Planet ohne Visum - Jean Malaquais - E-Book

Planet ohne Visum E-Book

Jean Malaquais

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Beschreibung

Das vergessene Meisterwerk der französischen Exilliteratur – nach 75 Jahren endlich auf Deutsch Marseille 1942, einige Monate vor der endgültigen Besetzung der Freien Zone durch die Deutschen. Der große Mittelmeerhafen quillt über von Menschen, die vor dem Krieg fliehen und auf die Überfahrt nach Amerika, in eine ungewisse Zukunft hoffen. Die Stadt ist wie eine Reuse, in der die Unerwünschten und vom Vichy-Regime Verfolgten zappeln und täglich versuchen, den Spitzeln und Denunzianten zu entwischen. Fast dreißig Romanfiguren, deren Schicksale auf mehr oder weniger verhängnisvolle Weise miteinander verstrickt sind, lässt Malaquais auftreten: Flüchtlinge, Aktivisten der Résistance, Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, Legionäre, Devisenschieber, Spitzel und Mitläufer aller Art. Zum Teil sind sie angelehnt an historische Figuren wie Victor Serge, Walter Benjamin und Varian Fry, der zahlreichen Verfolgten zur Ausreise verholfen hat – darunter Jean Malaquais selbst – und dem der Roman in der Figur des Aldous Smith ein Denkmal setzt. »Planet ohne Visum« ist zugleich Agententhriller und Milieustudie, ein packendes Epos der Menschen ohne Papiere, dessen elegante Sprache und stilistischen Reichtum Nadine Püschel meisterhaft ins Deutsche übertragen hat. 1947 in Frankreich erschienen, liegt der Roman damit erstmals in deutscher Übersetzung vor.

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Planète sans visa bei Éditions Phébus, Paris 1999, als vom Autor überarbeitete Neuausgabe der Erstausgabe von 1947.

Die Übersetzerin dankt für die großzügige Förderung des Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, ohne die das Abenteuer dieses Übersetzungsprojekts nicht möglich gewesen wäre, dem Team der Edition Nautilus für die Bereitschaft, die Segel zu hissen, und ganz besonders Marc Geoffroy, den Mitgliedern der Société Jean Malaquais und Élisabeth Malaquais, die ihre persönlichen Erinnerungen mit mir geteilt haben.

Editorische Notiz: Im Original auf Deutsch stehende Passagen sind kursiviert.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2020

Deutsche Erstausgabe September 2022

ISBN EPUB 978-3-96054-295-7

Für Dominique und Jean de Ménil

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Nachwort

Glossar

I

Mit einem weiten Schritt über eine Pfütze nahm der Mann die Sonnenbrille ab, schnüffelte, fluchte durch seine langen, gelb verfärbten Zähne.

»Teufel noch eins!«, grummelte er und pochte mit seinem Gehstock strafend auf den Bordstein. »Teufel noch eins!«

Er strich über sein Spitzbärtchen und sog dabei den Duft seiner Finger ein. Obwohl er seit Wochen tagtäglich um Punkt zwölf Uhr in dasselbe Sträßchen einbog, konnte er sich an den fauligen Verwesungsgestank, den die Gassen des Vieux Port verströmten, partout nicht gewöhnen. In keinem Winkel der Erde, den er bereist hatte, weder im Modena seiner Kindheit noch in den Armenvierteln von Alexandria, weder in den marokkanischen Souks noch im typhusversehrten Odessa des Bürgerkriegs, hatte es derart bestialisch nach Pest und Rattengift gerochen – ein Pestgeruch wie aus der mythischen Zeit der phönizischen Abenteurer, die als Erste an dieser Küste gelandet waren. ›Ich werde empfindlich‹, dachte der alte Mann und schnupperte an seinen Fingern wie an Riechsalz, ›meine Nase wird empfindlich.‹ Die in Jahrhunderten aufgestauten Ausdünstungen sämtlicher Menschengeschlechter schienen hier an die Oberfläche der Gegenwart zu treten, als wäre das Hafenviertel von Marseille die Sammelgrube aller Widerwärtigkeit der Welt.

Der Mann hatte also seine Brille abgenommen, geschnüffelt, geflucht, mit der Eisenspitze seines Gehstocks auf den Bordstein gepocht, noch einmal geflucht. Bevor er seinen Weg fortsetzte, fingerte er umständlich seine Taschenuhr aus ihrem Etui und sah nach der Zeit, das Gehäuse so behutsam mit der Hand umschließend wie einen seltenen Edelstein. Stocksteif zählte er die Sekunden, bis sich Sirenengeheul über den Dächern der Stadt erhob und Hass und Panik schürend über das verlassene Hafenbecken fegte. Darauf nickte er – offenbar erfreut, dass das Geheul pünktlich erfolgt war – und verstaute die Uhr wieder in den Tiefen seiner Westentasche. ›Mittag‹, dachte er und setzte seine Sonnenbrille zurück auf die Nase. ›Mittag.‹

Von der Schwelle ihrer vom fahlen Licht einer fliegendreckverkrusteten Glühbirne erhellten Küche begrüßte Madame Babayû den Gast mit einem volltönenden Bonjour, Colonel, wie geht’s?

Ganz gut, bedeutete ihr der Colonel mit einem Winken.

Bedächtig suchte er ein Plätzchen, wo er seinen Gehstock abstellen konnte, setzte sich mit dem Rücken zur Wand, nahm die Brille ab, rieb seine trockenen, knochigen Hände aneinander. In der kleinen Gaststube des Bon Aloi vermischten sich der Dunst von Knoblauch und Zucchini, Kohl und überreifer Melone zu einem durchdringenden Geruch nach faulen Eiern.

»Eine Suppe, Colonel?«, donnerte Madame Babayû mit dem heroischen Elan eines Reiterangriffs. »Eine Tagessuppe?«

Der Colonel hob zustimmend den Zeigefinger, selbstverständlich eine Suppe; worauf er mit einer weit ausholenden Armbewegung auf den stummen Gruß eines anderen Gastes antwortete, dessen löwenhaftes Gesicht und dichte Mähne ihn an das leprazerfressene Antlitz Gauguins erinnerten. Nachdem die Hand des Colonels einen jovialen Kreis beschrieben hatte, landete sie auf seinem Spitzbärtchen und durchkämmte es bedächtig; und während er mit der anderen Hand in der sienafarbenen Suppe rührte, die Madame Babayû ihm gerade serviert hatte, richtete er eine Bemerkung an seinen Bekannten.

»Caro mio«, sagte er, als nähme er ein unterbrochenes Gespräch wieder auf, »caro mio, mit Ihrer Großzügigkeit zerfleischen Sie sich selbst. Vielleicht ist es aber auch nur Ihr unbändiger Appetit.«

Vorsichtig schlürfte er einen Löffel der mit falschem Safran gefärbten Flüssigkeit, zupfte an seinem Bärtchen, schnaubte durch die Nase. Der ermahnte Löwenmensch kaute nachdenklich. Der Colonel musterte ihn, aß einen zweiten Löffel Suppe und verkündete, wie vom Besonderen auf das Allgemeine schließend:

»Teurer Freund, Sie sind Omophage, das ist gut, ja sogar sehr gut, aber warum um alles in der Welt müssen Sie sich selbst roh verschlingen? Sprach nicht Aeneas zu Lausus, dem Sohn des Mezentius: ›Weswegen suchst du den Tod, wagst mehr, als die Kräfte gestatten?‹«

Er verstummte und widmete sich wieder seiner flüssigen Siena. Vor dem Lokal planschte ein fröhlicher schwarzer Knirps in der Gosse. Der »teure Freund« kippte ein Glas Wasser hinunter. Man sah ihm an, dass es in seinem geschundenen Löwenschädel mächtig ratterte. Nachdem er sein Glas abgestellt hatte, nahm er eine Gabel und zeigte damit auf den alten Italiener.

»Que maravilla!«, sagte er mit Fistelstimme. »Ausgezeichnet, señor y Colonel! Wer ist denn dieser Lauser, der sich von Ihrem Andreas so tadeln lässt? Ich bin also ein …«

Er richtete die Gabel auf Madame Babayû und öffnete den Mund sperrangelweit:

»Ein Omofag mit Silberzwiebeln! Aber schön blutig, Madame!«

Madame Babayû gluckste aufs Geratewohl. Ein Gast stützte die Ellbogen neben seinem Teller auf und studierte, wohl um sich der Schreibweise des bestellten Gerichts zu versichern, das mit Bleistift geschriebene Menü. Der Colonel setzte gerade zu einem weiteren Vers von Vergil an, als mehrere Neuankömmlinge im Gänsemarsch eintraten. Vier von ihnen zwängten sich zu dem Alten, obwohl keiner einen ganzen Platz an seinem Tisch beanspruchen konnte: Marianne Davy, der er den Spitznamen Infanta Incantada verliehen hatte, eine große, grobknochige junge Frau, die ihr rotes Haar mit einem Schnürsenkel zusammengebunden hatte und unentwegt mit der Nase zuckte; Yvonne Tervielle, mit nachdenklich verdüstertem Blick und olivfarbenem Teint; Ivan Stépanoff, ein stämmiger Mann, dessen bohrende graue Augen durch eine randlose Brille gedämpft wurden; und Youra, Stépanoffs Sohn, ein hübscher junger Kerl mit Wuschelschopf, Cordjacke und Zeichenblock unter dem Arm. Der Colonel begrüßte die Damen mit Handkuss, die Herren mit Händedruck und alle vier mit einer Tirade von Sophokles, die niemand verstand und auch nicht zu verstehen vorgab. Zwei weitere Gäste quetschten sich neben den Mann mit der Löwenmähne, der sein gelb kariertes Hemd bis auf die unbehaarte Brust geöffnet hatte. Nach und nach drängten immer mehr Stammkunden in den schmalen Gang zwischen den Tischen und unterhielten sich in einem munteren Durcheinander aus Ungarisch und Italienisch, Russisch und Spanisch und Polnisch.

Madame Babayû waltete ihres Amtes, die Daumen in Teller voll fettschillernder Sauce getunkt, und draußen vor der Tür tunkte der fröhliche Knirps sein Hinterteil in das Gossenwasser.

»So einen Andrang habe ich im Konsulat noch nie erlebt«, erzählte Yvonne Tervielle gerade. »Als wäre ein Schwung Visa eingetroffen wie anderswo eine unrationierte Lieferung Eier. Ich glaube, Ivan, wir müssten Smith fragen, ob er mir nicht einen Termin besorgen kann. Ich habe vier Stunden umsonst gewartet. Das zermürbt.«

Ivan Stépanoff hielt den Blick auf seinen Teller gesenkt und sagte nichts. Vier Stunden … Er dagegen hatte vier Jahre – nur vier? – in den sowjetischen Kerkern gewartet; gewartet worauf. Nichts zermürbt, solange man lebt, formulierte er in Gedanken. Verstohlen betrachtete er seinen Sohn, der sich den Block auf den Schoß gelegt hatte und zeichnete, während er ein Stück Rettich kaute. Ringsum brodelten Stimmen, Kaugeräusche, Satzfetzen, Hitler in Sewastopol, in Tobruk, in Lhasa, und Stépanoff spürte ein kindisches Erstaunen – ein Wunder, dass man immer noch auf beiden Beinen stand, krumm zwar, aber auf eigenen Beinen, dass man von Visa träumte, von Arbeit, von Leben. Wir verdienen unseren Teil vom Glück nicht, dachte er; ebenso wenig wie das Leid, das uns zuteilwird. Ein lächerliches, absurdes Gefühl stieg in ihm auf, eine vage Dankbarkeit für das nach Kleister schmeckende Brot, für die unaufhaltsame Abfolge von Tagen und Nächten. Er suchte den Blick seiner Lebensgefährtin, sie hatte etwas von Smith gesagt, etwas von vier Stunden Wartezeit, Wörter in einem Meer anderer Wörter, in einem vielsprachigen Konzert aus Stimmen, Kaugeräuschen, schwindelerregenden Ideen. Yvonne … Er wollte ihr schon zulächeln, da kam ihm der Mann mit dem Löwengesicht dazwischen:

»Sagen Sie, Colonel, ein Omophage – frisst man den oder wird man von ihm gefressen?«, grölte er über das Tohuwabohu hinweg.

Der Colonel blieb die Antwort schuldig, weil Marianne Davy ihn mit ihrem Bericht über einen Film, den sie am Vorabend im Kino gesehen hatte, völlig in Bann zog. Sie redete wie ein Wasserfall, mit zuckender Nasenspitze, redete und erzählte, kaute dabei, würzte ihre Suppe reichlich nach, bestellte Wasser, winkte einer Bekannten zu, schlug unter völliger Missachtung von Punkt und Komma wilde Haken im Satz. »Klar wie durchsichtig Colonel eine Fee dieses Geschöpf schwebt über der Erde sechs Franc kostet der Eintritt so eine Frau würde ich Ihnen auch wünschen als er sie ins Sanatorium bringt wie aus Kristall wirkt sie Chamonix im Schnee da sollten Sie mal hin Colonel ein Kartoffelpüree Madame Babayû also dieses Gewürz würzt kein bisschen.« Der Colonel war entzückt. Er fragte sich, ob die Infanta Incantada ihn einlud, mit ihr ins Kino zu gehen oder in einem Sanatorium im Schnee Kristalle zu betrachten, ob sie das Kartoffelpüree für sich oder für ihn bestellt hatte – er konnte Kartoffelpüree nicht ausstehen. »Einmal die Kichererbsen!«, rief er vorsorglich, falls es der Infanta Incantada einfiele, ihm das Kartoffelpüree weiterzureichen, das Madame Babayû soeben über die Köpfe der Gäste hinweg servierte.

»Marianne«, sagte er, »Sie sind eine reizende junge Frau. Nicht sehr klar, aber ganz reizend. Dürfte ein alter Mann wie ich wohl fragen, wie alt Sie sind beziehungsweise welches Alter Sie zuzugeben geneigt sind?«

Er hatte sie just hier kennengelernt, an einem Glückstag, als dicke Bohnen in Tomatensauce auf der Speisekarte gestanden hatten; hier und im Au Fier Chasseur, einem Bistro am Quai des Belges, wo sich die aus Montparnasse geflohene Bohème traf. Sie hatte sofort sein Interesse geweckt, seine Neugier auf Menschen und Dinge, die aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fielen. Zu gern hätte er sie für seinen Privatgebrauch beschlagnahmt, unter ein Vergrößerungsglas gelegt und reden lassen, einfach reden.

Marianne Davy redete. Die blauen Augen leuchteten, die Nasenflügel bebten, sie redete. »Sechsundzwanzig hübsche Bluse Yvonne zeig mal Youra sieht ja aus wie ich fünfundzwanzig bin ich Sie sind aber neugierig du hast meinen Mund zu groß gemacht nein siebenundzwanzig Jahre bin ich alt.« Sie beendete ihren Satz so abrupt, wie man einen ins Schlingern geratenen Wagen bremst, und auch darüber war der Colonel entzückt. Sie hatte Bluse gesagt, neugierig, Mund, alles Wörter, deren Herkunft und Geschichte er kannte und die dennoch keinen Zusammenhang ergaben; die ihn in ihrer Zusammenhanglosigkeit verzauberten wie einst, sechzig Jahre zuvor, die Drehorgelklänge auf den schlecht gepflasterten Plätzen von Modena.

Marianne trank einen Schluck Wasser und schwieg. Wo soll ich schlafen und Georges der sture Hund ich muss nach Paris dieser Mistkerl. Sie dachte an eine Bleibe für die Nacht, die kleine Katty Braun, bei der sie Unterschlupf gefunden hatte, war verhaftet worden. Sie dachte an Georges, diesen Katholen, der ihr die Scheidung verweigerte, Georges Davy, dessen Namen sie trug und der ihr eigentlich fast fremd war und so egal wie die Katze, die unter dem Tisch miaute. – Egal? Sie hasste ihn, diesen Camelot du Roi, diesen Kenner persischer Kunst, diesen Bridge-Spieler, diesen Mistkerl. Warum bloß wollte er ihr seine Einwilligung, seine Unterschrift nicht geben, dieser … dieser Ehemann! Also nach Paris, den Mann belagern, der sie an der Leine hielt. Sie zog eine Grimasse, bäh diese Küchengerüche, wieder zuckte die Nase. Aber die Schleuser, was das kostet, und wo schlafe ich heute Nacht, und morgen. Ihre leicht hervortretenden Augen huschten durch den Raum. Tja! Niemand, den man um ein Plätzchen anschnorren konnte. Während sie in ihrer Umhängetasche nach Kleingeld und ihrer Lebensmittelkarte kramte, bahnte sie sich, die Hüfte als Bug voranschiebend, einen Weg durch die Stühle:

»Ich gehe ins Chasseur die Zeichnung gibst du mir dann einen Saft trinken kommen Sie auch wie spät ist es Colonel.«

Der Colonel tupfte seinen Schnurrbart ab und hielt kurz inne, um den Duft seiner Finger einzusaugen. Ei, diese Infanta Incantada, wenn er Caligula gewesen wäre, hätte er aus ihr seine Sonntagsperücke gemacht.

Marianne hatte das offene Meer erreicht und diskutierte mit Madame Babayû über eine Fettkarte. Ivan Stépanoff lächelte in seinen Teller; ein flüchtiges Lächeln, das niemand außer Yvonne Tervielle erahnte. Sie lächelte ebenfalls, ähnlich unmerklich, aus wissender Solidarität. Sie kannte Ivans Reaktionen besser als ihre eigenen, sah sie untrüglich und genauer voraus, als wenn er sie zuvor angekündigt hätte. Ihre feine Wahrnehmung seiner Gesten und Stimmungen bereitete Stépanoff ein heimeliges Wohlbehagen, auf das er bisweilen gereizt reagierte. Sein Leben lang hatte er sich nach einem winzigen bisschen Altmännerfrieden gesehnt – ein Brikett in der Kohlenpfanne, ein Stück Zucker im Tee, eine Matratze ohne Flöhe. Dennoch störte ihn die leicht aufdringliche Art, mit der Yvonne ihre Fürsorglichkeit ihm gegenüber zum Ausdruck brachte. Für ihn war klar, dass sie sich bedingungslos und in jedem Moment aufs Neue zu ihm bekannte, früher, jetzt und immerdar. ›Als hätte ich ihre Bestätigung nötig‹, dachte er; ›als hätte sie meine Lebensgefährtin werden können, ohne dass wir seit Anbeginn aller Dinge durch gegenseitige Hingabe zueinander hingezogen würden.‹ Er betrachtete sie verstohlen, mehr ihr in seiner Brille gespiegeltes Bild als sie selbst. ›Als hätte ich es nötig …‹, parodierte er sich in Gedanken. Er rückte ein Stück zur Seite, um den Knien des Colonels auszuweichen.

»Zwanzigtausend Franc«, sagte jemand hinter ihm. »Für zwanzigtausend kriegst du dein Ausreisevisum. Sogar mit rosa Schleifchen drum, wenn du schön katzbuckelst.«

»Fünfundzwanzig!«, mischte sich ein anderer ein. »Ist wieder teurer geworden seitdem.«

›Weil‹, dachte Stépanoff, ›sie selbst diejenige ist, die Bestätigung sucht, die es nötig hat, mich in die Watte ihrer Einfühlsamkeit zu packen und immer enger darin einzuwickeln. Wie soll es auch anders sein, wo alles vom Ich ausgeht und alles dorthin zurückführt. Ich, ich, das entscheidende Wort, das der erste Hominid zu stammeln lernte, Zeichen von Stärke, von Selbstbehauptung, vielleicht von Göttlichkeit. Dann erweiterte sich das Ich zu einem kollektiven Wir. An dem Tag, da dieser Schritt vollzogen wurde, hatte der Mensch den Humanismus erreicht, der wirklich zählt.‹

Eine Hand legte sich auf seine Schulter, holte ihn aber nicht auf die Erde zurück. ›Die kollektive Ichbezogenheit‹, spann er den Faden in Gedanken weiter, ›ist ein Widerspruch in sich. Gehen wir auch nur nebeneinander, sind wir doch gut beraten, die Krallen einzuziehen.‹ Diesmal war sein Lächeln so inwendig, dass nicht einmal Yvonne es wahrnahm. Mit einer Selbstgefälligkeit, die ihm vage bewusst war, formulierte er seine Überlegungen zu bedeutungsschweren Lehrsätzen, die er bei anderen vielleicht als Almanachspruch abgetan hätte. ›Und selbst wenn wir einmal allein sind, mutterseelenallein, so ist es doch immer der andere, die Gegenwart des anderen, aller anderen, die unserem Leben erst Gehalt verleiht. So wie wir, an diesem Tisch, in diesem apokalyptischen Marseille …‹

Auf einmal riss er so weit den Mund auf, dass der Colonel, der ihm gegenübersaß, seine Zähne sehen konnte. Youra nahm die Hand von der Schulter seines Vaters.

»Ich geh dann mal«, sagte er. Sein Haar fiel ihm in die Augen. »Karte hab ich keine mehr. Die Suppenköchin schreibt’s dir an. Du hast auf ein Steinchen gebissen, na und, so was kommt in den besten Häusern vor, zieh kein Gesicht deswegen.«

Während er seinen schmerzenden Zahn betastete, blickte Stépanoff seinem Sohn nach, der gerade über das Kind in der Gosse hinwegstieg. Yvonne legte ihre Hand auf seine, um zu verhindern, dass er sich über die Respektlosigkeit erregte, mit der Youra ihnen neuerdings begegnete. An manchen Abenden, nach einem Tag voller Besorgungen und vergeblicher Hin- und Herlauferei, konnte es passieren, dass sie mit gedämpfter Stimme auf dieses oder jenes Benehmen oder Widerwort des Jugendlichen zu sprechen kamen. In der Regel aber vermied Stépanoff das Thema. Auch wenn sie aus der Warte eines aufmerksamen Beobachters interessant waren, konnte er nie umhin, sich über Youras Frechheiten zu ärgern. Nebeneinander im Bett liegend, von den Geräuschen der unterernährten Stadt eingelullt, pflegten er und Yvonne stattdessen schlichte, kurze Worte zu wechseln, die sie an der Oberfläche einer prekären Klarsicht hielten. In solchen Augenblicken war ihnen, als ströme der Atem des aufgeschlitzten Europas, des blutenden Russlands in Wellen zu ihnen. Yvonne spürte es manchmal so überdeutlich, dass sie daran zu sterben glaubte. Langsam atmend und mit geschlossenen Augen registrierte sie das Rauschen des Lebens, des Todes, und ihr Herzschlag schien in einem anonymen Pochen aufzugehen. Sie bewegte einen Finger, einen zweiten, berührte Ivan am Oberschenkel. »Fühlen Sie das? Fühlen Sie das?«, flüsterte sie. Er fühlte es, er hörte es, wenn auch nicht ganz so wie sie. Mit dem Tod kannte er sich aus. Dass er noch Augen hat, Nieren, Lungen, dachte sie, dass er immer noch eine solche Körperkraft erahnen lässt … Wie so oft rekapitulierte sie Ivans Leben als Abfolge von Kapitelüberschriften, von Gongschlägen: zwei Jahre in der Peter-und-Paul-Festung, imperialistischer Krieg, Bürgerkrieg, die Sowjets, Hungersnöte, Typhus bei der Belagerung von Rostow am Don, Stalins Thermidor, Hungerstreik in Oranienburg, Skorbut in Irkutsk, Deportation in den äußersten Norden, Isolationshaft in äußerster Unmenschlichkeit, eine Wochenration von hundert Gramm Fett in Marseille … Dass er das erlebt, überlebt hatte und dabei immer noch so baumstark war, die Statur eines Lastenträgers behalten hatte, das kam für sie einem Wunder gleich. Ist es ihm in dreiundfünfzig Jahren, dachte sie, in diesen dreiundfünfzig Jahren seines Lebens auch nur sechs Monate wirklich gut ergangen? Das fragte sie sich, und es war eines der wenigen Dinge an Stépanoff, deren sie sich nicht vollkommen sicher war.

Im Hinterzimmer ihres Cafés fing ein Wandspiegel die beachtliche Leibesfülle der Eheleute Garrigue ein. Sie aßen zu Mittag. Der Wirt hatte gerade eine Knoblauchzehe aus der Lammkeule gepult und knabberte nachdenklich daran. Er hatte sein gesamtes Lokal im Blick, einschließlich der Terrasse mit Aussicht auf das Hafenbecken. In den Wochen und Monaten nach der Kapitulation, als die Marseiller Bevölkerung auf das Doppelte angewachsen war, hatte Jules Garrigues bescheidenes Café einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Einmal hatte sogar eine Zeitung darüber geschrieben, »Die Fauna von Montparnasse im Fier Chasseur« hieß es da, neben einem Foto, das ihm auch nicht schlecht gefiel, Madame Garrigue hatte es rahmen und über der Kasse aufhängen lassen. Was »Fauna von Montparnasse« heißen sollte, wusste er nicht so genau, nur dass es um einen Haufen Wichtigtuer ging, die mehr soffen, als gut für sie war. Das versprach so weiterzugehen, solange der Krieg dauerte, also nur Mut! Jawohl, Jules Garrigue hatte geglaubt, dass sich das Blatt gewendet hatte, dass jetzt endlich Schluss war mit diesem elendigen Leben, bei dem man den lieben langen Tag hinter einem verdreckten Tresen Gläser spülte, und das seit anderthalb Jahrzehnten.

Er säbelte noch eine Scheibe von der Keule ab, tauchte seine Gabel in einen Haufen Bohnen. Fünfzehn Jahre, verflucht und zugenäht! Er betrachtete seine Frau, zufrieden sah sie aus, mit ihrer Schminke im Gesicht. Fünfzehn Jahre! Jetzt ging es schon mit großen Schritten auf die Fünfzig zu, das spürte er, wie man die Bettritze unter sich spürt, wenn man aus einem Albtraum aufwacht. Der Appetit, ja, das war alles, was ihm aus seiner Jugend geblieben war; der Appetit und, natürlich, Josette, seine Tochter Josette, die darauf bestand, Daddy gerufen zu werden, weiß der Henker warum. Er musterte sie, wie sie auf einem Schemel hinter der Kasse hockte und diesem Kerl mit dem scheußlichen Löwenkopf zulächelte. Jules Garrigue kaute gedankenverloren, es war nicht mal sicher, ob er seinen prächtigen Appetit von damals noch hatte. Was hatte er sich gefreut, dass sie ihm so die Tür einrannten, und jetzt ließ sich kaum noch einer blicken, als wäre der Krieg aus der Mode gekommen. Er stieß den Ellbogen in die wohlgefüllte Bluse seiner Frau.

»Zähl mal«, sagte er. »Jeden Tag werden es weniger. Wenn das so weitergeht, machen wir bald keine hundert Franc Umsatz mehr.«

»Pah«, machte Madame Jules und saugte mehrmals ruckartig Luft durch die Vorderzähne, zwischen denen eine Fleischfaser feststeckte. »Pah, es ist Sommer, Julot. Um die Zeit sind halt einige aufs Land gefahren.«

Schulterzuckend nahm er sich ein Stück Gruyère. Die Alte wollte es einfach nicht verstehen … Aufs Land gefahren, dass er nicht lachte! Klar, in den Transportern der Polizei. Er, Jules Garrigue, wusste, was Sache war. Er hatte ihnen drei oder vier »geliefert«, auf gut Glück, musste ja sein. Hatte damit sein Soll für die Légion erfüllt, die einem mit ihrem Blabla über das Anti-Frankreich auf die Nerven fiel. Was denken die eigentlich, wie das Geschäft weitergehen soll, wenn sie die Gäste alle wegsperren, weil sie Juden sind oder ihr Maul zu weit aufreißen oder zu den Gaullisten gehören, Politik hier, Politik da. Er seufzte und bestrich den Gruyère mit Senf. Wenn sie ihr Anti-Frankreich wenigstens zu Hause aus den Betten holen würden. Aber nein, sie müssen ihre Razzien unbedingt in den Cafés machen, dabei sind das gute Adressen, Ruhestörung, Keilerei, so was gibt’s im Fier Chasseur alles nicht. Zum wiederholten Mal zählte er die Gäste durch – sieben, sapperlot, alle auf der Terrasse und drinnen keine Menschenseele, dabei waren’s um die Zeit immer mindestens fünfzig gewesen, bevor der Ärger angefangen hatte. Er schenkte sich einen ordentlichen Schluck Médoc ein und wandte sich an seine Gattin:

»Mein Herz, wenn das so weitergeht, mach ich in einem Monat dicht.«

Madame Jules reinigte sich die Fingernägel. Ihr grau-rosa platiniertes Haar roch nach Haarwasser.

»Das wird schon wieder, Dickerchen«, tröstete sie ihn. »Du bist einfach müde. Na komm, geh eine Runde Karten spielen, das muntert dich auf.«

Er hob die Schultern. Karten, pah! Und wenn sich die Fritzen und die Itaker weiter die Taschen vollmachten, konnte man der Kundschaft nur noch den billigen Fusel servieren, oder Banyuls, diese Brühe. Pfui Teufel! Na, er hatte seinen persönlichen Notvorrat, aber nur nichts überstürzen …

Er nahm einen kräftigen Schluck Médoc, zählte noch einmal die Gäste auf der Terrasse durch. ›Da kennen diese Leute nichts‹, dachte er. ›Herrgott, richtig gut haben’s die! So wie der Alte mit dem Ziegenbärtchen da, den die andern Colonel nennen, freut sich wie sonst was über das Zuckerstück, das er aus einer Streichholzschachtel fischt. Wie er dasitzt mit seinem Monokel und seinen Muckefuck genießt, als wär’s ein Mokka. Zum Schießen.‹ Er war drauf und dran, seine Frau auf ihn aufmerksam zu machen, aber weil die Wirtin sich gerade die Nase mit einer Puderquaste abtupfte, ließ er es bleiben. Der Kellner räumte den Tisch ab. Auf der Terrasse hausierte ein barfüßiges kleines Mädchen mit Nähgarn. Der Alte mit dem ins Auge geklemmten Monokel und der altmodischen Barttracht ließ sich sein Gebräu schmecken. Irgendwann hielt Jules Garrigue es nicht länger aus und fragte seine bessere Hälfte:

»Herzchen, möchtest du mal sehen, was ein echter Genießer ist?«

Sie neigte den Kopf zur Seite und blinzelte ihn an wie ein verblüfftes Huhn.

»Was ist denn jetzt in dich gefahren, Jules?«

»Ach, nichts«, murrte er. »Muss mich beeilen, die Légion ruft.«

Er ließ sie am Tisch sitzen mit ihrer Wimperntusche um die runden Augen, dem Rouge auf den Wangen, der imposanten Brust, den lackierten Fingernägeln. Als er an der Kasse vorbeikam, blieb er kurz stehen und gab Josette zwei Wangenküsschen, und dann noch eins, wenn schon, denn schon. Es gefiel ihm nicht, wie sie diesem zotteligen Vagabunden da draußen auf der Terrasse zulächelte. Ganz und gar nicht. Er blickte seiner Tochter streng in die mandelförmigen braunen Augen.

»Ich bin in einer Stunde wieder da. Bleib schön brav, Josette.«

»Ja, Papa«, versprach sie. »Und Papa, sei so nett, ich heiße Daddy.«

»Aber warum? Du heißt Josette, was soll da …«

»Es macht mir eben Spaß. Daran ist doch nichts verkehrt, oder? Also, Papa, tu mir den Gefallen und sag Daddy zu mir oder lass es ganz. Maman …«

»Na gut, na gut«, wehrte Jules Garrigue matt ab. »Ja, deine Mutter hat nichts dagegen, ich weiß. Bis später also, Daddy.«

Er überquerte die Terrasse und grüßte die Gäste mit einem höflichen Tag die Herrschaften. Dann besann er sich plötzlich, machte kehrt und fragte den Colonel:

»Wie schmeckt Ihnen unser Kaffee, Monsieur?«

»Ausgezeichnet«, erwiderte der Colonel. »Aus-ge-zeichnet. Das Aroma lässt etwas zu wünschen übrig, Zucker wäre nicht schlecht, und weniger sauer müsste er sein, damit er dem Gaumen schmeichelt, aber davon abgesehen schmeckt er aus-gezeichnet. Sagen Sie, Herr Wirt, sind Sie sicher, dass es Kaffee ist?«

Ivan Stépanoff lächelte unmerklich hinter seiner randlosen Brille. Yvonne hätte es ihm gern gleichgetan, aber es gelang ihr nicht: Ihr Lächeln war so offensichtlich wie die Sonne. Die Nase von Marianne Davy wanderte hin und her. Der Mann mit dem Löwengesicht hob den Daumen, als wolle er sich zu Wort melden. Am Kai legte gerade eine Barkasse an. Das Wasser des Hafenbeckens gluckerte leise. Nah und fern zugleich durchschnitt der Pont Transbordeur den Himmel. Jules Garrigue erwiderte würdevoll:

»Aber selbstverständlich, Monsieur. Das ist unser Café national.«

Im Amtssitz der Légion, den ehemaligen Räumlichkeiten einer englischen Bank, die man ordnungsgemäß beschlagnahmt hatte, war die Versammlung bereits in vollem Gange. Jules Garrigue unterdrückte einen Schluckauf, als er feststellte, dass es sich bei dem Vorsitzenden am Kopfende des Tisches um keinen Geringeren handelte als den Regionalleiter der Légion, Adrien de Pontillac, ein hohes Tier in der Präfektur. Der strenge Blick, mit dem dieser den zu spät kommenden Kameraden strafte, entging niemandem; am wenigsten einem Gardisten des Service d’ordre légionnaire, der, so schien es Garrigue, nur auf ein Zeichen wartete, ihn vor die Tür zu setzen. Den kannte er doch, diesen Widerling – Moment, gleich fällt’s mir ein, ach ja, gekellnert hat er, potztausend, bei mir sogar … Nachdem Pontillac seine Armbanduhr zu Rate gezogen hatte, deren extraflaches Weißgoldgehäuse auf die mit der Francisque verschönerten Manschettenknöpfe abgestimmt war, setzte er seine Ausführungen fort. Mit Hinblick auf den bevorstehenden Besuch des Marschalls in Marseille habe man unter anderem an Folgendes zu denken, erstens, die Stadt der Phönizier in den Nationalfarben zu schmücken, und zweitens, für einen absolut spontanen und von Herzen kommenden Volksjubel zu sorgen. Mit rhythmischen Hebungen und Senkungen hämmerte die Stimme des Chefs auf die andächtig schweigenden Kameraden ein – in-je-des-Fen-ster-ei-ne-Fah-ne, vor-je-de-Fah-ne-ei-ne-Eh-ren-gar-de, für-je-de-Eh-ren-gar-de-ei-ne-Bas-ken-müt-ze, für-je-de. Jules Garrigue, der den Schreck noch nicht ganz verdaut hatte, hörte nur mit halbem Ohr hin. Er riskierte einen Blick zu dem Mann vom SOL – kantige Visage, Bandelier, Koppel, blitzende Stiefel, Knarre –, und wieder stieß es ihm auf, als hätten Lammkeule, Bohnen, Gruyère und Senf ihre liebe Mühe mit dem halben Liter Médoc in ihrer Mitte.

»Dieser, also, dieser …«, hickste er. Der Name seines ehemaligen Kellners wollte ihm ums Verrecken nicht einfallen.

Wie der sich aufspielte, so stocksteif und mit geschwellter Brust, als wäre er die Grimmigkeit in Person. Strotzte geradezu vor Pflichtgefühl. Na, gekämpft hatte er selber auch, im Krieg war er gewesen, im Grrroßen, wie man immer noch zu sagen pflegte – Jules Garrigue, Franzose und stolz darauf, ließ sich von einem Schießeisen ganz sicher nicht Bange machen. Nein, ihn quälte nur diese Gedächtnislücke, wie hieß er doch noch, dieser Kerl, dieser … Mélodie! Er fühlte sich gleich besser, ha, auf sein Gedächtnis war Verlass, Jean-Baptiste Mélodie hieß der Gockel! Und was sagte der Chef da eigentlich? Er bemühte sich, in die Ansprache des Chefs einzusteigen, wie man auf eine fahrende Straßenbahn aufspringt. Apotheose, sagte der Chef. Enthusiasmus und Apotheose, werte Legionäre!, deklamierte er. ›Jaja‹, dachte Garrigue. ›Jaja, tu dir nur keinen Zwang an. Enthussibus und Apostozirrhose. Red doch so, dass unsereiner dich versteht, zum Kuckuck!‹ Er musterte wieder den Kerl vom SOL, heiterer diesmal. Jetzt, wo ihm sein Name wieder eingefallen war, fand er ihn eher albern. Na, nicht zu vorschnell, ermahnte er sich. In dieser Aufmachung ist mit dem bestimmt nicht zu spaßen. Er beugte sich zu seinem Sitznachbarn, Ignace Matthieu, um ihm seine Beobachtung mitzuteilen: dass diese Großmäuler vom SOL nur deswegen so markig auftreten konnten, weil sie wie Rindertreiber rausgeputzt waren. Aber der Kamerad Matthieu war hinter seinem buschigen Schnauzer abgetaucht und lauschte mit glühenden Ohren so hingebungsvoll jedem Wort, das der Chef skandierte, dass Garrigue sich gezwungen sah, seinen schönen Einfall für sich zu behalten. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Kinn in die Hand und richtete einen schläfrigen Blick irgendwo zwischen einen Wimpel an der Wand und das energische Profil von Adrien de Pontillac.

Reflexhaft erhoben sich zwei Dutzend Blockleiter wie ein einziger Mann, als Pontillac nach einem stakkatischen …lip-pe-Pé-tain-Herr-des-e-wi-gen-Frank-reich seine Lektion mit einer ausdrucksstarken Geste beendete. Im Stehen, Aktentasche und Hut in der Hand, konsultierte er abermals seine Armbanduhr. Er hatte drei Minuten länger gesprochen als vorgesehen, und diese Esel würden ihn gleich mit ihren Schuljungenfragen belagern. Er hatte es verflucht eilig – Treffen mit Karen um drei, der Präfekt um halb fünf, um zwanzig vor sechs das Flugzeug nach Vichy. »Meine Herren«, sagte er, »ausführliche und detaillierte Anweisungen werden der Légion noch schriftlich zugehen.« Doch schon bestürmten sie ihn von allen Seiten, lächelnd und drängend – Start der Prozession auf der Place de la Préfecture? Waffenschau vor dem Monument aux morts? Messe in Notre-Dame de la Garde? Lautsp… »Kein Baum auf der Canebière ohne seinen Lautsprecher«, präzisierte Pontillac und schob sich in Richtung der Flügeltür, die der SOL-Gardist Mélodie ihm weit geöffnet hatte. Die Meute hastete hinterher – Schulkinder? Blaskapelle der Garde mobile? Feuerw… »Feuerwehr mit allen Wagen und Geräten«, bestätigte Pontillac. Der Raum war schrecklich lang, beim nächsten Mal würde er die Versammlung am unteren Tischende leiten, näher am Ausgang, er durfte Karen nicht warten lassen … »Wir brauchen zwei Korvetten, einen Minenleger und eine Kette Jagdflugzeuge«, verfügte er. Aber der große Clou, die Sensation des Tages, die er noch nicht verraten durfte, sollte die kostenlose Ausgabe eines Camemberts an bedürftige Familien werden.

Auf einmal, gerade als er endlich das Treppenhaus erreicht hatte, verstellte ihm der Kamerad Ignace Matthieu den Weg und stammelte mit hochrotem Kopf:

»Ich … Meine Tochter … Monsieur … Ich muss da etwas … Eine wichtige … Meine Tochter arbeitet …«

»Hm?«, machte Pontillac mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er dachte an Karen, an ihre festen jungfräulichen Brüste, und blinzelte den Kamerad Legionär an, als hätte er noch nie ein gerötetes, von einem nudelholzdicken Schnauzbart versperrtes Gesicht gesehen. Da der Chef unbeirrt weiterging, hielt sich Matthieu mit einer Hand am Geländer fest und tappte die Stufen rückwärts hinunter.

»Arbeit, Familie, Vaterland«, bekräftigte Pontillac, während er Karen und ihre rassigen Kurven vor sich sah. »Wie alt ist denn das Fräulein Tochter?«

»Sech… sechzehn«, röchelte Matthieu.

»Ein schönes Alter, herzlichen Glückwunsch.«

Eilfertig und mit zustimmendem Lächeln drängten die Blockleiter der Légion auf den Treppenabsatz: Der Chef hatte ganz recht, es war ein schönes Alter.

Matthieu keuchte danke, Monsieur, ich … Seine Gesichtsfarbe wechselte von Purpurrot zu Blauviolett. Beinahe wäre er über eine Stufe gestolpert, fing sich gerade noch, hob kühn seinen Schnauzbart:

»Ich … Es handelt sich um ein Komplott gegen … gegen die innere Sicherheit … Meine Tochter …«

»Ihre Tochter schmiedet ein Komplott gegen den Staat?«, lächelte Pontillac. »Na, das ist ja ein frühreifes Kind.«

Nein, fuchtelte Matthieu stumm. Das Erdgeschoss war in Sicht. Sonnensprenkel leuchteten auf dem Bürgersteig, auf dem ein fliegender Händler das ruhmreiche Bildnis des Marschalls als Tonfigur feilbot. Holzsandalen klapperten vorüber. Nackte, mit verdünntem Henna bemalte Beine. Leichte Kleider, verwegene Kleider. Karens Hemdkleid. An der Schwelle blieb Pontillac stehen, um seine Handschuhe überzuziehen. Zehn vor drei … Er würde es gerade so schaffen.

»Bis bald, meine Herren«, sagte er.

Bis bald, Chef, antworteten die Kameraden im Chor, und mittendrin Ignace Matthieu, der laut und deutlich sagte:

»Ich … Monsieur … Also meine Tochter … sie …«

Eine hochgewachsene Blondine zog sich vor dem Fenster des Amtssitzes der Légion den Lippenstift nach. Während er sie beobachtete, fragte Adrien de Pontillac über die Schulter:

»Ihre Tochter wie was?«

Matthieu wechselte die Farbe und riss den Mund weit auf. Sein mächtiger Schnauzer umrahmte ein gähnendes Loch. Neinnein, das war ein Missverständnis, seine Tochter hatte damit nichts zu tun, nie und nimmer! Er blieb wie festgewachsen auf der Treppe stehen, doch als der SOL Mélodie ihn am Ellbogen packte, schüttelte er sich und stieg weiter rückwärts.

»Neinnein, Chef!«, protestierte er. »Ich meine da, wo sie arbeitet, meine Françoise.«

»Ach so …?«, sagte der Chef. »Und wo arbeitet Ihre Françoise, Kamerad Matthieu?«

Er sah zu dem Mann vom SOL, der den Ellbogen des Kameraden losließ, worauf sich diesem endlich die Zunge löste.

»Bei Sucror arbeitet sie, Chef. Das ist da, wo sie diese braunen Kugeln machen, die man essen kann, die sind nicht mal so übel, für zwei fünfzig das Stück …«

»Braune Kugeln, die man essen kann?«, fragte Pontillac. »Matthieu, schreiben Sie mir einen ausführlichen Bericht, worum es sich genau handelt. Und kommen Sie zu mir in die Präfektur, an einem Nachmittag am besten, sagen wir in zwei Wochen.«

Er überschritt die Schwelle und verschwand in der Menschenmenge. Ignace Matthieu wandte seinen Kollegen ein strahlendes Gesicht zu: in zwei Wochen, in der Präfektur, im Büro von Monsieur Adrien de Pontillac höchstpersönlich … Alle betrachteten ihn, als wäre er jung und schön. Garrigue wollte schon gratulieren, da tippte ihm Mélodie auf die Schulter:

»He, Jules, hast du deinen alten Kumpel etwa vergessen?«

Garrigue zuckte innerlich zusammen. Dieser herausgeputzte Feldwebel hatte ihn geduzt! Er hatte ihn Jules genannt!

»Aber nein, Jean-Baptiste«, sagte er. »Ich, die alten Freunde vergessen, i wo …«

»Recht so!«, dröhnte Mélodie. »Und deine Tochter Josette, wie geht’s der? Hab sie neulich im Kino gesehen. Eine Wucht, das Mädel!«

»Gut, danke. Und du, altes Haus? Wie’s aussieht, ist’s dir nicht schlecht ergangen, seit du …«

»Mir?« Er klatschte sich erst auf den Oberschenkel, dann auf das Bandelier. »Mir? … Weißt du, Jules, eigentlich stehen wir jetzt auf derselben Seite. Schon was anderes als damals, als ich bei dir malocht hab, was? Jetzt sind wir alle Franzosen, alter Jules. Vorgesetzte und Angestellte, alle sind gleich. Hat der Marschall doch gesagt, oder?« Er zwinkerte und senkte die Stimme: »Weißt du noch, der gute alte Pernod, der auf dem dritten Regal von links, der ganz besondere, für die Kenner, die echten Liebhaber? Von dem hast du doch bestimmt noch was, Jules, als Muntermacher für gute Freunde. Lädst du mich auf ein Schlückchen ein, dass ich mal bei dir vorbeikomme die Tage und der werten Gemahlin guten Tag sage?«

»Ein bisschen was hab ich wohl noch übrig, ja«, seufzte Jules Garrigue.

II

Adrien de Pontillac begegnete der Damenwelt mit der Herablassung eines anspruchsvollen Connaisseurs. In seinen Augen waren Frauen leicht zu haben und leicht zu verstehen, immer hin- und hergerissen zwischen Ehemann und Liebhaber. Er hatte Tschechinnen und Griechinnen gekannt, Deutsche und Rumäninnen, Russinnen und Däninnen und Skandinavierinnen und eine stattliche Anzahl von Südamerikanerinnen, und er machte sich einen Spaß daraus, jede Einzelne zum Maßstab des Ewig-Weiblichen zu nehmen. Nur Karen Trinyi, aus dem Kriegergeschlecht der Trinyi, von dem in den magyarischen Chroniken des fünfzehnten Jahrhunderts die Rede war, sprengte seinen Erfahrungshorizont.

Karen ließ sich küssen. Wenn er ihre Taille umfasste und sie an sich zog, ließ sie sich küssen; sobald er jedoch Anstalten machte, mehr zu wollen, gebot sie ihm mit einem einzigen Blick aus ihren großen mandelförmigen Augen Einhalt – und beobachtete ihn dabei genau. Er war ja nicht dumm: beobachtete ihn und ignorierte ihn zugleich. So lasziv und geschmeidig sie auch wirkte, in ihrem unerträglich luziden Blick spürte er eine Abwesenheit, ein vollkommenes Desinteresse. Bisweilen – wie in jenen kurzen Momenten, in denen ein Erinnerungsfetzen aus dem Vergessen auftaucht und gleich wieder verschwindet –, bisweilen hatte er das bittere Gefühl, sie sei mit den Gedanken ganz woanders, während er, trunken von dem aufreizenden Geruch ihres Körpers, von jähen Gewaltphantasien gepackt wurde. Wenn sich seine Hände wie ein Schraubstock um ihren Hals schlössen, malte er sich aus, träten ihre Augen aus den Höhlen und verrieten ihm dieses unbekannte, verhasste »Woanders«. Dabei war er sicher, dass sie unter seinen erfahrenen Händen aufblühen würde. Der Moschusduft, den er an Karens Hals, hinter Karens Ohr erschnupperte, entstieg ihrem Blut, und dieses Blut hatte niemand anders als er zum Kochen gebracht. So manches Mal schien sie drauf und dran, sich ihm hinzugeben, eine Berührung hätte genügt – aber er wagte es nicht. An der Sorge, er könnte sie bedrängen oder verlieren, lag es nicht, schließlich war sie nur ein Abenteuer unter vielen, und dennoch wagte er es nicht. Es gab Reh-Frauen, Schildkröten-Frauen, Robben-Frauen, auch Füchsinnen, Giraffen, Fliegende Fische, aber Karen vermochte er nicht einzuordnen in sein zoologisches Repertoire des weiblichen Geschlechts. Sie verwirrte ihn.

»Küssen Sie mich, Karen«, sagte er, seiner eigenen Stimme lauschend. »Küssen Sie mich.«

Ihm kam die absurde Idee, dass er sie vielleicht liebte. Sie sah ihn aus ihren großen, unergründlichen Augen an, in denen er sich verlor. Aus der Tiefe dieses schwarzen Leuchtens konnte man alle Aufforderungen herauslesen und alle Verbote. Vielleicht gehörte sie zu der Sorte, die man brutal behandelte, wie die Prüden, die Frommen. Er hatte Lust, ihr Gewalt anzutun; ihr das Mieder zu zerreißen, dass die Brüste daraus hervorsprangen. Aber er wagte es nicht. Diese Ausländerin, deren Akte er aufs Gründlichste studiert hatte, deren Vorgeschichte er bis ins letzte Detail kannte, deren Tun und Treiben er so sorgfältig nachgegangen war, diese unverheiratete, vermögende, in den USA eingebürgerte Ungarin, die allein lebte und bei einem alten Italiener Klavierstunden nahm, blieb ihm aus unerfindlichem Grund ein Rätsel.

Karen bewegte sich leicht, um sich seinen Armen zu entziehen, und Pontillac ließ sie sofort los. Einen Moment lang blieb sie reglos stehen, dann lächelte sie mit den Augen, vielleicht aus Zuneigung oder auch zum Dank, dass er so prompt gehorcht hatte. Er wusste nicht mehr, woran er war; ob er sie, die er doch für seine Zwecke ausnutzte, womöglich liebte. Sie setzte sich in einen der tiefen Sessel aus weißem Kunstleder, die zur Standardausstattung der Zimmer dieses Hotels gehörten, und schlug die Beine übereinander. ›Wo sie sich wohl ihre Seidenstrümpfe besorgt?‹, dachte er, während er ihre Waden bewunderte. ›Auf dem Schwarzmarkt?‹ Am liebsten wäre er auf die Knie gegangen, um ihre Zehen zu küssen. Er fühlte sich in seine Oberschulzeit in Bordeaux zurückversetzt, wo er für eine rundum entzückende kleine Schneiderin geschwärmt und ihr skrupulös gereimte Vierzeiler geschrieben hatte, vergeblich allerdings, da sie von seiner Mutter, der Comtesse de Pontillac, abgefangen wurden. Karen war keine Schneiderin, er dichtete keine schlechten Verse mehr und die Comtesse weilte nicht mehr unter den Lebenden, aber in diesem Augenblick fühlte er sich genauso schuljungenhaft wie vor fünfundzwanzig Jahren. Hätte Karen nur Nein gesagt, niemals, wie diese Zimperliesen, die sich einbildeten, sie dürften erst nach gebührender Belagerung nachgeben – Festungen, die nur darauf warteten, gestürmt zu werden –, wie mühelos hätte er sie dann erobert! Doch Karen sagte weder Ja noch Nein, sie ließ sich auf den hartnäckig geschlossenen Mund küssen und staunte insgeheim vielleicht, dass er nichts unternahm, was ihr ein Ja oder ein Nein abverlangte. Seit jenem nun schon etliche Monate zurückliegenden Tag, an dem dieses exquisite Geschöpf bis in sein Büro vorgedrungen war, um eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, hatte er sich ihr gegenüber nie mehr als einen Kuss erlaubt.

»Wie geistesabwesend Sie heute sind, Adrien«, sagte sie. »Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Regierungssorgen?«

Sie sprach ein gewähltes, von der Lektüre der Klassiker geprägtes Französisch, aber er hörte doch die Spur eines Akzents heraus, den er nicht verorten konnte. Er liebte die Modulationen ihrer leicht kehligen Stimme; liebte es, sie in Reichweite seines Begehrens, seiner Hand zu sehen, nah und fern zugleich.

»Karen, ziehen Sie eigentlich die Möglichkeit in Betracht, dass ich Sie liebe?«, fragte er geradeheraus.

Reglos, die Arme hinter dem Rücken, sah er ihr tief in die Augen. Er strahlte eine gesunde Frische aus, Wagemut und eine gewisse Vornehmheit, die die Kälte seines Blicks milderte. Karen fragte sich, wie sehr er sich wohl von seinen Kasten- und Klasseninstinkten leiten ließ, wenn er von der Spitze einer Pyramide an Untergebenen herab an den zweifelhaften Tugenden der Nationalen Revolution feilte; fragte es sich halb im Scherz, da sie ihn gut genug kannte und sein angeborenes Herrschaftsgebaren bei ihr dahinschmolz wie Schnee in der Sonne. Ein Lächeln trat in ihre Augen und verlor sich darin.

»Wären Sie dessen denn fähig, Adrien?«

Er drehte sich gegen das Licht, um sie besser beobachten zu können. Dass sie seine Frage mit einer Gegenfrage beantwortete, gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Er spürte seine Felle davonschwimmen und schlug einen anderen Ton an.

»Karen, einer so klugen Frau wie Ihnen kann nicht entgangen sein, dass ich um Ihren Rock scharwenzele wie ein Verehrer auf Sommerfrische, der Gänseblümchenblätter abzählt. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, wie wenig das meinem Naturell entspricht. Wie würden Sie mein Verhalten beschreiben? Ich hoffe, ich mache mich nicht wichtiger, als ich bin, wenn ich annehme, dass Sie, sei es auch nur flüchtig, über meine Motive nachgedacht haben.«

Sie legte den Kopf an die Sessellehne und lachte herzhaft. Ein Lachen, das tief aus ihr herausrollte. Tief und sinnlich. Pontillac stand reglos und sah zu, wie sie die Hand an den Hals legte. Sie schien sich köstlich zu amüsieren.

»Ein Verehrer auf Sommerfrische …«, sagte sie und lachte wieder. »Was für ein charmantes Bild. Sie sollten sich als Schriftsteller versuchen, Adrien. Es stimmt, ich sehe Sie eher mit Lorbeerkränzen vor mir als beim ›Sie liebt mich, sie liebt mich nicht …‹ Und was Ihre Motive angeht …«

Sie verstummte und blickte ihn so unverwandt an, als hätte er sie hypnotisiert. Pontillac hatte das Gefühl, in ihren leuchtenden Augen zu lesen wie in einem offenen Buch. Was löcherte er diese Schönheit noch mit Fragen … Er brauchte nur einen Schritt zu tun und sie käme zu ihm, so stand es in ihrem Blick geschrieben, ein Schritt, und sie käme und sie glaubte, wie noch nie eine Frau geglaubt hatte. Ein letztes Zögern dämpfte seine Stimme:

»Sprechen Sie weiter, meine Liebe. Ich bin ganz Ohr.«

»Das kann ich mir denken«, antwortete sie. »Sie sind recht streitlustig aufgelegt, Monsieur. Oder haben Sie tatsächlich Sorgen, Adrien? Oh, wenn Sie sich auf meine Kosten davon ablenken wollen, nur zu, tun Sie sich keinen Zwang an.«

Pontillac schwieg einen Moment. Er war nicht sicher, ob er sich gut aus der Affäre gezogen hatte. Ihm fiel ein, dass er ihr vorschlagen könnte, ihn zum Flughafen zu begleiten. Nach Vichy mitzukommen.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte er. »Ich bin in der Tat sehr beschäftigt. Ich werde heute Abend in Vichy erwartet. Aber Sie wollten gerade etwas sagen, Karen. Zu den Gedanken, die Sie sich in Bezug auf meine Frage gemacht haben.«

»Aber nein, keine Gedanken, Adrien. Es ist eher ein Gefühl.«

Sie kuschelte sich in ihren Sessel, indem sie die Beine unter sich zog. Ein Lächeln dämpfte das Blitzen in ihren Augen.

»Eine Beziehung, wie Sie und ich sie pflegen, wird von den jungen Frauen meiner Generation weniger mit dem Verstand erfasst denn mit Intuition. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich das, was Sie so elliptisch Ihre Motive nennen, nicht etwa verstanden, sondern eher erahnt zu haben glaube. Intuitiv erahnt, Adrien. Als Kind meines Jahrhunderts neige ich zu spontaner Erkenntnis, frei von müßigen Überlegungen, zu etwas, was man wohl die Stimme des Blutes nennen könnte, oder der Rasse oder dergleichen, verlangen Sie nicht von mir, dass ich expliziter werde. Gedanken in Ihrem Sinne habe ich mir lediglich darüber gemacht, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen. Denn sie klingt ja geradezu, als könnte ich Ihnen etwas über Ihre Absichten sagen, was Sie selbst noch nicht wissen.«

»Welche Absichten, Karen? Eben das möchte ich gern von Ihnen hören.« Ihre Abschweifung über die Stimme des Blutes oder dergleichen gefiel ihm nicht. »Stellen Sie sich vor, ich wäre der Schreiberling, der zu werden Sie mich für fähig halten, und wüsste nicht mehr, wohin das Histörchen, das ich begonnen habe, mich führt.«

»Und dieses Histörchen soll ich sein, wenn ich Sie richtig verstehe? Ich bitte Sie, Adrien, Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie der Typ Mann sind, der in einer so einfach gestrickten Geschichte den Faden verliert? Wenn ich wirklich so klug wäre, wie Sie mir zu schmeicheln belieben, wäre es unverzeihlich von mir, auf derartige Scherze einzugehen.«

Pontillac machte einen Schritt in Richtung des Sessels, aus dem Karen sich nicht gerührt hatte. In ihren pechschwarzen Augen tanzten goldene Sprenkel. ›Ich sage ihr ganz unverblümt, dass ich sie will‹, dachte er. ›Ich werde es ihr nicht einmal sagen, sondern …‹

»Setzen Sie sich zu mir, hier auf die Lehne«, sagte sie – ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und es war, als hätte sie in allen Sprachen der Welt Ja und Nein gesagt. »Also lassen Sie mich allein, ja, mit Ihrer Abreise nach Vichy?«

Er setzte sich nicht. Welchen Platz im Tierreich nahm sie nur ein? In welchem Bestiarium wäre sie zu finden? Vor seinem geistigen Auge blitzte Catherine Tournefeuille-Blas auf, seine ältere Schwester, die sich ebenfalls nirgends einordnen ließ.

»Das heißt also nein? Sie glauben es nicht?«, sagte er gedämpft.

Sie schob die Füße über den Parkettboden, berührte seine Hand. Er spürte ihre Finger über seinen Handrücken gleiten und ließ sie gewähren. Als ein Luftzug die Gardinen am Fenster bewegte, legte sich ein Mosaik aus Schatten über das Zimmer. In Karens Nacken löste sich eine hellbraune Haarsträhne. Ohne den Kopf zu heben, sagte sie:

»Sie müssen zugeben, dass es merkwürdig ist … Sie haben mir nie gesagt, dass Sie mich lieben, und nun fragen Sie mich, ob ich an Ihre Liebe glaube. Das ist nicht fair gespielt, Adrien.« Sie zog die Beine wieder unter sich. »Oh, denken Sie bloß nicht, ich wollte schmachtende Liebesschwüre von Ihnen hören. Ich bitte Sie, ersparen Sie uns diese Peinlichkeit.«

»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«

Nein, das war nicht das richtige Wort. Er fühlte sich leicht desorientiert, als verlöre er tatsächlich den Faden. Das Ganze wurde allmählich grotesk.

»Sind Sie sich dessen sicher?«, wiederholte er.

»Wessen soll ich mir sicher sein?«

Sie erhob sich abrupt, was ihn zwang, einen Schritt zurückzuweichen. Er überragte sie um einen Kopf.

»Wessen soll ich mir sicher sein?«, fragte sie noch einmal. »Dass ich keinerlei Wunsch verspüre, Sie Liebesworte säuseln zu hören? Ja, da bin ich ganz sicher, Adrien. Und Sie möchten, dass ich Ihnen sage, warum Sie im Orbit meines Rockes kreisen? Muss ich wirklich so konkret werden? Sind wir nicht geschäftlich verbandelt, werter Herr? Apropos, ich habe soeben diese Depesche hier erhalten, die Sie vermutlich interessieren wird.«

Sie ging um ihn herum zu einem Schreibpult. Er sah ihr nach, nahm stumm das Telegramm entgegen, das sie ihm hinhielt. Sie hatte leicht hastig gesprochen, in einem anderen Tonfall als sonst. ›Ach so ist das‹, dachte Pontillac. ›Sie redet sich ein, dass ich ihr nur nachsteige, um diese Transaktion zu tätigen, und das ärgert sie, verletzt sie in ihrem Stolz, ihrem …‹ Ihm wurde ganz warm ums Herz, und beinahe hätte ihn diese Aufwallung zu ihr ans Fenster getrieben, wo sie, den Rücken ihm zugewandt, die frische Luft einsog. Hatte sie tatsächlich nicht gemerkt, dass er ihr über das Geschäftliche hinaus ganz und gar verfallen war? Nein, kein Geständnis hätte deutlicher, keine Verneinung bejahender sein können als die Betonung, die er aus ihrem geschäftlich verbandelt, werter Herr herausgehört hatte. Dass Karen so passiv blieb, dass Karen sich zierte, dass eine schwarze Glut ihren Blick verdüsterte, wenn er sie in seine Arme zog – all das war ihm auf einmal sonnenklar. Wenn er noch zögerte … Er warf einen flüchtigen Blick auf das Telegramm. MISS KAREN TRINYI SPLENDID HOTEL MARSEILLES FRANCE PERMISSION GRANTED TO OPEN ACCOUNT FOR MRS CLARISSE ORFANVILLE WIRE AMOUNT TO TRANSFER STOP FUNDS AVAILABLE IN YOUR ACCOUNT US $ 149,872.22 STOP MANHATTAN TRUST C° N Y C. ›Wenn ich noch zögere, welcher Fauna ich sie zuordnen soll‹, dachte er, ›so liegt das daran, dass sie das Reifestadium noch nicht erreicht hat.‹

Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Sie drehte sich zu ihm um, eine dunkle Silhouette vor dem Laub der Platane, die vom Bürgersteig bis auf Höhe des Fensters reichte. Ihre Miene war ruhig und erwartungsvoll.

»Karen, ich muss mich jetzt verabschieden. Ich bin schon sehr spät dran.« Er trat noch näher, suchte die warmen Zonen ihres Blicks. »Ich würde Sie gern davon überzeugen können, dass Sie sich irren, wenn Sie den Erhalt dieser Nachricht für den einzigen Grund meines Besuchs halten. Das glauben Sie mir doch, nicht wahr?«

Er wollte ihr die Arme um die Taille legen, doch sie tat nichts, um ihn dazu zu ermuntern. In ihren geweiteten Pupillen klaffte die Abwesenheit.

»Werden Sie nicht rührselig, Adrien. Sagen Sie uns lieber, ob diese Depesche Ihren Wünschen entspricht.«

Er lächelte. Das heranreifende Tier war noch in seinem Stolz verletzt, das verstand er. Er nahm ihre Hand.

»Karen, es gibt nicht nur dieses Telegramm. Es gibt auch Sie.«

»Wie viel soll ich auf das Konto der Dame einzahlen lassen?«

Er nahm ihre andere Hand und suchte ihren Blick. Über ihren Starrsinn musste er lächeln. Sie würde zu ihm kommen, daran zweifelte er nun nicht mehr. Sanft drückte er ihr beide Hände.

»Nach meiner Rückkehr, Karen. Nach meiner Rückkehr. Und Sie dürfen mich gern rührselig finden. Ich werde in den nächsten zwei Wochen an Sie denken.«

Er küsste sie auf den Mund und eilte mit großen Schritten hinaus.

Der Colonel persönlich kam zur Tür, als sie läutete.

»Contentissimo di verderla, signorina«, sagte er und spähte über Karens Schulter in das dunkle Treppenhaus. »Come sta?«

»Benissimo, grazie«, entgegnete sie.

Nachdem er sie hereingebeten hatte, ging er ihr voraus durch einen spärlich beleuchteten Korridor. Er hatte mit leicht erhobener Stimme gesprochen, als hoffe er, hinter den zahlreichen Türen der Pension gehört zu werden. Seine Klause beherbergte ein wildes Sammelsurium an Dingen: ein Gondelbett mit bunter Flickendecke darüber, einen Tisch, der früher einmal weiß lackiert gewesen war, einen wackligen Sessel, mehrere klapprige Stühle, ein Klavier, überquellende Regale und Schränke. Broschüren, Hefte, Partituren, Bücher im Quart- und im Oktavformat stapelten sich wahllos und in gefährlichem Gleichgewicht auf dem Bett, dem Tisch, dem wackelnden Sessel, dem Klavier. Auf der Bank des mit einem Schottenstoff verhängten Fensters sonderte eine Kochplatte, der ein dickleibiger Foliant als Untersatz diente, schwarzen Asbeststaub ab. Darauf stand ein Topf mit einem Unterteller anstelle eines Deckels, unter dem Dampf und siedendes Wasser gluckerten. Nachdem Karen die Herdplatte ausgesteckt, den Topf weggestellt und den Folianten zur Hand genommen hatte, studierte sie den Titel auf dem Rücken des Wälzers, dessen von der Hitze wellig gewordener Einband noch etwas von seiner alten Pracht erahnen ließ. Lautlos Buchstabe um Buchstabe vor sich hinsprechend, gelang es ihr schließlich, die Inschrift zu entziffern: Die Wolken, Die Vögel, Die Ritter …

»Ich wusste gar nicht, dass du Aristophanes so feindlich gesinnt bist, Großvater«, sagte sie.

In seinen Pantoffeln schlurfte er zu ihr. Eine Baskenmütze kaschierte – oder schützte – sein kahles Haupt. Da er empfindliche Bronchien hatte, behagte es ihm nicht, wenn es ihm kalt über den Schädel zog. Mit dem Aristophanes in beiden Händen stellte sich Karen auf die Zehenspitzen und drückte dem alten Mann einen Kuss auf das Spitzbärtchen. Er rieb seine Nase an der seiner Enkelin, und die Krähenfüße um seine hellen Augen vertieften sich vor Freude.

»Uff«, seufzte Karen.

Sie legte das schwere Buch vorsichtig auf die Baskenmütze des Colonels und hielt es dort im Gleichgewicht, und er sprach mit stolzgeschwellter Brust:

»Merken Sie sich eins, Mademoiselle: Aristophanes, Sohn des Philippos, hat niemals einen treueren Freund gehabt als mich.«

Aus dem Stegreif übersetzend, die Schnurrbartspitzen formvollendet aufgerichtet, rezitierte er:

Stets beschuldigen sie die Frauen,

der Männer Verderbnis zu sein;

die Wurzel allen Übels nennen sie uns,

und erzählen es wieder und wieder.

Sie sahen sich an und unterdrückten ein Lachen. Der Colonel legte seine Hände auf Karens, und sie überließ ihm den Folianten.

»Kräutertee?«, fragte sie.

»Was auch sonst?«

Sie wühlte in einer Art Apothekerschrank mit Tütchen, Fläschchen und Röhrchen. Den Aristophanes weiter auf dem Kopf haltend, sah er ihr zu.

»Es läuft recht vielversprechend, Großvater«, murmelte Karen, während sie den Tee in einem irdenen Topf aufbrühte.

Nachdem er sich nach einem Ablageplatz für den Folianten umgeblickt hatte, legte der Colonel das Buch auf den Boden und hockte sich daneben. Karen reichte ihm eine Tasse. Er schlürfte erst einen, dann einen zweiten großen Schluck. Sie setzte sich halb auf die Sessellehne. Die Spitze ihres holzbesohlten Schuhs stieß an den Pantoffel des Colonels. Er betrachtete sie von unten, die Tasse in beiden Händen, die Baskenmütze tief in die Stirn gezogen.

»Erzähl«, sagte er.

»Wir plauderten gerade über dieses und jenes, als ich ihm das Blatt übergab. Meinem Eindruck nach war er angenehm überrascht.«

»Woraus schließt du das?«

»Ich konnte sein Spiegelbild im Fenster sehen, während er das Telegramm überflog. Seine Miene wirkte recht zufrieden. Ich bin sicher – fast sicher –, dass er mich mit der Zahlung beauftragen wird. Weißt du noch, Großvater? Am Anfang, als du meintest, ich solle auf seine Avancen eingehen, war ich furchtbar nervös. Vor jedem Wiedersehen fürchtete ich, er würde irgendein Papier hervorzaubern, das mich überführt. Mittlerweile bin ich ganz unbesorgt. Und wie unbesorgt ich bin. Er könnte leicht überprüfen lassen, ob das Telegramm echt ist, immerhin ist er so etwas wie ein hochrangiger Polizeibeamter, aber er wird es nicht tun. Ich bin sicher, dass er es nicht tun wird. Wenn er jemals mir gegenüber argwöhnisch war, dann aus einem völlig anderen Grund …«

»Verstehe«, erwiderte der Colonel und stellte seine Tasse auf den Dielen ab. »Sag, Gervaise: Er hat dir seine Liebe erklärt, nicht wahr?«

»Nein. Noch nicht. Nicht direkt. Aber fast. In zwei Wochen, wenn er aus Vichy zurückkommt …«

Der alte Mann zwirbelte seinen Schnurrbart und schnupperte dabei an den Fingern. Dann zog er die Beine an und schlang die Arme darum, sodass sein Bärtchen auf den Knien auflag. In dieser kauernden Haltung, mit den knubbeligen Schultern und den langen Gliedern, wirkte der würdevolle alte Herr geradezu drollig.

»Pontillac«, sagte er, »ist ein beneidenswerter Mann. Er lernt, dass es auf Erden keine Glückseligkeit gibt außer der Liebe. Keine Widerrede – du weißt, wie sehr Romanzen mich rühren, besonders die simplen. Eins muss man ihm lassen, Geschmack hat er. Wäre ich vier Jahrzehnte jünger, wäre ich heillos in dich verliebt.«

Er musterte sie ernst, mit demselben beseelten Ausdruck in den Augen, den sie von ihm kannte, seit sie ihm als kleines Mädchen stundenlang gelauscht hatte, wenn er Racine vorlas oder Dante deklamierte.

»Ich betone, mein Liebling«, fuhr er fort, »dass ich mich zur Entschuldigung nicht auf Verwandtschaft berufe. Wer weiß, vielleicht ist Pontillac ja auch Romantiker? Selbstverständlich nicht nach der alten Art meines Freundes Novalis, sondern nach der jüngeren, der Romantik der ›Neuen Ordnung‹, die mit so viel Getöse daherkommt?«

Er stand auf, lang und knochig. Als er den Folianten aufheben wollte, stieß er mit dem Fuß an die Tasse, drehte sich nach dem Geräusch um und stieß dabei gegen einen Stuhl, worauf ein Stapel Bücher zu Boden plumpste. Karen biss sich auf die Unterlippe, um einen Lachanfall zu ersticken, und rutschte schnell auf die Knie, um dem alten Mann beim Aufsammeln zuvorzukommen; doch da er Anstalten machte, es ihr gleichzutun, hielt sie ihm die Hände fest und küsste sie nacheinander.

»Wohlgesonnen bist du deinen Autoren wirklich nicht«, sagte sie. »Der hier ist ganz lädiert. Verarzte ihn, wenn du kannst, ich räume solange auf.«

Er nahm das Buch, dessen Einband nur noch an einem seidenen Faden hing, und schlug es aufs Geratewohl auf. Offenbar war sein Interesse geweckt, denn er klopfte auf der Suche nach dem Monokel seine Westentaschen ab: Es war eine Erstausgabe von Modest Proposal, 1729. Auf seinem Gesicht breitete sich ein versonnenes Lächeln aus.

»Der gute Jonathan … Erinnerst du dich an unsere Swift-Lektüren, Gervaise?«

Sie bejahte halblaut, während sie die Bücher der Größe nach sortierte. Er sah ihr kopfschüttelnd zu.

»Eine solide Konstruktion hast du da gebaut. Einen Brückenpfeiler aus Stahlbeton. Aber so ungeordnet und unbedacht, wie das aufgestapelt ist, werde ich alles wieder kaputtmachen müssen, sobald ich etwas nachzuschlagen habe.«

Sie setzte sich, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und maß ihn mit einer Mischung aus gespielter Wut und echter Zärtlichkeit.

»Ein Ort für alles, und alles an seinem Platz …«, zitierte er, über seinen Bart streichend. »Das hat Franklin, der Genießer, schön erkannt. Aber du bist zu jung, um die guten Rezepte zu schätzen. Was meinen werten Swift angeht, der war ein kapitaler Mann, wenn auch kein bisschen romantisch. A wise man, schrieb er, a wise man should have money in his head, not in his heart. Ich bezweifle, dass Monsieur de Pontillac mit Jonathan Swift vertraut ist.«

»Du bist eifersüchtig, du Brummbart«, wehrte Karen ab. »Neulich habe ich Gulliver erwähnt, und Pontillac schien mir die Figur sehr gut zu kennen. Wie war das noch … Ach ja, es ging um Adolf Hitler, den guten Riesen und die jämmerlichen Liliputaner. Ab und zu gönne ich mir den Luxus, mit einer geistreichen Bemerkung aus der Rolle zu fallen, wie eine dumme Gans, die im Petit Écho de la mode zehn Zeilen über Bergson aus der Feder von Tante Kunigunde gelesen hat und sich dann zu Spitzfindigkeiten über den intuitionistischen Existenzbegriff berufen fühlt. Schimpf mich nicht, ich muss mich ja irgendwie unterhalten. Pontillac passt das gar nicht, er macht jedes Mal ein ganz saures Gesicht. Und dein Swift hat auch nicht gerade gelebt, was er predigte – wenn ich mich recht erinnere, ist er bettelarm gestorben. Aber du neckst mich nur, nicht wahr, Großvater? Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass ein Mann vom Kaliber Pontillacs so naiv wäre, sich bei einer Weibergeschichte hereinlegen zu lassen? Schließlich hat er nicht auf die Begegnung mit mir gewartet, um seine kleinen Interessen zu verfolgen. Ich habe nicht den Eindruck, dass er ein Neuling auf dem Gebiet ist, sonst hätte er mir wohl kaum erklärt, wie ich vorzugehen habe. Hätte er mir nicht auf den Zahn gefühlt und meine Reaktionen ganz genau beobachtet, als er mich wie beiläufig nach meinem angeblichen Vermögen in den Staaten fragte, wären wir nie auf die Idee gekommen, sein Spiel mitzuspielen. Ja, mit der Neuen Ordnung – das klingt wie der eingetragene Name einer Vorstadtgenossenschaft, oder nicht? Mit der Neuen Ordnung ist gut Staat zu machen, aber was hat es mit diesen Konten in Übersee auf sich? Bunkert er dort sein eigenes Geld? Betreibt er Kapitalschieberei? Jedenfalls war er zu Beginn unserer Bekanntschaft wirklich nur auf meine Zöpfe aus. Also ließ ich ihn, als deine brave Schülerin, in meiner Lebenssphäre umhertänzeln, wie du es so elegant formuliert hast. Einen Pottwal dieses Ranges vor der Harpune zu haben sei nicht zu verachten, meintest du. Eine deiner Eingebungen, Großvater. Brillant, und … darf ich?«

»Nur heraus damit«, sagte er großmütig – er wusste genau, was sie sagen würde. »Romantisch und dumm, nicht wahr?«

»Schrecklich dumm«, bestätigte sie ernst. »So dumm, dass es zwangsläufig gelingen musste.«

»Eine boshafte Stilfigur, Gervaise. Und ein boshaftes Paradoxon. Ideen sind selten dumm, deswegen gibt es ja so wenige davon, wohingegen kleine Mädchen es sehr wohl sind, weshalb es so viele davon gibt.«

Er wunderte sich, warum sie auf die Anfänge ihres Abenteuers zu sprechen kam; wunderte sich nur halb, so wie er mit halbem Lächeln den leichten Vorwurf in ihren Worten registrierte. Ohne jeden fragenden Ton, unpersönlich gewissermaßen, aber mit einem Anflug von Unsicherheit in der Stimme sagte er:

»Pontillac ist ein gutaussehender Mann …«

Karen stand auf. Ein zartes Rot trat in ihre Wangen.

»Siehst du, wie dumm das ist, alter Wirrkopf«, sagte sie.

Da läutete es zweimal an der Tür, und die beiden wechselten einen Blick. Erwartest du jemanden?, fragten Karens Augen, deren Pupillen sich langsam weiteten, als hätte ihnen das Licht gefehlt. Der Colonel schüttelte entschieden den Kopf. Sie wusste doch, dass nie eine Menschenseele hierherkam, wenn sie zu Besuch war. Der einzige Gast, den ihr Großvater bei sich empfing, ein Dominikanermönch, den er in Griechisch unterrichtete, hatte keinen Grund, um diese Uhrzeit aufzutauchen. Es läutete wieder, weniger kräftig als die ersten beiden Male. Der alte Mann wies mit dem Kinn auf Karens Handtasche. Gehorsam tastete sie danach, ohne den Blick von dem in seine Augenhöhle geklemmten Monokel zu wenden. In der Pension war es totenstill; niemand schien Besuch zu erwarten oder zu wünschen. Mechanisch öffnete und schloss Karen ihre Handtasche. Abermals drang die Türglocke zu ihnen, schüchtern diesmal, ein einzelner, ganz schwacher Anschlag.

»Willst du vielleicht nachsehen?«, fragte Karen.