranstaltung keine drei Minuten. Dann steuert ein entrückter Seitenscheitel auf sie zu und drückt sie so heftig wie übertrieben und in jeder denkbaren Form zu dicht an seine aus dem nur halb zugeknöpften, bonbonfarbenen Hemd quellende haarlose Brust. »Frau Mahler!«, flötet er durch den Raum. »Endlich! Wie schön, dass Sie da sind!«

»Sicher«, murmelt Sophie, »ich freue mich auch.«

»Mit Ihnen wird die Veranstaltung nicht nur deutlich attraktiver, sondern auch noch deutlich schlauer!«, trällert der Brusthaarlose weiter.

Kurz überlegt Sophie, ob sie darauf zumindest irgendetwas erwidern könnte. Dann ereignet sich allerdings auch schon die nächste Katastrophe. Ihr entrücktes Gegenüber seitenscheitelt sein Haupt in Richtung Pirlo und fragt mit näselnd-beglückter Freude: »Und wer sind Sie?«

Sophie will irgendwie dazwischengehen. Schaden abwenden von dem Typen, den sie in guter Form braucht. Also: weiteren Schaden. Solchen, den er sich ausnahmsweise nicht selbst organisiert. Dann schlägt allerdings die Vernunft zu. Das ewige Ringen um Pirlos Ego ist am Ende nicht wirklich ihr Problem. Sie muss es daher auch nicht dazu machen. Alles in allem schafft er das schon ganz regelmäßig allein. So wie jetzt zum Beispiel.

»Mein Name ist Pirlo. Dr. Anton Pirlo. Ich bin Rechtsanwalt.«

Sophie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Weder ihre Überraschung noch ihre Sorge. Dass Pirlo seinen Titel verwendet, kommt nicht oft vor. Genau genommen eigentlich nie. Was immer hier den Ausschlag geben mag, verfängt allerdings ohnehin nicht. Der Brusthaarfreie geht nicht darauf ein. Stattdessen bewahrt er seine Galaform des unglücklichen Auftritts und schießt die nächste missliche Frage nach. Zwar nicht nach objektiven Maßstäben. Aber darauf kommt es hier schließlich auch nicht an. »Sie sind also der Kanzleikollege von Frau Mahler?«

Pirlo verzieht keine Miene. »Kann man so sagen.«

Die Bonbonfarben zucken vor Freude. »Es muss ein irrsinniges Privileg sein, mit einer so talentierten, klugen und erfolgreichen Anwältin zusammenarbeiten zu dürfen. Und dabei ist sie auch noch so jung!«

»Ja«, murmelt Pirlo.

Fast muss Sophie grinsen. Mehr fällt ihm offensichtlich nicht ein. Kurz darauf ist die Gelegenheit dazu ohnehin verstrichen. Der Brusthaarlose drückt innig Pirlos rechte Hand und flattert dann auch schon wieder von dannen.

»Kennst du den?«, fragt Pirlo tonlos.

»Flüchtig«, antwortet Sophie, wagt aber gar nicht erst, weiter zu hoffen, dass sie damit durchkommt. Es wäre auch aussichtslos. Unmittelbar darauf ist der Seitenscheitel schon wieder da und drückt Pirlo und ihr ein schmales Glas in die Hand. »Prosecco aufs Haus!«, jubelt er, als sei es wahrhaftig das allergrößte Erdenglück, hier, im Veranstaltungssaal eines altehrwürdigen Luxushotels auf der Kö, eine Gratisalkoholbrause in der Hand wärmen zu dürfen.

Sophie nippt an ihrem Getränk und bemüht sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Situation sie stresst und wie sehr es sie dabei nervt, dass sie schon wieder den Eindruck hat, sich Pirlos Gedanken machen zu müssen. Und seine Sorgen. Sicher war eigentlich absehbar gewesen, dass der Eventplaner ein kleines Theater veranstalten würde, wenn diejenige, die er als Staranwältin und Liebling der Klatschpresse eingeladen hat, auch tatsächlich auftaucht. Und klar hätte sie sich gewünscht, etwas mehr Zeit zu haben, um anzukommen, vor allem aber auch, um Pirlo auf das vorzubereiten, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Und zwar ziemlich genau das hier. Auf auch ziemlich genau diese Art. Aber eigentlich ist das alles nicht ihr Problem. Sondern seins.

Der neben ihr auf und ab wippende Partyorganisator hat ohnehin keine Zeit für solche Sensibilitäten. Vielleicht sind sie ihm auch einfach – und zu Recht – vollkommen egal. »Hach, Frau Mahler. Es ist so schön, dass Sie da sind!«, gurrt er noch einmal. »Stößchen!«

Pirlo spielt längst schon keine Rolle mehr. Stattdessen verschwindet der Prosecco. Der Eventplaner sieht es, lacht, klappt die Hand ab und flattert davon, um Nachschub zu holen. Und sei es nur für sich selbst.

»Also, wer ist das und was ist los mit ihm?«, fragt Pirlo irritiert von der Seite.

Sophie kommt nicht dazu zu antworten. Der Scheitel ist wieder da, mit ihm ein neuer Prosecco. Außerdem erklärt er strahlend, dass er dem DJ einen »heißen Tipp« gegeben habe. Tatsächlich macht kurz darauf das Bossa-Nova-gedubbte Gedudel in die Fahrstuhlmusikhaftigkeit geratener Schnulzen aus den tiefsten 80ern Lady Gaga Platz. Aus den Lautsprechern ballert Edge of Glory. Unplugged zwar, aber trotzdem präsent genug. Parallel dazu knallt der Schmetterling den nächsten Freudentaumel in die Welt. »Ein Power-Song für eine Power-Frau!«, jubelt er. »Sophie Mahler. Die Anwältin der Stunde! The Edge, the edge, the edge!«

Pirlo zieht die Augenbrauen in die Höhe. Sophie bemüht sich um ein Lächeln und schenkt ihre unmittelbare Aufmerksamkeit dem Prosecco. Kurz ist sie versucht, das Geprickel einfach runterzustürzen. Sozusagen die klassische Stressverarbeitung nach Art des Hauses Mahler. Dann besinnt sie sich allerdings und stellt das Glas ab. Sie braucht hier einen klaren Kopf. Es war schwer genug, Pirlo mal aus der Kanzlei und unter Menschen zu locken. Das will und wird sie sich nicht ruinieren lassen. Erst recht nicht durch einen überdrehten Prosecco-Jünger. Was es dagegen braucht, ist erst einmal ein vernünftiges Ankommen an diesem Ort und in dieser Lage. Dann kann man immer noch weitersehen. Arbeit und Struktur. Das, was Pirlo eben immer so gepredigt hat, als er noch etwas aktiver am Leben teilzunehmen bereit war. Die goldene Regel. Jedenfalls die für alle anderen.

Der leichteste Weg zu mehr Geradlinigkeit liegt dabei sicher darin, einfach Pirlos erste Frage zu beantworten, allein schon, damit er sie nicht noch einmal stellt. Sophie greift sich den fast schon wieder hinweggeschwebten Scheitel und stellt ihn vor Pirlo auf: »Pirlo, das ist Frank Falk, der Organisator dieser Feier, und Frank, das ist, um das einmal auch in der richtigen Form und Reihenfolge zu erwähnen, Herr Rechtsanwalt Dr. Pirlo, mein Kanzleipartner und genau genommen auch immer noch mein Chef.«

»Enchanté«, ruft Falk und streckt Pirlo eine schmale Hand entgegen, ganz so, als hätten sie nicht gerade eben erst miteinander gesprochen. Aber wer weiß schon, vielleicht erinnert sich Falk wirklich nicht daran. Hier, in diesen Kreisen und bei dieser Stimmung, kann man das nie so richtig wissen. Wobei das Folgende erahnen lässt, dass auch Falk seine hellen Momente hat. Er scheint es einfach nur vorzuziehen, damit sehr selektiv umzugehen. »Sie sind also der Staranwalt, von dem Frau Mahler so schwärmt.« Er mustert Pirlo von oben bis unten. Dann grinst er Sophie an. »Oder sollen wir auch für den sagen, Schätzchen? Schämen müssten wir uns dafür sicher nicht.«

Sophie versucht, ihr Gesicht hinter ihrem Glas zu verstecken. Kurz darauf gibt es sogar einen kleinen Hoffnungsschimmer. Das eigentliche Programm fängt an. Wobei den Spannungsbogen weniger ausreizt, was geschieht. Sondern durch wen das passiert.

5.Gesund. Und sexy.

Das eigentliche Programm

Unmittelbar darauf ist zwar der Raum derselbe. Die Atmosphäre aber ganz und gar nicht. Dass plötzlich etwas anders ist, merkt Sophie, auch ohne dass sie den Grund dafür sehen kann. Es geht eine Art Ruck durch die Menge. In einem kollektiven Schwung richten sich die Köpfe und Blicke zum Eingangsbereich. Sophie folgt zwar eher belustigt als begeistert. Aber sie folgt. Neben sich bemerkt sie, wie selbst Pirlo gelangweilt seinen Blick nach vorn quält.

Wer dann den Raum betritt, ist eigentlich keine Überraschung. Sophie hat den Namen und das Foto auf der von Falk geschickten Einladungskarte ebenso gesehen wie auf seiner im Vorfeld gefühlte fünfzehnmal verschickten ergänzenden E-Mail. Trotzdem ist die Angelegenheit irgendwie aufregend. Bei anderen, ihren Eltern etwa, ist sie zwar die Erste, die sich daran stört. Trotzdem reagiert auch sie, wenn ein Prominenter den Raum betritt, überaus deutsch. Schwitzig. Unsouverän. Und mit verschämter Ekstase. Hier ist das nicht anders, wenn sie sich als persönliche Rechtfertigung auch damit trösten können mag, dass ihr kleiner Taumel wenigstens angebracht ist. Wer dort durch die mahagoniholzige Flügeltür des Saals kommt, spaziert, nein, schwebt, oder, besser noch, wer dort erscheint, ist schließlich Clemens Mayhoff. Der Clemens Mayhoff. Der Held der Generation Z. Das gute Gewissen der Nation. Der heimliche Kandidat der Herzen für irgendwas mit Politik und, um zu zeigen, wie krass hier die Maßstäbe sind, vielleicht sogar die Nachfolge bei Wetten, dass …? Derjenige also, auf den sich seine Landsleute tatsächlich mal einigermaßen einigen können. Und wir sprechen hier über ein Volk, das, bei aller Primärbegeisterung für seine heimischen Stars, Boris Becker nie mehr mochte als an dem Tag, an dem er das erste Mal Wimbledon gewann, und an dem, als er seine wirtschaftsstrafrechtlich bedingte Freiheitsstrafe antrat. Das muss man erst mal schaffen.

Jetzt ist Mayhoff also tatsächlich da, sieht gut aus, winkt und grinst in die Menge. Viel mehr muss er eigentlich erst einmal gar nicht machen. Es sind auch so schon alle etwa fünfhundert Anwesenden irgendwie verzückt. Das mehrt sich sogar noch mit jedem Schritt, den Mayhoff weiter in den Raum schreitet. Kurz stimmt Sophie das allgemeine Aufzucken der Smartphones nachdenklich. So ist es also, wenn man wirklich wichtig ist. Wobei zur Wahrheit gehört, dass er für den ganzen Jubel auch seinen Teil getan hat. Ob Pirlo das in seiner gegenwärtig überzeugten Menschenfeindlichkeit anerkennen kann, vermag Sophie zwar nicht zu sagen. Sie selbst hat aber kein Problem damit, dass die Begeisterung völlig zu Recht um Mayhoff herumbrandet. Im Wesentlichen kann man den Grund dafür so schnell wie einfach zusammenfassen: Was der Kerl anfasst, wird zu Gold. Punkt.

Dankbarerweise fasst Falk in seiner Rolle als Veranstalter/Gastgeber/Partyspaßeskalationsbombe noch einmal die gröbsten Schritte des zweiundvierzigjährigen Lebenswerks seines Stargasts zusammen. Wäre ja auch schade, wenn sonst jemand den Überblick verlöre.

»Meine Damen, meine Herren, meine sehr geehrten Menschen ohne Zuordnung, aber mit großer Lebensfreude«, gurrt er auf der Bühne in ein Mikro. Die darauffolgende Sekundenpause verläuft so geräusch- wie reaktionsfrei. Falls Falk darauf spekuliert hatte, dass sich schon jemand über seine dramatische Weltoffenheit aufregen wird, geht die Rechnung nicht auf. Das hier ist immer noch Düsseldorf. Soll doch jeder machen, wie er will und kann. Wenn einer glaubt, er müsse dazu durch die Gegend lbgtqen, kann das jeder auf die Art wegignorieren, die er für richtig hält. Oder sie. Oder wie auch immer. Außerdem sind die Leute ja auch wegen was anderem hier. Das scheint dann auch Falk wieder einzufallen. Und zack ist schon das Gurren zurück. »Ich freue mich sehr, Ihnen und euch endlich den ganz besonderen Gast dieses Abends vorstellen zu dürfen. Auch wenn ich eigentlich zuversichtlich bin, ihn niemandem mehr nahebringen zu müssen, ist es mir natürlich eine Freude, nein, ein Privileg, wenn ich dir, Clemens, zumindest ein bisschen den roten Teppich ausrollen darf. Verdient hast du es schließlich allemal, lieber Clemens.«

Sophie verzieht den Mund. Allein die Art, mit der Falk den Vornamen seines Gastes doppelhaucht, enthält mehr Sex, als sie in den letzten drei Monaten hatte. Was Pirlo übrigens nicht wissen muss. Er weiß nur, dass sie tindert. Die Erfolgsquote kennt er nicht. Sie kann sie ja selbst kaum glauben. Die Trefferquote für Matches liegt bei fast hundert Prozent. Die der Typen, die ihr auf den Geist gegangen sind, leider auch. Dasselbe gilt für die der ereignislos verlaufenen Dates. Was natürlich Fragen aufwirft. Zumindest bei ihr selbst. Ist die Trennung von Manu noch zu frisch? Ist sie, was andere anbelangt, zu anspruchsvoll? Oder sollte sie sich nach immerhin sieben Jahren Beziehung vielleicht auch einfach mehr Zeit geben? Hat sie die denn überhaupt? In einem Jahr wird sie immerhin dreißig. Manche, mit denen sie in der Schule in einer Jahrgangsstufe war, sind schon seit Jahren unter der Haube, mindestens drei fallen ihr ein, die bereits Kinder haben, die unselige Katharina aus der damaligen B-Klasse sogar gleich zwei. Vielleicht ist allzu viel Gelassenheit also keine gute Idee. Womöglich ist es aber auch sinnvoll, sich diese Gedanken ganz zu sparen. Zum einen bringen sie nicht weiter. Zum anderen verpasst sie Falks willenlos enthemmte Lobpreisungen auf Mayhoff. Andererseits: Das Ganze dauert lange genug. Es genügt daher völlig, dass Sophie einfach in der Mitte einsteigt.

Gerade geht es um Mayhoffs Ära als Anarchokomiker bei einem Radiosender, danach um sein Wirken als Influencer auf Instagram, im Anschluss um diesen YouTube-Kanal, bei dem er sich dabei filmte, wie er Sachen zusammenbaute und anderen die Welt erklärte, dann um den darauf aufbauenden Erfolgspodcast Sagen, was ist, um die erste Fernsehshow bei den Privaten und schließlich um den Sprung zu den Öffentlich-Rechtlichen, wo seit einem halben Jahr seine Sendung Letzte Wahrheiten läuft, die mit Krachern wie einem Schmähgedicht gegen den Bundeskanzler oder Parodien auf die EU zündet und, wie das Feuilleton jubelt, mit der Mission antritt, »ein journalistisches Magazin zu sein, bei dem man auch mal schmunzeln darf«, beziehungsweise mit Mayhoffs eigenen Worten das Ziel verfolgt, »die Spiegel runterzureißen und die Masken vorzuhalten«.

Was, das kann Sophie schon zugestehen, einen eleganten Brückenschlag ermöglicht. Schließlich geht es heute ganz genau darum. Mayhoff glänzt nicht nur als Botschafter der Kampagne für die neuen Corona-Masken. Er ist ihr Gesicht. Eines übrigens, das jetzt, nachdem Falks Elogen auf den neuen Tausendsassa, Alleskönner und Charmebolzen gerade abgeklungen sind und er Mayhoff auch noch zum Erfinder des fließenden Wassers verklären konnte, eher überraschend ernst wirkt. Die Botschaft scheint klar: Was jetzt kommt, kann zwar der Art nach Spaß machen. Der Inhalt ist aber ernst. Sehr ernst sogar.

»Guten Abend.« Mayhoff spricht langsam und ruhig. Sophie kennt das so sonst nur von Pirlo. Jedenfalls von dem, den es mal gab. Zwar ist Mayhoffs Stimme nicht so tief. Es klingt darin aber dieses schelmische Lächeln an, das man aus dem Fernsehen kennt.

»Zunächst bedanke ich mich bei dem Team des Breidenbacher Hofs dafür, dass es uns heute Abend so freundlich empfängt, außerdem bei Frank Falk für die hervorragende Organisation des Events.« Woraufhin der Seitenscheitel zart errötet, sich dann aber auch vorsichtig zurückzieht. Kein Zweifel, Mayhoff ist ein Profi. Er hat nicht nur die Bühne und den Raum im Griff, sondern auch Frank Falk. Was, wie Sophie weiß, ja durchaus nicht jeder von sich behaupten kann.

Auf der Bühne senkt sich ein Scheinwerferkegel auf Mayhoff. Anfang März ist es jetzt, kurz nach sieben, draußen bereits dunkel. Der irgendwo zwischen Steve Jobs und kirchlichem Erlöser pendelnde Effekt ist daher beachtlich. Dann geht es richtig los.

6.Breasy.

Mayhoffs Ansprache

»Sie wissen, warum ich heute hier bin.« Mayhoff sieht in die Runde. Fünfhundert Augenpaare kleben an seinen Lippen. »Es geht darum, in unserem gemeinsamen Kampf gegen die Coronapandemie eine andere, eine neue Maske vorzustellen.« Was er sicher auch gleich vorhat. Vorher braucht es aber auch noch etwas Platz für den Spannungsbogen. Und das Drama. »Hinter uns liegen schwierige Monate, ja sogar Jahre der Einschränkungen durch die Pandemie. Wir mussten tapfer sein. Wir mussten viel aushalten. Wir alle wissen, was hinter uns liegt, und das, was kommt, das, was das Schicksal für uns bereithält, ist noch immer ungewiss.«

Mayhoff verharrt kurz. Lässt das sacken. »Wir mussten uns, was das Virus anbelangt, auf viele Namen einstellen, auf Delta, Omikron, Höllenhund oder, ganz aktuell, den Kraken. Was wir daraus lernen, ist, dass wir uns nicht darauf verlassen können, von weiteren Untiefen der Pandemie verschont zu bleiben. Was wir aber mit Gewissheit sagen können, ist, dass wir im Kampf gegen das Virus künftig alle noch mehr, noch entschlossener an einem Strang ziehen wollen. Das gilt für jede und jeden von uns hier. Das gilt aber auch für die Politik, die Wirtschaft und das Entertainment. Insofern freue ich mich von Herzen, dass ich derjenige bin, der eine gemeinsame Initiative dieser verschiedenen Welten vorstellen darf. Mag sein, dass ich in Bremen geboren bin, aufgewachsen und zur Schule gegangen bin ich aber jedenfalls hier, im Rheinland, im schönen Düsseldorf.« Hier und da gibt es wohlwollendes Raunen. Mayhoff macht das nicht schlecht.

»Deswegen ist es für mich eine ganz besondere Ehre, dass ich derjenige sein kann, der für Sie den Vorhang lüftet zu breasy, der neuen Corona-Masken-Erfindung des Düsseldorfer Medizin-Start-Ups Freebree!«

Dabei ist Mayhoff noch weiter mit der Stimme nach oben gegangen, so sehr, dass der Raum von ganz allein klatscht. Sophie fällt es auf. Schon weil sie mitmacht. Wer ihr ebenfalls auffällt, ist eine am vorderen Bühnenrand stehende, dunkel gekleidete kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren. Erst gehörte sie zu den Ersten, die klatschten. Jetzt scheint sie Mayhoff ein kurzes Handzeichen zu geben, dass er fortfahren solle, was Sophie allein wegen des Standorts der Frau an eine Mischung aus Regisseurin und Souffleuse denken lässt.

So oder so schenkt Mayhoff den Zuhörenden unmittelbar darauf ein Lächeln. »Sie ahnen, woraus sich das Wort zusammensetzt: breathe und easy. Und genau so hat es auch seine Berechtigung. Was wir wollen, ist, im doppelten Sinne, einfach atmen. Einfach atmen. Und einfach atmen. Was uns in diesen schweren Zeiten gefehlt hat, war eine gewisse Leichtigkeit. Das Schwerelose. Das Freie.« Das Lächeln wächst. Der ganze Mayhoff ist jetzt ein Ausbund von ein Meter neunzig strahlender Zuversicht. »Durch eine neue, revolutionäre Filterbeschichtung made in Germany will uns Freebree genau das zurückgeben. Und jetzt kommt das Beste: Die Masken stammen nicht nur aus der Modestadt Düsseldorf. Sie sehen auch noch richtig super aus!« Mayhoff lacht. Der Raum lacht mit. Im Hintergrund flammt jetzt ein Bildschirm auf, der drei 3D-Animationen von Masken zeigt, die zwar herkömmliche Ohrenhenkel haben, allerdings leicht silbern glänzen und damit an Utensilien aus einem Weltraumfilm der Siebziger erinnern. Mayhoff legt jetzt wieder sein schelmisches Grinsen auf. »Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Die breasy-Maske, zugleich der Anfang einer neuen Zeit von Cool Corona! Mit Freebree-Masken werden wir nicht nur leichter atmen. Wir werden auch leichter leben. Besser aussehen. Cool. Und sexy.«

Mayhoff erlaubt sich ein verschmitztes Lächeln. »Hier ist nicht der Ort, um darüber zu debattieren, ob wir alle beim Tragen unserer Masken immer genau die Disziplin an den Tag gelegt haben, die wir uns von anderen gewünscht hätten. Wahrscheinlich hätten wir uns mehr an die eigene Nase fassen müssen. Möglich wäre es bestimmt gewesen. Eine Maske werden wir meistens kaum darüber gehabt haben.« Wieder lachen alle. »Umso wichtiger ist es, dass wir die Zeichen der Zeit erkennen. Sign of the times, wie Harry Styles sagt.« Mayhoff zwinkert in den Raum. »Wir müssen mit den Menschen sprechen. Kommunizieren. Gerade eine Jugend, die fast komplett mit Corona groß geworden ist, hat keinen Bock mehr auf die ganzen Einschränkungen.« Ein allgemeines Hurra bleibt dazu zwar aus. Überraschend ist das aber nicht. Sophie dürfte mit die Jüngste im Raum sein. Immerhin erntet Mayhoff hier und da ein entschlossenes Nicken.

»Wir wollen diese Generation mit den Themen abholen, die sie wirklich bewegen, und das sind: Nachhaltigkeit. Fairness. Europa. Genau das gewährleistet Freebree! Das Unternehmen lässt hier produzieren. Vor unserer Tür. Auf diesem Kontinent. Die Arbeitsbedingungen vor Ort sind fair und sicher. Kein Zweifel: Wenn die Pandemie das nächste Mal zuschlägt, sind wir bestens aufgestellt. Der Style der Masken ist, wie gesehen, fresh. Und was die Kommunikation anbelangt« – Mayhoff grinst ins Publikum – »na ja, sie hatten die Idee, dass ich das übernehmen soll. Das hätte natürlich besser laufen können, aber jetzt müssen wir eben sehen, dass wir damit klarkommen.« Was Begeisterung hervorruft. Er hat es aber auch wirklich nicht schlecht gemacht.

Sophie kommt trotzdem kaum dazu, sich hinreichend für Mayhoffs Rhetorik zu begeistern. Die Werbeachterbahn ist vielmehr schon wieder dabei, eine ganz andere Kurve zu nehmen. Mayhoff pausiert jetzt. Stille greift um sich. Er fährt sich langsam mit den Fingern über die Augen. Die Geste zieht. Und zwar bei allen. Für Falk kann sie derweil nur hoffen, dass er genau hinsieht. So also geht das mit der effektvollen Pause. Als er sich gefangen hat, sieht Mayhoff gedankenschwer ins Publikum. »Sie haben mitbekommen, dass es gestern Nacht in Düsseldorf einen großen Brand gab. Wir alle haben das.« Er wartet wieder. Das Drama pulsiert.

»Was Sie aber noch nicht wissen, ist, dass dabei der komplette, bisher produzierte Vorrat an Breasy-Masken verloren gegangen ist.« Gegen das aufkommende entsetzte Gemurmel hebt Mayhoff ruhig die Hand. Zu Sophies Erstaunen funktioniert das tatsächlich. »Es steht außer Frage, dass der Verlust dieser Masken für Freebree ein schwerer Schlag ist. Dasselbe gilt für das kooperierende Landesgesundheitsministerium.«

Neben Mayhoff taucht tatsächlich die Gesundheitsministerin auf, eine gemütlich-rundliche Frau mit einer riesigen Brille. Am Drücker bleibt trotzdem Mayhoff selbst, bei dem es jetzt dramatisch wird. »Der Schlag trifft am Ende natürlich auch mich.« Was er so gesetzt formuliert, dass Sophie den Schock ihrer Umgebung geradezu spüren kann. Alle Masken sind verbrannt: Das ist hart. Der Hersteller ist sehr betroffen: wie fies. Mayhoff ist bestürzt: Moment mal, das ist jetzt aber schon eine kleine Katastrophe.

Trotzdem geht der Blick nach vorn. Immerhin. An irgendwas muss man schließlich auch noch glauben können. »Gehen Sie davon aus, dass ich mich auf diesen Abend gefreut habe«, führt Mayhoff aus. »Wie immer, wenn besondere Zeiten anstehen, waren auch besondere Maßnahmen zu ergreifen, und wie immer, wenn wiederum das so ist, gilt es auch, gehörig zu improvisieren. Das führte dazu, dass die erste Ladung der Masken erst gestern Abend nach Düsseldorf geliefert werden konnte, wo Freebree sie direkt an dem Ort zwischengelagert hat, von dem aus sie nach der heutigen Vorstellung morgen an die Bevölkerung verkauft werden sollten.« Er sieht ernst in den Raum. »Nach einem bitteren Anschlag gegen unsere Freiheit, unsere Gesellschaft und unsere Vision ist davon leider nichts übrig geblieben.« Mayhoff lässt der Menge einen Moment Zeit für ihr ungehaltenes Murren. Dann strahlt er aber auch schon wieder. »Wir lassen uns aber nicht aufhalten! Als mich das Gesundheitsministerium gefragt hat, ob ich bereit sei, die Cool Corona-Kampagne zu unterstützen, habe ich daher keine Sekunde gezögert.« Mayhoff dämpft die Stimme, legt aber genau das richtige Schmunzeln hinein. »Und selbst wenn die Masken weg sind: Ich bin da. Wir lassen uns von solchen Widrigkeiten ganz bestimmt nicht aufhalten. Corona hat bald keine Chance mehr. Wir sind breasy drauf. Wir atmen uns frei!«

Woraufhin sich, parallel zu seinem Weg von der Bühne in den Saal, eine Fahne abrollt, auf der genau das steht. Dass wir breasy sind und uns freiatmen. Dahinter strahlt das Gesicht von Clemens Mayhoff. Eine Maske hat er zwar nicht auf, aber immerhin in der Hand. Womit man wahrscheinlich sogar seinen Frieden machen kann. Wie wäre denn sonst sein Grinsen zu sehen?

Sophie beobachtet, wie sich der schlaksige Mayhoff durch die Menge schiebt. Auch hier ist die Schwarzhaarige nicht weit. Sollte sie diejenige gewesen sein, die das mit der Fahne ermöglicht hat, wäre sie nicht nur umtriebig, sondern auch verdammt flink. Je länger Sophie sie beobachtet, desto mehr traut sie ihr das zu. Auch jetzt folgt sie Mayhoff, allerdings so, dass alle Aufmerksamkeit allein bei ihm bleibt. Er hat schließlich auch das Seine dafür getan. Der Anzug sitzt mehr schlecht als recht. Die kurzen grauen Haare wirken eher wie mit einer bedingten Hoffnung auf Halt auf dem Schädel verteilte Flusen als eine koordinierte Frisur. Auch die große Nase und der Fünftagebart geben der Gesamterscheinung den Charme einer wandelnden Karikatur. Kein Zweifel, kein Mensch sieht aus wie Mayhoff. Wahrscheinlich will das auch keiner. Was allein schon zeigt, dass er vieles richtig macht.

Auf der Bühne darf jetzt auch die Gesundheitsministerin etwas sagen. Die Reihenfolge der Auftritte, erst das hippe Kampagnengesicht Mayhoff, danach diejenige, die das alles mit Hilfe der glücklichen Steuerzahler finanzieren darf, ergibt zwar Sinn, ist aber bei Licht betrachtet trotzdem irgendwie fies. Zwar ist die angesichts ihrer zwei Jahrzehnte im Politikbetrieb erstaunlich skandalfreie Ministerin im Vergleich zu ihrem Vorgänger, einem hageren, regelmäßig von sich berauschten Typen von rätselhaftem Alter und unklarer Frisur, eine bodenständige Wohltat. Genau deswegen interessiert sich aber auch niemand für sie. Ihre Statistiken über Infektionszahlen, Inzidenzen und Gesundheitspläne mögen zwar richtig sein. Wichtig sind sie wahrscheinlich eigentlich auch. Nach Jahren im Ausnahmezustand will sie aber trotzdem keiner mehr hören. Auch die Rede selbst wirkt so, als habe sie kein gesteigertes Interesse, das alles vorzulesen. Vielleicht ist es da sogar ein kleiner Trost, dass sich ohnehin alle nur auf Mayhoff konzentrieren.

Sophie verfolgt seine Bewegungen und beobachtet ihn dabei, wie er hier ein Lächeln verteilt, da einen Witz reißt und dort einen Fistbump einstreut. Hände werden nicht geschüttelt. Es ist schließlich eine Veranstaltung, die sich mit der Bekämpfung von Corona befasst. Auf der zwar keiner eine Maske trägt. Das könnte aber auch daran liegen, dass sich alle fieberhaft nur noch nach der neuen coolen breasy-Zeit verzehren. Was eigentlich alles Beobachtungen wären, die Sophie jetzt von einem kopfschüttelnd-zynischen Pirlo zugeraunt bekäme. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, zeigt sich auch daran, dass sie solche Gedanken aktuell selbst denken muss.

Wenn sie sich aber ohnehin schon wieder mit der Kanzlei und deren Sorgenkind befassen muss, drängt sich auch ein weiterer Gedanke auf: Falk hat dafür gesorgt, dass Sophie einige Aufmerksamkeit zuteilwurde. Mayhoff war da zwar noch nicht im Raum. Vielleicht haben ihm aber andere davon erzählt, zum Beispiel die wuselige Schwarzhaarige. Möglicherweise ist das hier also eine hervorragende Gelegenheit, sich mit ihm zu vernetzen. Ihm klarzumachen, wer seine Anwältin ist, wenn mal was ist. Denn irgendwas ist bei Mayhoff immer. Spätestens dann, wenn er das nächste Mal einen der ganz Großen der Gesellschaft bloßstellt. Kurz atmet Sophie tief durch. Dann sitzt das Selbstvertrauen. Und warum auch nicht? Mit dem, was hier sonst an Operiertem herumstreunt, kann sie jedenfalls locker mithalten. Falsche Zurückhaltung wäre daher nicht angebracht. Im Gegenteil, Sophie ist bereit für den Akquise-Angriff. Zumindest grundsätzlich. Nur eines fehlt noch: Ganz ohne eine Abstimmung mit Pirlo will sie einen so wichtigen Kontakt eigentlich nicht angehen. Immerhin hat er nicht nur wesentlich mehr Erfahrung mit solchen Annäherungen. Er ist auch immer noch ihr Chef. Als sie sich allerdings zu ihm umdreht, ist er weg.

Sie kann es kaum fassen. Tatsächlich ist er, wie ein weiterer Blick zeigt, auch nicht irgendwo zum Buffet verschwunden oder an den Stehtisch, an dem sich hier, in der Vorbereitung des großen Goldgräberausschwärmens, die Kö-Tussis in den kurzen Kleidchen sammeln. Mit anderen Worten beehrt er keines seiner natürlichen Habitate. Pirlo ist einfach verschwunden, und das sogar noch, ehe die Party hier richtig losgeht. Was Sophie gewaltig nervt. Selbst wenn es irgendwie klar war.

7.Deprulierte Schwankungen.

Am nächsten Morgen

Als Sophie am nächsten Morgen um sieben Uhr in die Kanzlei kommt, ist Pirlo schon da. Er weiß selbst, dass das zwischenzeitlich als ungewöhnlich durchgeht. Wahrscheinlich will er auch genau deswegen nicht großartig darüber sprechen. Er ist einfach vor Ort, sortiert seine E-Mails, trinkt etwas selbst gebrauten Kaffee und überlegt sich ansonsten, wie er durch die Arbeit bei den Mandanten, die ihm nach dem Desaster mit Alena Schmarowa und der Rassvet noch geblieben sind, genug Arbeit und Lösungen findet, um a) die Kanzlei finanzieren und sie b) idealerweise wieder in sicheres Fahrwasser bringen zu können. Sich selbst nach Möglichkeit gleich mit.

Sicher ist ihm dabei klar, dass Sophies Strahlkraft mittlerweile beachtlich ist. Trotzdem ist Sophie, bei allen Qualitäten, noch eine junge Anwältin. Ob allein ihre Reputation ausreicht, um die Kanzlei am Leben zu halten, ist daher mehr als unklar – und längst nicht die einzige Ungewissheit. Dazu kommt etwa, dass Sophies Vater, Ernst Mahler, offensiv an seiner Tochter herumbaggert, um sie doch noch zu einem Wechsel in die von ihm geleitete Großkanzlei Müller & Mahler zu locken. Auch andere Kanzleien dürften im Übrigen ein gesteigertes Interesse an dem neuen shooting star der Branche haben. Tatsächlich hat Pirlo keine Ahnung, wie Sophie auf ein richtig gutes Angebot der Strafrechtskonkurrenz reagieren würde. Was sie nach seinem Verständnis gegenüber ihrem Vater immer wieder klarstellt, ist nur das, was sie beruflich machen will, nicht aber zwingend mit wem.

Es gibt also gute Gründe dafür, auch mal am frühen Morgen in der Kanzlei zu sein, wenn Sophie dort aufschlägt. Vielleicht kann sich Pirlo sogar dafür entschuldigen, dass er gestern mal wieder einfach so abgehauen ist. Völlig verkehrt wäre das jedenfalls nicht.

Als er sie durch die Eingangstür kommen hört, streckt er daher fast automatisch den Rücken durch. Bauch rein, Brust raus. So wie man das eben macht, wenn man reumütig darum bittet, einem das unzuverlässige eigene Betragen nachzusehen. Beziehungsweise: so wie man das machen könnte. Konkret: er, gegenüber Sophie. Wenn sie denn überhaupt zu ihm käme. Was allerdings nicht geschieht. Das darf schon als rätselhaft genug gelten. Dass sie außerdem eilig vor seinem Büro herumhuscht, nährt nur noch das Mysterium. Kurz überlegt Pirlo, was er davon halten soll, erkennt dann aber schnell, dass sich das hier auch ohne großartiges Denken lösen lässt. Was ja sowieso immer gut ist.

Er erwischt sie in dem Moment, in dem sie die Kanzlei gerade wieder verlassen will. »Sophie, was machst du da?«

Sie verharrt direkt vor der breiten Eingangstür der Maisonette, in der Recht.Schaffen seit einem halben Jahr untergebracht ist. Pirlo kennt die Körperhaltung von den zahllosen Kleinkriminellen, die er in den ersten Lehrjahren bei Ohmsen unter seinen Fittichen hatte: auf frischer Tat ertappt, ein schlechtes Gewissen und noch zu unsortiert, um direkt zum Gegenangriff überzugehen. Was bei Sophie allerdings auf keinen Fall lange dauern dürfte. Umso wichtiger ist es, hier gleich sauber nachzulegen.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Sicher«, murmelt sie, während ihre rechte Hand nach dem Türgriff angelt. Die linke hält dabei tapfer ihre Handtasche fest. Wobei die Höhe, auf der das geschieht, seltsam ist. Der Winkel ist es eigentlich auch.

»Ist wirklich alles okay, Sophie?« Pirlo tritt einen Schritt näher, und ernsthaft, spielt es wirklich eine Rolle, ob das nur aus Sorge geschieht oder auch aus Neugier? Liegt denn nicht außerdem irgendwie ein seltsamer Geruch in der Luft? Na eben.