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Masken, Schnelltests, Abstand Kevin "Kay" Holzmanns Job als Personenschützer ist durch die Corona-Pandemie nicht einfacher geworden. Dass ausgerechnet der lokal bekannte Virologe Marian Engel ihn anheuern will, erscheint Kay wie ein Glückstreffer. Der mutmaßliche Stalker, der Engel verfolgt, scheint mehr ein Ärgernis als eine akute Bedrohung zu sein. Ein einfacher Job, reichliche Bezahlung – was könnte Kay mehr wollen? Wäre da nicht die Sympathie, die sich zwischen den zwei Männern entwickelt und ihre berufliche Beziehung in Gefahr bringt. Bald schon fällt es Kay schwer, seine Gefühle für Marian zu verbergen. Aber wie soll er mit ihnen umgehen, wenn sich Marians Verfolger als weniger harmlos herausstellen, als sie beide angenommen haben…?
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Copyright © 2023 by Tristan Harnisch Cottaer Straße 21b 01159 [email protected] Autor - Tristan Lánstad Lektorat - Tino Falke Cover - Carolin Kraemer Korrektorat - Saku Roth Satz - Tristan Lánstad
Dieses Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Dieses Buch wurde durch die Unterstützung folgender Personen ermöglicht:Andrea Melina Annika Ivonne Kohler Kat Katherina Ushachov Leslie S. Mae Bührmann Moe Brinkmann Miriam Debus Miriam Nadja Reptar Crane Roxane Bicker Sasha C. Schwartze skalabyrinth Wieland MöbusUnd viele weitere …
Vielen Dank an euch alle!
Mein besonderer Dank gilt außerdem allen, die den Roman von Anfang an begleitet, mitgefiebert, beworben, retweetet, reviewed und kommentiert haben.
»Ja, hallo?«
Die Gegensprechanlage des nobel renovierten Altbaus rauschte und knackte vernehmlich. Unwillkürlich neigte Kay sich näher heran und sprach besonders laut und deutlich.
»Hallo Herr Engel, Holzmann hier! Wir hatten telefoniert!«
»Ah ja. Kommen Sie bitte hoch in den 3. Stock, es ist die Tür rechts.«
Der elektrische Türöffner summte. Hastig stemmte Kay sich gegen die Tür, mal wieder mit zu viel Kraft. Sie donnerte gegen die weiß verputzte Wand im Flur und das Knallen ließ ihn zusammenfahren.
»Scheiße!«
Peinlich berührt trat er in den hohen Hausflur mit den bemalten Decken und betrachtete die Bescherung: Er hatte tatsächlich ein Loch in die Wand geschlagen. Das ging ja gut los. Kay zögerte einen Moment, aber dann wandte er sich der Treppe zu. Nicht, dass jemand auf die Idee kam, nachzusehen, was da so einen Krach gemacht hatte. Er nahm zwei Stufen auf einmal, bei seinen langen Beinen machte ihm das nicht viel aus.
Die gewachste Doppelflügeltür aus Eichenholz auf der rechten Seite öffnete sich gerade, als Kay den Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock erreichte. Eine geschäftig wirkende Person in einem schlichten, anthrazitfarbenen Kostüm trat heraus, die Aktentasche in der Hand.
»Ich würde mich jedenfalls freuen, von Ihnen zu hören«, sagte sie und richtete die farblich passende Maske. »Oder soll ich Sie Ende der Woche anrufen?«
»Das wird nicht nötig sein«, entgegnete ihr Gegenüber, offensichtlich Herr Engel. Seine Stimme erklang nur gedämpft durch die FFP-2-Maske.
»Denken Sie –« Engels Besuch unterbrach sich überrascht, als Kay die letzten Stufen erklomm und aus dem unteren Geschoss auftauchte wie Moby Dick aus dem Meer. Das ungläubige Starren war für Kay nichts Neues. Mit 1,95 m überragte er die meisten; gepaart mit seinen breiten Schultern und 120 kg Kampfgewicht war er unübersehbar.
Herr Engel reagierte souveräner und nickte ihm freundlich zu. »Herr Holzmann, nehme ich an? Sie waren ja schnell hier oben! Kommen Sie herein.«
»Gern«, antwortete Kay und trat an ihm vorbei in die Wohnung.
»Danke, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten.« Engel schloss die Tür hinter ihm, ohne sich von seinem vorherigen Besuch zu verabschieden. Die Visitenkarte, die er in der Hand gehalten hatte, riss er in der Mitte durch und beförderte sie in einen nahen Papierkorb.
»Kein Problem.«
Kay blieb zögernd auf der großen Fußmatte im Eingangsbereich stehen und fühlte sich mit einem Mal fehl am Platz. In einer Prachtbude wie dieser hatte er noch nie ein Bewerbungsgespräch geführt. Das Fischgrätparkett war alt, aber tadellos aufgearbeitet. Die minimalistische Garderobe aus Echtholz sah teuer aus. Abstrakte Gemälde in kräftigen Farben schmückten die Flurwände. Anscheinend lohnte es sich, ein Virologe zu sein.
»Das Bad ist gleich hier«, sagte Engel und wies auf die Tür rechts neben Kay. »Wenn Sie sich die Hände gewaschen haben, können Sie in mein Büro kommen, das ist auf derselben Flurseite, eine Tür weiter.«
»Schuhe ausziehen oder anlassen?«
Engel lächelte unter seiner Maske, was Kay zum Glück an den Lachfalten um seine Augen erkennen konnte.
»Ich fürchte, ich habe keine, wie sagt man, ›Gästepantoffeln‹ in Ihrer Größe«, erklärte er mit einem Wink zu Kays riesigen Füßen. »Davon abgesehen, dass sie nicht besonders hygienisch sind. Entscheiden Sie gern selbst.«
Kay nickte und zog sich, nach kurzem Bedenken und einem Rundumblick, die schwarzen Sneaker von den Füßen. Der Fußboden war blitzblank; er hätte sich schlecht gefühlt, unnötig Dreck in die Wohnung zu tragen. Das hielt er so lange für einen schlauen Gedanken, bis er ein Loch in der Socke an seiner rechten großen Zehe entdeckte. Perfekt, in der ersten Minute als absoluter Schluffi geoutet.
»Ich bin dann mal Hände waschen«, brummte Kay hastig und beeilte sich, ins Badezimmer zu kommen.
Das war recht schmal, aber gemütlich und vollgestopft mit Grünpflanzen, die auf Simsen standen, das Fensterbrett belegten und von der Decke hingen. Entweder hatte Engel einen Faible für Grünzeug, oder er bekam genau wie Kay als Dank für seine Arbeit immer Topfpflanzen geschenkt.
Hastig vertauschte Kay seine Socken, sodass sich das Loch strategisch günstig bei seiner kleinen Zehe befand, und schob die löchrige Stelle zusätzlich unter den Fußballen. Danach absolvierte er seine 30 Sekunden am Waschbecken und benutzte auch den Desinfektionsmittelspender, der neben der Handseife stand. Ein Virologe war bei so etwas bestimmt pingelig.
Zum Abschluss richtete Kay seine Haare und kontrollierte sein Aussehen. Das dunkelblaue Hemd sah trotz des warmen Wetters nicht schweißfleckig aus und ließ ihn nicht ganz käseweiß erscheinen. Die schwarze Jeans saß. Die Maske passte farblich, sein Vollbart verschwand ordnungsgemäß darunter. Er mochte so breit wie hoch und ein wandelnder Schrank sein, aber wenigstens war er ein gut angezogener, professioneller und motivierter Schrank. Zeit, einen weiteren Job klar zu machen.
Kay verließ das Bad und ging durch die zweite Tür, die bereits offen stand. Der Raum dahinter war groß und wirkte hell und einladend. Durch die geöffneten hohen Fenster drangen Vogelgesang und ein leichter Windhauch aus dem Innenhof herein. Die Wände waren pastellgrün gestrichen und riesige Topfpflanzen umsäumten den modernen weißen Stahlrohrschreibtisch in der Mitte des Zimmers wie ein Wäldchen.
Herr Engel saß dahinter und tippte fleißig auf der Tastatur des Desktop-PCs. Er hatte wohl öfter Gäste in seinem Büro, denn dem Schreibtisch gegenüber standen zwei schlichte Schwingstühle. Kay setzte sich kommentarlos, fischte einen Notizblock aus der Umhängetasche und wartete. Er plante immer genug Zeit für neue Aufträge ein und Engel schien vertieft. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine konzentrierte Falte, die Kay spontan sympathisch war, so wie der ganze Rest von ihm. Er wirkte ganz anders als bei seinen Auftritten im Lokalfernsehen, bei denen er kurze Kommentare zur Corona-Situation gegeben hatte.
Unwillkürlich glich Kay seine Erinnerung mit der Realität ab und korrigierte ein paar Angaben in Marian Engels Profil. Zum einen war er deutlich kleiner, als Kay angenommen hatte, um die 1,75 m groß. Das helle Leinenhemd und die Jeans ließen ihn weniger streng erscheinen als der dunkle Anzug, den er im Fernsehen getragen hatte, und seine helle Haut weniger blass. Sein blondes, gelocktes Haar war nicht mit Gel gebändigt, sondern fiel ihm locker und ein bisschen chaotisch in die Stirn, um sein rundes Gesicht und fast über die Gläser seiner randlosen Brille. Auch seine Haltung war deutlich offener und entspannter als bei seinen Interviews; vermutlich war er nicht der Typ Mensch, der sich im Rampenlicht wohlfühlte. Kay, der einmal beim Karaoke vor Nervosität die Bühne in Brand gesetzt hatte, konnte das nachfühlen.
Mit einem zufriedenen Seufzen und einem letzten Klick beendete Herr Engel seine Arbeit. Er schob die Tastatur von sich, sah zu Kay auf und faltete die Hände auf dem Schreibtisch.
»So. Tut mir leid, ich wollte eigentlich bis zu unserem Termin fertig mit der Arbeit sein, aber dann hat mich unangemeldet diese Recruiterin überfallen und wollte nicht wieder verschwinden.«
»Kein Problem, ich habe Zeit mitgebracht«, antwortete Kay und schlug seinen Notizblock auf. »Haben Sie mir deshalb eine Anfrage geschickt? Brauchen Sie jemand, der Ihnen Recruitingfirmen vom Hals hält?«
Engel stutzte, dann lächelte er. »Nein, das zum Glück nicht. Ich hätte in meiner E-Mail an Sie wohl konkreter sein sollen. Aber ehrlich gesagt, die ganze Sache ist neu für mich. Bei Bodyguards dachte ich bisher an Hollywoodfilme.«
Das überraschte Kay nicht sonderlich; er arbeitete schon lange als Personenschützer und erkannte die ganz neue Kundschaft. »Aus dem Grund sprechen wir in der Branche eher von Personenschutz statt Bodyguards.«
Engel nickte. »Ist notiert.«
»Und ich beantworte Ihnen gerne alle Fragen, die Sie haben. Als Erstes würde ich mir aber gern ein Bild von Ihrer Lage machen. Es gibt ja sicher einen konkreten Grund, warum Sie Personenschutz möchten.«
Engel seufzte. »Ich spare mir am besten die langen Erklärungen und zeige Ihnen einfach das Material.«
Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und holte einen Stapel Papiere und Fotos hervor, die er Kay kommentarlos reichte. Kay nahm sich die Zeit, sie eingehend zu betrachten und sich den Inhalt in Stichpunkten zu notieren.
Einige Fotos zeigten den Eingang des Wohnhauses, durch den Kay gekommen war, und die Reihen der Briefkästen. Einer davon lag auf dem Boden und lediglich ein dunkler Krater zeugte davon, wo er zuvor an der Wand befestigt gewesen war. Kay tippte auf Feuerwerkskörper, die Sorte, die es in Deutschland nicht zu kaufen gab. Er betrachtete ein anderes Foto, auf dem der Schaden am Briefkasten aus der Nähe aufgenommen worden war; das Weißblech war komplett verbeult, die Tür herausgedrückt. Über allem lag eine Schicht aus Asche und zerfetzten Papierfragmenten, deren Text nicht entzifferbar war.
Kopfschüttelnd legte Kay den ersten Stoß Bilder beiseite und betrachtete die restlichen Fotos. Sie zeigten die Doppelflügeltür, durch die er die Wohnung betreten hatte. Sie war über und über mit Edding beschmiert und Kay las allerlei Beschimpfungen, die sich alle auf Corona und Engels Beruf bezogen. Einige Passagen waren auf dem Foto geschwärzt worden.
Außerdem gab es Kopien einiger grob zusammengeschmierter Briefe, die Kay überflog. Der Inhalt entsprach auf den ersten Blick den Beschimpfungen auf der Tür: ein unzusammenhängender Schwall aus Anschuldigungen und Drohungen. Manche enthielten Fotomanipulationen und Diagramme. Alle waren in schrägen, wie willkürlich platzierten Lettern verfasst, die darauf hindeuteten, dass die Handschrift wissentlich verfälscht worden war. Kay glich das Schriftbild mit den Schmierereien auf der Tür ab. Das passte zueinander.
Damit hörten die Übereinstimmungen noch längst nicht auf. Auch in den Briefen gab es eine Menge geschwärzter Passagen. Umfang und Platzierung waren konsistent mit denen auf den Fotos, also hatte Engel einen spezifischen Teil aus dem Material entfernt. Nachdenklich klopfte Kay mit dem Stift auf das Papier. Was hatte er redigiert? Und vor allem, warum?
Nun, darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Engel betrachtete ihn zunehmend nervös und wartete auf seine Einschätzung.
»Sie sind also aktuell das Ziel von Vandalismus und Drohbriefen«, fasste Kay zusammen und legte die Dokumente zurück auf den Schreibtisch. »Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«
Engel nickte unbehaglich. »Ja, zum ersten Mal. Ich meine, die letzten Jahre habe ich immer wieder Briefe bekommen und das nicht so ernst genommen. Das bringt mein Job mit sich. Aber die neusten waren mir zu … konkret. Also habe ich Anzeige erstattet.«
Kay kannte den abfallenden Ton der Enttäuschung in seiner Stimme. »Ich nehme an, außer Formalitäten ist nichts weiter passiert?«
»Offiziell laufen die Ermittlungen, aber mein Eindruck ist, dass sie es als Lappalie abtun. Ich bezweifle, dass mein Problem bei denen gut aufgehoben ist.«
Irgendetwas sagte Kay, dass das nicht von ungefähr kam. »Sie würden die Polizei also zukünftig gern aus der Sache heraushalten?«, fragte er rundheraus.
Engel zögerte mit seiner Antwort. »Ja, das wäre mir lieber«, gab er schließlich zu.
Kay nickte und hoffte, dass man ihm sein beruhigendes Lächeln auch mit Maske ansah. »Keine Sorge, da sind Sie kein Einzelfall. Genau deshalb wendet sich der Großteil meiner Kundschaft an mich«, sagte er. »Wenn es zu einem strafrechtlich relevanten Zwischenfall kommt, müssen wir natürlich den offiziellen Weg gehen, aber sonst nicht.«
Engel nickte und schien sich zu entspannen.
Sehr schlechte Erfahrungen mit der Polizei also, notierte sich Kay, diesmal allerdings nur gedanklich. Laut sagte er: »Jedenfalls verstehe ich, dass Sie die Sache inzwischen ernster nehmen. Wie lange bekommen Sie die Briefe schon? Seit der Welle 20-1?« Er warf einen Blick auf seine vorbereiteten Notizen. »Öffentlichkeitswirksam arbeiten Sie, soweit ich weiß, erst seit 21-3, oder?«
»Sie sind gut informiert!«, sagte Engel. »Richtig, im Fernsehen bin ich erst später aufgetaucht. Vorher war ich beratend tätig, vor allem für die Stadt. Eigentlich hatte ich schon seit der ersten Welle von COVID-19 immer wieder mal so ein Traktat im Briefkasten. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber mir erschien es … na ja, harmlos. Albern. Ich meine, einmal hat sich jemand die Mühe gemacht, mich und die ehemalige Kanzlerin über Fotomanipulation in ein Doppelbett zu verfrachten!«
»Wusste gar nicht, dass Sie ihr so nahe stehen«, witzelte Kay und Engel grinste unter seiner Maske.
»Unser kleines Geheimnis. Wussten Sie, dass die Raute mit den Händen ein geheimes 5G-Chemtrails-Signal an Bill Gates sendet?«
Kay grinste zurück und war versucht, etwas Witziges zu antworten, doch dann riss er sich zusammen. Er war ja nicht zum Plaudern hier.
»Gab es einen bestimmten Zeitpunkt, ab dem die Situation eskaliert ist?«, fragte er stattdessen. »Sonst noch irgendwas, an das Sie sich erinnern? Einfach ganz ungefiltert.«
Engel führte die Hand zum Gesicht, wollte sie nachdenklich ans Kinn legen, bevor er schuldbewusst zurückzuckte. Anscheinend hatte selbst er Probleme mit alten Gewohnheiten. Stattdessen griff er nach einem Fidgetwürfel, der auf dem Schreibtisch lag.
»Dass es so richtig an Fahrt aufnahm, muss etwa zwei oder drei Wochen her sein«, erzählte er, während er den Würfel in der Hand drehte. Die vielgestaltigen Oberflächen schienen eine beruhigende Wirkung auf ihn zu haben. »Zuerst wurde der Briefkasten demoliert, ein paar Tage danach war die Sache mit der Tür. Einiges kann ich aber auch nicht einordnen. Ich bekam seltsame Anrufe und zwischendurch brach immer wieder meine Internetleitung für ein paar Stunden zusammen. Letzteres könnte allerdings auch mein, gelinde gesagt, beschissener Provider sein. Ein paarmal nachts meinte ich, jemand vor meiner Tür zu hören, aber meine Nachbar*innen kommen und gehen ja, wie es ihnen gefällt.« Er zögerte, legte den Würfel beiseite und strich sich stattdessen nachdenklich durchs Haar, seufzte dann frustriert. »Mehr fällt mir nicht ein. Ich hätte wohl ein Protokoll anfertigen sollen, damit ich etwas Konkretes in der Hand habe.«
»Ich verstehe, warum Sie es nicht getan haben«, sagte Kay beschwichtigend und schmunzelte heimlich darüber, dass Engels Locken jetzt noch wilder aussahen als zuvor. »Man geht nicht automatisch vom Schlimmsten aus.«
»Kann sein«, erwiderte Engel, wenig überzeugt. »Aber ich glaube, ich wollte mir auch nicht eingestehen, dass es etwas Ernstes sein könnte, bis ich diese neusten Briefe bekam. Es waren einfach zu viele Details, wie und wo und wann sie mich abfangen wollten, bis zu der Uhrzeit, zu der ich normalerweise das Haus verlasse. Ganz aus war es für mich, als letzten Freitag nachts jemand an meiner Tür rüttelte und irgendetwas brüllte. Als die Polizei auftauchte, war natürlich niemand mehr zu finden.«
»Könnte sich jemand Informationen über Sie aus einer leicht zugänglichen Quelle beschafft haben?«, fragte Kay. »Ein E-Mail-Konto mit den entsprechenden Kalendereinträgen kann gehackt werden und Ihr Institut gibt sicher Pressetermine heraus, zu denen Sie anwesend sind. Ihre Wohnadresse findet man über das Einwohnermeldeamt. Darauf basierend kann man sich gut ausrechnen, wann und wo man Sie antreffen kann.«
Engel schüttelte energisch den Kopf. »Bei der Adresse haben Sie vielleicht recht, aber die Termine stammten direkt aus meinem privaten Kalender, und der ist so analog, wie es nur geht.« Er deutete auf ein kleines, etwas zerfleddertes Notizbuch, das auf seinem Schreibtisch lag. »Und selbst wenn sie den in die Finger bekommen hätten: Woher kannten sie den Weg, den ich nehmen würde?«
Kay nickte und kritzelte eine nachdenkliche Spirale um seine letzten Notizen. Das alles ließ nur einen Schluss zu.
»Haben Sie in Erwägung gezogen, dass Sie jemand stalken könnte?«
Engel seufzte. »Ich habe es befürchtet. Aber mir ist niemand aufgefallen, wenn Sie das meinen.«
»Das heißt, direkt wurden Sie nicht angegriffen? Oder mit Waffen bedroht?«
Die Frage schien Engel deutlich zu beunruhigen. »Zum Glück nicht. Denken Sie, dass das möglich wäre?«
»Nein, nein, das wollte ich damit nicht sagen«, antwortete Kay schnell. »Ich wollte es nur ausschließen. Wenn jemand vorhätte, ein Attentat mit tödlichem Ausgang auf Sie zu verüben, müssten wir ganz neu überlegen. Für solche Bedrohungen bin ich nicht ausgerüstet und bringe die Zeit nicht auf. In dem Fall hätte ich Ihnen eine lokale Firma empfohlen. Aber bisher sieht es mir eher danach aus, dass man Sie einschüchtern will und dass Sie gestalkt werden. Das Gute ist: Solche Menschen drohen gern, aber sie machen meist nur Ernst, wenn ihr Opfer allein und hilflos ist. Personenschutz erschwert das deutlich. Was denken Sie: Wie oft werden Sie mich brauchen?«
»Das Institut, in dem ich arbeite, hat einen Sicherheitsdienst unter Vertrag, der leistet gute Arbeit. Meistens arbeite ich dort, seltener im Home Office. Für den Anfang würde ich Sie gern zu einigen meiner Auswärtstermine mitnehmen, die in den Briefen erwähnt wurden. Vielleicht fällt Ihnen da etwas auf.«
Kay nickte und kritzelte weiter an seinen Notizen. »Klingt gut. Ich habe noch ein paar andere Leute auf meiner Liste, aber das takten wir ein. Ich meine, wenn Sie jetzt nach unserem Gespräch das Gefühl haben, ich könnte Ihnen weiterhelfen.«
»Ehrlich gesagt könnte ich mir niemand Besseren vorstellen.«
Kay blickte von seinen Notizen auf. Täuschte er sich, oder hatte sich Engels Tonfall gerade subtil verändert? Die Lachfalten um seine Augen waren jedenfalls zurück und er hatte den Kopf leicht schiefgelegt, betrachtete Kay eingehend. Er wirkte jetzt deutlich gefasster als zu Anfang ihres Gesprächs, viel selbstsicherer. Wie der Herr der Lage. Er strahlte Autorität aus und Kay konnte ihn sich in diesem Moment gut als seinen Chef vorstellen. Er brachte alle Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit mit, er war humorvoll, ehrlich, wortgewandt. Attraktiv.
Kay bereute den Gedanken, sobald er ihn zu Ende gedacht hatte. Scheiße, wie kam er jetzt darauf?
Engel hatte ihn etwas gefragt und er hatte gar nicht zugehört. »Verzeihung, wie meinten Sie?«
Die Lachfalten um Engels Augen vertieften sich noch. »Ich wollte wissen, ob Sie mit regelmäßigen Tests einverstanden sind? Wie dem, dessen Ergebnis Sie mir heute im Voraus gemailt haben.«
»Na klar, das gehört zum Job. Ist ja sogar gesetzlich geregelt«, versicherte Kay schnell und verhaspelte sich fast dabei. Verdammt, er durfte jetzt nicht kurz vor Schluss den Faden verlieren. »Aber wem erzähle ich das? Natürlich informiere ich Sie auch über Risikokontakte oder im Krankheitsfall. Ich kann meine Maske aber auch immer aufbehalten, ganz, wie Sie wollen.«
»Ich würde das je nach Situation und Risiko individuell handhaben. Wenn Sie mich beispielsweise draußen zu Fuß begleiten, ist der Mindestabstand ausreichend. Dann können wir auf Masken verzichten.«
Sign me the fuck up, dachte Kay und ärgerte sich sofort wieder über sich selbst. Wo blieb seine Professionalität? Wie Engels Lächeln ohne Maske aussah, war für ihn doch völlig irrelevant!
»Das geht in Ordnung«, antwortete er und verfluchte, dass seine Ohren heiß wurden.
»Schicken Sie mir gern alles Vertragliche direkt per E-Mail zu, ich möchte so schnell wie möglich starten«, fuhr Engel fort. »Oder gibt es noch etwas, das wir besprechen müssen?«
Kay scharrte mit dem Fuß über den Boden, starrte auf seine Notizen, aber ihm fiel beim besten Willen nichts mehr ein.
»Im Grunde nicht, nein. Ich würde mich dann wieder auf den Weg machen.«
Kay erhob sich, verstaute sein Schreibzeug und Engel begleitete ihn in den Flur.
»Schön haben Sie es hier. Sehr groß für eine Person«, sagte er, um Konversation zu machen.
»Ursprünglich war es für drei Leute gedacht, aber na ja … seit Kurzem wohne ich wieder allein«, antwortete Engel. Sein Tonfall war plötzlich sehr kühl. »Wenn es nach mir ginge, wäre ich längst umgezogen. Dann wäre ich die Briefe los und müsste auch nicht extra eine Putzkraft beschäftigen. Aber der Wohnungsmarkt ist gerade eine einzige Katastrophe.«
Kay nickte und beerdigte das Thema schnell. Warum fand er immer zielsicher das nächste Fettnäpfchen? Hätte er raten müssen, hätte er auf eine frische Trennung getippt. War Engel am Ende gerade single geworden? Nun, selbst wenn, es ging ihn wirklich nichts an!
»Eine Frage hätte ich noch, so aus, na ja, Marktforschungsgründen«, sagte er, während er in seine U-Boot-großen Sneaker schlüpfte. Engel nickte aufmunternd. »Wie sind Sie denn nun auf mich gestoßen? Sie sind im Fernsehen zu sehen, Ihr Institut berät offiziell die Landesregierung. Ich hätte vermutet, Sie wenden sich direkt an eine große Agentur.«
»Ehrlich gesagt waren Sie der Einzige, der mich spontan überzeugt hat. Ihre Website war sehr aussagekräftig«, antwortete Engel und öffnete Kay die Doppelflügeltür, damit er hinaustreten konnte.
»Irgendwas, das besonders positiv herausstach?« Er kam sich albern vor, zwischen Tür und Angel noch zu fragen, aber Engel hielt nachdenklich inne.
»Lachen Sie nicht«, sagte er. »Aber ich war positiv davon angetan, dass Sie alles inklusiv gestaltet und ordentlich entgendert haben. Dass man im Kontaktformular Pronomen hinterlegen konnte. Mittlerweile sollte das selbstverständlich sein, aber das ist es leider nicht.«
»Darüber werde ich ganz bestimmt nicht lachen, das ist mir auch sehr wichtig! Und Frau Maurer, sie erstellt die Webseite für mich, sie kennt sich aus. Also wenn Sie da mal Bedarf haben …«
»Dann frag ich bei Ihnen nach, versprochen.«
Sie verstummten beide. Irgendwie gelang es Kay nicht, sich einfach zu verabschieden, und Engel schien es ähnlich zu gehen. Einen ruhigen Moment lang sahen sie sich nur an. Engel lehnte entspannt am Rahmen der geöffneten Tür. Ohne großes Aufhebens nahm er seine benutzte Maske ab und warf sie in den Papierkorb. Anders als bei seinen Fernsehauftritten war er nicht glatt rasiert, sondern trug einen Dreitagebart, der ihm gut stand.
»Brauchen Sie die heute nicht mehr?«, fragte Kay und versuchte, sein Gesicht nicht allzu offensichtlich anzustarren.
»Nein, heute arbeite ich nur noch im Home Office. Was ist mit Ihnen?«
Warum fragte er das? War das Höflichkeit, oder doch Interesse?
»Nur noch eine Stunde am Nachmittag, sonst ist heute nicht mehr viel los«, sagte Kay. Er begann zu schwitzen, obwohl es im Treppenhaus eigentlich kühl war. Engel sah ihn immer noch neugierig an und machte keine Anstalten, die Tür zu schließen. »Wissen Sie«, fuhr Kay fort, einfach nur, um irgendetwas zu sagen, »ich würde mich freuen, wenn Sie auf mich zurückkommen würden. Ich habe gerade eine Lücke zu füllen und da kommen Sie mir sehr gelegen. Äh. In meinem Terminkalender, meine ich.«
Oh Gott, hör bloß auf zu reden!
Engel nickte. »Ich verstehe. Übrigens …« Seine Stimme wurde plötzlich leiser, vertraulicher. »Bevor Sie gehen … ich wollte Ihnen die ganze Zeit schon etwas sagen.«
Kays Herz machte einen seltsamen Hüpfer »Äh, ja?«
»Sie haben da ein Loch in Ihrer Socke.«
»Gaaaaaaaah!« Kay legte seine ganze aufgestaute Frustration in diesen Laut und ließ sich rückwärts gegen die filigrane Lehne des Kaffeehausstuhls fallen, der bedrohlich ächzte.
»Wenn du jetzt umfällst, weil du unbedingt dramatisch sein musstest, helfe ich dir nicht hoch!«, sagte Ben und rammte die Gabel sehr demonstrativ in sein Stück Zupfkuchen.
»So furchtbar kann ein Bewerbungsgespräch nicht gelaufen sein, dass es einen Schrei endloser Verzweiflung rechtfertigt«, fügte Jenny hinzu. Sie schlürfte ihren Latte macchiato mit solcher Macht durch den Strohhalm, dass das Glas danach halb leer war.
Kay war froh, dass das wöchentliche Kaffeekränzchen mit Ben und Jenny auf den gleichen Tag wie sein Bewerbungsgespräch fiel. Wenn er seinen Frust schon mit einem großen Eiskaffee herunterspülen musste, dann wenigstens in guter Gesellschaft und bei strahlendem Sonnenschein.
Sie saßen wie immer im gut belüfteten Wintergarten des kleinen Cafés, das sie Sommer wie Winter besuchten. Ben hatte den besten Tisch ergattert, direkt an der Südseite, im Schatten eines großen Fliederbuschs. Von dort hatten sie einen herrlichen Ausblick auf den zum Grundstück gehörenden Garten. Jetzt, Ende Mai, stand er in voller Blüte. Eine Reihe stattlicher Bäume reckte sich in den Himmel und blühende Heckenrosen versperrten den Blick auf die eher tristen Straßenzüge ringsum. Kleine Singvögel hüpften zwitschernd und bisweilen schimpfend durch den Garten, besuchten das Vogelbad oder wühlten in der Erde, auf der Suche nach Insekten. Kay beobachtete sie und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
»Das Furchtbare war, ganz typisch, ich«, erklärte er schließlich. »Ich hab mich blamiert, wie immer.«
»Du übertreibst mal wieder«, sagte Jenny. »Er hat dich doch nicht mit Schimpf und Schande davongejagt, oder?«
»Nein, eher das Gegenteil«, sagte Kay und traktierte die Kugel Vanilleeis in seinem Eiskaffee mit dem Löffel.
»Na also! Was ist dann das Problem?«
Kay wusste es selbst nicht so genau. Er hatte die vage Ahnung, dass ihm heute bei dem Gespräch mit Engel etwas Wichtiges entgangen war, aber er konnte den Finger nicht drauf legen.
»Ich suche noch den Haken an der ganzen Sache«, sagte er. »Ich meine, er ist Virologe und hat offensichtlich Geld. Um das Finanzielle brauch ich mir also keine Gedanken machen. Er hat die richtigen Fragen gestellt und ist ein ziemlich netter Typ. Der Job selbst klingt lächerlich einfach. Er mag sogar unsere Website! Alles ein bisschen zu gut, um wahr zu sein, oder?«
»Ja, furchtbar, wie kann das Schicksal nur so grausam sein?!«, spottete Ben durch einen Mund voll Kuchen. »Arbeite nicht für ihn, er muss dich schon mindestens hassen und auf Händen und Knien durch Stacheldraht robben lassen!«
Jenny gab dem Angeberhut auf seinem Kopf einen Schubs, sodass er hinter ihm zu Boden segelte.
»He! Mein guter Hut!«
»Spiel dich nicht so auf!«
»So einen kriegt man nicht mehr zu kaufen, okay?«
Vermutlich hatte er damit sogar recht: Ben trug prinzipiell nur Kleidungsstücke, die keinem Modetrend folgten und aus den staubigen Untiefen diverser Vintage-Läden stammten. Dazu gehörten auch seine ewig gleichen Skinnyjeans, übergroße Hemden, die obligatorischen Hosenträger und natürlich sein zerknautschter Lieblingshut.
Eigentlich hätten geringere weiße Hipster vor Ben niederknien müssen, um von seiner Meisterschaft zu lernen. Er hätte Volkshochschulkurse darüber halten können, wie er seinen dunklen Dreitagebart besonders charmant verwildern ließ. Es gab keinen Second-Hand-Laden der Stadt, den er nicht kannte, und er konnte mit Bestimmtheit sagen, in welchem davon man genau die Art kastige dunkle Hornbrille fand, die auch seinen Look vervollständigte. Aber da der Trend mittlerweile mausetot war, konnte er darauf wohl lange warten. Zudem fehlten ihm zwei der wichtigsten Hipsterkriterien: Er war nicht schlaksig, sondern ziemlich dick, und unter seiner ganzen Attitüde steckte nicht noch mehr Attitüde, sondern ein sehr weicher und unkomplizierter Kern.
»Ich hab das Band erst letzte Woche tauschen lassen«, jammerte er und hob seine Kopfbedeckung behutsam, wie ein rohes Ei, vom Boden auf. Aus seiner abgewetzten Ledertasche fischte er ein Putztuch, das eigentlich für Kameraobjektive bestimmt war. Damit wedelte er sorgsam imaginären Staub von seinem Hut, bevor er ihn wieder aufsetzte, natürlich schräg.
Jenny beachtete ihn nicht und wandte sich wieder Kay zu.
»Du sagtest, er mag unsere Website. Was gefiel ihm denn besonders, hat er etwas Konkretes erwähnt?«, fragte sie neugierig und schob die Sonnenbrille zurück in ihre mausbraune Pixiefrisur. Mit ihrem himmelblauen Sommerkleid, den strahlend weißen Sandalen und der filigranen silbernen Halskette hätte sie auch gut auf das Cover eines Liebesromans gepasst. Selbst ihre mitgebrachte Laptoptasche passte farblich dazu. Ein selbst gemachter Button mit der Aufschrift ›Samus Aran is a Lesbian‹ prangte darauf.
»Seiner Ansicht nach sind die Texte gut und die Pronomenangabe im Kontaktformular gefiel ihm«, antwortete Kay. »Ich glaube, du hast ihn echt abgeholt.«
»Ha!« Jenny klatschte triumphierend in die Hände. »Einer von den Guten! Klingt ja wirklich, als wäre er nett.«
Kay nickte und seufzte. »Nett ist noch stark untertrieben.«
»Und was soll das jetzt konkret heißen?«, warf Ben ein und griff wieder nach seiner Kuchengabel.
Kay streckte sich verlegen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Hm. Ich meine: Mit Maske sieht man ja meist nur die Hälfte vom Gesicht und hat keine Ahnung, was die Leute so denken.«
»Nee, finde ich nicht.« – »Ja, schon?«
Ben und Jenny hatten wieder einmal zur gleichen Zeit geantwortet.
»Was hat das jetzt mit deinem neuen Kunden zu tun?«, fragte Jenny weiter und beugte sich konzentriert vor, wie immer, wenn sie irgendeinem zwischenmenschlichen Mysterium auf der Spur war.
»Tja, das war heute kein Problem«, sagte Kay. »Engel hat dieses Mit-den-Augen-Lächeln wirklich raus.«
Ben stutzte, die volle Gabel schräg im Mund hängend, dann ging ihm sichtlich ein Licht auf. »Ha! Da liegt der Mops im Rosmarin! Du stehst auf ihn! Leugne nicht, ich lese dich wie ein Buch!«
»Der Punkt geht an dich, Treffer und versenkt«, kommentierte Jenny mit einem Blick in Kays ertapptes Gesicht, lehnte sich zurück und kreuzte die dünnen Arme vor der Brust.
»Ja, ihr habt Recht, zufrieden?«, murrte Kay. »Sagt mir lieber, was ich jetzt machen soll? Ich brauch den Job! Seit sie diese Bande von Kiddies haben, die immer bei Frau Zurawski eingestiegen sind, ist die Auftragslage ziemlich dünn geworden.«
»Das hast du doch eh für einen Spottpreis gemacht, sei lieber froh, da kam gerade mal der Gegenwert deiner Arbeitszeit bei rum.« Jenny gestikulierte tadelnd mit ihrem aufgeweichten Strohhalm. »Du bist zu nett, wenn es ums Geld geht.« Sie schlürfte nachdenklich ein weiteres Viertel ihres Latte macchiato. »Ich finde, du solltest es einfach machen. Du musst von irgendwas leben, und du sagst doch selbst: Es ist ein leichter Job. Du wirst dich ja wohl für die paar Stunden am Tag zusammenreißen können.«
Ben schnaubte spöttisch. »Anstatt herumzujammern und sich zu kasteien könnte er ja auch den Job annehmen und sich den Typ gleich mit schnappen. Was soll’s? Das Leben ist kurz! Sahneschnitten für alle!« Mit diesen Worten schob er sich den Rest seines Zupfkuchens in den Mund.
»Von allen deinen schrecklichen Ideen ist das eine der schrecklichsten«, sagte Jenny augenrollend. »Was, wenn sein neuer Chef das als Belästigung auffasst? Nicht mal du kannst so unprofessionell sein, Kundschaft während der Arbeit anzubaggern!«
Ben schüttelte noch kauend heftig den Kopf. »Eff iff keime Beläfftigung, wemm-«
»Wisst ihr was?«, unterbrach Kay Bens mit vollem Mund begonnenen Satz. »Ich sag ihm ab! Ein stadtbekannter Virologe ist eine Nummer zu groß für mich. Ich kann mir nicht leisten, das zu vermasseln, das würde mir einen schlechten Ruf einbringen. Er soll sich eine Firma suchen.«
»Jetzt aber mal langsam!« Jenny rammte ihren Strohhalm mit so viel Schwung in ihr leeres Glas zurück, dass er zu einem Haufen Pappbrei am Boden komprimiert wurde. »Er ist ja nun wahrhaftig kein Rockstar! Du steigerst dich in irgendwelche Horrorszenarien hinein. Du bist gut in dem, was du tust, und das ist deine beste Chance, eine richtig gute Referenz zu sammeln. Tritt den Job an und bleib professionell, dann wird auch nichts schiefgehen. Und wenn dein Vertrag ausgelaufen ist, kannst du diesen Herrn Engel ja immer noch unverbindlich treffen.«
»Auf ein Tässchen Desinfektionsmittel oder so«, fügte Ben äußerst hilfreich hinzu und zog sein Smartphone aus der Hosentasche.
Kay seufzte. Warum hatte Jenny immer recht? »Ich weiß, ich weiß, aber –«
»Sag mal, Marian Engel, das ist doch nicht der Virologe, oder?«, fragte Ben und hämmerte mit beiden Daumen auf die virtuelle Tastatur ein.
»Doch, genau der.«
Ben sah wohl Bilder von ihm durch, die ihm die Suchmaschine ausgespuckt hatte. Er nickte anerkennend. »So, so, der süße Blonde aus den Lokalnachrichten. Nicht schlecht!« Jenny lehnte sich zu ihm hinüber und quetschte ihre Wange an seiner platt, um einen Blick auf das Display zu erhaschen; Ben hielt es wie immer knapp vor seiner Nase.
»Abstand, Jenny!«, mahnte Kay. Sie zeigte ihm den Finger.
»Außer euch zwei traurigen Gestalten und meiner Freundin sehe ich doch niemand, und ihr beide werdet ständig getestet!«, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf die Bilder. »Also ich weiß nicht, was ihr habt, so gut sieht der nicht aus. Irgendwie nichtssagend.«
Ben schüttelte mitleidig den Kopf. »Jenny, nimms mir nicht übel, aber du hast keinen Geschmack, was Männer betrifft.«
»He!«, murrte Kay. »Sie war immerhin mit mir zusammen.«
»Ich sag doch: Kein Geschmack.«
Jenny zuckte die Achseln. »Zu meiner Verteidigung: Ich hatte damals erst mein Coming Out, war verwirrt und hielt mich für hetero.«
»Jetzt sagt mir mal, was euch an mir nicht passt?«, fragte Kay, jetzt doch gekränkt, und versetzte Bens Hut ebenfalls einen Stoß. Allerdings war er nicht so gut darin wie Jenny. Der Hut machte nur einen Hopser auf Bens Kopf und Ben verdrehte die Augen.
»He, versuch nicht, die Großen zu imitieren! Und hallo? Das ist doch wohl offensichtlich! Das ist keine Frage des Körpers, sondern des Charakters! Du bist der größte Nerd, den ich kenne! Dein ganzes Bücherregal ist mit Fantasyschund und Science-Fiction-Gedöns vollgestopft. Deine Vorstellung von Spaß ist, Trashfilme im Originalton mit Untertiteln zu schauen! Du trägst Vulkanierohren auf Buchmessen! Wenn du nicht aussähst wie ein heißer Holzfäller aus einer hormongefluteten Home-Improvement-Werbung, keine Sau würde mit dir ausgehen.«
Jenny nickte anerkennend. »Nette Alliteration!«
»Danke, jugendlich-jauchzende Jenny.«
»Übertreib es nicht, bösartig brabbelnder Ben!«
»Ich sollte gehen und mir neue Freund*innen suchen«, brummte Kay und schlürfte seinen Eiskaffee leer. Er konnte nicht einmal mehr den Gratiskeks essen, der auf der Untertasse gelegen hatte; Jenny hatte ihn wie immer gestohlen. Stattdessen erhob er sich, wühlte einen 5-Euro-Schein aus seiner Brieftasche und klemmte ihn unter das Glas. »Ich muss jetzt los, Verträge schreiben sich nicht von allein. Wenn ich den Job schon annehmen will, sollte ich nicht zu lange mit dem Papierkram warten. Aber war schön, euch zu sehen. Zahlt ihr für mich mit?«
»Na klar.« – »Wir werden das Geld einstecken und behaupten, du wärst ein stadtbekannter Zechpreller.«
Die Antworten waren wieder gleichzeitig von Jenny und Ben gekommen. Kay schüttelte lächelnd den Kopf und hob zum Abschied die Hand. Jenny winkte, Ben deutete einen High Five an.
»Du machst das schon«, sagte er ermutigend. »Dein Name wäre nicht Kevin Orlando Holzmann, wenn du das nicht auf die Reihe bekommen würdest!«
»Danke, dass du mich daran erinnerst«, antwortete Kay säuerlich und wandte sich zum Gehen.
»Sieh es positiv!«, rief Ben ihm hinterher. »Du hättest auch Legolas Keanu Holzmann heißen können!«
Kay starrte ärgerlich auf seinen Notizblock. Dritter Stock, beim Fahrstuhl rechts, geradeaus und wieder links. Das war vielleicht eine gute Wegbeschreibung, wenn man sich im Hans-Joachim-Brehms-Institut für Virologie auskannte. Kay war allerdings noch nie hiergewesen und hatte sich prompt verlaufen. Wer hätte auch ahnen können, dass in einem so neuen Gebäude nichts ausgeschildert war?
So viel also zu Kays Plan, die Peinlichkeit der löchrigen Socke durch Pünktlichkeit wieder wettzumachen. Dabei hatte die Woche so gut angefangen. Er hatte gleich am Montagmorgen den von Engel unterzeichneten Arbeitsvertrag im Briefkasten gefunden. Ein Telefonat später hatten sie sich für ihren ersten Termin verabredet, den 08. Juni, 14:00 Uhr, in Engels Institut. Kay hatte in weiser Voraussicht eine Straßenbahn eher genommen und eigentlich gedacht, dass er damit auf der sicheren Seite war. Da hatte er ja noch nicht gewusst, dass man ihn wie eine besonders große und dicke Ratte in ein besonders langweiliges Labyrinth schicken würde und der Käse war in diesem Fall sein Job. Irgendwie musste er in den nächsten 5 Minuten auf wundersame Weise Engels Büro finden. Nur wie? Er stand in einem hellgrau gestrichenen Gang mit einem Dutzend scheinbar willkürlich nummerierter Türen ohne Namensschilder und wusste nicht weiter.
Kay wollte gerade umkehren und am Eingang noch einmal nach dem Weg fragen, als sich eine der Türen öffnete. Eine einzelne Person trat mit einem Stapel Dokumente in der Hand auf den Gang und blickte erst überrascht, dann mit wachsendem Argwohn zu Kay auf.
»Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie jemand bestimmten?«
Die Frage war höflich formuliert, signalisierte aber, dass Kay besser eine gute Erklärung parat haben sollte. Kay nahm es sich nicht zu herzen. Das Institut hatte schwierige Monate hinter sich: Drohungen, Farbbomben, eingeschlagene Scheiben, die Liste der Ärgernisse war lang. Jeder Unbekannte, der grundlos durch die Gänge spazierte, musste verdächtig erscheinen. Kay wunderte sich nur, dass sein Gegenüber die OP-Maske trotz der strikten Regeln unter der Nase trug.
»Ich bin auf der Suche nach Herrn Engels Büro«, erklärte er und zeigte seinen Besuchsausweis. »Wir haben gleich einen Termin.«
»Ach, Sie müssen der neue Personenschützer sein!«, sagte sein Gegenüber, plötzlich deutlich freundlicher. »Dr. med. Bernhard Ramsbacher, ich arbeite mit Dr. Engel zusammen.«
Er streckte Kay die Hand hin, die der vor Überraschung fast ergriffen hätte. Dass Engel einem Kollegen so freimütig erzählt hatte, dass er Personenschutz in Anspruch nahm, hatte er nicht erwartet. Dann fiel ihm wieder ein, dass Händeschütteln gerade keine gute Idee war, und zog seine Hand hastig außer Reichweite, was ihm einen verdutzten Blick von Dr. Ramsbacher einbrachte.
»Sehr freundlich, aber besser nicht.« Kay nickte entschuldigend zu einem der COVID-Infoplakate, die überall im Gebäude hingen.
»Ach ja, natürlich, wir leben ja in ›gefährlichen Zeiten‹, da muss das Institut mit gutem Beispiel vorangehen«, antwortete Dr. Ramsbacher, die Andeutung eines ironischen Lächelns unter seiner Maske. »Wenn Sie mich fragen, das Infektionsrisiko wird übertrieben. Aber als Laie können Sie das natürlich nicht einschätzen. Wie dem auch sei, kommen Sie gern gleich mit, ich war gerade auf dem Weg zu Dr. Engel.«
Ohne ein Antwort abzuwarten, schritt er forsch voraus, und Kay folgte ihm ein wenig irritiert. Er musste sich wohl gedanklich von dem Klischeebild verabschieden, das er bisher von Wissenschaftler*innen gehabt hatte. Dr. Ramsbacher wirkte auf ihn eher wie ein Geschäftsmann, wortgewandt, aber schwer greifbar. Er musste um die 50 Jahre alt sein, auch wenn sein gepflegtes Äußeres sich darum bemühte, das zu verbergen. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar war sorgfältig gestylt, sodass es kaum auffiel, dass es sich an der Stirn und dem Hinterkopf lichtete. Die leichte Bräune seiner Haut offenbarte, dass er erst kürzlich Urlaub in der Sonne gemacht hatte. Anzughose und Hemd saßen perfekt an seinem schlanken Körper, Markenware, vielleicht auf seine Maße angepasst. Kay warf einen Blick auf seine Uhr: Preissegment knapp unter 1000 Euro. Sein schwerer, goldener Ehering war nicht weit davon entfernt.
»Ich habe schon lange bei der Gebäudeverwaltung bemängelt, dass wir keine Namensschilder für unsere Büros bekommen«, erklärte Dr. Ramsbacher. Er öffnete eine der vielen gleich aussehenden Türen, die unerwartet nicht in ein Büro, sondern einen weiteren Gang führte. »Jedes Mal, wenn ich einen Pressetermin habe, muss ich eine kleine Führung geben. Dabei brauchen wir gerade jetzt alle verfügbare Zeit.« Er hielt vor einer weiteren, unscheinbaren Tür, klopfte und trat ein, bevor er eine Antwort bekommen hatte. Kay folgte ihm in den schlichten Büroraum.
»Ich wollte Ihnen nur eben meinen Bericht für Dr. Unheim vorbeibringen«, sagte Dr. Ramsbacher anstatt einer Begrüßung. Engel, der hinter seinem Schreibtisch saß und konzentriert auf seinen Bildschirm starrte, schien irritiert über die Störung.
»Tut mir leid, aber ich hab wirklich keine Zeit«, erwiderte er. »Ich muss gleich los und –« Dann bemerkte er Kay. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ach, Herr Holzmann. Pünktlich wie die Maurer! Ich bin gerade fertig geworden, wir können sofort los. Lassen Sie die Zahlen einfach hier, Dr. Ramsbacher, ich schaue sie mir morgen früh als Erstes an.«
Er fuhr seinen PC herunter, zog sich eine frische Maske auf und schloss das offene Fenster. Dr. Ramsbacher blieb währenddessen vor seinem Schreibtisch stehen und machte keine Anstalten, seine Papiere abzulegen. Er wartete allerdings vergeblich darauf, dass Engel sie ihm abnahm oder ihm überhaupt mehr Aufmerksamkeit widmete als dem Rest der Büroeinrichtung.
»Ich dachte, Sie legen die Zahlen heute noch Dr. Unheim vor«, sagte er schließlich ungehalten. »Sein Büro liegt Ihnen doch am Weg.«
Engel, der gerade seine Tasche ergriffen hatte, hielt inne. Warum hatte Kay das untrügliche Gefühl, dass er am liebsten genervt die Augen verdreht hätte?
»Wie gesagt, ich gebe sie ihm morgen«, wiederholte er mit fester Stimme.
»Aber Sie könnten doch jetzt –«
»Alles in 5 Minuten durchsehen? Nein. Ich mache das in Ruhe und dann kommt es auf Walters Schreibtisch, nicht vorher. Wenn Sie nächstes Mal dringend etwas weitergeben wollen, schauen Sie bitte in meinen Kalender und stellen mir einen Termin ein.«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Dr. Ramsbacher sich auf einen Disput einlassen. Engels durchdringender Blick überzeugte ihn vom Gegenteil.
»Ja, natürlich. Dann einen schönen Feierabend«, sagte er und schaffte es nicht ganz, die Irritation in seiner Stimme zu verbergen. Kay hatte fast Mitleid mit ihm.
»Danke«, antwortete Engel gelassen und schulterte seine Umhängetasche. »Ach übrigens, denken Sie bitte an Ihre Maske. Sie gehört über die Nase, nicht drunter. Kommen Sie, Herr Holzmann?« Mit diesen Worten ließ er seinen Kollegen stehen. Kay nickte Dr. Ramsbacher zum Abschied zu und folgte Engel, bevor er ihm davonlief.
»Ich hoffe, Sie haben Ihre Arbeit jetzt nicht frühzeitig unterbrechen müssen«, sagte Kay auf halbem Weg zum Fahrstuhl.
Engel, der stoisch geschwiegen hatte, atmete seufzend aus. »Ach was, gar nicht, ich habe mir ja extra den Nachmittag freigenommen und das lange vorher angekündigt. Manche Kolleg*innen haben nur Probleme mit ihrem Zeitmanagement.« Er trommelte nervös auf dem Leder seiner Umhängetasche herum und strich sich abwesend durchs Haar, was seine verwuschelten Locken weiter zerzauste. »Wie wird das Ganze nun ablaufen?«, fragte er, als sie den Fahrstuhl erreichten. »Gehen Sie neben mir her? Oder bleiben Sie auf Abstand?«
»Ich würde vorschlagen, dass ich Sie wie ein ganz normaler Bekannter begleite«, sagte Kay. »Ich bin schwer zu übersehen; es würde so oder so auffallen, dass Sie mit Personenschutz unterwegs sind, selbst wenn ich Ihnen mit Abstand folge.«
»Guter Punkt«, stimmte Engel zu und Kay meinte, ein schmales Lächeln unter seiner Maske zu erahnen.
»Wir nehmen Ihre gewohnte Route, die Sie mir geschickt haben, und ich betrete mit Ihnen das Gebäude«, fuhr Kay fort. »Ich werde sehen, ob mir während des Fußwegs oder Ihres Termins etwas auffällt.«
Engel nickte, dann öffnete sich die Fahrstuhltür und sie betraten die Kabine.
Kay nutzte die kurze Fahrt nach unten, um Engel unauffällig von der Seite zu mustern. Er sah gestresst aus, sein Tag musste anstrengend gewesen sein. Die Aufregung tat sicher ihr Übriges. Kay fragte sich, ob er ihn darauf hinweisen sollte, dass sein Haar in einem ziemlich chaotischen Zustand war, aber dann ließ er das bleiben. Er machte auch so eine gute Figur. Kay mochte das marineblaue Hemd, das er trug, es stand ihm gut. Seine schwarze Jeans war ein bisschen langweilig und schrammte ganz knapp am Spießertum vorbei, aber vermutlich trug er sie, weil sie ihm einen attraktiven Hintern zauberte. Diese Erkenntnis war Kay so peinlich, dass er sich schnell dazu zwang, auf den Stockwerksanzeiger zu starren.
»Immerhin, Ihre Anwesenheit hat sich heute schon ausgezahlt«, sagte Engel unvermittelt und sah zu Kay auf. »Dr. Ramsbacher hat die Angewohnheit, mir auf die Nerven zu fallen. Der Gedanke, dass Sie ihn mir vom Hals halten können, war sehr beruhigend.«
Scherzte er? Die Lachfalten um seine Augen waren jedenfalls wieder da.
Ich glaube, Sie verwechseln Personenschützer mit Auftragskillern, hätte Kay fast geantwortet, aber er verkniff es sich. Engel war ab heute sein Auftraggeber, also keine zu flapsigen Sprüche. Stattdessen sagte er: »Das würde ich im Zweifelsfall den Sicherheitskräften vor Ort überlassen.«
»Ah ja, Zuständigkeiten! So wichtig.« Engel sah ihn immer noch auf diese Weise an und jetzt wusste Kay mit Sicherheit, dass er ihn aufzog. Kay hätte gern gekontert, aber er verkniff es sich zum zweiten Mal.
Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und sie machten sich auf den Weg zum Haupteingang.
»Apropos Zuständigkeiten: Was halten Sie von unserem Sicherheitsunternehmen?«, fragte Engel, als sie zwei Sicherheitskräfte passierten.