Playback - Raymond Chandler - E-Book

Playback E-Book

Raymond Chandler

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Beschreibung

Privatdetektiv Philip Marlowe wird von Rechtsanwalt Clyde Unmey beauftragt, eine junge Dame zu beschatten. Die rothaarige Eleanor King ist eine Augenweide, und der Auftrag ganz nach Marlowes Geschmack. Bis die erste Leiche auftaucht. Denn Miss Kings größtes Talent besteht darin, in Schwierigkeiten zu geraten. Und Marlowe ist nicht der Einzige, der ihr folgt.

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Raymond Chandler

Playback

Aus dem Amerikanischen von Wulf Teichmann

Diogenes

Für

Jean und Helga,

ohne die dieses Buch

nie geschrieben

worden wäre

1

Die Stimme am Telefon klang deutlich und entschieden, aber ich verstand nicht recht, was sie eigentlich sagte – teils, weil ich noch halb schlief, und teils, weil ich das falsche Ende des Hörers am Ohr hatte. Nach einigem Gefummel hielt ich den Hörer richtig und knurrte.

»Haben Sie mich verstanden? Ich sagte, ich bin Clyde Umney, der Anwalt.«

»Clyde Umney, der Anwalt. Ich dachte, davon gibt’s noch mehr.«

»Sie sind Marlowe, nicht?«

»Ja, ich denke schon.« Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war halb sieben morgens; nicht meine beste Zeit.

»Kommen Sie mir nicht so komisch, junger Mann.«

»Tut mir leid, Mr. Umney, aber ich bin kein junger Mann. Ich bin alt und müde und ohne jeden Schluck Kaffee im Bauch. Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Um acht trifft der Super Chief ein. Ich möchte, daß Sie unter den Aussteigenden ein Mädchen identifizieren, ihr folgen, bis sie irgendwo ein Hotel findet, und mich dann benachrichtigen. Ist das klar?«

»Nein.«

»Wieso nicht!« fuhr er mich an.

»Ich weiß zu wenig, um entscheiden zu können, ob ich diesen Fall übernehme oder nicht.«

»Ich bin Clyde Um …«

»Hören Sie auf!« unterbrach ich ihn. »Sonst werd ich hysterisch. Geben Sie mir einfach die grundlegenden Fakten. Vielleicht ist es besser, Sie setzen wen andern auf den Fall an; beim FBI bin ich nämlich nie gewesen.«

»Oh. Meine Sekretärin, Miss Vermilyea, ist in einer halben Stunde bei Ihnen im Büro. Sie bringt Ihnen die nötigen Informationen mit. Sie ist sehr tüchtig. Ich hoffe, Sie sind’s auch.«

»Ich bin noch tüchtiger; muß nur erst frühstücken. Lassen Sie sie doch hierher kommen.«

»Wo ist das, hierher?«

Ich gab ihm die Adresse meiner Wohnung in der Yucca Avenue und beschrieb ihm, wie sie mich finden würde.

»Na schön«, sagte er brummig, »aber eins muß ganz klar sein – das Mädchen darf auf keinen Fall merken, daß jemand ihr folgt. Das ist sehr wichtig. Ich handle im Auftrag eines sehr einflußreichen Anwaltsbüros in Washington. Miss Vermilyea wird Ihnen einen Spesenvorschuß geben und zweihundertfünfzig Dollar Anzahlung. Ich erwarte erstklassige Arbeit. Und jetzt wollen wir keine Zeit mehr mit Reden verplempern.«

»Ich werde mein Bestes tun, Mr. Umney.«

Er legte auf. Ich rappelte mich aus dem Bett, duschte und rasierte mich und schlürfte gerade die dritte Tasse Kaffee, als es an der Tür klingelte.

»Ich bin Miss Vermilyea, Mr. Umneys Sekretärin«, flötete sie ziemlich flittchenhaft.

»Bitte, kommen Sie rein.«

Eine schnieke Puppe. Sie trug einen weißen Regenmantel mit Gürtel, keinen Hut, einen Kopf mit gut zurechtgemachtem platinblondem Haar, Stiefelchen, die zum Regenmantel paßten, einen Plastikknirps, und ihre blaugrauen Augen sahen mich an, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt. Ich half ihr aus dem Regenmantel. Sie roch sehr gut. Sie hatte ein Paar Beine, die – soweit ich das feststellen konnte – keinen unangenehmen Anblick boten. Sie trug hauchdünne nachtschattige Strümpfe. Ich starrte ziemlich unverschämt auf ihre Beine, besonders als sie sie übereinanderschlug und sich mit einer Zigarette vorbeugte, um sich Feuer geben zu lassen.

»Christian Dior«, sagte sie, in meinem Gesicht lesend wie in einem offenen Buch. »Ich hab nie etwas anderes an. Feuer bitte.«

»Heute haben Sie aber noch ’ne ganze Menge mehr an«, sagte ich und ließ mein Feuerzeug aufspringen.

»So früh am Morgen bin ich für Anzüglichkeiten nicht besonders empfänglich.«

»Wann würd es Ihnen denn besser passen, Miss Vermilyea?«.

Sie lächelte ziemlich säuerlich, kramte in ihrer Handtasche und warf mir einen großen braunen Briefumschlag hin.

»Ich denke, da ist alles drin, was Sie brauchen.«

»Na – alles bestimmt nicht.«

»Nu hörn Sie schon auf, Sie Quatschkopf. Ich weiß Bescheid über Sie. Glauben Sie etwa, Mr. Umney ist auf Sie verfallen? Von wegen! Das war ich. Und starren Sie nicht dauernd so auf meine Beine.«

Ich machte den Umschlag auf. Er enthielt einen zweiten – versiegelten – Umschlag und zwei auf meinen Namen ausgeschriebene Schecks. Der eine über 250 Dollar war ein ›Vorschuß als Anzahlung für dienstliche Leistungen‹, der andere Scheck lautete über 200 Dollar und trug den Vermerk ›Spesenvorschuß für Philip Marlowe‹.

»Über die Spesen werden Sie mit mir abzurechnen haben, und zwar genauestens«, sagte Miss Vermilyea, »und Ihre Drinks zahlen Sie gefälligst selber.«

Den andern Umschlag ließ ich erst mal noch zu. »Wie kommt Mr. Umney darauf, daß ich einen Fall übernehme, von dem ich nichts weiß?«

»Sie werden ihn schon übernehmen. Niemand verlangt, daß Sie etwas Unerlaubtes tun. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Und was sonst noch?«

»Oh, darüber können wir uns vielleicht mal bei einem Drink unterhalten – wenn’s draußen regnet und ich nichts anderes vorhabe.«

»Na, da kann ich natürlich nicht nein sagen.«

Ich machte den andern Umschlag auf. Er enthielt die Fotografie eines Mädchens. Ihre Haltung ließ auf natürliche Gelassenheit oder auf viel Erfahrung beim Fotografiertwerden schließen. Das Mädchen hatte dunkles Haar, das möglicherweise auch rot sein konnte, eine breite, klare Stirn, ernste Augen, hohe Backenknochen, nervöse Nasenflügel und einen verschlossenen Mund. Es war ein feingeschnittenes, irgendwie angespanntes und gar nicht glücklich blickendes Gesicht. »Drehn Sie’s um«, sagte Miss Vermilyea.

Auf der Rückseite stand in sauberer Druckschrift:

Name: Eleanor King. Größe: 1,63 m.Alter: etwa 29. Haare dunkel, rötlichbraun, dicht, naturgewellt. Aufrechte Haltung, tiefe, klare Stimme. Kleidet sich gut, aber nicht übertrieben elegant. Konservatives Make-up. Keine sichtbaren Narben. Charakteristische Eigenarten: Gewohnheit, beim Betreten eines Zimmers um sich zu blicken, ohne den Kopf zu bewegen. Kratzt sich die rechte Handfläche, wenn nervös. Linkshänderin, verbirgt es aber geschickt. Spielt gut Tennis, schwimmt und taucht ausgezeichnet, ist ziemlich trinkfest. Keine Vorstrafen, Fingerabdrücke jedoch registriert.

»Hat wohl mal gesessen«, sagte ich und blickte auf zu Miss Vermilyea.

»Mehr als das, was da steht, weiß ich auch nicht. Folgen Sie einfach Ihren Anweisungen.«

»Komisch, Miss Vermilyea – mit neunundzwanzig Jahren ist so ein appetitlicher Happen normalerweise doch verheiratet. Es wird aber weder ein Ehering noch sonst irgendwelcher Schmuck erwähnt. Das wundert mich.«

Sie blickte auf ihre Uhr. »Wundern Sie sich lieber auf der Union Station. Es wird langsam Zeit für Sie.« Sie stand auf. Ich half ihr in den weißen Regenmantel und öffnete ihr die Tür.

»Sie sind mit dem eigenen Wagen gekommen?«

»Ja.« Halb in der Tür, drehte sie sich um. »Eins mag ich ja an Ihnen – Sie betätscheln einen nicht. Sie haben gute Manieren – in gewisser Hinsicht.«

»Betätscheln –? Ganz fauler Trick.«

»Und eins mag ich gar nicht an Ihnen. Raten Sie mal, was.«

»Tut mir leid. Keine Ahnung – außer, daß es Leute gibt, die mich hassen, weil ich noch am Leben bin.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

Ich begleitete sie die Treppe hinunter und machte ihr die Wagentür auf. Es war ein ganz einfaches Modell, ein Fleetwood Cadillac. Sie nickte mir kurz zu und glitt den Hügel hinunter.

Ich ging wieder hinauf und packte ein paar Sachen in eine Reisetasche; nur für alle Fälle.

2

Es war keine große Sache. Der Super Chief traf wie fast immer pünktlich ein, und die Gesuchte war so leicht auszumachen wie ein Känguruh im Smoking. Sie hatte nichts bei sich als ein Taschenbuch, das sie in den ersten Abfallkorb warf, an dem sie vorbeikam. Sie setzte sich hin und sah zu Boden. Wenn ich je ein unglückliches Mädchen gesehen habe, dann sie. Nach einer Weile stand sie auf und ging zu einem Bücherstand. Sie verließ ihn, ohne etwas daraus entnommen zu haben, warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand und trat in eine Telefonzelle. Nachdem sie eine Handvoll Silber in den Schlitz geworfen hatte, sprach sie mit jemandem. Ihr Gesichtsausdruck blieb dabei völlig unverändert. Sie hängte ein und ging zum Zeitungsstand, zog einen New Yorker heraus, sah wieder auf ihre Uhr und setzte sich hin, um zu lesen.

Sie trug ein mitternachtsblaues englisches Kostüm mit einer über dem Kragen sichtbaren weißen Bluse und einer großen saphirblauen Anstecknadel am Revers, die, wenn ich ihre Ohren hätte sehen können, wahrscheinlich zu ihrem Ohrgehänge paßte. Sie glich ihrer Fotografie, nur war sie etwas größer, als ich erwartet hatte. Von ihrem dunkelblauen Hut hing ein kurzer Schleier. Sie trug Handschuhe.

Nach einer Weile begab sie sich durch die Arkaden hinaus zum Taxistand. Sie warf einen Blick nach links auf die Cafeteria, drehte sich um und ging in den großen Wartesaal, wobei sie die Augen über den Zeitungsstand, das Drugstore, die Auskunft und über die Menschen auf den sauberen Holzbänken schweifen ließ. Von den Fahrkartenschaltern waren einige offen, andere geschlossen. Sie interessierte sich nicht dafür. Sie setzte sich wieder hin und sah auf die große Uhr. Sie zog den rechten Handschuh aus und stellte ihre Armbanduhr, ein kleines einfaches Platinspielzeug ohne Brillanten. Im Geiste setzte ich Miss Vermilyea neben sie. Sie sah durchaus nicht züchtig oder zimperlich oder prüde aus, aber neben ihr wirkte die Vermilyea wie ein Flittchen.

Auch diesmal blieb sie nicht lange sitzen. Sie stand auf und schlenderte umher. Sie ging hinaus in den Patio, kam zurück, ging in das Drugstore und blieb eine Weile vor dem Taschenbuchstand stehen. Zwei Dinge waren offensichtlich: Wenn sie mit jemandem verabredet war, so hatte der Zeitpunkt nichts mit der Ankunft des Zuges zu tun. Sie wirkte wie eine junge Frau, die auf einen Anschlußzug wartet. Sie ging in die Cafeteria. Sie setzte sich an einen der Plastiktische, studierte die Speisekarte und begann dann, in ihrem Buch zu lesen. Eine Kellnerin kam mit dem unvermeidlichen Glas Eiswasser und einer weiteren Speisekarte. Die junge Frau bestellte etwas. Die Kellnerin ging weg, die junge Frau las weiter in ihrem Buch. Es war etwa neun Uhr fünfzehn.

Ich ging durch die Arkaden hinaus zu einem Gepäckträger, der am Taxistand wartete: »Haben Sie Dienst am Super Chief?« fragte ich ihn.

»Ja. Zum Teil.« Ohne allzu großes Interesse blickte er auf den Dollar, mit dem ich spielte.

»Ich hab auf jemand im Kurswagen Washington–San Diego gewartet. Ist da wer ausgestiegen?«

»Sie meinen endgültig, mit Gepäck und allem?«

Ich nickte.

Mit intelligenten kastanienbraunen Augen mich ansehend, dachte er nach. »Einer ist ausgestiegen«, sagte er schließlich. »Wie sieht’n Ihr Freund aus?«

Ich beschrieb einen Mann; einen, der ungefähr aussah wie Oliver Hardy. Der Gepäckträger schüttelte den Kopf.

»Da kann ich nicht dienen, Mister. Was da ausgestiegen ist, hat ganz anders ausgesehen. Ihr Freund sitzt bestimmt noch im Zug. Aus dem Kurswagen braucht man nicht aussteigen. Der wird an den Vierundsiebziger angehängt. Abfahrt elf Uhr dreißig. Der Zug ist aber noch nicht zusammengestellt.«

»Danke«, sagte ich und gab ihm den Dollar. Das Gepäck des Mädchens befand sich noch im Zug – das war alles, was ich wissen wollte.

Ich ging zurück zu der Cafeteria und sah durch die Scheiben. Das Mädchen war noch am Lesen und spielte dabei mit ihrem Kaffee und einem Hörnchen. Ich ging in eine Telefonzelle, rief eine Garage an, wo die Leute mich kannten, und beauftragte sie, sich um meinen Wagen zu kümmern, falls ich bis Mittag nicht wieder anrufen würde. Da dies öfter vorkam, hatte ich dort einen zweiten Zündschlüssel hinterlassen. Ich ging aus dem Bahnhof, holte meine Reisetasche aus dem Wagen und deponierte sie in einem Schließfach. In dem riesigen Wartesaal kaufte ich eine Rückfahrkarte nach San Diego und trottete wieder zurück zu der Cafeteria.

Das Mädchen war noch da, aber nicht mehr allein. Lächelnd und redend saß ihr ein Bursche gegenüber, und auf den ersten Blick war zu sehen, daß sie ihn kannte und daß diese Bekanntschaft ihr unangenehm war. Er war ein typischer Kalifornier – weinrote Slippers, durchgeknöpftes braun-gelb kariertes Hemd, und darüber eine grobe cremefarbene Tweedjacke. Er war vielleicht einsfünfundachtzig groß, schlank und hatte ein hageres, versnobtes Gesicht mit zuviel Gebiß. Zwischen den Fingern rollte er ein Stück Papier.

In seiner äußeren Brusttasche prangte ein gelbes Taschentuch wie ein kleiner Strauß Osterglocken. Und eins war klar wie destilliertes Wasser: Das Mädchen wünschte ihn dorthin, wo der Pfeffer wächst.

Er fuhr fort zu reden und das Papier in den Fingern zu rollen und daran zu zupfen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und erhob sich von seinem Stuhl. Er beugte sich vor und strich ihr mit einer Fingerspitze über die Wange. Sie zuckte zurück. Dann öffnete er das zusammengedrehte Stück Papier und glättete es sorgfältig vor ihr auf dem Tisch. Lächelnd wartete er.

Langsam, sehr langsam senkten sich ihre Augen auf das Papier. Ihre Augen blieben darauf haften. Ihre Hand bewegte sich, um danach zu greifen, aber seine Hand war schneller. Er steckte das Papier in die Tasche, immer noch lächelnd. Dann zog er ein Notizbuch mit perforierten Seiten heraus, schrieb etwas mit einem Kugelschreiber hinein, riß die Seite heraus und legte sie vor sie hin. Dieses Stück Papier durfte sie haben. Sie nahm es, las es und steckte es in ihr Portemonnaie. Schließlich sah sie ihn an. Und endlich lächelte sie ihn an. Wahrscheinlich kostete sie dies eine ziemliche Überwindung. Er streckte seine Hand über den Tisch, um die ihre zu tätscheln, dann richtete er sich auf und ging hinaus.

Er ging in eine Telefonzelle, wählte eine Nummer und redete eine ganze Weile. Er kam wieder heraus, rief einen Gepäckträger herbei und ging mit ihm zu einem Schließfach. Diesem entnahm er einen hellen, austernfarbenen Koffer und eine dazu passende Reisetasche. Der Träger trug beides durch die Türen zum Parkplatz und folgte ihm zu einem eleganten, zweifarbig lackierten Buick Roadmaster, dem Kabrio-Typ mit dem festen Dach, das nicht abnehmbar ist.

Der Träger verstaute die Sachen hinter dem vorgeklappten Sitz, nahm sein Geld und ging. Der Bursche in der Tweedjacke mit dem gelben Taschentuch stieg ein, stieß zurück und hielt dann noch einmal an, um sich eine dunkle Brille aufzusetzen und eine Zigarette anzuzünden. Danach war er im Nu verschwunden. Ich notierte mir die Zulassungsnummer und ging zurück in den Bahnhof.

Die nächste Stunde war drei Stunden lang. Das Mädchen verließ die Cafeteria und las im Wartesaal weiter. Aber ihre Gedanken waren nicht bei der Sache. Immer wieder blätterte sie zurück, um nachzusehen, was sie gelesen hatte. Zeitweilig las sie überhaupt nicht, hielt lediglich das Buch im Schoß und blickte ins Leere. Hinter einer ersten Morgenausgabe der Abendzeitung beobachtete ich sie und resümierte, was ich im Kopf hatte. Nichts davon war eine handfeste Tatsache. Es half lediglich, die Zeit totzuschlagen.

Der Bursche, der mit ihr am Tisch gesessen hatte, war mit dem Zug gekommen, denn er hatte Gepäck. Es konnte ihr Zug gewesen sein, und er konnte der Reisende gewesen sein, der aus ihrem Wagen ausgestiegen war. Aus ihrer Haltung war klar zu ersehen, daß sie ihn nicht um sich haben wollte; und aus seiner Haltung, daß er dies bedaure, daß sie ihre Meinung aber wohl ändern würde, wenn sie einen Blick auf seinen Zettel würfe. Und offenbar hatte er recht. Aus der Tatsache, daß dies geschah, nachdem sie den Zug verlassen hatten, wo sie das Ganze schon in aller Ruhe hätten erledigen können, folgte, daß er seinen Zettel im Zug noch nicht gehabt hatte.

In diesem Augenblick stand das Mädchen plötzlich auf, ging zum Zeitungsstand und kam mit einem Päckchen Zigaretten zurück. Sie riß es auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte unbeholfen, wie jemand, der es nicht gewohnt ist, und während sie rauchte, schien sie sich zu verwandeln – ihre Haltung wurde irgendwie hart und herausfordernd, als wollte sie absichtlich ordinär wirken. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Zehn Uhr siebenundvierzig. Ich überlegte weiter.

Das zusammengedrehte Papier hatte wie ein Zeitungsausschnitt ausgesehen. Sie hatte versucht, es an sich zu nehmen, und er hatte es ihr weggeschnappt. Dann hatte er ein paar Worte auf einen leeren Zettel geschrieben und ihn ihr gegeben, worauf sie ihn angeblickt und angelächelt hatte. Schlußfolgerung: Der kalifornische Traumheld hatte sie in der Zwickmühle, und sie mußte so tun, als wäre ihr das angenehm.

Nächster Punkt: Kurz davor hatte er den Bahnhof verlassen und war irgendwohin gegangen, vielleicht um seinen Wagen zu holen, vielleicht um sich den Zeitungsausschnitt zu besorgen, vielleicht auch aus irgendeinem andern Grund. Das hieß, daß er keine Angst hatte, sie könnte ihm davonlaufen, und das wiederum legte den Gedanken nahe, daß er ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles, was er auf der Pfanne hatte, enthüllt hatte, sondern noch mit etwas hinter dem Berge hielt. Möglich, daß er seiner Sache nicht ganz sicher war, daß er erst noch etwas nachprüfen mußte. Aber jetzt, nachdem er seine Karten auf den Tisch gelegt hatte, war er mit einem Buick und seinem Gepäck davongefahren. Also hatte er keine Angst mehr, sie zu verlieren. Was immer die beiden auch verband, es war stark genug, um sie auch weiterhin zusammenzuhalten.

Um fünf nach elf warf ich all diese Kombinationen über Bord und fing unter neuen Voraussetzungen von vorn an. Aber auch das führte zu nichts. Um elf Uhr zehn kam aus dem Lautsprecher, daß der Zug Nummer 74 auf Bahnsteig II für die Reisenden nach Santa Ana, Oceanside, Del Mar und San Diego bereitstehe. Ein paar Leute verließen den Wartesaal, unter ihnen das Mädchen. Andere passierten schon die Sperre. Ich wartete, bis auch sie hindurchgegangen war, und ging dann zurück zu den Telefonzellen. Ich warf meinen Dime ein und wählte die Nummer von Clyde Umneys Büro. Miss Vermilyea meldete sich lediglich mit der Nummer.

»Hier Marlowe. Ist Mr. Umney da?«

Ihre Stimme klang förmlich: »Tut mir leid, Mr. Umney ist bei einer Verhandlung. Kann ich etwas ausrichten?«

»Habe Kontakt aufgenommen und fahre gleich mit dem Zug nach San Diego oder irgendeinen andern Ort auf der Strecke; weiß noch nicht, wohin.«

»Danke. Sonst noch was?«

»Ja, die Sonne scheint, und unsere Freundin hat’s mit dem Verduften genauso wenig eilig wie Sie. Sie hat in der Cafeteria gefrühstückt, und die hat eine Glaswand, so daß man von der Bahnhofshalle hineinsehen kann. Sie hat zusammen mit hundertfünfzig andern Leuten im Wartesaal gesessen. Wenn sie nicht hätte gesehn werden wollen, wäre sie in ihrem Wagen geblieben.«

»Ich hab alles notiert, danke. Ich sag’s Mr. Umney so schnell wie möglich durch. Sie haben sich also noch keine feste Meinung gebildet?«

»Doch, hab ich. Und zwar die, daß Sie mir etwas verschweigen.«

Unvermittelt änderte sich ihre Stimme. Jemand mußte das Büro verlassen haben. »Hören Sie, Freundchen, Sie sind beauftragt, etwas für uns zu erledigen. Also tun Sie das gefälligst, und zwar sauber. Clyde Umneys Wasser treibt allerhand Mühlen in dieser Stadt.«

»Wer will denn Wasser, Schönste? Ich trinke meinen Whisky pur, und wenn ich nachspüle, dann mit Bier. Wenn Sie mir ein bißchen Mut machten, könnten Sie noch süßere Töne hören von mir.«

»Sie werden bezahlt, Sie Schnüffler – sofern Sie Ihre Arbeit machen. Sonst nicht. Ist das klar?«

»Das ist das Netteste, was Sie je zu mir gesagt haben, Süße. Also Wiedersehn.«

»Hören Sie, Marlowe«, sagte sie plötzlich fast flehend, »ich hab’s nicht bös gemeint. Diese Sache ist schrecklich wichtig für Clyde Umney. Wenn’s nicht klappt, verliert er womöglich eine sehr wertvolle Beziehung. Ich wollte bloß ein bißchen angeben.«

»Mir hat’s gefallen, Miss Vermilyea. Es hat mein Unterbewußtsein angesprochen. Ich ruf an, sobald ich kann.«

Ich hing ein, ging durch die Sperre, und als ich ein halbes Lichtjahr an der Rampe entlanggewandert war, kam ich endlich zum Bahnsteig elf. Ich kletterte in einen Wagen, der bereits voll war von jenen Tabakschwaden, die dem Hals so schmeicheln und einen so gut wie immer mit einem gesunden Lungenflügel davonkommen lassen. Ich stopfte mir eine Pfeife, zündete sie an und trug meinen Teil zu dem allgemeinen Mief bei.

Der Zug fuhr an, bummelte endlos durch die Bahnanlagen und Hinterhöfe von Ost-Los Angeles, nahm ein bißchen Tempo auf und hielt zum erstenmal in Santa Ana. Das Mädchen stieg nicht aus; auch in Oceanside und Del Mar nicht. In San Diego sprang ich schnell aus dem Zug, besorgte mir ein Taxi und wartete dann acht Minuten vor dem alten spanischen Bahnhof, bis die Träger mit dem Gepäck herauskamen. Mit ihnen kam auch das Mädchen.

Sie nahm kein Taxi. Sie überquerte die Straße und ging zu einer Autovermietung um die Ecke. Nach längerer Zeit kam sie mit enttäuschtem Gesicht wieder heraus. Kein Führerschein, kein Mietwagen. Das hätte sie eigentlich wissen müssen, sollte man meinen.

Diesmal nahm sie ein Taxi. Es machte eine Kehrtwendung und fuhr in nördlicher Richtung davon; mein Taxi hinterher. Mit dem Fahrer hatte ich ein paar Schwierigkeiten wegen der Verfolgung.

»Sowas kommt vielleicht in Büchern vor, Mista, aber bei uns in Dago hier kommt das nicht in Frage.«

Ich hielt ihm einen Fünfer hin und die Zehn-mal-sechs-Fotokopie meiner Lizenz. Er sah sich das an, beides. Als er wieder aufblickte, waren wir einen Block weiter.

»Na gut, aber ich muß es melden«, sagte er. »Unser Mann in der Funkzentrale wird’s der Polizei durchsagen. So ist das bei uns hier, Freundchen.«

»In so ’ner Stadt müßte man leben«, sagte ich. »Und Sie haben jetzt den Anschluß verloren. Zwei Blocks weiter ist er links abgebogen.«

Er gab mir meine Brieftasche zurück. »Und ich hab mein linkes Auge verloren«, sagte er gereizt. »Was glauben Sie denn, wozu so ’n Funksprechgerät da ist?« Er nahm das Mikrofon und sprach hinein.

An der Ash Street bog er links auf den Highway 101 ab, und wir fädelten uns in den Verkehr ein und rollten in gemütlichem Vierzig-Meilen-Tempo dahin. Ich starrte auf seinen Hinterkopf.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte der Fahrer über die Schulter hinweg. »Den Fünfer gibt’s doch zum Fahrpreis noch obendrauf, oder?«

»Aber klar. Und warum brauch ich mir keine Sorgen zu machen?«

»Ihr Kunde fährt nach Esmeralda. Das ist zwölf Meilen nördlich von hier am Meer. Ziel ist, wenn Ihr Freund sich’s unterwegs nicht noch anders überlegt – und falls er’s tut, wird mir das gleich durchgesagt –, so ’n Hotelmotelschuppen namens Rancho Descansado. Das ist Spanisch für immer mit der Ruhe, schön gemütlich.«

»Verdammt, da hätt ich ja gar kein Taxi gebraucht«, sagte ich. »Na, jetzt müssen Sie zahlen für die Dienstleistung. Mista. Geschenkt gibt’s hier gar nix, nicht mal den Tod.«

»Sie sind Mexikaner?«

»So nennen wir uns nicht, Mista. Wir nennen uns Ibero-Amerikaner. Geboren und aufgewachsen in den USA. Manche von uns können kaum noch ein Wort Spanisch.«

»Es gran lástima«, sagte ich. »Una lengua muchissima hermosa.«

Er wandte den Kopf und grinste. »Tiene Vd. razón, amigo. Estoy muy bien de acuerdo.«

Wir kamen durch Torrance Beach und bogen dann ab in Richtung der Landzunge. Von Zeit zu Zeit sprach der Fahrer in sein Mikrofon. Halb wandte er wieder den Kopf, um mit mir zu reden.

»Sie wollen nicht gesehen werden?«

»Was ist mit dem andern Fahrer? Wird er seinem Fahrgast erzählen, daß er verfolgt wird?«

»Das weiß er selber noch nicht. Deswegen frag ich Sie ja.«

»Überholen Sie ihn und versuchen Sie, vor ihm da zu sein. Wenn’s klappt, gibt’s noch ’n Fünfer extra.«

»Kleinigkeit. Hinterher werd ich ihn aufziehn bei ’ner Flasche Tecate.«

Wir fuhren durch ein kleines Einkaufsviertel, dann wurde die Straße breiter. Auf der einen Seite sahen die Häuser teuer aus und nicht gerade neu, auf der andern sahen sie sehr neu aus, aber auch nicht gerade billig. Die Straße verengte sich wieder, und es gab Geschwindigkeitsbegrenzung – fünfundzwanzig Meilen. Mein Fahrer bog scharf rechts ab, schlängelte sich durch ein paar enge Straßen, überfuhr ein Stoppzeichen, und bevor ich Zeit hatte, mich zu orientieren, rollten wir einen Canyon hinunter, den glitzernden Pazifik zur Linken, und davor ein breiter, flacher Strand mit zwei Rettungsstationen auf offenen Stahltürmen. Am Fuß des Canyons wollte der Fahrer in das Einfahrtstor einbiegen, aber ich ließ ihn halten. Auf einem großen Schild stand in Goldschrift auf grünem Grund: El Rancho Descansado.

»Fahren Sie außer Sichtweite. Ich will auf Nummer Sicher gehn.«

Er wendete, fuhr zurück auf die Straße, schnell an einer Stuckmauer entlang bis zu deren Ende, und bog dann auf der Seite gegenüber scharf in eine gewundene Gasse ein, wo er hielt. Wir standen unter den überhängenden Zweigen eines knorrigen Eukalyptusbaums mit gespaltenem Stamm. Ich stieg aus dem Taxi, setzte eine dunkle Brille auf, schlenderte hinunter zur Straße und lehnte mich an einen knallroten Jeep, auf den der Name einer Tankstelle gemalt war. Ein Taxi kam den Hügel herunter und bog in den Rancho Descansado ein. Drei Minuten vergingen. Das Taxi kam wieder heraus, und fuhr hügelauf davon. Ich ging zurück zu meinem Fahrer.

»Taxi Nr. 423«, sagte ich. »Stimmt’s?«

»Das ist Ihr Vogel. Und was jetzt?«

»Wir warten noch ein bißchen. Was ist das denn da drüben?«

»Bungalows mit strohgedeckten Parkplätzen. Manche mit Einzelbett, manche mit Doppelbett. Das Büro ist in dem kleinen da unten vorne. Ziemlich teuer in der Saison. Aber jetzt ist Flaute hier. Wahrscheinlich halbe Preise und alles frei.«

»Fünf Minuten warten wir noch. Dann meld ich mich an, geb meine Tasche ab und seh mich mal nach ’nem Leihwagen um.«

Er sagte, das sei einfach. In Esmeralda gebe es drei Stellen, wo Autos vermietet würden – auf Zeit und nach Meilen, jeder gewünschte Typ.

Wir warteten die fünf Minuten. Es war jetzt kurz nach drei. Mein Magen knurrte, daß ich einem Hund den Knochen hätte klauen können.

Ich zahlte meinen Fahrer, sah ihm nach, als er davonfuhr, und ging über die Straße in das Büro.

3

Ich lehnte mich höflich mit dem Ellbogen auf die Rezeption und sah in das Gesicht eines glücklich dreinblickenden jungen Burschen mit gepunktetem Querbinder. Dann wandte ich meinen Blick dem Mädchen zu, das an der Seitenwand vor der Schalttafel für die Haustelefone saß. Sie war ein Freilufttyp mit knalligem Make-up und einem brünetten Pferdeschwanz, der von ihrem Hinterkopf abstand. Aber sie hatte schöne, große, sanfte Augen, die leuchteten, wenn sie den jungen Angestellten ansah. Ich sah ihn wieder an und verkniff mir ein beifälliges Brummen. Das Telefonmädchen ließ seinen Pferdeschwanz schwungvoll herumwippen und strahlte auch mich an.

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu zeigen, was wir frei haben, Mr. Marlowe«, sagte höflich der junge Bursche. »Die Anmeldung können Sie später ausfüllen, falls Sie sich entschließen zu bleiben. Für wir lange etwa würden Sie wohl ein Zimmer wünschen?«

»Nur so lange, wie sie es tut«, sagte ich. »Das Mädchen in dem blauen Kostüm. Sie hat sich eben angemeldet. Unter welchem Namen, weiß ich allerdings nicht.«

Er und das Telefonmädchen starrten mich an. Die Gesichter der beiden hatten denselben Ausdruck von Mißtrauen, gemischt mit Neugier. Es gibt hundert Möglichkeiten, diese Szene zu spielen. Diese aber war mir neu. In keinem Großstadthotel der Welt würde sie Erfolg haben; vielleicht aber hier; vor allem, weil es mir schnurzegal war.

»Das gefällt Ihnen gar nicht, stimmt’s?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Wenigstens sind Sie offen.«

»Ich bin’s leid, dauernd auf der Hut zu sein und Versteck zu spielen. Es hängt mir zum Hals raus. Ist Ihnen was an ihrem Ringfinger aufgefallen?«

»Wieso – nein, ich hab nicht drauf geachtet.« Er blickte das Telefonmädchen an. Sie schüttelte den Kopf und wandte ihre Augen nicht von meinem Gesicht.

»Kein Ehering«, sagte ich. »Das ist vorbei. Aus, Schluß, alles kaputt – die ganzen Jahre. Ach, zum Teufel damit. Ich bin ihr nachgereist, den ganzen Weg von – na, ist ja egal, von wo. Nicht mal sprechen will sie mit mir. Was soll ich eigentlich hier? Ich mach mich ja doch bloß lächerlich.«

Schnell wandte ich mich ab und schneuzte mir die Nase. Ich hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Ich geh wohl besser irgendwo anders hin«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.

»Sie wollen sich mit ihr versöhnen, und sie will nicht«, sagte das Telefonmädchen leise.

»Ja.«

»Ich kann das mitfühlen«, sagte der junge Mann. »Aber Sie wissen ja, wie es ist, Mr. Marlowe. Ein Hotel muß sehr vorsichtig sein. Situationen wie diese können zu allem möglichen führen – sogar zu Schießereien.«

»Schießereien?« Entgeistert sah ich ihn an. »Gütiger Gott, was sind denn das für Leute, die so was machen?«

Er stützte sich mit beiden Unterarmen auf das Empfangspult. »Sagen Sie einfach, wie’s Ihnen am liebsten wäre, Mr. Marlowe.«

»Tja, am liebsten wär ich doch in ihrer Nähe – für den Fall, daß sie mich braucht. Ansonsten werd ich kein Wort mit ihr sprechen; nicht mal an ihre Tür klopfen werd ich. Aber sie wird wissen, daß ich da bin, und wird auch wissen, warum. Ich werde warten auf sie. Immer werd ich da sein für sie.«

Das Mädchen war langsam hingerissen. Ich schwelgte in meiner Schnulze. Tief und langsam Luft holend, ging ich aufs Ganze. »Und irgendwie«, sagte ich, »mißfällt mir der Kerl, der sie hergebracht hat.«

»Niemand hat sie hergebracht – abgesehn natürlich von einem Taxifahrer«, sagte der Angestellte. Aber er wußte genau, was ich meinte.

Das Telefonmädchen lächelte zaghaft. »Das meint er nicht, Jack. Er meint die Zimmerreservierung.«

Jack sagte: »Soviel hab ich auch schon mitgekriegt, Lucille. Ganz blöd bin ich nun wieder nicht.« Plötzlich holte er eine Karte aus dem Pult und legte sie vor mich hin; eine Anmeldungskarte. Quer über eine Ecke war der Name Larry Mitchell geschrieben. In einer ganz anderen Handschrift und an den richtigen Stellen stand: (Miss) Betty Mayfield, West Chatham, New York. Dann, in der oberen linken Ecke und in derselben Handschrift wie Larry Mitchell, ein Datum, voraussichtliche Aufenthaltsdauer, ein Preis und eine Zimmernummer.

»Sie sind sehr freundlich«, sagte ich. »Sie hat also ihren Mädchennamen wieder angenommen. Warum auch nicht, das ist ja schließlich erlaubt.«

»Jeder Name ist erlaubt, solange man ihn nicht in betrügerischer Absicht gebraucht. Sie wollen neben ihr wohnen?«

Ich machte große Augen. Vielleicht strahlten sie sogar etwas. Noch nie hat sich jemand mehr Mühe gegeben, strahlende Augen zu machen.

»Hören Sie«, sagte ich, »das ist wirklich nett von Ihnen. Aber ’s ist besser, Sie tun das nicht. Ich hab zwar nicht vor, Ihnen Ungelegenheiten zu machen, aber man weiß ja nie. Wenn ich irgendwas anstelle, müssen Sie’s ausbaden.«

»Ja, ich weiß«, sagte er, »jeder muß sein Lehrgeld zahlen. Aber Sie sehn mir vertrauenerweckend aus. Nur daß das unter uns bleibt.« Er nahm einen Federhalter aus seiner Schale und hielt ihn mir hin. Ich schrieb meinen Namen auf die Anmeldekarte und als Adresse die East Sixty-First Street, New York City.

Jack warf einen Blick darauf. »Das ist ziemlich am Central Park, nicht?« fragte er wie beiläufig.

»Ungefähr drei Blocks weiter«, sagte ich. »Zwischen der Lexington und Third Avenue.«

Er nickte. Er wußte, wo es war. Ich hatte gewonnen. Er griff nach dem Schlüssel.

»Ich würde meine Tasche gern hier lassen«, sagte ich. »Mal sehn, ob ich irgendwo was zu essen kriege. Und vielleicht einen Wagen mieten, wenn das hier möglich ist. Würden Sie die Tasche in mein Zimmer bringen lassen?«

»Selbstverständlich. Nichts leichter als das.« Er begleitete mich hinaus und deutete auf einen Weg, der hügelan durch einen Hain von jungen Bäumen führte. Die Hütten waren völlig verschindelt, die Wände weiß, die Dächer grün. Sie hatten Veranden mit Geländern. Er zeigte mir meine zwischen den Bäumen. Ich dankte ihm. Er drehte sich um und wollte wieder hineingehen. Ich sagte: »Augenblick, eins noch – vielleicht fährt sie ab, wenn sie weiß …«

Er lächelte. »Natürlich. Dagegen könne wir nichts machen, Mr. Marlowe. Viele von unsern Gästen bleiben nur eine Nacht oder zwei – außer im Sommer. Wir rechnen nicht damit, um diese Jahreszeit ausgebucht zu sein.«

Er ging zurück in die Bürohütte, und ich hörte, wie das Mädchen zu ihm sagte: »Er ist ja ’n ganz netter Kerl, Jack, aber du hättest es lieber doch nicht tun sollen.«

Ich hörte auch seine Antwort: »Dieser Mitchell ist mir zuwider – auch wenn er ein Freund vom Chef ist.«

4

Das Zimmer war erträglich. Es hatte die übliche Betoncouch, Sessel ohne Kissen, einen kleinen Schreibtisch an der Fensterwand nach vorn hinaus, einen Wandschrank, in dem man spazierengehen konnte – mit eingebautem Schubladenkasten,