Plazenta, -18° - Karlotta Jung - E-Book

Plazenta, -18° E-Book

Karlotta Jung

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Beschreibung

Sarah leidet seit ihrer Jugend an wiederkehrenden Depressionen, mit denen sie mehr schlecht als recht zu leben gelernt hat. Daher wird sie von Panikattacken überwältigt, als sie erfährt, dass sie schwanger ist: Ist sie der Mutterschaft überhaupt gewachsen? Und wird sie fähig sein, ihr Kind zu lieben – obwohl sie selbst diese Liebe nie gespürt hat? Trotz ihrer Befürchtungen gelingt es Sarah schließlich, ihre Schwangerschaft zu genießen, denn es erleichtert sie, dass ihr Körper genau zu wissen scheint, was er zu tun hat – trotz ihres "kranken Hirnes". Durch diese Erfahrung fühlt sich Sarah zum ersten Mal in ihrem Leben "ganz". Die Entbindung ihres Sohnes wird jedoch zu einer traumatisierenden Erfahrung, und auch das Stillen will nicht funktionieren. Da Sarahs zunehmende Zweifel an ihrer Eignung als Mutter einen neuen Depressionsschub provozieren, kommt es schließlich zur Katastrophe...

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Imprint Plazenta, -18° Karlotta Jung published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

I.

Er ist grün. Ein altes, verbeultes Ungetüm von der Größe eines Einfamilienhauses. Sein Lack ist schäbig und an vielen Stellen abgeplatzt, von unzähligen braunschwarzen Rostflecken durchsetzt. Er ist laut, so ohrenbetäubend laut brüllt und tobt er mit wütender Kraft vor sich hin, dass einem der Atem stockt. Und er walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Mit seinen riesigen, meterhohen Rädern hinterlässt er tiefe Furchen, kratertiefe Spuren auf jedem Untergrund. Er ist rücksichtslos, wahllos, ziellos in seiner Zerstörungswut. Und ich weiß nicht, warum er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat.

Jeden Morgen erwache ich mit stets dem gleichen Gefühl: Ich gehöre mir nicht mehr. Ich gehöre dem Traktor, der jede Nacht zu mir kommt, von dem ich jede verdammte Nacht träume. Ich liege auf der bloßen Erde, einem armseligen, vertrockneten Stück Acker irgendwo am Ende der Welt, und spüre, wie mich seine schweren Räder immer tiefer hinab drücken. Meine Knochen zerbersten, mein Kopf wird zermalmt, meine Haut flach gewalzt wie ein Stück Papier. Ich werde zu Lehm, löse mich auf. Ich versuche zu schreien, doch mein Mund ist voller Steine. Vielleicht sind es auch meine Zähne. Ich spüre nur Schmerzen. Brennende, schneidende, bohrende Schmerzen, die sich in meinem Körper ausbreiten wie ein Feuersturm. Und die nach dem Aufwachen immer noch da sind, in jedem Knochen, in jeder Zelle, jeden verfluchten Morgen. Jan schläft schon seit mehreren Monaten nicht mehr neben mir. Ich ertrage es nicht, ihn morgens aufwachen zu sehen, ausgeschlafen und voller Energie für den bevorstehenden Tag. Ich brauche eine halbe Stunde, um nacheinander beide Augen zu öffnen und an meinem Körper Stellen zu orten, die nicht schmerzen. Davon gibt es nicht viele. Ich betrachte die Tapete an der Wand und versuche, in ihrem Muster einen Sinn zu erkennen, eine Erklärung für das, was mit mir passiert. Dann schäle ich mich langsam unter meiner Decke hervor und krieche ins Bad. Schaue in mein fahles Gesicht mit den zerstörten Augen. Lasse heißes Wasser über meine Haut laufen, stundenlang. Suche die Abdrücke des Reifenprofils auf meinen Armen, Beinen, Brüsten. Doch da sind keine. Nur die Kissen und Decken haben mir tiefe Furchen ins Gesicht gegraben, die sehr langsam verblassen. Jan frühstückt bereits, wenn ich danach in die Küche geschlichen komme. Vor ihm stehen ein Teller mit den Resten seines Wurstbrotes und eine Tasse Kaffee mit zwei gestrichenen Teelöffeln Zucker und einem kleinen Schuss Milch. Er ist ein Gewohnheitsmensch, steht jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit auf, auch wenn er keinen Termin hat, zieht sich dann seine Hose an und frische Socken, schlurft in die Küche und setzt den Teekessel auf. In der Zeit, die das Wasser zum Kochen braucht, schmiert er sich sein Brot und setzt sich an den Tisch. Wenn er das Brot zur Hälfte gegessen hat, bereitet er sich seinen Kaffee zu. Trinkt ihn dann in kleinen Schlucken, bei denen er die Mundwinkel leicht hochzieht, weil die heiße Flüssigkeit seinen empfindlichen Zähnen schmerzt. Früher habe ich es geliebt, ihm bei diesen morgendlichen Verrichtungen zuzusehen, ihm ist auch heute noch anzumerken, wie intensiv ihn seine Eltern zu Zuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl erzogen haben, und auch wenn er ihre Lebensweise verabscheut, ihr Reihenhaus, das samstägliche Rasenmähen, der immer gleiche Ferienort, ist sie ihm eingeprägt, wie eine tief in die Haut implantierte Tätowierung. Ich mochte seine Mischung aus Schrulligkeit und Verlässlichkeit von Anfang an, sie amüsierte mich zwar und ließ mich immer neue zärtliche Sticheleien erfinden, aber flößte mir gleichzeitig grenzenlose Sicherheit ein. Heute frage ich mich, ob seine Erziehung auch erklären kann, dass er immer noch hier in unserer Küche sitzt, warum er nicht schon längst verschwunden ist. Schließlich kauert ihm gegenüber ein stummer Haufen alter Knochen, der sich nur in die Küche geschleppt hat, um einen letzten Rest von Normalität aufrecht zu erhalten. Ich sehe Jan an, dass er mich nicht versteht. Nicht meine Müdigkeit, nicht meine Erschöpfung, nicht meine Schmerzen. Nicht die Leere, die Dumpfheit in mir. Und dann wieder die unendliche Genervtheit über eine Winzigkeit. Seine dunklen, forschenden Augen betrachten mich mit äußerster Vorsicht über den Küchentisch hinweg, als sei ich ein totes, zerquetschtes Insekt unter dem Mikroskop, sie versuchen zu orten, welche Stimmung bei mir gerade vorherrschend ist. Dabei ist es jeden Morgen die gleiche, nur manchmal habe ich mich ein bisschen besser unter Kontrolle. Ich spreche wenig, nur das Allernötigste, und den Rest der Zeit versuche ich, meine Knochen in die anatomisch vorgesehene Position zu bringen. Oder ich starre vor mich auf die Tischplatte, um nicht Jans verlegenes und aufmunternd gemeintes Lächeln sehen zu müssen. Das ich nicht ertragen kann, denn es sorgt dafür, dass meine innere Lähmung noch größer wird, weil ich diesem Lächeln nichts entgegen zu setzen habe. Es höhlt mich von innen aus, dieses Lächeln. Jan nimmt seine Tasche und drückt mir einen zaghaften Kuss auf die Wange. Dann geht er und lässt mich zurück. Ich lege mich wieder auf mein Bett. Langsam, weil mir jede Bewegung Schmerzen verursacht. Ich denke an Jan. Jetzt geht er die Treppe hinunter, jetzt öffnet er die Haustür, jetzt geht er die Straße hinunter bis zur Ecke, sieht erst nach links, dann nach rechts, dann noch einmal nach links, seine zutiefst gewissenhaften Eltern waren auch Meister der Verkehrserziehung. Jetzt geht er über die Kreuzung, jetzt geht er zu Faruks Kiosk, kauft sich ein Croissant für später, jetzt geht er weiter, jetzt kommt er bei seinem Büro an. Es ist nicht weit entfernt, er hat sich einen Schreibtisch in einer Bürogemeinschaft für selbständige Randexistenzen gemietet, um seine Projekte durchzuführen, weil er der Meinung ist, dass wir nicht beide gleichzeitig zuhause arbeiten können. Wahrscheinlich hat er grundsätzlich Recht. Ich bin mir gerade aber nicht einmal sicher, ob er zuhause bleiben würde, wenn er wüsste, dass ich gar nicht mehr arbeite. Ich weiß nicht, was dieses Mal der Auslöser dafür gewesen ist. Ich kenne diese Zustände bereits, ich kenne sie seit meiner Jugend, aber kein einziges Mal war es so schlimm wie jetzt. Bisher hat es geholfen, sich einfach ein paar Tage tot zu stellen, viel zu schlafen und sich auszuruhen, zu vergessen. Diesmal ist es anders. Ich zermartere mir jeden Tag das Hirn, was ich übersehen haben könnte, in meinem Kopf läuft ein endloses Tonband, das immer wieder die gleichen Fragen stellt, alle möglichen Gedanken taumeln in meinem Kopf hin und her. Doch ich komme auf keine Lösung. Fast jeden Vormittag ruft meine Mutter an. Ich habe ihr irgendetwas von Rückenschmerzen erzählt, als sie mich eines Tages wie eine alte Frau durch die Gegend wanken sah. Doch sie kennt mich, sie weiß genau, wann ich lüge. Dennoch spielt sie das Spiel mit, ruft wieder und wieder an und erkundigt sich nach meinem Befinden, gibt mir Tipps, welche Hausmittel ich ausprobieren solle, Bäder, Sauna, Franzbranntwein, ihre Schwester habe gesagt, dass auch Fußreflexzonenmassage in solchen Fällen außerordentlich hilfreich sei. Ich murmele meine Zustimmung und tue doch nichts davon. Du arbeitest zu viel, sagt sie, du musst dich auch mal ausruhen, fahr doch einfach mal ein paar Tage alleine weg. Ich sage ihr nicht, dass schon die Vorstellung, in einen Zug steigen zu müssen, zu viel für mich ist. Und schaff dir endlich einen neuen Stuhl an, mahnt sie, ich sag dir schon lange, dass man auf deinem nicht lange sitzen kann, ich mache mir solche Sorgen um dich, was kann das nur sein mit deinem Rücken, ich liege jede Nacht wach und denke darüber nach, was es sein könnte, was sagt denn der Arzt? Sie hat sich vor längerer Zeit angewöhnt, jede meiner Krankheiten zu ihrer zu machen, so dass ich nicht nur unter meinen Symptomen leide, sondern auch unter den Schuldgefühlen, und jede ihrer Zuwendungen packt eine zusätzliche Last auf meine Schultern. Jetzt erwidere ich, dass ich noch nicht dort war, ich hoffe immer noch, dass das nicht nötig sein wird. Aber vielleicht solltest du doch mal hingehen, raunt meine Mutter, vielleicht hat es auch mit Jan zu tun, ist zwischen euch alles in Ordnung, flüstert sie. Hör auf damit, stöhne ich, zwischen uns ist alles gut, ich spreche mit meiner Mutter nicht mehr über meine Beziehungen, seit sie es geschafft hat, meine letzte vollständig zu vergiften, mit ihrem ständigen Raunen hat sie solange Zweifel in mir gesät, dass ich die Beziehung beendet habe. Zumindest in dieser Hinsicht bin ich heute weiter als früher. Warum gehst du nur immer ans Telefon, wenn sie anruft, hat mich Jan lange Zeit gefragt. Wahrscheinlich, weil es kein Entrinnen vor ihr gibt. Wenn ich den Anruf gleich beantworte, lässt sie mich danach für den Rest des Tages vielleicht in Ruhe. Wenn ich es nicht tue, kann es passieren, dass mein Festnetztelefon und mein Handy gleichzeitig klingeln, sie bohrt solange nach, bis ich preisgegeben habe, was mit mir los ist. Sie ist wie ein Splitter, den man sich ins Fleisch gerammt hat, zuerst versucht man, ihn zu ziehen, doch er sitzt so tief drin, dass man nicht richtig drankommt, so sehr man auch mit der Nadel herumbohrt. Schließlich hofft man, dass Haut darüber wachsen wird und man damit leben kann, aber immer wieder fängt die Stelle an zu pochen. Als ich während meines Studiums einige Semester in einer anderen Stadt absolvierte und eines Samstags aus verschiedenen Gründen keine Lust hatte, ans Telefon zu gehen, stand meine Mutter am nächsten Morgen vor meiner Tür. Sie hatte sich sofort in den Zug gesetzt und war zu mir gefahren, obwohl die Reise zehn Stunden dauerte. Es gibt kein Entkommen. Das hat Jan seltsamerweise noch nicht verstanden, obwohl wir uns schon so lange kennen. Früher waren wir beide ein ganz normales Pärchen. Wir lernten uns mit Mitte Zwanzig bei einem seltsamen Praktikum kennen, einem mehrtägigen Kurzfilmdreh im Schlosspark eines kleinen ostdeutschen Kaffs kurze Zeit nach der Wende. Während Jan als Fahrer arbeitete, war ich „Mädchen für alles“. In dieser Funktion kroch ich jeden Morgen über die Schlosswiese und fing Wespen, die in dem Film eine tragende Rolle spielten. Mit einem Einmachglas bewaffnet lockte ich sie mit Obststückchen und genoss den Triumph, den Schraubdeckel über ihnen zuzudrehen. Damals glaubte ich noch, solche Aktionen würden mich irgendwohin bringen. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Landschulheim, einem Plattenbau mit metallenen, viel zu kurzen Doppelstockbetten, über dessen Hof sich jeden Abend rechtsradikale Musik erbrach. Das Klischee reizte uns zum Lachen und schweißte uns zusammen. Nach dem Praktikum und zurück in Berlin zogen wir zusammen durch die Nächte, lachten über unser gemeinsames Abenteuer in der ostdeutschen Provinz und hofften auf weitere. Wir liebten das Unerwartete, das damals die Stadt beherrschte, das Unfertige. Überall illegale Bars in Ruinen und Kellern, lächerliche Alkoholpreise, spontane Aktionen. Wir suchten das Ungewöhnliche, ließen uns gerne gemeinsam treiben, hierhin und dorthin, ohne festes Ziel. Wir verbrachten die Zeit bis zum Morgengrauen in zufällig entdeckten Cafés, lästerten über die Gäste und Passanten, ergötzten uns an unserer eigenen Überheblichkeit. Und tanzten bis zur Bewusstlosigkeit in neuen Clubs, besuchten provisorische Galerien, diskutierten unsere Zukunft und unsere Erwartungen. Alles schien uns möglich. Wir studierten, bekamen unsere Zeugnisse. Wir machten weiterhin unzählige Praktika, bekamen schließlich unsere ersten Stellen, natürlich befristet. Wir arbeiteten uns trotzdem langsam nach vorne. Jan betreute wechselnde IT-Projekte, ich Drehbücher fürs Fernsehen. Wir hatten das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Unser Alltag wurde geregelter, aber wir liefen immer noch am Wochenende gemeinsam durch die Stadt. Die illegalen Bars existierten nicht mehr, auch nicht die provisorischen Galerien. Der Osten wurde jetzt vom Westen bewohnt, doch auch darin fanden wir noch das Absurde. Wir wussten immer noch, welche Filme im Kino liefen, und welche Ausstellung man gesehen haben sollte. Auch wenn beides nun Eintritt kostet. Wir zogen abends immer noch um die Häuser. Auch wenn wir inzwischen früher müde wurden und nicht mehr die letzten waren. Oder die ersten, die morgens den Joggern entgegen taumelten. Irgendwann spürten wir, dass auch wir älter wurden und nicht länger unsterblich waren. Schließlich zogen wir zusammen. In einen Altbau mit zwei Balkonen, abbröckelndem Stuck und maroden Elektroleitungen in einem der inzwischen heruntergekommenen Westbezirke. Eine Wohnung, wie sie jeder von unseren Freunden gerne hätte, weil sie einem ganz bestimmten Bild entspricht. Das man gerne von sich haben möchte. Wir wurden ein Paar, das zusammen wohnt. Das sich nicht mehr verabreden muss, um sich zu sehen. Das die Nähe genießt, die sich dadurch ergibt. Und manchmal flucht, weil es kein Alleinsein mehr gibt. Weil lieb gewonnene und hart erarbeitete Rituale sich plötzlich abgenutzt anfühlen, weil sie nun immer möglich sind. Als Paar, das zusammen wohnt, freut man sich irgendwann nicht mehr mit derselben Innigkeit über den anderen, weil man sich sowieso jeden Tag sieht. Das ist alles normal und vorhersehbar, dennoch hatten wir geglaubt, dass wir dieser Regel entgehen würden. Falsch gedacht. Schon der bloße Gedanke an eine körperliche Berührung verursacht mir gerade Schmerzen, als sei meine Haut offen und gebe darunter schimmerndes Fleisch frei. Wir haben uns deshalb schon längere Zeit nicht mehr berührt geschweige denn miteinander geschlafen. Aber ich kann mich noch an unser letztes Mal vor einigen Monaten erinnern. Es war Sonntag, der letzte Sex war einige Wochen her, und dieser Gedanke trieb mich in seine Arme. Früher waren es andere Gedanken – oder, besser gesagt, überhaupt keine. Wir küssten uns ein wenig, unsere Finger beschritten die bekannten Pfade, die wohl recht ausgetreten wirkten, würde man sie kartografieren. Es existierten einmal auch andere Wege, doch wir gehen sie inzwischen nicht mehr, ob aus Bequemlichkeit oder aus Angst, vermag ich nicht zu sagen. Seine Haut war kühl und trocken, und während ich mit den Fingerkuppen über seinen Körper fuhr, bemerkte ich, dass sich auf dem Kopfkissen eingetrocknete Flecken befanden. Ich versuchte, woanders hinzusehen, hinauf zu seinem Gesicht, doch aus meiner Perspektive wirkten seine Züge seltsam verzerrt, seine rechte Wange hing ein bisschen herab, und ich fragte mich, ob sie das im letzten Jahr auch schon getan habe. Und im Jahr davor? Ich zwang mich, mich wieder zu konzentrieren, Nachdruck in meine Hand zu geben, Variabilität, Mitgefühl. Doch es nützte nichts, ich erkenne seine Haut nicht mehr, früher war sie wie ein Buch, das ich oft gelesen habe, wie ein Spiel, dessen Regeln ich kenne, heute spricht sie nicht mehr zu mir. Sein Gesicht gab nicht preis, ob er den Unterschied bemerkte, aber ich fragte mich: Liegt es an mir? Oder an ihm? Schließlich setzte ich mich auf ihn. Ich war noch nicht feucht genug, schob ihn mir aber trotzdem zwischen die Beine. Es dauerte ja auch nicht lange. Dann rollte ich mich neben ihn, wir lagen noch eine Anstandsviertelstunde nebeneinander, die Augen fest geschlossen. Wurden schließlich vom Telefon erlöst, Jan stürzte mit einer nachlässig gemurmelten Entschuldigung hinaus. Es ist sicher nicht so, dass wir uns nicht mehr lieben. Aber wir kommen nicht einmal mehr ins Schwitzen, wenn wir miteinander schlafen, es ist wie ein Glas Milch, das man ab und zu trinkt, weil irgendjemand mal gesagt hat, dass das Calcium gut für die Knochen sei. Trotzdem haben wir natürlich über Kinder gesprochen. Klammheimlich haben die meisten unserer Freunde inzwischen welche bekommen. Am Anfang lästerten wir noch, wenn wir von irgendwelchen Treffen kamen, auf denen frischgebackene Eltern von den neuen Fähigkeiten ihrer Sprösslinge schwärmten, wir standen sprachlos daneben, als eine Freundin von ihrem Zweijährigen erzählte, der auf dem Spielplatz zwei kopulierende Käfer beobachtet und daraufhin gemeint hatte, die beiden spielten „Anhänger“. Alle lachten lauthals und schienen die Pointe zu verstehen – nur wir nicht. Doch irgendwann wurden wir nachdenklich. Und je älter wir wurden, desto stärker wurde auch bei uns der Wunsch nach einem Kind. Ist das biologisch? Haben wir alle einen unsichtbaren Schalter eingebaut, der zu einem genetisch festgelegten Zeitpunkt plötzlich umspringt und diesen Wunsch gebärt? Oder ist es das Leben, das seine Spuren hinterlässt und einem einflüstert, es müsse doch noch etwas anderes geben als Überlebenskampf und Langeweile? Jan war sich auf jeden Fall sicher, dass er Nachwuchs wollte. Mit mir. Ich war mir das eigentlich auch. Aber zur gleichen Zeit wuchs irgendwo in mir ein Geschwür heran, dunkelrot und schimmernd. Es blähte sich auf wie ein riesiges Furunkel, und wenn ich manchmal nachts wach lag, flüsterte es mir sogar hässliche Worte zu. Sein Name sei Zweifel. Und dieser Zweifel nagte an mir. Konnte ich wirklich eine Mutter sein? Meine Mutter sah mir sofort an, dass etwas nicht stimmte, sie spürt jede kleinste Veränderung in meiner Seismografie, immer schon. Diese Kunst wurde ihr in den Jahren meines Lebens allmählich zur Passion, sie hat sie zur Perfektion gebracht, denn auf diese Weise muss sie nicht über ihr eigenes verpfuschtes Leben nachdenken, sie kann es ganz der Erforschung ihrer Tochter widmen. Als sie mir in unserem Stammcafé gegenüber saß, trug sie wieder ihre Mädchenklamotten, die mich wie ihre ältere Schwester aussehen lassen, und betrachtete mich prüfend, was hast du denn, mein Schatz, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir, hast du dir was eingefangen, bist du etwa wieder ohne Mütze raus gegangen, ich habe dir doch gesagt, dass es jetzt kälter wird, oder ist etwas mit deinem Job, haben sie dir das Geld immer noch nicht gezahlt? Ich zögerte, und dieses kleine Abwarten meinerseits provozierte sie, wie geht es denn Jan, fragte sie scheinheilig, mit gezwungen demütig gesenktem Blick. Gut, danke, erwiderte ich mit unschuldiger Miene, aber trotz all meiner Bemühungen gab es auch diesmal kein Entkommen. Sie hat sich einfach zu tief unter meine Haut gebohrt. Und schließlich erzählte ich ihr von dem Furunkel, das mich nicht schlafen ließ, von seinen Einflüsterungen. Davon, dass ich über ein Kind nachdachte. Es haben wollte. Dann wieder nicht. Ich hätte wissen müssen, dass meine Mutter der denkbar schlechteste Ansprechpartner für dieses Thema ist, denn sie hat nie nach Enkeln gefragt wie andere Mütter, war immer voller gedankenlosem Desinteresse gegenüber einer möglichen Großmutterrolle, aber ich war müde und einen kurzen Augenblick nachlässig, manchmal habe selbst ich noch die Vision einer von Blumenranken umflorten Mutter-Tochter-Beziehung, in der man nicht ständig sein Visier oben haben muss. In der man etwas über sich erzählen kann. Schätzchen, mach dir nicht so viele Gedanken, meine Mutter schüttelte nachsichtig den Kopf, du machst dir immer so viele Sorgen, aber das Leben ist ganz anders, als man es sich immer vorstellt, ich weiß, dass alle deine Freundinnen gerade Kinder bekommen, aber das bedeutet nichts, ich kann verstehen, dass dich das verunsichert, aber nicht alle müssen Kinder kriegen, weißt du. Wie meinst du das, erwiderte ich irritiert, nicht alle MÜSSEN - aber wenn man es doch WILL? Meine Mutter sah zweifelnd aus, nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, um sich ein wenig Bedenkzeit zu verschaffen, verschluckte sich dabei und fing an zu würgen, das passiert immer, wenn sie nervös wird, ein Kind zu haben, ist sehr anstrengend, weißt du, wisperte sie dann, mit um den Hals gelegten Händen, als wolle sie sich selbst erdrosseln, und dir geht es ja manchmal nicht so gut, ich will damit nur sagen, dass so etwas gut überlegt sein muss. Meinst du, das tue ich nicht, schrie ich auf einmal, habe ich dir nicht gerade erzählt, dass ich schon monatelang darüber nachdenke und zu keiner Lösung komme? Jetzt reg dich doch nicht so auf, Kleines, raunte meine Mutter daraufhin und sah sich unruhig um, um sich zu vergewissern, ob wir schon die Blicke der anderen Gäste auf uns zogen, die ersehnte Verwirklichung eines harmonischen Nachmittags ließ wieder einmal auf sich warten. Ich rege mich so viel auf, wie ich will, heulte ich, ich hätte wissen müssen, dass ich mit dir nicht darüber reden kann, verdammt noch mal, wieso musst du immer nur von dir reden, nur weil du mich nicht gewollt hast, muss das doch nicht auch auf alle anderen zutreffen? Wie gesagt: Wir können nicht gut miteinander reden. Meine Eltern lernten sich mit ungefähr 18 Jahren kennen, also sehr jung. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater, was erklärt, dass sie schon damals ein gutes Stück reifer und durchtriebener war als er. Es folgte die übliche Romanze zwischen Frischverliebten, aber die beiden mussten sich oft heimlich treffen, weil ihre Eltern möglichst wenig davon mitbekommen sollten, deshalb verließ meine Mutter ihr Jungmädchenzimmer häufig nachts, indem sie durchs Fenster kletterte und von dort auf die Garage sprang. Ihr eigener Vater war streng und verprügelte sie und ihre Geschwister in ihrer Kindheit fast täglich mit dem Gummischlauch, allerdings bekamen die Mädchen dabei seltsamerweise immer mehr Prügel als die Jungen. Die Anlässe waren nichtig: ein paar verspritzte Tropfen im Bad, ein nicht abgeräumter Teller. Die Mutter meiner Mutter schwieg dazu und versteckte sich in der Küche, mein Großvater war der erste Mann in ihrem Leben und sollte auch der einzige bleiben. (Perfiderweise starb sie vor einigen Jahren kurz nach ihm, verwirrt und allein. Wie die meisten Frauen ihrer Generation bekam sie keine Chance auf ein paar Momente selbst bestimmten Lebens.) Die Mutter meines Vaters war zu dieser Zeit schon zum zweiten Mal verheiratet und arbeitete fünf Tage die Woche als Vertreterin für Kristall. Sie war eine der wenigen Frauen, die zu jener Zeit einen Führerschein besaß und selbständig arbeitete, war aber dadurch den Großteil der Woche unterwegs. Mein Vater wurde daher den Großteil seiner Kindheit und Jugend von Kindermädchen und Köchinnen groß gezogen, ein Leben in bescheidenem Luxus, aber dafür ohne Mutter in unmittelbarer Reichweite. (Meine Eltern hatten somit beide eine eher auf Abwesenheit gründende Beziehung zu ihrer Mutter, denn es ist wohl egal, ob sich die Mutter in der Küche versteckt oder mit dem Auto durch halb Deutschland fährt. Jedoch ist die Kränkung im ersteren Fall wahrscheinlich sogar größer.) Irgendwann scheiterte die erste Romanze meiner Eltern, vielleicht waren sie zu unreif, vielleicht war auch das ewige Versteckspiel auf Dauer zu anstrengend. Beide gingen daraufhin in verschiedene Städte: mein Vater, um zu studieren, meine Mutter, um als Sekretärin zu arbeiten. Sie verloren sich aus den Augen. Was mein Vater in dieser Zeit getrieben hat, weiß ich nicht, er hat mir gegenüber immer nur sehr vage Andeutungen gemacht, wenn ich ihn danach gefragt habe. Was ich nicht oft getan habe, denn unser Verhältnis hat solche Fragen selten zugelassen. Was meine Mutter gemacht hat, weiß ich dafür umso präziser, denn sie hat mir diese Geschichten wieder und wieder erzählt. Bei jedem Mal wurde sie dabei detaillierter, die Ausschmückungen gerieten immer farbenfroher, sie genoss das Erzählen sichtlich, ging geradezu darin auf. Zwischendurch lächelte sie immer verschmitzt, spielte Verlegenheit, die ich ihr nicht abnahm. Schon als Kind nicht. Denn ich kenne sie, ihr war und ist nichts davon je peinlich gewesen. Zu der Zeit war es einfach, Arbeit zu bekommen, und meine Mutter wechselte ein paar Mal die Arbeitsstätte. Gewöhnlich bestand ihre erste Arbeitsleistung im neuen Job darin, ihren Chef flach zu legen. Ob in seinem Büro, im Auto, in ihrer eigenen Wohnung, der Ort war egal. Drohte die Sache aufzufliegen oder gab es gar Probleme mit der Ehefrau des Chefs, kündigte sie einfach und fing woanders an. Eine glorreiche Zeit, möchte man meinen, man musste sich keine Gedanken machen. Um nichts und niemanden. Und man musste sich nicht verbiegen, um seine Arbeit oder seine Beziehung zu behalten, sondern man fing einfach wieder von vorne an. Einer dieser Chefs war so spendabel, dass er meiner Mutter eine Wohnung finanzierte. Eine kleine Dachgeschosswohnung mit teuren Möbeln und einigen Finessen. Bei dieser Arbeitsstelle blieb meine Mutter etwas länger, genoss die Großzügigkeiten und warf sich im Gegenzug abends ins Nachtleben. Brachte Männer mit nach Hause. Viele. Verschiedene. Manche blieben eine Nacht, andere ein paar Wochen. Letztere entwickelten manchmal eine Besitzgier, die sie an die Wohnungstür meiner Mutter treten und ihr Gewalt androhen ließen. Ihr Pech war, dass sie diesmal nicht aus dem Fenster klettern und davon laufen konnte. So kam es wohl einige Male zu recht dramatischen Szenen. Doch meistens war alles vergnügt. Einer ihrer Freunde fuhr sie stundenlang mit seinem Cabrio durch die Stadt oder sang ihr Lieder auf der Gitarre vor, ein anderer besaß ein kleines Schloss in der Nähe und badete sie in seiner Wanne in Champagner und Kaviarhäppchen. Ein einziges, nicht enden wollendes Fest von Begehren und Begehrt-Werden, ein ständiger Reigen von Personen, die im Endeffekt wohl austauschbar waren. Komischerweise gibt es keine Fotos meiner Mutter aus dieser Zeit. Entweder hat sie diese ganz tief in einer Kiste versteckt (was ich nicht glaube, denn dazu genoss sie das Erzählen zu sehr) oder diese Zeit war einfach auf Flüchtigkeit angelegt. Wie gewonnen, so zerrinnt. Ich weiß nicht, ob es die nachglühende Stimmung der 68-er war, die meine Mutter zu diesem Lebensstil getrieben hat, oder die diebische Freude über die gelungene Flucht aus ihrem spießigen und lebensfeindlichen Elternhaus. Vielleicht beides ein bisschen. Irgendwann jedoch erinnerte sich meine Mutter wieder an meinen Vater. Der lebte inzwischen sein eigenes Leben, hatte einen gut bezahlten Job in einer Werbeagentur und wollte nichts mehr von ihr wissen. Und dann begann eine Episode, die ich bis heute nicht verstehe. Meine Mutter reiste immer wieder zu ihm, legte sich heulend vor seine Tür. Ließ sich ihre Nase mittels einer zutiefst mittelalterlichen Prozedur operieren, weil sie glaubte, ihm dadurch mehr zu gefallen. Plötzlich wurde ihre Geschichte zu einer Leidensgeschichte, sie war plötzlich nicht mehr die ewige Verführerin, sondern nur noch eine verstoßene Magd. Vielleicht kannte sie diese Rolle im Endeffekt besser, denn schließlich wurde sie schon in ihrer Jugend von ihren Eltern zum Arbeiten als Telefonistin geschickt, während ihre Brüder studieren durften. Oder es war nur das Nicht-Mehr-Begehrt-Werden durch meinen Vater, das ihre Eroberungslust anstachelte. Aus mir ebenso unerfindlichen Gründen erhörte mein Vater irgendwann ihr Flehen. Obwohl seine eigene Mutter ihm davon abriet, weil sie sich wohl eine anständigere Schwiegertochter gewünscht hatte, heiratete er meine Mutter. Auf den Fotos von der Trauung trägt sie ein knielanges weißes Kleid und einen breitkrempigen Hut. Sie sitzt im Standesamt neben meinem Vater und sieht den Beamten an wie den Heiligen Vater höchstpersönlich, mit einem fast als unschuldig durchgehenden Augenaufschlag. Vielleicht wusste sie, dass ihre Zeit der Selbstbestimmung so nicht ewig hätte weitergehen können, ohne in Mord und Totschlag zu enden, vielleicht bekam sie auch nur Angst vor der eigenen Chuzpe. Ich weiß es nicht. Die offiziellen Fotos vom Brautpaar stellen diesen Eindruck jedoch seltsamerweise wieder infrage. Meine Eltern strahlen darauf um die Wette, sie mit einem leicht ironischen Klein-Mädchen-Lächeln und er mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel, sie kokettieren mit ihrem Geschlecht, ihrer Rolle, als wüssten sie genau, was von ihnen erwartet wurde, und versuchten gleichzeitig, sich darüber lustig zu machen. Diesen kurzen Anflug von Selbstironie haben sie jedoch nicht in ihren Alltag retten können. Ein paar Jahre später wurde meine Mutter mit mir schwanger. Sie behauptet bis heute, es erst sehr spät gemerkt zu haben, da sie weiterhin ihre Tage bekam, zu dem Zeitpunkt sei es für einen Abbruch schon zu spät gewesen. Sie habe darüber nachgedacht, weil mein Vater eigentlich keine Kinder gewollt habe. Eine Aussage, die ich ihr bis heute übel nehme, denn egal, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht, es gibt Dinge, die man seinen Kindern besser verschweigen sollte. Aber Taktgefühl war noch nie eine ihrer großen Stärken. Außerdem glaube ich bis heute, dass sie eigentlich von sich gesprochen hat. Meine Mutter behauptet außerdem, während der Schwangerschaft keine großen Probleme gehabt zu haben. Keine Übelkeit, keine Müdigkeit, kaum Gewichtszunahme. Sie habe auch ganz am Ende immer noch in ihre alten Hosen gepasst. Ein kleines Wunder. Ein Kind, das kaum an Größe zulegt. Eine unsichtbare Schwangerschaft. Sollte sie sich patentieren lassen. (Auch von dieser Zeit gibt es keine Fotos, so dass ich lange Zeit dachte, adoptiert worden zu sein. Eine tröstliche Kinderphantasie, irgendwann, so hoffte ich, würden meine wahren Eltern auftauchen und mich abholen. Ich habe das Warten dann schließlich aufgegeben.) Einige Wochen vor dem Entbindungstermin zogen meine Eltern um. Während mein Vater arbeiten ging, packte und schleppte meine Mutter bis zum Umfallen. Noch am Tag meiner Geburt putzte und schrubbte sie und schleppte schwere Tüten nach Hause, obwohl sie schon erste Wehen hatte, dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Wehen wurden rasch stärker, sie rief meinen Vater an, der zunächst nicht kommen wollte, weil er das Ganze für falschen Alarm hielt, und sie schließlich doch ins Krankenhaus fuhr. Wenig später war ich auf der Welt, zwei Wochen zu früh, geboren am 7. August 1974 in einem gewöhnlichen, nach Essensresten und Desinfektionsmitteln stinkenden, mitteldeutschen Krankenhaus in dumpfem Graublau. Kein großes Drama, hätte aber auch besser laufen können. So kam meine Mutter nach drei Tagen Klinikaufenthalt in eine neue Wohnung, in der nur unausgepackte Kisten standen und das Chaos regierte. Mein Vater ging weiterhin arbeiten, während sich meine Mutter mit der neuen Situation zu arrangieren versuchte. Schöne, kleine Elternwelt. Erst viel später, als ich ungefähr acht oder neun Jahre alt war, habe ich erfahren, was noch an meinem Geburtstag passiert ist. An diesem Morgen gingen die Menschen wie immer und überall auf der Welt zur Arbeit, so auch in New York City. Sie waren müde, sie waren erschöpft, denn ein Tag wie jeder andere wartete auf sie, in einem Büro, das aussah wie alle anderen, sie trugen ihre Aktentaschen, sie sahen zu Boden, um etwaigem Müll auszuweichen, sie verfluchten ihr Leben. Doch plötzlich stand vor ihnen eine Frau, mitten auf dem Bürgersteig, mit verzückter Miene, eine junge Frau mit langen Haaren deutete mit ihrem Zeigefinger nach oben, in den Himmel, als wolle sie darauf hinweisen, dass in diesem Augenblick der jüngste Tag anbreche und ihre Erlösung unmittelbar bevorstehe. Die Leute blieben stehen, in New York ist man zwar Verrückte gewohnt, aber diese Frau wirkte so überzeugend in ihrer Begeisterung, dass sie alle an deren Ursache teilhaben wollten. Zunächst sahen sie kaum etwas, denn der Tag war etwas diesig, zwischen den Wolkenkratzern hingen Nebelschwaden, vor allem zwischen den noch im Bau befindlichen Türmen des World Trade Centers, aber dann erahnten sie doch etwas, eine zarte Linie, einen dünnen Strich, der sich zwischen den beiden Türmen abzeichnete, und darauf ein winziger Punkt, der sich bewegte, was war das, doch nicht etwa ein Mensch? Philippe Petit hatte diese Aktion mehrere Jahre lang geplant, immer wieder war er nach New York geflogen, um den Fortgang des Baus zu beobachten, um seine Möglichkeiten genauestens zu eruieren, um Helfer zu finden, die ihn bei seinen Vorbereitungen unterstützen sollten, aber er wählte sich exakt meinen Geburtstag, den 7. August 1974, um seinen Drahtseilakt auszuführen. 45 Minuten schwebte er dort oben auf 417 Metern Höhe, tanzte auf dem Seil hin und her, kniete nieder und verbeugte sich, legte sich sogar in seiner ganzen Länge darauf, als wolle er ein Nickerchen machen, während die Zuschauer auf der Straße ihren Augen zuerst nicht trauen und dann ihren Blick überhaupt nicht mehr lösen konnten von diesem Zauber zwischen den Wolken, von diesem Wunder, das sie plötzlich alles vergessen machte, ihren Alltag, ihr Leben, ihre Angst. Als ich das erste Mal Fotos von Petit sah, dort oben zwischen den Türmen, konnte auch ich es nicht glauben. Wie konnte ein Mensch dies schaffen, wie konnte er in dieser Höhe über ein nur fingerdickes Seil laufen, wie gelang es ihm, von seiner Furcht nicht so übermannt zu werden, dass er in die Tiefe stürzte? Ich begriff es nicht, es ist mir bis heute ein Rätsel. Aber irgendwie hatte ich als Kind immer das Gefühl, dass das kein Zufall sein konnte, sein Drahtseilakt zwischen den Türmen und mein Geburtstag, sie waren in mir auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft, als sei auch ich dazu auserwählt, irgendwann einmal etwas so Wundervolles zu vollbringen. Später glaubte ich das nicht mehr, irgendwann verlor ich diese Gewissheit. Und am 11. September 2001 konnte ich, wie die meisten Menschen um mich herum, wie all die Menschen auf der ganzen Welt, die den Zusammenbruch der Türme im Fernsehen live mitverfolgten, nicht begreifen, was dort gerade passierte, dass sie tatsächlich in sich zusammen fielen, zu grauem Staub, diese angeblich unzerstörbaren Riesen, und dabei Tausende von Menschen unter sich begruben, zu Kleinstteilen zermalmten. Dieses Ereignis machte mich fassungslos, es pulverisierte mein bisheriges Vorstellungsvermögen. Aber es erinnerte mich auch daran, dass diese Türme einmal mein Versprechen gewesen waren, meine Verheißung, und auch deshalb weinte ich schließlich. Früher konnte ich mich, wenn mich meine Zustände überfielen, in meine Arbeit flüchten. Ich bin ein ausgezeichneter Strukturalist, vielleicht habe ich es deshalb geschafft, in der Fernsehserienbranche so erfolgreich zu sein. Dort geht es nicht um Originalität oder Spritzigkeit, sondern um das Vermögen, sich in bestehende Strukturen einpassen zu können, das konnte ich schon immer gut, ich bin ein Meister der Unsichtbarkeit. Schon in meiner Kindheit hasste ich nichts mehr als das Chaos. Ich liebte es, mein Spielzeug zu sortieren, in verschiedene Kästen und Schubladen, und dabei Prinzipien zu finden, nach welchen die Dinge sortiert werden sollten, um am Ende eine Lösung zu finden, die mich beruhigte. Weil alles seinen Platz hatte. Ganz im Gegensatz zu mir wahrscheinlich. Meine Geschichten fand ich stets auf ähnliche Weise: Ich baute sie an einer Grundidee entlang, systematisch und geradlinig, wie eine mathematische Gleichung. Das gerät selten verblüffend, aber das ist auch nicht gefordert, im Endeffekt möchte keiner gerne überrascht werden, sondern doch immer nur das sehen, was er schon kennt. Alles andere wäre wohl zu verunsichernd. Als ich noch studierte, hatte ich die Vision, Filme zu schreiben, die berühren. Ich beschäftigte mich monatelang mit der Psyche meiner Figuren, dachte mir Hunderte von Plots aus - und verwarf sie wieder. Ich war wie elektrisiert von all den Möglichkeiten, den Bildern in meinem Kopf und den Dialogen, die ich zu hören glaubte, ich schrieb Stories über mystische Reiter, schicksalsträchtige Enthüllungen, überwundene Kindheitstraumen, kein Thema war mir zu abstrus, keine Anstrengung zu mühselig. Doch irgendwann musste ich erkennen, dass sich niemand für meine Geschichten interessierte, von Filmhochschulen und Förderungen kamen stets nur Absagen. Deshalb bewarb ich mich irgendwann bei einer Produktionsfirma und wurde nach einer endlosen Zeit als unbezahlte Praktikantin Dramaturgin für eine Krimiserie, deren inhaltliche Geistlosigkeit mich an den Rand des Wahnsinns trieb. Zwei Jahre hielt ich es aus, dann warf ich erschöpft das Handtuch. War mehrere Monate arbeitslos, zunehmend verzweifelt. Und nahm deshalb schließlich das Angebot an, als selbständige Autorin für eben diese Serie zu schreiben, schließlich kannte ich sie besser als jeder andere. Immerhin wieder ein Job – wenn er auch nicht im Entferntesten mit meinen Vorstellungen von früher zu tun hat. Aber funktionieren konnte ich schon immer ganz ausgezeichnet. Bis vor kurzem. In den letzten Monaten habe ich an einem Buch für eine neue Krimiserie gearbeitet, deren erste Staffel gerade ausgestrahlt wird. Erst freute ich mich über diesen Auftrag, weil er viel Geld bedeutete und ich mich dadurch erst einmal nicht mehr um weitere bemühen musste. Doch bald merkte ich, dass es diesmal noch konfuser und chaotischer zu werden drohte als sonst, da weder die Produktionsfirma noch die Redaktion sich einig waren, welche inhaltliche Richtung die zweite Staffel nehmen sollte. Ich schrieb eine Fassung nach der anderen, und jedes Mal ereilten mich neue Anmerkungen. Mal sollte der Verdächtige geändert werden, mal der komplette Bogen der Ermittlungen, mal sollte sich der Hauptkommissar in die Täterin verlieben, dann wieder nicht. Ich arbeitete die Geschichte jedes Mal nach den geforderten Richtlinien um, verlor aber immer mehr den Bezug dazu, das Warum erhielt keine Antwort mehr, ich kam mir zunehmend vor wie ein Spielball des Irrsinns. Irgendwann konnte ich nicht mehr auf die Emails der Produzentin antworten, ließ sie ungelesen im virtuellen Papierkorb verenden. Und dann brach die Stille über mich herein, zunächst wie eine Verheißung. Bis sie zur Bedrohung wurde und sich das Magma meines Inneren glühend über mich ergoss. Manchmal senken sich all die sich drehenden, taumelnden Gedanken in meinem Kopf wie ein Schleier herab, und ich tauche ins Dunkel, ins tröstende Federweich meiner Kissen. Bis ich wieder hochschrecke, geschüttelt von dem Geräusch des Traktors, der sich langsam nähert, erbarmungslos brüllend. Ab und zu sitzt dann Jan an meinem Bett, er ist von mir unbemerkt nach Hause gekommen und sieht mit einer Mischung aus Irritation und Zärtlichkeit auf mich herunter, doch ich kann diesen Blick nicht ertragen und schäle mich aus meinen zerwühlten Decken, murmele, dass ich mich nur kurz hingelegt habe und dabei wohl eingenickt sei. Ich setze mich vor meinen Laptop und tue beschäftigt, rufe Dokumente auf, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet habe, und Jan trollt sich, fürs erste, mit unbefriedigtem Blick. Deshalb kommt er später noch einmal unter irgendeinem Vorwand in mein Zimmer, schleicht um meinen Schreibtisch herum. Er hat schon mehrfach in unserer Beziehung mitbekommen, dass ich in einen solchen Zustand gleite wie jetzt, doch gewöhnlich waren diese nach ein paar Tagen wieder vorbei. Nun ist er verunsichert, schlenkert wie ein Kind mit den Armen und will von mir wissen, ob er etwas einkaufen soll, was ich essen möchte, ob ich den und den Artikel schon gelesen habe, voreinander die Wahrheit auszusprechen, scheuen wir uns schon immer, als ließe sie sich dadurch aussperren. Doch ich weiß keine Antworten auf seine vielen Fragen, ich kann mir keine Gedanken über leere Kühlschränke machen, und eine Zeitung habe ich schon seit Wochen nicht mehr angefasst, ich weiche seinen forschenden Augen aus, nagele meinen Blick am Bildschirm fest und gebe einsilbige Antworten, dennoch quält mich Jans verzweifelte Bemühung, einen normalen Alltag aufrecht zu erhalten, mit Gesprächen, Übereinkünften, Einkaufslisten. Schließlich gibt er auf, verlässt aber trotzdem nicht das Zimmer, sondern drückt sich an meinem Bücherregal herum, nimmt das eine oder andere Buch heraus und blättert darin, ich beobachte ihn dabei verstohlen über meine Tastatur hinweg, seinen schmalen Rücken, seinen Nacken, den ich so liebe. Oder geliebt habe? Wenn wir früher miteinander schliefen, verbiss ich mich gerne in seinem Nacken, bis Jan den Schmerz nicht mehr ertrug und mich von sich abschälte wie ein hartnäckiges Insekt, jetzt würde es mir reichen, ihn nur vorsichtig mit den Fingern zu berühren, um zu sehen, wie es sich anfühlt, um zu spüren, ob dieser Kontakt etwas in mir auslöst, was mich vielleicht an eine frühere Empfindung erinnert. Doch es gibt keine simplen Berührungen, nirgendwo, denn sie können nie nur für sich stehen, immer wird ihnen eine ganz bestimmte Bedeutung verliehen oder sie gelten als Zeichen für irgendetwas anderes, ich darf Jan nicht einfach nur berühren, ohne Gefahr zu laufen, selbst berührt zu werden, obwohl ich schon die Vorstellung gerade nicht ertrage. Aber ihm das zu erklären, übersteigt meine momentanen Möglichkeiten, also bleibe ich still auf meinem Stuhl sitzen, schweige und beobachte ihn, der sich ein weiteres Buch genommen hat, zwischen seine Augen ist eine Konzentrationsfalte gestiegen, weil er sich so bemüht, nicht aufzufallen in meinem Zimmer, er will zu einem Teil des Inventars werden, um nicht hinausgeschickt zu werden. Doch plötzlich dreht er sich um, ich sehe an seinem Blick, dass er für den Moment vergessen hat, warum er hier ist, was für eine Situation gerade zwischen uns herrscht, er ist einen Augenblick lang der Jan von früher, ohne Angst vor meinen Launen. Wann hast du zum letzten Mal dieses Buch gelesen, das ist ja unglaublich, jubelt er und trägt mir ein paar Absätze vor, ich kann mich kaum auf das konzentrieren, was er da vorliest, aber ich genieße kurz seine Begeisterung, sein Leuchten. Früher haben wir ganze Vormittage im Bett verbracht und uns gegenseitig Stellen aus unseren Lieblingsbüchern vorgelesen, Sätze, die unseren Atem stocken ließen vor Schönheit oder Prägnanz, mit dieser Beschäftigung konnten wir Stunden verbringen, versunken in uns selbst und unserer Freude. Heute sind wir nur noch fliehende Schatten in unserer eigenen Wohnung. Schließlich werden die Nächte schlimmer. Ich kann nicht mehr einschlafen, sondern liege im Bett und verfolge wie gebannt die Wanderungen der Autoscheinwerfer auf der Wand, als müsste ich nur ihre Botschaft verstehen, um wieder schlafen zu können, oder laufe stundenlang wie ein Geist durch die dunkle Wohnung, die immer gleichen Wege - von meinem Zimmer durch den Flur in die Küche, ins Wohnzimmer, vor Jans Tür, durch die sanftes, genüssliches Röcheln dringt, ich möchte an seine Tür hämmern und vor Wut schreien, ich möchte an sein Bett gehen und ihn schütteln, warum kann er vergessen und ich nicht? Das ist eine Frage, auf die es nur Antworten gibt, die ich nicht hören möchte, deshalb setze ich mich auf den Balkon, zittere in der kühlen Nachtluft und lausche den Geräuschen der Stadt, jede Nacht das gleiche Spiel, bis ich schließlich körperlich so erschöpft bin, dass ich anfange zu weinen, ich knie vor meinem Bett und schlage mit dem Kopf auf den Boden, als wolle ich mich bewusstlos schlagen, eine Verzweiflung, die ich gut kenne. Doch der Schlaf, der kommt nicht. Ich werde hohlwangig und immer gereizter, und sogar Jan hält es schließlich nicht mehr länger aus mit mir, du solltest zum Arzt gehen, das ist doch nicht normal, so lange nicht schlafen zu können, beginnt er vorsichtig. Fängst du jetzt auch noch an, meine Mutter nervt mich schon seit Wochen mit nichts anderem, stöhne ich und verdrehe die Augen. Normalerweise will er nichts weniger, als mit meiner Mutter gleichgesetzt zu werden, und gibt dann meistens auf, aber diesmal bleibt er hartnäckig, ich meine es ernst, sieh dich doch mal an, ich mache mir wirklich Sorgen um dich, wenn du es schon nicht für dich tust, dann tue es wenigstens für mich. Alle Achtung, er ist meiner Mutter tatsächlich ähnlicher, als er wahrhaben will, emotionale Erpressung ist ihr Steckenpferd. Aber ich tue ihm schließlich den Gefallen und gehe zum Arzt. Der ist hager und ungefähr mein Alter, was mich kurzzeitig verunsichert, früher hat einen das Alter von Fachleuten noch irgendwie beruhigt, wenn sie älter waren als man selbst, mussten sie doch auch mehr wissen, heute sitzt man vor Gleichaltrigen oder, noch schlimmer, Jüngeren und weiß nicht, wohin man seinen Blick wenden soll. Aber vielleicht gibt er mir eine Diagnose, die mich entlastet, deshalb schildere ich ihm meine Beschwerden und sehe ihn erwartungsvoll an, ich will nicht, dass wahr ist, was ich glaube, dass sich immer alles wiederholt, dass ich wieder nicht entkomme. Ich bekomme Blut abgenommen, pinkele in einen Becher und fülle endlose Fragebögen aus. Ob ich diese Symptome schon einmal gehabt habe? Ja, kreuze ich an, ich kenne sie seit über zwanzig Jahren, sie gehören zu mir wie der Leberfleck an meinem Kinn, sie überfallen mich immer wieder, aber meistens vergehen sie nach einigen Tagen. Diesmal ist es anders, stärker, finsterer. Ob ich einen Auslöser ausmachen könne? Nein, kann ich nicht, andere verkraften das Leben ja auch, warum ich nicht? Dann sitze ich wieder vor dem Arzt, der noch hagerer zu sein scheint als bei unserem ersten Gespräch und mich über seinen Schreibtisch hinweg ernst ansieht. Ob ich schon einmal über eine Therapie nachgedacht habe? Ich lache heiser, ich habe bereits die dritte hinter mir, die letzte liegt jedoch schon über zwei Jahre zurück. Phantastisch, jubiliert der Arzt, dann ist es einfach, nun eine neue zu beantragen, er scheint froh zu sein, mich mit einem Häkchen versehen zu können. Als ich aus der Praxis wanke, weine ich. Alle paar Tage kommt meine Mutter vorbei, zu Zeiten, bei denen sie sicher sein kann, dass Jan nicht zuhause ist. Sie bringt mir Obst, Vitamintabletten, Zeitschriften, als mache sie einen Besuch im Krankenhaus, sie trägt wieder ihre bunten und viel zu kurzen Kleinmädchenklamotten, in denen man sie häufig für meine Schwester hält, und auch jetzt wirken wir wie Schwestern, allerdings durch eine andere Äußerlichkeit vereint, denn uns beide scheint durch einen seltsamen Zufall dieselbe Krankheit ereilt zu haben, auch sie wirkt müde und erschöpft, ihr Blick leer. Ich ertrage es nicht mehr lange, wie es dir geht, kannst du nicht endlich mal etwas dagegen tun, ich laufe nachts auch nur noch durch die Wohnung und kriege keine Luft, ich reiße die Fenster auf, aber es hilft nicht, außerdem stinkt diese Stadt so grässlich, man müsste aufs Land ziehen, vielleicht würde man dann endlich zur Ruhe kommen. Ich sitze ihr stumm gegenüber, während sie mir die Ergebnisse ihrer nächtlichen Wanderungen präsentierte, die Ursachen für meine Schlaflosigkeit und meine angeblichen Rückenschmerzen herunter betet, du bist einfach zu ernst, das bist du immer schon gewesen, schon als kleines Mädchen warst du so ernst und nie mal richtig albern, immer wolltest du allein für dich sein, nie durfte ich dir Kinder einladen, und so bist du heute noch, alles willst du mit dir selbst abmachen, warum redest du nicht einfach mal mit mir, ich bin doch deine Mutter, verdammt noch mal. Doch ich schweige, koche frischen Tee, den ich wie einen Schutzwall zwischen uns auf den Tisch stelle, und erzähle ihr nichts von meinem Arztbesuch und der alten, neuen Diagnose, denn ich ahne, was sie darauf sagen würde: Ich weiß wirklich nicht, woher du das hast, mein Kind, du hast doch immer alles gehabt, alles bekommen, was du wolltest, vielleicht kommt das ja von der Seite deines Vaters, das ist natürlich möglich, da gibt es ja so einiges, was ich bis heute nicht verstehe. Sie hat es sich immer ziemlich einfach gemacht, während ich lange Zeit mit großer Akribie und Hingabe in meinen Wunden herumgestochert habe. Wenn sie zu verschorfen drohten, habe ich solange weitergekratzt, bis ein hässliches Geflecht entstand, auf das ich dann starren konnte und das mir Rechtfertigung bot, warum es mir so ging. Ich habe Jahre damit verbracht, in meinen Therapien meine Kindheit aufzurollen, die Beziehung zu meinen Eltern zu durchleuchten, mich innerlich zu umarmen, doch die Zustände kamen immer wieder, keiner der Therapeuten schien den Schlüssel dazu wirklich gefunden zu haben. Irgendwann beschloss ich, dass ich nicht länger über früher reden, sondern endlich leben wollte, vielleicht war das ständige Stochern Teil des Problems, vielleicht würde ich endlich zur Ruhe kommen, wenn ich alles hinter mir ließe? Falsch gedacht. Nun sitze ich wieder zuhause, mit einem Überweisungsschein in der Hand, auf dem in dünnen Lettern die Diagnose steht: rezidivierende depressive Störung. Ich reiße das Blatt in kleine Fetzen, die der Wind vor meinem Fenster mit sich trägt. Schuld ist etwas, das man nur bedingt abarbeiten kann, wenn jede Zelle des eigenen Körpers davon durchdrungen ist. Kurz bevor ich in den Kindergarten komme, ziehen wir um, in ein kleines Dorf mit Einfamilienhäusern. Hessisches Hinterland mit rasierten Vorgärten, eine enge Straße, in der die inländischen Autosorten dicht an dicht stehen, mit glitzerndem Lack, sie spiegeln den moderaten Wohlstand der Siebziger Jahre, in denen für viele die Geschäfte gut laufen und man sich Dinge leisten kann. Mein Vater hat sich vor kurzem mit einer eigenen Werbeagentur selbständig gemacht und kann sich vor Aufträgen nicht retten, und da er den Mythos des deutschen Bürgertums verinnerlicht hat, ist es für ihn ein natürlicher Vorgang, nun von einer Stadtwohnung in ein Haus auf dem Land zu ziehen, während meine Mutter bei dieser Aussicht innerlich zusammen schrumpft, sich plötzlich wieder findet im Lebenstraum ihrer eigenen Eltern, in dem viel zu kleinen Glück, das sie selbst immer abgelehnt hat.