Playing with the Devil - Sylvia Pranga - E-Book

Playing with the Devil E-Book

Sylvia Pranga

3,0

Beschreibung

Ein Fantasy Romance Roman aus der Feder von Sylvia Pranga Layla Carrington hat nur eine Leidenschaft und das sind Zahlen. Die begeisterte Mathematikerin brennt ansonsten nur für Hobbys, die andere zum Gähnen bringen. Schach, alte Literatur und Latein. Nie hätte sie geglaubt, dass eines dieser Hobbys ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellen würde. Nachdem sie ihrer Schwester einen Gefallen getan hat, passieren seltsame Dinge. Jemand scheint sie zu verfolgen und sie lernt den aufregenden Italiener Luke kennen, der ihr nicht mehr von der Seite weicht. Während sich das Leben ihrer ohnehin chaotischen Familie in ein Katastrophengebiet verwandelt, merkt Layla erst spät, wie sie Lukes dunkler Faszination immer mehr erliegt. Und sie beginnt sich zu fragen, wer er wirklich ist.

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Seitenzahl: 439

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Playing with the Devil

Sylvia Pranga

Playing with the Devil

Sylvia Pranga © 2020

© 2020 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864439353

ISBN eBook-mobi: 9783864439360

ISBN eBook-epub: 9783864439377

www.sieben-verlag.de

Für meine Schwester Kerstin.Danke für deine Unterstützung!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Die Autorin

Kapitel 1

Layla liebte Mathematik, denn die Logik vermittelte ihr im Wirbel der Unberechenbarkeit ihrer Familie ein Gefühl von Sicherheit. Über komplizierten Algorithmen hatte sie schon oft die Zeit vergessen. Wie jetzt wieder.

Layla warf einen Blick auf die Wanduhr in ihrem Wohnzimmer und stöhnte. Mit dem Ausruf „Zum Teufel!“ sprang sie von ihrem Schreibtischstuhl hoch und stürzte beinahe, weil ihre Beine eingeschlafen waren. Wie lange hatte sie wie festgefroren vor ihrem Notebook gesessen? Es mussten mehrere Stunden gewesen sein.

Und jetzt kam sie wieder einmal zu spät. Zum fünfundzwanzigsten Geburtstag ihrer kleinen Schwester. Tessa würde sie umbringen. Fluchend und humpelnd schaffte es Layla in ihr Badezimmer, wo sie sich auszog und unter die Dusche stellte. Der prasselnde Wasserstrahl brachte sie aus ihrer geliebten Zahlenwelt zurück in die Realität. Das verdarb ihr die Laune. Ihr fiel nämlich ein, dass sie an diesem Freitagabend wegen Tessas Einladung das Treffen mit ihrem Lateinclub verpasste.

Warum musste sie dieses Jahr ausgerechnet an einem Freitag Geburtstag haben? So versäumte Layla einen schönen Teil aus De Bello Gallico. Aber Tessa, die seit Ewigkeiten ein Grufti und Anhängerin der dunklen Seite der Esoterik war, liebte es natürlich, am Freitag, dem dreizehnten Oktober Geburtstag zu haben. Als hätte der Wochentag in Kombination mit dieser Zahl irgendeine besondere Bedeutung. Layla schnaubte abfällig, stieg aus der Dusche und trocknete sich ab.

Nackt lief sie ins Schlafzimmer und öffnete die Türen ihres Schranks. Er war fast leer, weil ihre Kleidung sich vor der Waschmaschine und beim Bügelbrett stapelte. Mit einem frustrierten Stöhnen strich Layla sich das nasse Haar aus der Stirn. Natürlich bestand Tessa darauf, dass sie ganz in Schwarz zu ihrer Geburtstagsfeier kam. Mit einem geheimnisvollen Lächeln hatte sie Layla angekündigt, dass es eine Überraschung geben würde. Darauf konnte Layla verzichten. Wahrscheinlich war es wieder irgendein Humbug, der Fliegenbeine, Krötenkacke und Eidechsensperma erforderte.

Laylas umherschweifender Blick fiel auf einen Sessel, der unter Kleiderbergen begraben lag. Da – eine schwarze Jeans, zwar knitterig, aber sauber. Die ging. Während Layla sich Höschen und Büstenhalter überstreifte, suchte sie gleichzeitig die übrigen Klamottenstapel ab und fand ein schwarzes Shirt mit Schmetterlingsapplikation. Über das Pailletteninsekt würde Tessa die Nase rümpfen, aber das Oberteil war schwarz. Layla zog es über und sah sich nach Schuhen um.

Zehn Minuten später trug sie auch schwarze Sneakers und föhnte sich das Haar. Da die dunkelroten Strähnen, um die die von Natur aus blonde Tessa sie glühend beneidete, sich wild lockten, beließ sie es dabei, sie einfach zu trocknen. Noch schnell Mascara auf ihre rotblonden Wimpern, und sie konnte starten.

Layla ignorierte den Fahrstuhl ihres Wohnhauses und lief die vier Treppen nach unten. Als sie nach draußen trat, ließ der kühle Wind sie frösteln. Sie rieb sich über die nackten Arme, auf denen sich Gänsehaut ausbreitete. Der sonnige Oktobertag hatte die Bewohner von Las Vegas mit über zwanzig Grad verwöhnt. Jetzt, am Abend, war die Temperatur rapide gesunken. Kurz spielte Layla mit dem Gedanken, sich eine Jacke aus ihrer Wohnung zu holen. Aber sie war ohnehin spät dran, und Tessa wohnte nur zwei Blocks entfernt. Also machte sich Layla im Laufschritt auf den Weg.

Hier, am Stadtrand von Las Vegas, weit weg vom Strip mit seinen Kasinos, Hotels und berühmten Shows, war es so dunkel, dass man sogar ein paar Sterne sah. Layla lebte in einem Teil der Metropole, in dem in den letzten Jahren sehr schnell viele hässliche Wohnblöcke hochgezogen worden waren, um der ständig steigenden Bevölkerungszahl gerecht zu werden. Aber zumindest waren die Wohnungen bezahlbar und die Kriminalitätsrate nicht so hoch, dass man sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße wagte.

Eine kühle Bö verstärkte Laylas Gänsehaut. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, senkte den Kopf und beschleunigte ihr Tempo. Zumindest war es in Tessas Wohnung warm. Ihre Schwester hielt nicht viel vom Lüften, dafür umso mehr von unzähligen Kerzen und Räucherstäbchen. Nach spätestens einer Stunde hatte Layla in Tessas Wohnung das Gefühl zu ersticken. Aber wenigstens fror man nicht.

Fast wäre sie am Eingang des achtstöckigen Wohnhauses, in dem Tessa lebte, vorbeigelaufen. Hier sah besonders in der Dunkelheit alles so gleich aus. Layla zog den zerknitterten Gutschein für eine Gothic Boutique aus ihrer Gesäßtasche und drückte auf die Klingel. Der Türsummer dröhnte, ohne dass Tessa sich über die Gegensprechanlage meldete. Layla drückte die schwere Eingangstür kopfschüttelnd auf. So unbekümmert sollte man auch wieder nicht sein. Tessa machte es Einbrechern und Junkies einfach, ins Gebäude zu gelangen.

Layla stieg die Stufen bis in den sechsten Stock hinauf. Die Tür der Wohnung 6B stand halb offen. Bei ihrem Einzug hatte Tessa vor die auf ihrer Tür angebrachte Sechs zwei weitere Sechsen geklebt, sodass sich daraus die angebliche Zahl des Teufels ergab. Layla, die überzeugte Atheistin war, konnte darüber nur den Kopf schütteln.

Aus dem Türspalt drang der aufdringliche Geruch nach Räucherstäbchen und leises Kichern und Flüstern. Am liebsten hätte Layla auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre zu ihrem Lateinclub gegangen. Aber das wollte sie ihrer Schwester nicht antun. So unterschiedlich sie waren, Layla liebte die exzentrische Tessa.

Also ging sie durch die Tür, die sie hinter sich schloss. Sofort wurde sie von Düsternis und stickiger Luft umhüllt. Zwei Wände des Wohnzimmers waren schwarz gestrichen, die anderen mitternachtsblau, was den Raum nicht heller machte. Ein Verdunkelungsrollo verdeckte das einzige Fenster. Das Zimmer wurde nur von einigen Teelichtern erhellt, die in Marmeladengläsern auf dem Boden standen.

Layla hatte das Gefühl, als würde sich ein Gewicht auf ihre Brust legen und ihr den Atem rauben. Sie verabscheute beengte, dunkle Räume. Layla würde in dieser Wohnung entweder durchdrehen oder Depressionen bekommen. Aber Tessa war die Fröhlichkeit und der Optimismus in Person, was so gar nicht zu ihrem Gothic Lifestyle passen wollte.

Layla machte ein paar Schritte und hielt inne. Beim Anblick, der sich ihr bot, erstarrte sie. Das war selbst für ihre exzentrische Schwester extrem. Tessa hatte die Läufer entfernt, sodass das billige Laminat zu sehen war. Die wenigen Möbelstücke, die sie besaß, waren an die Wände gerückt worden, sodass die Mitte des Raums frei war. Den Platz hatte Tessa genutzt, um mit Kreide ein riesiges Pentagramm auf den Boden zu malen. In den Dreiecken waren seltsame Zeichen zu sehen. Auf den zweiten Blick erkannte Layla die Zeichen für Sonne, Mond und zwei Mal für die Weiblichkeit. Das letzte Symbol war ihr unbekannt.

„Da bist du ja endlich.“ Layla zuckte beim Klang der Stimme ihrer Schwester zusammen und erwachte aus ihrer Erstarrung. Tessa kam mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu. Das lange, tiefschwarze Haar schwang um ihr weiß geschminktes Gesicht. Ihre hübschen blauen Augen hatte sie zentimeterbreit mit Kajal umrandet, die Lippen dunkelrot nachgezogen. Sie sah aus wie eine Mischung aus Panda und Pavianhintern. Layla würde nie verstehen, warum sich ihre hübsche Schwester so verunstaltete.

Layla ging lächelnd auf Tessa zu, zog sie in die Arme und sagte neben ihrem Ohr: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen.“

Tessa lachte, drückte sie kurz an sich und löste sich dann aus der Umarmung. „Oh, heute wird sich einer meiner größten Wünsche erfüllen, das garantiere ich dir. Aber du musst mir dabei helfen.“

Ihre Schwester sah sie mit vor Begeisterung leuchtenden Augen an. Layla unterdrückte ein Seufzen. Beim Anblick des Wohnzimmers schwante ihr, was für eine Hilfe das sein sollte. Sie reichte Tessa den Gutschein für die Boutique, den ihre Schwester mit einem kurzen ‚danke‘ beiseitelegte.

„Was soll ich denn machen?“, fragte Layla widerwillig. „Solange es nicht illegal ist, bin ich dabei – denke ich.“

Tessa kicherte aufgeregt. Unter dem weißen Make-Up röteten sich ihre Wangen. „Nein, kriminell ist es nicht, aber vielleicht gefährlich.“ Bei den letzten Worten leuchteten ihre Augen noch mehr.

Layla unterdrückte wiederum ein Seufzen. Sie würde nie verstehen, warum Tessa ständig nach Abenteuern in Form von verrücktem Esoterik-Humbug suchte. Heute würde es unweigerlich wieder auf so etwas hinauslaufen.

Tessa fasste nach ihrem Arm und drehte sie halb herum. Layla zuckte zusammen, als sie drei weitere Frauen erblickte. Da sie alle schwarze Kleidung trugen und sich die Haare dunkel gefärbt hatten, waren sie ihr vor den rabenschwarzen Wänden gar nicht aufgefallen. Tessa sabbelte aufgeregt weiter: „Sue kennst du ja schon.“ Sie wies auf eine große, magere Frau, die einen knöchellangen Ledermantel trug. Und das in dieser überhitzten Wohnung? Sie musste in ihrem eigenen Sud kochen. Sue war Tessas Kollegin. Beide arbeiteten in einem Esoterik-Shop, der erstaunlich gut lief.

„Das ist Danielle.“ Die Frau neben Sue fuhr eher die erotische Schiene der Gothic-Szene. Sie trug einen schwarzen Lederminirock, der kaum breiter als ein Gürtel war, dazu Netzstrümpfe und eine Korsage, aus der ihre üppigen Brüste herauszurutschen drohten. Ihre Miene machte jedem Dämon Konkurrenz, wenn es diese Wesen gegeben hätte. „Sie arbeitet in einer echt coolen Bar, die gerade eröffnet hat.“ Danielle machte, genau wie Sue, keine Anstalten, Layla zu begrüßen.

„Und das ist Cassie.“ Im Vergleich mit den anderen beiden Frauen konnte man Cassie als freundlich bezeichnen. Sie grinste kurz und sagte ‚hi‘. Layla blieb beim Anblick ihres Outfits fast der Mund offenstehen. Cassie trug ein lackschwarz glänzendes, langes Kleid im viktorianischen Stil, das atemberaubend aussah. Layla konnte sich nicht zurückhalten, obwohl sie wusste, dass Gruftis nicht auf Komplimente von Normalos standen. „Dein Kleid ist fantastisch.“

Cassie sah an sich herunter, lächelte und sagte: „Danke. Das habe ich selbst entworfen und geschneidert. Ist mein Job.“

Tessa hob die Hände und quasselte hektisch: „Ja, ja. Aber das ist unwichtig. Jetzt sind endlich alle da. Lasst uns anfangen.“

Tessa wandte sich mit einem geheimnisvollen Lächeln und geröteten Wangen an Layla. „Du wirst heute Teil von etwas ganz Besonderem sein. Mit Danielle und Sue habe ich schon öfter niedere Dämonen berufen. Inzwischen sind wir ziemlich geübt darin. Darum haben wir uns für heute vorgenommen“, Tessa machte eine Pause, die wohl Laylas Spannung erhöhen sollte. Dann flüsterte sie: „Den Teufel zu rufen.“

Layla verdrehte unwillkürlich die Augen. Die Ideen ihrer Schwester wurden immer abgedrehter. Woher hatte sie das nur?

„Du brauchst gar nicht so zu gucken. Ich weiß, dass du nicht dran glaubst. Aber du hast versprochen, mir zu helfen. Also, was ist jetzt?“, keifte ihre Schwester.

Layla lächelte Tessa an und berührte sie am Arm. Sie nahm sich vor, sich von jetzt an nicht mehr anmerken zu lassen, was sie von diesem Unsinn hielt. Auf keinen Fall wollte sie Tessa ihren Geburtstag verderben. „Tut mir leid. Klar helfe ich dir. Was soll ich machen?“

Von einer Sekunde auf die andere war Tessa wieder gutgelaunt und begeistert bei der Sache. Sie erklärte: „Also … jede von uns stellt sich an eine Spitze des Pentagramms. Danielle nimmt das Dreieck mit dem Sonnensymbol.“ Danielle stöckelte auf ihren halsbrecherischen High Heels zu der Spitze des Pentagramms, in dem ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte aufgemalt war und blieb mit einer Hand in die Hüfte gestützt stehen.

Tessa nickte zufrieden. „Gut. Sue, du übernimmst den Mond.“ Tessas Kollegin schlurfte zu der Danielle gegenüberliegenden Spitze des Pentagramms, in die ein Halbmond gezeichnet war. Dabei starrte sie mit so leerem Blick vor sich hin, dass in Layla der Verdacht aufkam, sie hätte etwas eingeworfen.

Cassie wurde von Tessa zu dem Zeichen geschickt, das Layla als das Symbol für Weiblichkeit kannte, ein Kreis mit einem nach unten weisenden Kreuz. Tessa erklärte, dass es für die Venus stand. Cassies langer Rock schwang über die Kreidelinien und Layla fragte sich, ob es Satan gefiel, wenn seine Beschwörungssymbole verwischt wurden. Dann wanderten ihre Gedanken zu ihrem Latein-Club. Wie gern wäre sie jetzt dort.

Tessas Stimme riss Layla aus ihrer Melancholie. „Du, Layla, gehst zu dem zweiten Zeichen der Weiblichkeit. Es steht für den Wochentag, Freitag, der das Symbol der Venus hat.“ Layla gehorchte ergeben und stellte sich in das vierte Dreieck des Pentagramms.

Sie zuckte zusammen, als Tessa begeistert in die Hände klatschte und rief: „Krass! Genauso stelle ich mir das vor. Weiter geht’s.“

Tessa lief an Layla vorbei zu dem letzten freien Dreieck des Pentagramms und zündete dort ein Räucherfässchen an. Der Gestank nach verbranntem Zedernholz und gammligen Kräutern verpestete die ohnehin schon stickige Luft. Layla unterdrückte ein Husten. Ihre Augen brannten, und sie bekam Kopfschmerzen. Hoffentlich war dieses dämliche Ritual bald vorbei. Dann würde sie sich unter einem Vorwand verabschieden und noch rechtzeitig zum zweiten Teil ihres Latein-Clubs kommen.

Jetzt richtete sich Tessa auf, strich ihre schwarze Tunika glatt und sah über die Schulter zu Layla. Aufgeregt flüsterte sie: „Ich stehe beim Symbol Satans.“ Das mit Kreide gemalte Zeichen sah aus wie eine auf der Spitze stehende Pyramide, die von einem X durchkreuzt wurde. Die Spitze der Pyramide hatte geschwungene Ausläufer, über die ein V gezeichnet war. Der untere Teil des Symbols erinnerte Layla an einen Ziegenkopf.

Tessa zog ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, faltete es auseinander und begann mit unheilvoller Stimme in grauenhaftem Latein zu lesen: „Ex… Exaudi nos, Satanas! Surge ex abess… abysso!“

Das hielt Layla nicht aus. Auch wenn es inhaltlich kompletter Unfug war, ertrug sie nicht, was Tessa der lateinischen Sprache antat. „Tessa, so dauert das ewig. Und deine Aussprache ist eine Katastrophe.“

Tessa wirbelte herum und starrte sie mit vor Zorn funkelnden Augen an. „Du darfst die Evokation nicht unterbrechen! Jetzt muss ich wieder von vorn anfangen. Sei ruhig, sonst klappt es nicht.“

Layla schwieg resigniert, während der Rauch aus dem Fässchen ihr in die Nase drang und ihr die Sicht vernebelte. Zu ihrer Überraschung sprang ausgerechnet Sue ihr bei. „Layla hat recht. Dein Latein ist noch schlechter als meins. Tauscht die Plätze. Layla ist im Latein-Club, die macht das schon.“

Layla war baff, dass Sue sich das gemerkt hatte. Noch mehr verblüffte es sie, als Tessa murrend ihren Platz räumte und Layla das Blatt mit der lateinischen Beschwörungsformel gab. Mit einem Schulterzucken stellte Layla sich unter das Symbol Satans und las: „Exaudi nos, Satanas! Surge ex abysso! Sume animas nostras, et nos ministros tuos fac. O princeps tenebrorum, relinque abyssum. Orbem mundi regna. Oves servos fac et eorum coporavora. Surge ex flammis. Appare.”

Steig aus den Flammen empor. Erscheine.

Na klar. Selbstverständlich passierte überhaupt nichts. Das Räucherfässchen stank vor sich hin und nahm Layla die Luft. Hinter sich hörte sie den Atem der vier anderen Frauen. Die Kerzen flackerten, ein Luftzug verwehte den Rauch. Hatte Tessa irgendwo ein Fenster offengelassen? Eher nicht, so stickig wie es hier war. Wahrscheinlich hatte Cassie sich bewegt, sodass ihr langer Rock die Kerzenflammen und den Rauch verwehte. Layla seufzte. Was jetzt? Wie lange sollte sie in diesem Gestank herumstehen und warten?

Tessa stieß einen Klagelaut aus und jammerte: „Es hat nicht geklappt. Er ist nicht gekommen. Was haben wir denn falsch gemacht? Sue, du hast das recherchiert. Warum ist er nicht da?“

Layla sah über die Schulter. Sue verließ ihren Platz, ging zu Tessa, legte ihr einen Arm um die Schulter und murmelte irgendetwas. Plötzlich zuckte Tessa zusammen, riss den Kopf hoch und starrte Layla an. „Stimmt. Sue hat recht. Du glaubst nicht an Satan. Also kommt er nicht, wenn du versuchst, ihn zu beschwören. Du hast alles verdorben, Layla.“

Erste Tränen liefen über Tessas Wangen. Einerseits tat sie Layla leid, weil sie so enttäuscht war. Andererseits fand sie es vollkommen idiotisch, sich über etwas aufzuregen, was sowieso niemals funktionieren würde. Es gab keinen Satan, also konnte man ihn nicht herbeirufen.

Unter Schluchzen stammelte Tessa: „Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Layla.“ Dann ließ sie sich von Sue in ihr Schlafzimmer führen. Danielle und Cassie folgten ihnen.

Layla zuckte mit den Schultern, löschte alle Kerzen und das Räucherfässchen und öffnete das Fenster, um endlich frische Luft ins Zimmer zu lassen. Die Straßenlaternen erhellten den Raum nur schwach und Layla glaubte plötzlich, eine Bewegung hinter sich wahrzunehmen. Sie drehte sich um. Aber da war niemand. Leise sagte sie: „Tessa?“

Keine Antwort. Stattdessen hörte sie Weinen und Murmeln aus dem Schlafzimmer nebenan. Sie musste sich getäuscht haben. Da war niemand.

Seufzend verließ Layla die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Das war typisch für Tessa. Wenn etwas nicht so lief, wie sie wollte, suchte sie sich einen Sündenbock. Dieses Mal war Layla die Schuldige. In ein paar Tagen würde Tessa sie anrufen und sich benehmen, als wäre nie etwas gewesen. So war sie eben. Impulsiv, emotional und manchmal ein wenig hysterisch.

Layla ging fröstelnd die Straße entlang. Es waren nur noch wenige Leute unterwegs. Der Vollmond erhellte den Bürgersteig besser als die schwachen Laternen. Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben stapfte Layla über das Pflaster und versuchte, diesen Abend aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Wie so viele andere, an denen Tessa durchgedreht war. Weihnachtsabende, Halloween, Thanksgiving. Und ihre Eltern hatten Tessa alles durchgehen lassen, weil sie nun einmal nicht so vernünftig wie Layla war. Layla schnaubte.

Layla glaubte, eine Bewegung und einen Luftzug neben sich wahrzunehmen. Erschrocken blieb sie stehen und sah in alle Richtungen. Zwanzig Meter von ihr entfernt schlurfte ein alter Mann über den Bürgersteig, neben ihm trippelte ein Pudel. Sonst war niemand zu sehen. Hatte sie Halluzinationen von den Dämpfen des Räucherfässchens? Was hatte ihre Schwester darin verbrannt? Sie meinte, neben dem Geruch von verbrannten Hölzern auch einen Anflug von Schwefel in der Nase zu haben.

Layla schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen und ging weiter. Sie gähnte und merkte, dass die Kopfschmerzen immer noch hinter ihren brennenden Augen lauerten. Wäre sie bloß nicht zu Tessas Geburtstag gegangen. Sie hatte gleich ein schlechtes Gefühl dabei gehabt.

Eine Stimme schreckte sie auf. Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, dass diese Stimme in ihrem Kopf erklang.

Was willst du? Was soll ich für dich tun?

Drehte sie jetzt durch? Zum Teufel, was war in diesem Räucherfässchen gewesen? Sie würde Tessa fertigmachen, wenn sie Drogen verbrannt hatte. Wütend vor sich hin murmelnd setzte sie ihren Weg fort. Dann kam die Stimme wieder, mit denselben Fragen.

Was willst du? Was soll ich für dich tun?

Die Stimme gehörte eindeutig zu einem Mann. Sie war so tief, dass Layla meinte, sie in sich vibrieren zu spüren. Ein überraschend angenehmes Gefühl, trotzdem murmelte sie missmutig: „Ich will so schnell wie möglich ins Bett, durchschlafen und morgen ohne Kopfschmerzen aufwachen.“

Nein. Das meine ich nicht. Was für Ziele hast du? Wovon träumst du?

Layla zuckte mit den Schultern. Okay, dann unterhielt sie sich eben mit der heißen Männerstimme in ihrem Kopf. Sie wollte sich nicht vorstellen, was ein Psychiater dazu sagen würde. „Ich habe keine. Im Moment habe ich alles, was ich will. Einen interessanten Job, eine hübsche Wohnung, Freunde. Ein Mann wird irgendwann auch dazukommen, da bin ich mir sicher.“

Jeder Mensch hat einen Traum.

Layla schnaubte. „Klar. Alle Jungs wollen Astronauten werden, alle Mädchen Supermodels. Ich nicht. Ich liebe Zahlen und bin daher in der IT-Branche bestens aufgehoben. Mein Leben ist gut so, wie es ist.“

Warum hast du mich dann gerufen?

Jetzt klang die Stimme unheilvoll und drohend. Layla war vor ihrem Wohnhaus angelangt und schloss die Eingangstür auf. „Ich habe bestimmt keine Stimme in meinem Kopf gerufen, die mich nervt. Auch wenn sie sexy ist. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich will schlafen.“

Layla hatte tatsächlich durchgeschlafen, war ohne Kopfschmerzen aufgewacht und hatte ihre Joggingstrecke hinter sich gebracht. Jetzt stand sie in ihrer winzigen, aber gemütlichen Küche und trank einen halben Liter Wasser. Es war ihre Samstagmorgenroutine, die sie liebte. Eigentlich hätte sie zufrieden sein sollen. Heute würde nichts ihren durchgetakteten Tagesablauf stören. Nach einer Dusche würde sie zwei Stunden arbeiten. Sie wollte die Karriereleiter weiter hinauf, wofür sie Freizeit opfern musste. Und dieses Opfer brachte sie gern.

Nachmittags wollte sie zum Sunset Park radeln. Das herrliche Herbstwetter lockte die Menschen ins Freie, sodass sie Schachpartner finden würde. Nach ein paar Partien wollte sie sich mit ihrem Buch in die Sonne setzen. Sie las zum zweiten Mal Die Göttliche Komödie, wobei sie sich am altitalienischen Original versuchte. Abends wartete dann die Neuverfilmung von Shakespeares Caesar auf DVD auf sie. Einen besseren Samstag konnte sich Layla nicht vorstellen.

Trotzdem stellte sich die übliche Entspannung und Zufriedenheit nicht ein. Lag es daran, dass Tessa gestern Abend einen hysterischen Anfall gehabt und sie rausgeschmissen hatte? Eigentlich regte Layla sich schon lange nicht mehr über solche Zwischenfälle auf. Es war etwas anderes. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

Seit dieser blöden Beschwörungszeremonie fühlte Layla sich beobachtet. Sie wusste, dass das dämlich war. Wer sollte sie verfolgen? Und aus welchem Grund? Sie war weder berühmt noch eine Schönheit. Und ihre Aktivitäten wirkten auf Außenstehende bestenfalls langweilig.

Trotzdem hatte sie sich beim Joggen immer wieder umgedreht und sich ein paar Mal eingebildet, aus den Augenwinkeln eine Bewegung zu sehen. Dieser Verfolgungswahn, der sie nicht einmal in ihrer Wohnung losließ, nervte sie. Zum Teufel, sonst hörte sie doch immer auf ihren Verstand. Und das war gut so.

Unwillig schüttelte Layla den Kopf und warf die leere Wasserflasche in ihre Sammelbox. Nach einer Dusche ginge es ihr bestimmt besser.

Eine halbe Stunde später saß Layla mit nassem Haar vor ihrem Notebook. Aber zum ersten Mal zogen die Algorithmen sie nicht in ihren Bann. Layla war abgelenkt und wusste nicht einmal wovon. Immer wieder hob sie den Kopf und sah sich im Wohnzimmer um. Natürlich entdeckte sie nichts Ungewöhnliches. Ihre froschgrünen Polstermöbel vom Flohmarkt gruppierten sich wie immer um die Kieferkiste, die ihr als Couchtisch diente. Ein Stück entfernt stand das kleine TV-Gerät, das im durch das Fenster fallenden Sonnenlicht eine dicke Staubschicht offenbarte. Das selbst gezimmerte, vollgestopfte Bücherregal machte ihm darin Konkurrenz.

Alles war wie immer. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass jemand in ihrer Wohnung gewesen war. Bei diesem Gedanken zuckte Layla zusammen. Wie kam sie auf eine so absurde Idee? Natürlich war niemand in ihrer Wohnung gewesen. Das Schloss an der Eingangstür war intakt, und sie wohnte im vierten Stock. Was war nur mit ihr los?

Layla zuckte zusammen und stieß einen Schrei aus, als ihr Handy klingelte. Eine Sekunde später verfluchte sie sich selbst. Warum war sie so schreckhaft? Das war sonst überhaupt nicht ihre Art.

Layla warf einen Blick auf das Display des Handys und nahm den Anruf mit einem Lächeln an. „Hi, Eva.“

Einen Moment hörte Layla nur den Atem ihrer jüngsten Schwester. Dann ihre überraschte Stimme: „Woher weißt du, dass ich es bin?“

Layla rollte mit den Augen und kicherte. „Es nennt sich Ruferkennung, Süße. Das gibt es schon ein paar Jährchen.“

Man konnte Eva vielleicht vorwerfen, dass sie nicht gerade mit Verstand und Bildung glänzte und auch nichts tat, um das zu ändern. Aber sie hatte die Größe, ehrlich über sich selbst zu lachen, was sie jetzt auf erfrischende Art und Weise tat. Ihr Gekicher, das nach einem ausgelassenen Teenager klang, perlte aus dem Hörer. „Klar. Hatte ich nur gerade vergessen. Wie geht’s dir? Was machst du heute?“

Layla berichtete von ihren Wochenendplänen, wobei sie ihrer jüngsten Schwester zugutehielt, dass sie geduldig zuhörte, obwohl sie Laylas sich ständig wiederholende Aktivitäten sterbenslangweilig finden musste. Im Vergleich mit Evas Leben waren sie das vermutlich auch. Sie lebte in einer ganz anderen Welt als Layla, was an ihren nächsten Worten nur zu deutlich wurde.

„Ben und ich gehen heute Nachmittag mit Freunden in der Bucht segeln.“ Ben war Evas Verlobter, fünfzehn Jahre älter als sie und steinreich. Er finanzierte ihr seit einigen Jahren das süße Nichtstun und ihre exzessiven Shoppingtouren. Sie lebten zusammen mit zwei hochnäsigen Perserkatzen in San Francisco in einer Villa mit Pool – den Eva nie nutzte, weil sie angeblich allergisch gegen Chlor war.

„Heute Abend gibt einer seiner Kollegen eine Cocktailparty. Und ich habe nichts Anzuziehen.“ Bei den letzten Worten hatte Evas Stimme einen jammernden Klang angenommen.

Layla verdrehte die Augen, bemühte sich aber, sich nicht anmerken zu lassen, wie absurd sie diese Behauptung fand. Wie hatten ihre Eltern es nur geschafft, drei so unterschiedliche Töchter hervorzubringen? Eine Mathematikerin, eine Esoterikerin und eine Barbiepuppe? Layla zuckte zusammen und schalt sich innerlich für diese Gedanken. Sie verabscheute Hochmut. Eva war die Hübscheste von ihnen. Sie hatte sich nie anstrengen müssen, um etwas zu erreichen. Irgendein von ihrer Schönheit hingerissener Mann räumte ihr immer alle Steine aus dem Weg. Wäre es Layla so ergangen, hätte sie dann Nein zu diesem bequemen Leben gesagt? Bestimmt nicht.

Layla unterdrückte ein Seufzen. „Das kann ich mir kaum vorstellen, Eva. Ich habe deinen Kleiderschrank gesehen. Du musst nur richtig gucken, dann findest du etwas Passendes.“

Ein jammervolles Seufzen drang aus dem Hörer, und Layla verkniff sich ein Lachen. „Nein, nein, Layla, ich kann kein Kleid anziehen, das ich schon mal vor diesen Leuten getragen habe. Am besten gehe ich noch schnell shoppen.“

Jetzt lachte Layla doch. Das war typisch für Eva. Sie fand immer eine Ausrede, um eine Tour durch ihre Lieblingsboutiquen zu machen. „Tu das. Ben hat bestimmt nichts dagegen.“

Am anderen Ende herrschte so lange Schweigen, dass Layla sich fragte, ob Evas Akku den Geist aufgegeben hatte. Dann sagte Eva, wesentlich leiser als zuvor: „Na ja. In letzter Zeit hat er sich immer wieder darüber beschwert, dass ich zu viel Geld ausgebe. Er behauptet, dass es nicht darum geht, dass er nicht genug hat, sondern ums Prinzip. Angeblich habe ich mehr Kleidung, als ich je anziehen kann. Aber das stimmt nicht … glaube ich.“

Layla runzelte die Stirn. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus. Eva kaufte eindeutig viel zu viel ein, nicht nur Kleidung. Bisher hatte sich Ben nicht ein einziges Mal darüber beklagt, weil er Eva dermaßen verfallen war, dass er alles für sie tat. Bedeuteten seine Beschwerden, dass Evas Zauber nicht mehr auf ihn wirkte? Wenn sie ihn nicht mehr in ihren Bann schlug, hatte Eva ein größeres Problem, als sie ahnte. Sie war allein nicht lebensfähig, das wusste Layla. Nach der Highschool hatte Eva nur gejobbt und keine Ausbildung gemacht. Sie war auch nie auf dem College gewesen. Das hatte funktioniert, weil sie bis zu ihrer Verlobung mit Ben bei ihren Eltern lebte. Was würde geschehen, wenn Ben sich von ihr trennte?

Möglichst diplomatisch sagte sie: „Dann kaufst du heute eben nichts anderes als das Cocktailkleid für die Party. Und halt dich in den nächsten Wochen etwas zurück. Dann beruhigt Ben sich schon wieder.“ Das hoffte Layla zumindest. Denn ihre Eltern waren seit Monaten in Europa und hatten ihr Haus in San Francisco vermietet. Es gab also keinen Rettungsanker für Eva.

Eva versprach, sich zusammenzureißen und beendete das Gespräch.

Layla seufzte, legte das Handy weg und streckte sich. Sie meinte, ihre Wirbel knacken zu hören. Obwohl sie seit kaum einer Stunde an ihrem Schreibtisch saß, fühlte sie sich völlig verspannt und ausgelaugt. So würde sie nichts zustande bringen. Sie schloss die Augen, schob die Hände unter ihre schweren Locken und hob das Haar an. Ja, es war inzwischen trocken genug, dass sie es nicht föhnen musste, bevor sie in den Park radelte.

Ein warmer Luftzug strich über die Haut unter ihrem Haar. Laylas Nackenhärchen richteten sich auf. Sie erschauerte. Es hatte sich angefühlt wie … ein Atemzug. Layla stieß einen Schrei aus und sprang auf. Hektisch sah sie sich um. Ein Schatten glitt an ihr vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, dunkle Augen zu sehen.

Laylas Hand schoss zu ihrer Brust, unter der ihr Herz raste. Sie keuchte. Helle Punkte tanzten vor ihren Augen. Was war das gewesen? Es konnte niemand in ihrer Wohnung sein. Das war unmöglich. Hatte sie Halluzinationen?

Plötzlich verdrängte Wut ihre Angst. Für dieses merkwürdige Gefühl, das sie seit gestern Abend beherrschte, gab es nur eine Erklärung. Layla riss ihr Handy vom Tisch und drückte mit zitterndem Finger auf eine Kurzwahltaste. Es klingelte, bis die Mailbox sich meldete: „Hey, Leute, ihr seid bei Tessa gelandet. Sagt was.“

Layla fühlte sich ausgebremst. Sie hatte ihre Wut an ihrer Schwester auslassen wollen. Die Mailbox eignete sich nicht dafür. Also unterbrach Layla die Verbindung, warf das Handy auf die Couch, schnaufte und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Zum Teufel! Das wirst du mir büßen, Tessa!“

Drogen. Anders konnte es nicht sein. Tessa hatte in dem Räucherfässchen irgendein Zeug verbrannt, das Halluzinationen verursachte. Wahrscheinlich schliefen sie und ihre Freundinnen gerade ihren Drogenrausch aus, während Layla sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte und sich einbildete, einen Mann in ihrer Wohnung zu sehen.

Layla rannte ins Schlafzimmer, band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz und zog sich Sneakers und eine dünne Jacke an. Dann schnappte sie sich den Rucksack mit ihrer Ausgabe von Die göttliche Komödie und den Schachfiguren und stürmte zur Wohnungstür. Kurz davor hatte sie plötzlich das Gefühl, auf einen Widerstand zu prallen. Geschockt fuhr sie zurück und stieß gegen ihren Schreibtisch. Es hatte sich wie ein Mensch angefühlt. Ein schlanker, muskulöser Mann, um genau zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen suchte sie das Zimmer ab. Da war niemand. Layla musste sich den Zusammenstoß eingebildet haben.

Sie fluchte laut. „Tessa, du bist tot! Dann landest du endlich bei deinem geliebten Teufel.“

Layla meinte das Lachen eines Mannes zu hören. Tief, sonor – und gefährlich.

Kapitel 2

Diese Frau war ein schwieriger Fall. Gut, dass Luciano Herausforderungen liebte. Lächelnd beobachtete er, wie Layla dem alten Mann vor ihr die zu Fäusten geschlossenen Hände hinhielt. Der Afroamerikaner mit den grauen Locken und der auf die Nasenspitze gerutschten Lesebrille tippte auf ihre rechte Hand. Layla öffnete sie, und ein weißer Bauer kam zum Vorschein. Den schwarzen Bauern aus ihrer linken Hand stellte sie auf das Schachbrett vor ihr. Die Partie begann.

Luciano lehnte sich an den Baumstamm hinter ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. Er knurrte leise, denn die grellen Sonnenstrahlen störten ihn, obwohl er eine Brille mit dunklen Gläsern trug. Außerdem war es für seinen Geschmack zu kühl. Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke höher und fragte sich, wie Layla es in ihrer kurzärmligen Bluse aushielt – ihre Strickjacke hatte sie über den Stuhl gehängt. Allerdings gestand Luciano sich ein, dass ihm der Anblick gefiel. Der hellgelbe Stoff der Bluse schmiegte sich an ihre runden Brüste und ließ ihre Unterarme frei.

Luciano stieß sich vom Baumstamm ab und näherte sich den Schachspielern. Er bemerkte, dass ihm mehrere Frauen – und ein Mann – mit den Blicken folgten. Das war er gewohnt, doch es interessierte ihn nicht. Ohne auf das Lächeln einer Blondine zu reagieren, setzte er sich auf eine Bank in Laylas Nähe, schlug ein Bein über das andere und nahm zögernd die Sonnenbrille ab. Sofort kniff er die Augen zusammen, aber nach einer Weile gewöhnte er sich leidlich an das grelle Licht.

Jetzt sah er Layla in Farbe. Und das lohnte sich allein wegen ihres leuchtendroten Haars. Im Mittelalter wäre sie längst als Hexe verbrannt worden. In der jetzigen Zeit schienen die Männer es exotisch und anziehend zu finden. Viele warfen Layla bewundernde Blicke zu, aber sie bemerkte es nicht. Dazu war sie zu sehr auf ihr Schachspiel konzentriert. Luciano erkannte, dass sie in einigen Zügen gewinnen würde. Ihr Gegner war keine Herausforderung.

Und er war nicht der Einzige, der das sah. Zwei Männer beobachteten Layla und ihren Gegner aufmerksam. Sie standen in den Startlöchern. Luciano grinste. Er würde dafür sorgen, dass es ein Fehlstart wurde. Wenn er schon einmal hier war, konnte er sich ein bisschen Spaß gönnen.

In diesem Moment kippte Laylas Gegner seinen König um und gab sich lächelnd geschlagen. Noch während er aufstand und seine Jacke nahm, starteten die beiden jungen Männer – und entdeckten sich gegenseitig. Mit finsterem Blick beschleunigten beide ihr Tempo. Der mit dem Bürstenschnitt und der bulligen Figur hatte es nicht so weit wie der schlanke Blonde. Dafür war sein Gegner flotter. Luciano beobachtete das Schauspiel ein paar Sekunden erheitert.

Dann stand er auf und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren beide Männer mitten in der Bewegung erstarrt. Luciano grinste zufrieden. Er amüsierte sich über ein paar Kinder, die den regungslosen Mr. Bürstenschnitt verwundert ansahen, ihn schließlich anstupsten und lachten, als er nicht reagierte. In einigen Sekunden war dieser Spaß vorbei, und Luciano hoffte für die Kinder, dass sie schnell rennen konnten.

Er schlenderte zu Layla hinüber und wartete, bis sie den Kopf hob und ihn ansah. Eine Mischung aus Verwirrung und Verunsicherung flackerte in ihren grünen Augen auf. Aha. Sie hatte vielleicht mehr wahrgenommen, als er vermutete. Das würde interessant werden.

Luciano lächelte strahlend, wies auf den Stuhl Layla gegenüber und fragte: „Darf ich?“

Laylas Mund öffnete sich halb, als wollte sie etwas sagen. Doch es kam kein Wort über ihre Lippen. Sie starrte ihn an, und Luciano sah, wie sich ihre Kehle bewegte, als sie schluckte. Dann senkte sie den Blick, nickte kurz und begann, die Schachfiguren in die Ausgangsposition zurückzustellen.

„Ich bin übrigens Luciano.“

Ohne den Kopf zu heben oder ihre Tätigkeit zu unterbrechen murmelte sie: „Layla.“

Luciano setzte sich auf die Steinbank ihr gegenüber und verzog das Gesicht, als die Kälte durch den Jeansstoff seiner Hose drang. Wie hielten die Leute diese Temperaturen bloß aus? Um sich von seinem Unbehagen abzulenken, beobachtete er Layla. Sie hatte jetzt alle Figuren gerichtet und hielt ihm ihre geschlossenen Hände entgegen. Luciano lächelte, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Du hast eben mit Schwarz gespielt. Nimm Weiß.“ Er drehte das Schachbrett so, dass die weißen Figuren vor Layla standen.

Die junge Frau senkte die Hände nicht und schüttelte den Kopf. Eine rote Strähne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, fiel ihr ins Gesicht und bildete einen scharfen Kontrast zu ihren grünen Augen, die sie wieder auf ihn gerichtet hatte. „Du bist ein neuer Gegner. Also entscheidet der Zufall.“

Luciano spürte, wie seine Mundwinkel zuckten. Sie war korrekt und übertrieben fair. Aber wenn Luciano etwas wollte, erreichte er es auch. Er schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, lächelte er und legte die Finger auf Laylas rechte Hand. Ihre Haut war weich und kühl, und sie zuckte bei seiner Berührung zusammen. Doch sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle, drehte die Hand um und öffnete die Finger. Ein schwarzer Bauer kam zum Vorschein. Luciano griff nach der Figur, wobei er absichtlich Laylas Handfläche berührte. Dieses Mal fuhr sie nicht zusammen, dafür röteten sich ihre Wangen. Luciano lächelte, stellte seinen Bauern auf das Schachbrett und forderte Layla mit einer kurzen Geste auf, den ersten Zug zu machen.

Layla spielte konzentriert und auf hohem Niveau. Sie ließ sich durch nichts ablenken, nicht einmal durch seine Flirtversuche. Er versuchte es mit Small Talk, einer weiteren wie zufälligen Berührung ihrer Hand und intensivem Blickkontakt. Nichts wirkte. Sie antwortete einsilbig, zog ihre Hände aus seiner Reichweite und hielt den Blick auf das Schachbrett gerichtet. Verdammt. Das gestaltete sich schwieriger als erwartet.

Luciano runzelte nachdenklich die Stirn. Vor ihm saß eine Mathematikerin. Logik und Vernunft bestimmten ihr Leben. Das hatte er schnell herausgefunden. Layla war fasziniert von Algorithmen, alten Sprachen, klassischer Literatur und allem, was sonst noch ihren Verstand herausforderte. Also musste er seine Vorgehensweise ändern. Komplimente und Bemerkungen über das Wetter blendete sie aus.

Luciano streckte die Beine aus, bis seine Füße Laylas berührten. Sie zuckte zusammen und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Er grinste. Wenigstens hatte er jetzt ihre Aufmerksamkeit. „Ich bin in der Nähe von Florenz aufgewachsen. Dort habe ich das Schachspielen von meinem Großvater gelernt. Er stellte hausgemachten Ziegenkäse her, hatte seine eigene Herde. Niemand hätte ihm zugetraut, eine Koryphäe im Schachspielen zu sein. Aber ich habe ihn erst mit zwanzig das erste Mal besiegt.“

Nicht ein Wort davon war wahr, aber Luciano stellte zufrieden fest, dass er sein Ziel erreicht hatte. Layla hob den Blick länger als zwei Sekunden vom Schachbrett, sah ihn an und hob die Brauen. Dann sagte sie kühl: „Ich höre keinen italienischen Akzent bei dir.“

Daran hatte er nicht gedacht, weil keine andere Frau ihn darauf angesprochen hätte. Sobald eine Frau ihm in die Augen sah, konnte sie kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Warum war Layla so anders? Ihre Reaktion brachte Luciano ein paar Sekunden aus dem Konzept, was ihm sonst nie passierte. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff und lächelte sie an.

„Ich lebe seit meinem zwölften Lebensjahr in den USA und bin sehr sprachbegabt. Schön, dass man keinen Akzent mehr hört.“ Er schenkte ihr sein verführerischstes Lächeln, beugte sich vor und sah ihr tief in die Augen. In der Iris mischten sich drei verschiedene Grüntöne. So wie sie stellte er sich eine Nixe vor, die auf einem Felsen am Wasser saß, ihr langes, rotes Haar bürstete und jeden Mann mit ihren faszinierenden Augen in den Bann schlug.

Bis sie etwas sagte und damit den Zauber brach. „Du hast doch erzählt, dass du deinen Großvater erst mit zwanzig das erste Mal beim Schach geschlagen hast. Wie geht das, wenn du da schon längst in den USA gelebt hast?“

Luciano schnaufte, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Statt ihm zu verfallen und ihn anzuschmachten, merkte sie sich jedes Wort, das er sagte und verwendete es gegen ihn. Diese Frau war tatsächlich eine Herausforderung und Luciano wusste nicht, ob ihm das wirklich gefiel. Er seufzte und sagte: „Natürlich besuche ich meine Familie in Italien ein paar Mal im Jahr. Mein Großvater ist leider inzwischen verstorben. Und sonst spielt niemand in meiner Familie Schach.“

Layla nickte und machte ihren nächsten Zug. Das lenkte Lucianos Aufmerksamkeit wieder auf das Brett. Moment mal. Verdammt. Er hatte nicht aufgepasst, sodass sie nur noch wenige Züge brauchte, um ihn zu besiegen. Das durfte er nicht zulassen. Erstens, weil er dann den Tisch verlassen musste und zweitens, weil er es hasste zu verlieren. Angespannt beugte er sich über das Brett und analysierte die Situation. Gewinnen konnte er nicht mehr. Aber ein Remis war möglich. Er verschob seinen verbliebenen Springer und fixierte wieder Layla.

Sein Zug schien sie zu überraschen. Offenbar hatte sie ihn für einen mittelmäßigen oder zumindest unkonzentrierten Spieler gehalten, was bis eben auch der Fall gewesen war. Jetzt beugte sie sich mit neu erwachtem Interesse über das Brett. Das Sonnenlicht ließ ihr Haar aufflammen und ihre helle Haut wirkte wie die eines Engels. Bei diesem Gedanken verzog Luciano das Gesicht.

Er musste Laylas Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. Einerseits, damit sie das Spiel nicht doch noch gewann. Andererseits sollte sie endlich seiner Faszination erliegen, damit er seinem Ziel näherkam. Also verband er ihr Interesse an Sprachen mit seinem Vornamen, um endlich ihre Aufmerksamkeit zu wecken. „Die meisten Amerikaner verkürzen meinen Namen übrigens zu Lucas oder Luke. Du kannst mich auch gern so nennen. Es erinnert mich immer an den Evangelisten Lucas.“ Die meisten Menschen in diesem Land waren gläubig. Daher machte das hoffentlich einen guten Eindruck.

Da hatte er sich offenbar getäuscht. Layla hob den Blick, lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: „Ich muss dich leider enttäuschen. Der Name Lucas ist keine Verkürzung deines Namens. Luciano leitet sich von Luzifer ab. Und dass der alles andere als ein Evangelist ist, weißt du ja wohl.“

Layla lachte leise und wandte sich dann wieder dem Schachbrett zu. Luciano starrte sie sprachlos an. Diese Verbindung hatte noch nie jemand gezogen. Außer ihm.

Remis. Zumindest das hatte Luciano geschafft. Allerdings war es ihm während der restlichen Partie nicht mehr gelungen, Layla in ein Gespräch zu verwickeln. Sie erschien ihm hart wie ein Diamant, und Luciano fand keine Stelle, an der er den Meißel ansetzen könnte. Frustriert beobachtete er Layla, die ihre Schachfiguren in eine Holzschatulle packte, diese im Rucksack verstaute und dann nach ihrer Strickjacke griff. Sie warf ihm einen Blick zu und sagte: „Ich muss los. Ciao.“ Bei dem letzten Wort lächelte sie und ging auf ihr Fahrrad zu.

Luciano sprang auf. Er durfte sie nicht einfach gehen lassen. Bisher war er bei ihr keinen Zentimeter vorangekommen. Und die Zeit lief ihm davon. Mit ein paar langen Schritten war er bei ihr und sah auf sie hinunter. Erst jetzt fiel ihm auf, wie klein sie war. Irgendwo tief in seinem Inneren flackerte ein Fünkchen Schuldbewusstsein auf. Sie war keine echte Gegenspielerin für ihn. Klein, zart, unschuldig und völlig verrannt in ihre Wissenschaftshörigkeit – was sollte aus ihr werden, wenn er mit ihr fertig war?

Schnell schüttelte Luciano diesen Gedanken ab. Er hielt sich vor Augen, wie sie sich in ihren Wortgefechten geschlagen hatte. Das machte deutlich, dass sie keinesfalls wehrlos war.

Laylas helle Brauen hoben sich. Sie hatte den Rucksack in den Korb auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads gelegt und stand nun startbereit mit den Händen am Lenker vor ihm. Und er hatte sie in den letzten Sekunden nur wie ein stummer Trottel angestarrt, statt etwas zu unternehmen. Luciano räusperte sich, setzte sein schönstes Lächeln auf und sah ihr tief in die Augen. Gleichzeitig berührte er sanft ihre Hand und spürte, wie sie zusammenzuckte. Aber zumindest wandte sie den Blick nicht ab, sodass er eine Verbindung aufbauen konnte. Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, fragte er leise: „Würdest du mit mir einen Kaffee trinken gehen? Ich möchte gern mehr über dich erfahren.“

Sie öffnete den Mund, zögerte und schloss ihn wieder. Gut so, denn er wusste, dass sie seine Einladung hatte ausschlagen wollen. Stattdessen war sie jetzt gefangen von seinem dunklen Blick, konnte sich nicht abwenden. Endlich setzte auch bei ihr die Wirkung ein, die er auf alle Frauen hatte. Verspätet und nicht so stark, wie er es gewohnt war, doch es war ein Anfang. Laylas Kehle bewegte sich, als sie schwer schluckte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Dann atmete sie tief durch und murmelte: „Ich … ich weiß nicht. Zu Hause wartet Arbeit auf mich.“

Luciano lächelte bittend und neigte den Kopf. Dabei fiel ihm eine schwarze Locke in die Stirn. Viele Frauen hatte das schon zum Seufzen – und in sein Bett – gebracht. „Nur für ein Stündchen? So lange kann die Arbeit bestimmt warten.“

Layla zögerte. War er aus der Übung? Oder hatte er aus einem anderen Grund seine Wirkung auf Frauen verloren? Lag es an der Zeit? War er nicht angemessen gekleidet oder frisiert?

Jetzt lächelte Layla unsicher und sagte: „Also gut. Aber wirklich nicht länger als eine Stunde. An diesem Ende des Parks gibt es ein Café, das zu keiner Kette gehört. Daher haben sie dort noch Kaffee, der weder verbrannt noch überteuert ist. Ist das okay?“

Luciano nickte und ging neben Layla her, die ihr Fahrrad schob. Er vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen fing sie nicht von selbst an, etwas über sich zu erzählen. Ihr Blick war nach vorn, statt auf ihn, gerichtet. Sie schien das sonnige Wetter zu genießen und ihn fast vergessen zu haben. Dann musste er wohl den ersten Schritt machen. Luciano knurrte. Er war es nicht gewohnt, sich so anstrengen zu müssen.

„Warum musst du an einem Samstag arbeiten?“

Layla wandte ihm den Kopf zu und blinzelte zu ihm hoch. „Oh, ich muss nicht. Ich will. Das ist mir meine Karriere wert.“

Ihrem fröhlichen Ton nach zu urteilen, sah Layla es nicht als Opfer, ihre Freizeit mit Arbeit zu verbringen. Das konnte Luciano nicht nachvollziehen. Seiner Meinung nach war das Leben zum Genießen da, nicht zum ständigen Schuften. Hatte Layla noch genug Zeit für Spaß? Das würde er herausfinden. „Was sagt dein Freund dazu, dass du am Wochenende arbeitest?“

Layla lachte und schüttelte den Kopf. Dann bedachte sie ihn mit einem spöttischen Blick. „Das war aber sehr subtil.“ Sie verdrehte die Augen. „Aber gut, ich tue dir den Gefallen. Glaubst du wirklich, dass ich mit dir ins Café gehen würde, wenn ich nicht Single wäre? Männer neigen zu Wut und Eifersucht, wenn ihre Freundin einfach so mit einem Fremden einen Kaffee trinken geht.“

Luciano lächelte. Sie hatte ihm bestätigt, was er längst vermutet hatte. Das machte seine Aufgabe einfacher. „Sprichst du aus Erfahrung?“

Layla schüttelte den Kopf. „Nein, zum Glück nicht. Aber ich habe zwei sehr hübsche Schwestern, die sich schon öfter mit dem Problem herumgeplagt haben.“

Irritiert fragte sich Luciano, ob Layla sich selbst nicht für hübsch hielt. Bei ihrem Verstand wäre das ein merkwürdiger Trugschluss ihrerseits. Aber Frauen waren oft rätselhaft. Kurz zog Luciano in Erwägung, sie danach zu fragen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach bekäme er keine Antwort und sie wäre gekränkt, wenn sie ihn missverstand und glaubte, dass er sie nicht attraktiv fand. „Verzichtest du deswegen auf einen Mann? Weil er zu viele Probleme verursachen würde?“

Layla runzelte nachdenklich die Stirn und schob ihr Rad in einen Fahrradständer vor dem Café, das A Paris hieß. Sie nahm ihren Rucksack und ging auf den Eingang zu. „Nein. Ich denke, dass eine Frau einem Mann ebenso viele Probleme macht, wenn man es denn so nennen will. Aber in einer guten Beziehung überwiegen die glücklichen Momente. Ich habe zurzeit einfach kein Verlangen nach einem Partner, weil ich mich zu sehr auf meinen Beruf konzentriere.“

Luciano beeilte sich, um vor ihr beim Eingang zu sein und ihr die Tür aufzuhalten. Dabei musste er sie fast zur Seite drängen. Ihrem überraschten Blick nach zu urteilen, hatte sie nicht mit dieser Aufmerksamkeit gerechnet. Sie lächelte unsicher und betrat das Café.

Stirnrunzelnd folgte Luciano ihr. War es heute nicht mehr üblich, sich wie ein Gentleman zu verhalten? Oder war nur Layla diese Zuvorkommenheit nicht gewohnt? Er folgte ihr zur Kuchentheke und hörte, wie sie einen schwarzen Kaffee und eine Zitronenschnitte bestellte. Gleichzeitig kramte sie in ihrem Rucksack und brachte ihr Portemonnaie zum Vorschein.

Das ging nun wirklich zu weit. Mit zwei langen Schritten war er neben Layla, drückte sanft ihre Hand herunter und sagte mit Blick auf die Servicekraft: „Ich zahle. Für mich einen Cappuccino und ein Stück Käsekuchen, bitte.“ Schon bei dem Gedanken an das Gebäck lief Luciano das Wasser im Mund zusammen. Ungeduldig beobachtete er, wie die Frau hinter dem Tresen die Kuchenstücke auf Teller legte und sich dann um ihre Getränke kümmerte.

Layla lenkte ihn von seiner Vorfreude ab, als sie kühl sagte: „Ich möchte selbst zahlen.“

Luciano wandte den Blick von der Kuchentheke ab und ihr zu. Über Laylas Nase hatte sich eine kleine Unmutsfalte gebildet, ihre Lippen waren aufeinandergepresst. Worüber ärgerte sie sich? Es ging doch nur um einen geringen Geldbetrag. Und es wäre schlechtes Benehmen, nicht für ihren Kaffee zu zahlen. „Ich habe dich eingeladen. Da gehört es sich, dass ich für uns beide bezahle.“ Bevor Layla ihm zuvorkommen konnte, reichte er der Kassiererin einen Geldschein.

Als er sich Layla wieder zuwandte, hatte sich die Zornesfalte über ihrer Nase vertieft, und sie sah ihn düster an. „Okay. Das nächste Mal zahle aber ich.“

Sie nahm Tasse und Teller und ging auf einen Zweiertisch am Fenster zu. Luciano folgte ihr und sagte zufrieden: „Es wird also ein nächstes Mal geben? Das freut mich.“

Layla riss den Kopf hoch, und für eine Sekunde sah er Wut in ihren Augen aufblitzen. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle, setzte sich und zog ihren Teller zu sich heran. Während Luciano ebenfalls Platz nahm, erklärte sie kühl: „Ich gebe dir auf dem Rückweg ein Softeis aus. Dann sind wir quitt.“

Luciano ließ den Löffel, mit dem er sich gerade Zucker in den Cappuccino häufen wollte, sinken und starrte sie an. Sie zuckte mit keiner Wimper, daher platzte er heraus: „Das meinst du wirklich ernst? Warum siehst du das so verbissen? Es ist doch nur ein Stück Kuchen.“

Layla schob trotzig das Kinn vor und schabte mit der Gabel über ihre Zitronenschnitte. Dabei gönnte sie ihm keinen Blick, sondern sagte, ohne den Kopf zu heben: „Ich will niemandem etwas schulden.“

Luciano legte mit einem Klirren den Löffel weg, doch Layla starrte weiterhin stur auf ihren Kuchen. Was hatte er sich mit dieser Frau bloß eingehandelt? Er seufzte unterdrückt. „Du schuldest mir nichts, nur weil ich dich zu einem Kaffee einlade. Ich erwarte keine Gegenleistung, außer einer interessanten Unterhaltung. Stell dir vor, ich wäre eine Freundin oder deine Schwester.“

Jetzt hob Layla endlich den Kopf und sah ihn überrascht an. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge plötzlich, und sie prustete los. Ihr Lachen war so authentisch und ansteckend, dass Luciano unwillkürlich breit grinste, obwohl er gar nicht wusste, was sie so amüsant fand. Schließlich fragte er: „Verrätst du mir, was so lustig ist?“

Er beobachtete fasziniert, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Sie rutschte verlegen auf dem Stuhl herum. „Äh … die Vorstellung, dass du meine Schwester wärst. Sie ist seit Jahren ein begeisterter Grufti und würde dich um dein schwarzes Haar und die dunklen Augen beneiden.“

Layla senkte schüchtern den Kopf, kicherte eine Sekunde später aber schon wieder. Luciano schüttelte lächelnd den Kopf. Für eine Mathematikerin hatte sie viel Fantasie. Er probierte den ersten Bissen Käsekuchen und seufzte genüsslich. Als er jedoch sah, was Layla mit ihrer Gabel anstellte, hörte er zu kauen auf und brauchte ein paar Sekunden, um zu schlucken. Dann fragte er: „Warum massakrierst du deinen Kuchen?“

Layla schabte weiterhin konzentriert die oberste Schicht des Gebäcks ab. „Ich entferne den Zuckerüberzug. Der ist mir zu süß.“

Laylas Kuchenstück sah inzwischen aus, als hätte es nur mit knapper Not einen Hurrikan überlebt. Der Zuckerüberzug lag in Klumpen am Tellerrand, die hellgelbe Zitronencreme war dadurch zum Vorschein gekommen. Layla probierte ein Häppchen davon und schloss verzückt die Augen. Unwillkürlich stellte Luciano sich vor, dass sie das tat, weil er sie küsste. Woher kam das denn? Er hatte noch nie derartige Tagträume gehabt.

Um sich von seiner Verwirrung abzulenken, fragte er: „Wieso bestellst du Kuchen, wenn er dir zu süß ist?“

Layla warf ihm einen Blick zu, lächelte verschämt und grub die Gabel ein weiteres Mal in die Zitronencreme. „Ich mag den säuerlichen Geschmack dieser Creme. Aber auf die Zuckerschicht und den Tortenboden könnte ich verzichten.“

Luciano runzelte die Stirn und rührte noch mehr Zucker in seinen Cappuccino. Er konnte nicht nachvollziehen, dass jemand Kuchen und Kaffee mit Zucker als zu süß empfand. Denn er bekam davon nicht genug. Vorsichtig probierte er einen Schluck Cappuccino und nickte zufrieden. Während er seinen ersten Käsekuchen seit Ewigkeiten genoss, beobachtete er Layla amüsiert. Sie war eine Mischung aus Perfektionistin und Exzentrikerin. Nachdem sie zwei Bissen Zitronencreme gegessen hatte, betrachtete sie den Kuchen kritisch und schabte Reste des Zuckerüberzugs herunter. Erst dann nahm sie den nächsten Bissen.

Außerdem achtete sie gewissenhaft darauf, nicht einen Krümel vom Tortenboden auf die Gabel zu bekommen. Das war in Lucianos Augen Frevel. Er hätte nie die Quarkfüllung von seinem Käsekuchen gepickt und den Rest verschmäht. Stirnrunzelnd fragte er: „Wieso bestellst du keinen Zitronenpudding, wenn du den Boden und den Zuckerüberzug nicht magst?“

Layla betupfte sich die Lippen mit der Serviette, bevor sie antwortete: „Weil es hier keinen Pudding gibt.“

„Aha.“ Luciano grinste. Die Diskussionen mit ihr gefielen ihm. „Warum bestellst du überhaupt Kuchen? Das Preis-Leistungsverhältnis stimmt doch nicht mehr, wenn du nur ein Drittel davon isst. Stört dich das als Mathematikerin nicht?“

Layla erstarrte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, und ihr Blick durchbohrte ihn.

Laylas Stimme grollte wie die einer Dämonin, als sie fragte: „Woher weißt du, dass ich Mathematikerin bin?“

Verflucht nochmal. Natürlich konnte er das ihrem Kenntnisstand nach nicht wissen. Was jetzt? Luciano setzte sein schönstes Lächeln auf, was keinerlei Effekt auf Layla hatte. Sie schien eher noch wütender zu werden. „Äh, ich habe geraten. Du bist eine hervorragende Schachspielerin und argumentierst immer logisch. Da habe ich mir das zusammengereimt. Ich hätte auch Naturwissenschaftlerin sagen können.“ Wieso hatte er das nicht getan? Dann wäre sie jetzt nicht so misstrauisch.

Layla legte die Gabel weg und schob ihren Teller von sich. Offensichtlich war ihr der Appetit vergangen. „Das ist doch Blödsinn. Niemand kann von ein paar kurzen Dialogen auf den Beruf eines Menschen schließen. Woher weißt du das? Stalkst du mich etwa?“ Layla hatte sich in Rage geredet und war dabei immer lauter geworden. Die Servicekraft hinter dem Tresen und zwei alte Damen ein paar Tische weiter sahen neugierig in ihre Richtung.

Rasch beugte sich Luciano vor, sodass er Layla so nah wie möglich war und besonders intensiven Blickkontakt mit ihr aufnehmen konnte. Sie wich nicht zurück, sondern funkelte ihn zornig an. Lucianos Herzschlag beschleunigte sich. Dann konzentrierte er sich wieder auf sein Ziel: Layla beruhigen. „Tut mir leid. Ich habe dich heute im Park zum ersten Mal in meinem Leben gesehen. Und das mit der Mathematikerin war wirklich ein Schuss ins Blaue. Es schien mir so gut zu dir zu passen.“