Plötzlich Drache 5 - Nicolas Bretscher - E-Book

Plötzlich Drache 5 E-Book

Nicolas Bretscher

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Beschreibung

Dies ist die direkte Fortsetzung von "Plötzlich Drache 4". Seitdem die Drachen auf dem Mars gelandet waren, stand meine Volksinitiative für die Freilassung meiner Freunde und meines Sohnes auf Messers Schneide. Laufend war ich gezwungen, Konflikte zwischen Drachen und einer ausserirdischen Spezies zu schlichten, die uns kaum fremder hätte sein können. Nebst der ständigen Angst, auch noch meine Tochter zu verlieren, musste ich durchgehend meine Freunde vor der Dariseg beschützen. Diese Organisation versuchte stets, meine Mission zu sabotieren, um weiterhin Profit aus uns Drachen schlagen zu können. Ein erbitterter Rechtsstreit brach aus, der bald über das Schicksal aller Drachen entscheiden würde.

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Seitenzahl: 1234

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Plötzlich Drache 5 – Suche des Rechts ist das fünfte Buch der voraussichtlich neunteiligen Serie Plötzlich Drache. Es setzt die Handlung von Plötzlich Drache 4 – Kollision der Welten direkt fort, ist jedoch nicht von den Bändern 1 bis 3 abhängig.

Inhaltsverzeichnis

1 Krank

2 Verteidigungsministerium

3 Ratlos

4 Werbekampagne

5 Proteste

6 Schleimhäute

7 Stadtbesuch

8 Operation

9 Versammlung

10 Kirchhof

11 Nachwirkungen

12 Gericht

13 Geleitschutz

14 Gerichtsprozess

15 Diktatur

16 Rebellion

17 Venus

18 Selbstfindung

19 Killer

20 Veränderung

21 Wolkenschild

22 Mensch

23 Akzeptanz

24 Nacht

25 Morgengrauen

1

Krank

Blut tropfte von meiner Schnauze, während ich schockiert Ferdinand anstarrte, dessen linke Schulter stark blutete. Ein beklemmendes Gefühl des Schocks liess mich erstarren. Ich wollte meinen Freund nicht verletzen, jedoch hatte ich es getan, was der eisenartige Geschmack in meinem Maul unbestreitbar bewies.

«Nils!», krächzte Ferdinand schwach und streckte seinen rechten Arm nach mir aus, während ihn seine Kraft zu verlassen schien und er aus seiner sitzenden Position stöhnend zur Seite kippte.

«Es tut mir leid. Das wollte ich nicht!», entgegnete ich, ohne meinen Blick auch nur eine Sekunde von der kontinuierlich blutenden Bisswunde abwenden zu können.

Jeder Herzschlag des Menschen liess ein weiterer Schwall seines Lebenssafts zu Tage treten.

«Ich muss deine Wunden ausbrennen.», erklärte ich, während ich bereits die Luft in meinem Inneren erhitzte und wartete, bis sie sich in meinem gesamten Körper einschliesslich meiner Klauen verteilt hatte.

Sobald ich Ferdinand eine meiner Klauenspitzen gegen das grösste Loch in seiner Haut drückte, schrie er schmerzerfüllt auf. Das Fleisch zischte und strömte einen beissenden Gestank aus, während sich zahlreiche Blasen darauf bildeten. Aufgrund der zusätzlichen Schmerzen, die ich meinem Freund bereiten musste, um sein Leben zu retten, wandte ich meinen Blick ab. Ich konnte mir seine Qualen nicht länger mitansehen.

Einige Sekunden später zog ich meine Pranke zurück, wobei ich einen geringen Widerstand fühlte. Da ich vermutete, seine Haut wäre aufgrund der Verbrennung an meiner Klaue klebengeblieben, setzte ich meine Bewegung unbeirrt fort, bis Ferdinand plötzlich wesentlich lauter aufschrie. Unwillkürlich richtete sich mein Blick auf ihn, wobei mir der Atem stockte. Aus unerklärlichen Gründen war seine gesamte Schulter aufgerissen und meine Klauen waren von seinem Blut überzogen. Die rote Flüssigkeit strömte nun deutlich schneller aus seinem Körper, weswegen seine Gliedmassen erschlafften und er allmählich das Bewusstsein verlor.

«Ferdinand!», schrie ich voller Panik.

Wie ich ihn derart hatte verletzen können, war mir ein Rätsel. Schweren Atems blickte ich umher auf der Suche nach Hilfe, jedoch befand ich mich vollkommen allein im Bergdorf, dessen Bewohner kürzlich durch uns Drachen angegriffen worden waren.

«Papa!», nahm ich Stellas Gedanken plötzlich in meinem Verstand wahr.

Ich wandte mich blitzschnell nach links und entdeckte meine Tochter, die von Igors gewaltigen Pranken zu Boden gedrückt wurde.

Lass meine Tochter los! Schrie ich den siebeneinhalb Meter grossen, braunen Drachen telepathisch an, während ich ein bedrohliches Knurren hören liess.

Mit meinem Schwanz tastete ich nach meinem Speer, jedoch fühlte ich ihn nicht. Ein Blick zurück liess mich verblüfft und schockiert zugleich erstarren. Meine geliebte Waffe war mittig entzweigebrochen und lag mehrere Meter hinter mir. Leer schluckend wandte ich mich wieder Igor und Stella zu. Trotz meiner geringen Grösse von unter zweieinhalb Metern und meiner chronischen Beschwerden musste ich mich meinem körperlich überlegenen Widersacher stellen.

«Papa, das ist bloss ein Traum. Nichts hiervon ist real.», dachte meine Tochter.

Aber … Igor wird … und Ferdinand ist … ähm, stammelte ich gedanklich.

In dieser Sekunde grinste mich Igor voller sadistischem Vergnügen an und drückte mit seinen Klauen gegen Stellas Brustkorb, bis ihre Rippen knackend nachgaben und sie erschlaffte, ohne auch nur den kleinsten Laut von sich zu geben. Entsetzt starrte ich auf den zerquetschten Körper meiner Tochter, aus dem nun an einigen Stellen Blut austrat, bis sich mein Entsetzen in Trauer und anschliessend blanken Hass verwandelte.

Gerade als ich mich blind vor Wut auf Igor stürzen wollte, stupste mich etwas von hinten an. Verwundert blickte ich zurück und starrte in die wunderschönen Augen meiner Tochter, welche mich stets an ein absolut reines, tiefblaues Gewässer erinnerten. Erst nach einigen Sekunden der Verwirrung fand ich meine Sprache wieder.

Wie? War das Einzige, was ich Stella fragte.

«Du hast gerade einen Albtraum.», antwortete sie.

Mein Hass kombiniert mit der Angst Igor gegenüber zwang mich dazu, erneut ihn anzusehen. Unverändert grinsend starrte er mich an und trat langsam, aber bedrohlich auf Stella und mich zu. Instinktiv stellte ich mich vor meine Tochter, um sie zu beschützen, selbst wenn mir bewusst war, dass ich Igor niemals besiegen konnte.

«Denk an etwas anderes, Papa. Ansonsten wirst du diesen Traum nicht los.», riet Stella mir.

Wie denn? Entgegnete ich ratlos, den Blick auf Igors blutverschmierte Klauen gerichtet, mit denen er Stella zuvor zerquetscht hatte.

Als der braune Riese lediglich noch wenige Meter von uns entfernt war, stiess ich mich zu einem Angriffssprung ab und visierte das linke Auge meines Gegners mit den Klauen an. Erstaunt stellte ich fest, dass weder mein linker Flügel noch mein rechtes Vorderbein währenddessen schmerzte. Igor schien mit meinem Angriff gerechnet zu haben, obwohl ich ihn ohne jegliche Vorwarnung ausgeführt hatte, denn er zog seinen Kopf ruckartig zurück und verlagerte sein Gewicht auf die Hinterbeine, um mich mit den Klauen der Vorderbeine abfangen zu können. Machtlos wurde ich in Sekundenschnelle von ihm zu Boden gedrückt und warf einen verzweifelten Blick zurück zu meiner Tochter, die das Geschehen mitfühlend beobachtete.

«Igor ist bloss eine Illusion.», dachte sie und trat selbstsicher auf uns zu.

Es widersprach mir, sie nicht davon abzuhalten, näherzutreten, jedoch glaubte ich ihr, dass es sich hierbei um einen Traum handelte. Gerade als Igor mehr Gewicht auf mich verlagerte und meine Hinterseite ein starkes Druckgefühl entsendete, erreichte Stella uns und stupste den riesigen Drachen mit ihrer Schnauze an, wobei dieser sich urplötzlich in Sand verwandelte, der wiederum leise zu Boden rieselte und mich beinahe vollständig bedeckte. Das warme, trockene Gefühl, welches diese unzähligen winzigen Steine auf meinem Körper auslösten, erinnerte mich an unser Zuhause, weswegen ich mich umgehend entspannte. Erleichtert atmete ich durch und sah anschliessend zu meiner Tochter auf, die mit erwartungsvollem Blick auf mich wartete.

«Komm, Papa. Ich möchte dir jemanden zeigen.», dachte sie.

Ich versicherte mich noch einmal, dass Igor tatsächlich verschwunden war, bevor ich mich in geschmeidigen Bewegungen aus dem Sand wühlte, wodurch meine Flügelhäute angenehm gekratzt wurden, und folgte Stella. Wir befanden uns nun am Rand der Drachenschlucht auf der Erde, umgeben von einer endlosen Wüste. Meine Tochter verschwand kurzzeitig hinter der nächstgelegenen Sanddüne, wobei mir auffiel, dass sie sowohl ihren linken Flügel als auch ihr linkes Hinterbein korrekt einsetzen konnte, und kehrte mit einem knapp dreissig Zentimeter grossen, giftgrünen Drachenjungen im Maul zurück. Behutsam setzte sie ihn vor mich und trat einen Schritt zurück, sodass ich ihn mir genauer ansehen konnte.

«Das ist Leonardo, mein Sohn.», dachte Stella stolz, während ich vorsichtig schnupperte.

Leonardo roch exakt, wie ich mir eine Mischung aus Stellas und Manuels Duft vorgestellt hatte. Die Iriden seiner grossen, tiefgrünen Augen schlugen bei jeder Bewegung Wellen, wie die meiner Tochter. Den schlanken Körperbau hatte er zweifelsohne von seinem Vater geerbt, die Kopfform und die extrem scharfen Klauen jedoch von Stella. Sofort fiel mir auf, dass sein linker Flügel mit seiner Seite verwachsen war, wodurch er ihn nicht korrekt entfalten konnte. Ausserdem war sein linkes Vorderbein eigenartig geformt. Ansonsten erweckte er einen gesunden Eindruck.

Demnach hat es endlich geklappt? Fragte ich nach einigen Sekunden des verblüfften Schweigens.

Stella nickte sichtlich zufrieden. Ich konnte fühlen, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht bildete. Voller Freude trat ich auf Stella zu, rieb mit der Oberseite meines Kopfes an ihrer Kehle und drückte anschliessend spielerisch die Schnauze nach oben, um sie auf diese Weise von unten her anzustupsen.

Ich finde überhaupt keine Worte dafür, wie sehr ich mich für dich freue, mein Schatz! Dachte ich.

Überglücklich stiess Stella mit ihrem Kopf gegen meine Schnauze, wandte sich ihrem Sohn zu, der uns dauerhaft beobachtet hatte, und legte sich dicht neben ihn in den Sand. Mit den Klauen grub sie ein kleines Loch, was Leonardo gleich darauf betrat, um sich hinzulegen, und deckte ihn schützend mit ihrem linken Flügel zu. Bei dem entspannten Seufzen des Drachenjungen musste ich schmunzeln.

In vollem Genuss der warmen Sonne setzte ich mich zu ihnen. Ich konnte meinen Blick nicht von Stella abwenden, die ihren Sohn nun wie einen Schatz behütete. Lange verweilten wir zu dritt in unseren jeweiligen Positionen, bis ich meiner Tochter schliesslich eine Frage stellte.

Wo ist Leonardo jetzt?

«Florian passt auf ihn auf, während Manuel und ich auf dem Mars sind.», entgegnete sie, ohne etwas anderes als ihren Sohn unter ihrem Flügel zu beobachten.

Gut. Das ist sogar sehr gut. Ich glaube, er wird sich bestens um ihn kümmern.

«Soll ich dir noch zeigen, wie wir die antiken Raumschiffe gefunden und repariert haben? Und wie unsere Reise zum Mars verlaufen ist?», fragte sie.

Ja, gerne, antwortete ich.

Die Umgebung veränderte sich schlagartig und anstelle der Wüste umgab uns nun eine künstlich beleuchtete, antike Struktur, in der sich sechs jeweils dreissig Meter grosse Raumschiffe befanden, die allesamt mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Von Leonardo war nun nichts mehr zu sehen. Stella zeigte mir alles bis ins kleinste Detail. Selbst in die technischen Probleme, auf die sie gestossen war, weihte sie mich ein. Als wir uns nach ihrer langen Geschichte endlich gemeinsam in einem Raumschiff befanden und sie mir erklärt hatte, dass sie monatelang in dieser geräumigen, jedoch eintönigen Blechbüchse verbracht hatte, entschieden wir uns, unseren gemeinsamen Traum zu beenden. Die dünne Hülle aus Metall und Glas verschwand, daraufhin die Planeten, die Sonne und sämtliche Sterne. Sobald mich nichts als angenehm kühle Dunkelheit umgab, fühlte ich plötzlich wieder den Sand unter mir und ich roch die frische, salzige Meeresluft. Ich öffnete meine Augen und blickte zu Stella, die ebenfalls in dieser Sekunde aufgewacht war. Manuel lag quer auf ihrem Rücken und hatte sich dermassen dicht an meine Tochter geschmiegt, dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Dies schien ihr jedoch nichts auszumachen, denn sie lächelte mir freundlich entgegen. Selbst aus der Entfernung von gut zwanzig Metern konnte ich das Licht der Sterne in ihren Augen glitzern sehen, was mich auf magische Weise verzauberte.

Nachdem es mir gelungen war, mich aus ihrem Bann zu lösen, warf ich ihr noch einen dankbaren Blick zu und sah zu Ferdinand, der lediglich einen Meter neben mir auf dem Stand lag. Seine Augen waren geschlossen und er zitterte durchgehend in angespannter Haltung. Besorgt richtete ich mich auf, wobei ich abrupt zusammenzuckte, als ich versehentlich mein rechtes Vorderbein belastete, und trat näher an meinen menschlichen Freund heran. Sofort roch ich, dass sich etwas an seinem Körper verändert hatte. Der Geruch von entzündetem Gewebe war nun wesentlich dominanter und sein heisser Atem, der jeweils kleine Wölkchen aus Kondenswasser erzeugte, stank beinahe abscheulich. Vorsichtig schnuppernd näherte ich mich seiner Stirn und sobald ich sie mit der Schnauzspitze anstupste, fühlte ich Ferdinands erhöhte Körpertemperatur.

«Stimmt etwas nicht mit ihm?», fragte Stella mit derselben Besorgnis, die ich bereits verspürte.

Ich glaube, er ist krank, mutmasste ich.

Um ihn nicht in der kalten Luft frieren zu lassen, schmiegte ich mich mit meiner Seite an ihn, bedeckte ihn vollständig mit meinem rechten Flügel und erzeugte Wärme in meinem Inneren. Selbst als mein Atem vor Hitze flimmerte, besserte sich Ferdinands angespanntes Zittern nicht. Da mir die Physiologie eines Menschen nicht sonderlich vertraut war, entschied ich, ihn aufzuwecken, sodass er mir mehr über sein Wohlbefinden erklären konnte. Ich stupste sein Gesicht mehrfach mit meiner Schnauze an, bis er endlich stöhnend die entzündeten Augen öffnete und mir verwirrt entgegenblickte.

«Geht es dir nicht gut?», fragte ich im Flüsterton.

Ferdinand antwortete lediglich in einem undeutlichen, heiseren Brummen, was meine Frage beantwortete. Da seine Lippen vollkommen ausgetrocknet waren, vermutete ich, dass er dringend Wasser benötigte. Stella wollte in diesem Augenblick Manuel wecken, der noch immer leise schnarchend auf ihrem Rücken schlief, als Brigitte sich bereits Ferdinand und mir näherte. Von ihrem ansonsten oft selbstgefälligen Gesichtsausdruck fehlte nun jegliche Spur, weswegen ich ihre Hilfe widerstandslos akzeptierte.

Kannst du ihm ein wenig Wasser bringen? Fragte ich sie, woraufhin sie mit einem hastigen Nicken antwortete.

Blitzschnell griff sie mit ihrem Schwanz nach meinem Speer, ehe ich sie nach ihren genauen Absichten fragen konnte, stiess sich vom Boden ab und flog in Richtung des nächstgelegenen Flusses davon. Verwirrt blickte ich ihr hinterher, da sie mir soeben mein geliebtes Allzweckwerkzeug entwendet hatte. Aufgrund der Tatsache, dass sie mir meines Wissens nach niemals meinen Speer stehlen würde, wandte ich mich wieder leicht genervt schnaubend Ferdinand zu.

Nur wenige Minuten später kehrte Brigitte mit einem ausgehöhlten, gut dreissig Zentimeter grossen Stein zwischen den Klauen zurück. Ich vermutete, dass sie meinen Speer verwendet hatte, ihn auf diese Weise zu formen, denn an der scharfen Spitze meiner Waffe war noch grauer Staub zu erkennen. Ohne auch nur eine Sekunde zu vergeuden, landete sie direkt neben mir und stellte den mit kristallklarem Wasser gefüllten Stein sachte auf den Sandstrand.

«Ferdinand, du musst etwas trinken.», sprach ich leise zu ihm.

Wortlos hob er seinen Kopf an und versuchte, auf die provisorische Wasserschale zuzurobben, jedoch brach er schmerzerfüllt ächzend mitten in der Bewegung zusammen und presste seinen linken Arm gegen seine Seite. Brigitte hob den Stein mit ihrem Maul an und hielt ihn Ferdinand vor sein Gesicht. Sobald seine Lippen den Rand des Steins berührten, änderte Brigitte die Ausrichtung ihres Kopfes, sodass Ferdinand das Wasser trinken konnte. Obwohl einiges verschüttet wurde, gelang es meinem Freund, zumindest seinen gröbsten Durst zu stillen, ehe der Stein leer war.

«Magst du noch mehr?», fragte ich vorsichtig.

Ferdinand schüttelte schwach den Kopf.

«Was fehlt dir noch?», setzte ich meine Fragerei fort.

«Ich weiss es nicht genau. Vermutlich wurde ich über Nacht krank.», entgegnete er heiser.

«Wie kann ich dir helfen?»

«Gar nicht, befürchte ich. Ich benötige einen Arzt.»

Ich warf Brigitte einen unschlüssigen Blick zu.

«Was ist los?», fragte sie.

Ihm geht es wirklich nicht gut. Er muss von menschlichen Ärzten behandelt werden.

«Dann solltet ihr direkt losfliegen! Ihr habt keine Zeit zu verlieren.»

Ehe ich sie darum bitten konnte, Ferdinand in mein Raumschiff zu tragen, tat sie es bereits eigenständig. Dies war das erste Mal, dass ihre Gedankenleserei tatsächlich von Vorteil gewesen war. Ferdinand liess widerspruchslos zu, dass er an seinem Brustkorb gepackt und in einem grossen Satz auf das Raumschiff verfrachtet wurde. Derweil hob ich meinen Speer auf und sprang auf die linke Tragfläche hinauf, um anschliessend auf den weich gepolsterten Sitz zu klettern, neben dem Ferdinand bereits in verkrampfter Haltung lag. Mitfühlend blickte ich ihm in sein schmerzverzerrtes, bleiches Gesicht, bevor ich mir einen Ruck gab und die Glaskuppel über mir schloss.

«Ich werde auf Stella aufpassen und ihnen den Weg nach Syrtis zeigen.», dachte Brigitte, während sie bereits von meinem Raumschiff sprang, sodass ich ungehindert starten konnte.

Sie starrte mir einige Sekunden erwartungsvoll in die Augen, bis ich mich dazu überwinden konnte, mich gedanklich für ihre Hilfsbereitschaft zu bedanken. Ihre Lefzen bildeten ein selbstzufriedenes Grinsen, was ich seufzend zu ignorieren versuchte, während ich die Triebwerke startete. Manuel, der bis zu dieser Sekunde noch geschlafen hatte, sprang erschrocken auf, beruhigte sich jedoch gleich wieder, als er Stella neben sich entdeckte.

«Wir werden bald nachkommen, Papa.», dachte meine Tochter zum Abschied, da sie die gesamte Situation mitverfolgt hatte.

Kurz bevor ich mich von ihr abwandte, erhaschte ich sie noch dabei, wie sie schmunzelnd zwischen Brigitte und mir umherblickte. Ich vermutete, dass sie über die Motivationen der magentafarbenen Drachin genauestens im Bilde war.

Sobald ich mich einige hundert Meter über dem Strand befand, erblickte ich bereits das erste orangerote Glimmen des Sonnenaufgangs im Osten. Sanft beschleunigte ich darauf zu und flog über den kleinen Wald hinweg, in dessen Bäumen sich gespenstische Nebelschwaden verfangen hatten. Geschwind stieg ich dem Himmel empor und beschleunigte durchgehend, um schnellstmöglich nach Syrtis zu gelangen, was sich auf der anderen Seite des Planeten befand.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ich wenige Stunden später das Anwesen von Orell und Kristina Meier erreichte. Zielstrebig setzte ich über dem mit Kies bedeckten Vorhof zur Landung an und reduzierte meine Höhe gemächlich, um Ferdinands Schmerzen nicht aufgrund von Fliehkräften zu verstärken. Dank der Triebwerke an der Unterseite konnte ich problemlos wenige Meter vor der grossen Eingangstür landen. Noch ehe ich die Glaskuppel geöffnet hatte, erspähte ich Kristina hinter einem geschlossenen Fenster. Als sie mich ebenfalls entdeckte, eilte sie umgehend in Richtung Tür.

«Kannst du auf meinen Rücken klettern?», fragte ich Ferdinand, dessen Zustand sich während des Fluges noch verschlechtert hatte.

Sein Gestank war nun beinahe unerträglich und seine Stirn fühlte sich noch deutlich heisser an als zuvor. Er nickte schwach, jedoch gelang es ihm anschliessend nicht, sich eigenständig aufzurichten. Ich legte mich flach vor ihn und reckte meinen Kopf zurück, sodass er sich mit der rechten Hand an einem meiner Hörner festklammern konnte. Nun zog ich ihn mithilfe einer Kopfbewegung sachte auf meinen Rücken, was bedauerlicherweise ein schmerzhaftes Stechen in meinem linken Flügel auslöste. Ferdinand stöhnte ebenfalls schmerzerfüllt auf, da es seinem linken Arm keineswegs besser erging.

Mit einigen komplizierten Rückenbewegungen, die vor meiner temporären Lähmung unvorstellbare Schmerzen in meiner Wirbelsäule ausgelöst hätten, bewegte ich Ferdinand auf die Mitte meines Rückens. Sobald er sich ausreichend an meinem Hals festklammerte, kletterte ich auf drei Beinen hinaus auf die Tragfläche meines Raumschiffs und sprang anschliessend mit ausgebreiteten Flügeln auf den Kiesplatz, um die Landung möglichst weich zu gestalten.

Kristina wartete bereits am Schlosseingang auf mich, während ich Orell hörte, der sich in eiligen Schritten näherte.

«Ich dachte zuerst, du wärst einer von den Drachen, die das Bergdorf angegriffen haben. Was ist dort mit Ferdinand und dir geschehen und woher hast du dieses Flugzeug?», fragte sie erleichtert und besorgt zugleich, sofern dies überhaupt möglich war.

«Das ist eine lange Geschichte. Könntest du bitte einen Arzt rufen? Ferdinand ist krank.», antwortete ich.

«Klar, kommt nur herein.», entgegnete sie und trat beiseite, sodass ich mit meinem menschlichen Passagier den Eingangsbereich betreten konnte.

Orell erreichte uns nur wenige Sekunden später. Er half mir, Ferdinand auf das Bett eines Gästezimmers zu tragen und zuzudecken, während Kristina bereits mit einem Arzt telefonierte. Gleich darauf brachten mehrere Bedienstete ein wohlriechendes, dampfend heisses Getränk in einem Behälter aus glatter, weisser Keramik mit einem kleinen, runden Griff und frische Nahrungsmittel.

«Wo ist Loris?», fragte Kristina, nachdem sie ihren Anruf beendet hatte.

Ferdinand, der zuvor bereits einen aufgelösten Eindruck erweckt hatte, begann zu weinen. Da ich zeitgleich leer schluckte und nervös zwischen den umstehenden Personen umherblickte, wurde sowohl ihr als auch Orells Gesichtsausdruck von Sorge getrübt. Bei den Gedanken an die schrecklichen Ereignisse des vergangenen Tages, denen ich auch meinen Albtraum zu verdanken hatte, beschleunigte sich mein Puls und mir wurde übel. Abermals schien ich Ferdinands Blut schmecken zu können und die Szene, als Igor Loris gefressen hatte, spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Nichtsdestotrotz zwang ich mich dazu, dies durchzustehen, da ich Orell und Kristina eine Erklärung schuldig war.

Mehrere Stunden später, nachdem Ferdinand bereits mit Medikamenten versorgt worden war und der Arzt mir versichert hatte, er würde wieder gesund werden, konnte ich endlich meine ausführliche Schilderung der Ereignisse beenden. Bei den Szenen mit Igor waren meine Zuhörer, zu denen ebenfalls die Bediensteten zählten, vollkommen still gewesen. Nun waren sie alle nachdenklich und betrübt.

«Also müssen wir uns nur von Igor in Acht nehmen?», durchbrach Kristina die Stille.

«Ja. Die anderen werden euch nicht grundlos angreifen.», antwortete ich.

«Wem können wir am ehesten vertrauen?», fragte Orell.

«Definitiv Stella. Sie würde niemals einen Menschen angreifen, jetzt da sie weiss, wie ich zu euch stehe. Bei Cuno bin ich mir auch sicher, dass er euch gut gesinnt ist.»

Und Brigitte ebenfalls, ergänzte ich meine Aussage gedanklich.

Da ich mich für diesen Gedanken schämte, behielt ich ihn für mich.

«Glaubst du, sie werden alle zu uns kommen?», fragte Kristina leicht verunsichert.

Ich nickte, wobei mich abermals das lästige Stechen in meinem Hinterkopf heimsuchte.

«Niemand wird euch Schaden zufügen, das versichere ich euch.», sagte ich, um ihr die Bedenken zu nehmen.

Hoffentlich bereitet Henrik keine Probleme, dachte ich währenddessen.

In den frühen Morgenstunden, als mir gerade die Augen zufielen, liess mich ein leises Rauschen aufhorchen, welches allmählich zu einem Dröhnen anschwoll. Ich reckte meinen Kopf hoch und blickte von Ferdinands Bett aus zum Fenster. Durch die perfekt saubere Glasscheibe hindurch erkannte ich nichts Aussergewöhnliches, weswegen ich aufstand, nach meinem Speer griff und das stockfinstere Gästezimmer verliess. Da Ferdinand vollkommen entkräftet war, schlief er noch immer tief und fest.

Die Erschütterungen der von mir erwarteten Raumschiffe waren bereits durch den Fussboden zu spüren, als ich das Schloss durch die grosse Tür verliess und dem noch dunklen Himmel emporblickte. Die vier jeweils dreissig Meter grossen, antiken Flugobjekte mit den roten Plasmatriebwerken steuerten geradewegs auf mich zu und setzten auf demselben Kiesplatz zur Landung an, auf dem ich bereits mein eigenes Raumschiff abgestellt hatte. In freudiger Erwartung, Stella wiederzusehen, jedoch auch ein wenig nervös, wartete ich, bis alle gelandet waren und ihre Triebwerke deaktiviert hatten, die mir heisse Luft ins Gesicht bliesen. Der Vorhof des Schlosses war nun dermassen voll, dass zwischen den Raumschiffen kaum noch genügend Platz für die einzelnen Drachen war. Alle bis auf Alexios, der in weiser Voraussicht am Rand gelandet war, mussten sich zwischen den Tragflächen hindurchzwängen, um zu mir zu gelangen.

«Das ist also dieser sichere Ort, von dem du uns berichtet hast, Nils? Ich muss sagen, ich bin beeindruckt.», merkte Cuno an, während er die vielen kleinen Türme des Schlosses, den grossen Garten und den Vorhof betrachtete.

«Wann fliegen wir endlich wieder zurück zur Erde? Diese Reise zieht sich schon viel zu sehr in die Länge.», dachte Henrik griesgrämig.

«Jetzt komm nicht schon wieder mit dem, du alter Nörgler.», konterte Irma sichtlich genervt.

Ich liess meinen Blick über die anwesenden Drachen schweifen, um zu überprüfen, ob wir vollzählig waren, wobei mir auffiel, dass Alexios und Geist uns bereits wieder verlassen hatten. Bei dem goldenen Drachen wusste ich, dass er gut allein zurechtkommen würde, jedoch war ich mir bei Geist nicht sicher, da er meiner Meinung nach aufgrund seiner Schuldgefühle suizidgefährdet war.

«Ich habe zu ihm gesprochen und inzwischen glaube ich, dass er mental wieder einigermassen stabil ist.», dachte Cuno, der meine Gedankengänge aufmerksam mitverfolgt hatte.

In diesem Augenblick traten Stella, Manuel und Brigitte auf mich zu, wobei ich meine Tochter begrüsste, indem wir uns gegenseitig mit den Schnauzen anstupsten und begannen, unsere Bewusstseine telepathisch miteinander zu verbinden. Henriks Knurren unterbrach unser Begrüssungsritual frühzeitig. Der dunkelgraue, dreieinhalb Meter grosse Drache fletschte die Zähne und starrte Orell und Kristina an, die uns aus dem Eingangsbereich beobachteten. Beide trugen einfache Gewänder und strömten intensive Körperdüfte aus, wodurch ich vermutete, sie wären soeben aufgestanden. Ehe ich etwas sagen konnte, trat die um einen halben Meter grössere Irma Henrik auf den Schwanz und starrte ihn finster mit erhobenem Kopf an. Ihre Geduld mit ihm schien sie bereits seit geraumer Zeit verlassen zu haben.

Zu meiner Verwunderung wehrte sich Henrik nicht. Er zog lediglich genervt brummend seinen Schwanz unter Irmas rechter Vorderpranke hervor, warf den beiden Menschen noch einen kurzen, feindseligen Blick zu und stapfte hinkend in Richtung des Gartens hinfort. Cuno und Lukas tauschten fragende Blicke aus. Jenny musste aufgrund der Selbstsicherheit ihrer Freundin schmunzeln.

Da sie nun nicht mehr angeknurrt wurden, wagten sich unsere Gastgeber endlich aus ihrem Anwesen heraus. Obwohl ich bei ihnen stand, roch ich ihre frischen Stresshormone und auf Orells Stirn liessen sich Schweissperlen erkennen. Stella fiel die Unsicherheit der Menschen umgehend auf, weswegen sie an meine Seite trat und zu sprechen begann.

«Hallo, ich bin Stella. Ihr müsst keine Angst vor mir oder den anderen haben, auch wenn sie in euren Augen vielleicht furchterregend aussehen.»

Die Furcht wich beinahe augenblicklich aus den Gesichtern der Menschen.

«Demnach bist du die Tochter von Nils?», fragte Orell.

Stella nickte.

«Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Orell und das hier ist meine Frau Kristina.», setzte er freundlich lächelnd fort.

«Guten Morgen Stella. Komm doch herein, wenn du magst.», sagte Kristina.

«Sehr gerne. Wie sieht es mit den anderen aus? Ich befürchte, einige von uns sind zu gross für eure Türen.», gab meine Tochter zu bedenken.

«Da hast du recht. Ich schlage vor, wir treffen uns alle im Innenhof.»

Daraufhin gingen Stella, Manuel, Brigitte, Jenny und ich zu Fuss durch das Schloss, während Cuno, Lukas und Irma den stark mit Pflanzen bewachsenen Innenhof auf dem Luftweg betraten.

«Bei den momentanen Geschehnissen werde ich bis zum Sonnenaufgang kein Auge mehr zubekommen.», merkte Orell an, als er gemeinsam mit mir den Innenhof erreichte, auf dem bereits drei Drachen warteten.

Sowohl Orell als auch Kristina schienen sich nun nicht mehr vor uns zu fürchten, jedoch waren sie aufgeregt.

«Hat einer von euch Hunger oder benötigt ihr irgendetwas anderes?», fragte Kristina leicht verunsichert in die Runde, wobei die meisten Augenpaare auf sie gerichtet waren.

Ich leitete die Frage telepathisch zu den anderen weiter, die mir allesamt versicherten, dass sie nichts benötigten. Cuno und Jenny erweckten den Anschein, als hätten sie lediglich aus Anstand auf diese Weise geantwortet, um Kristina und Orell nicht zur Last zu fallen, denn ihre Gedanken wechselten zwischendurch zu flammengegartem Fleisch.

Ratlos standen die Menschen inmitten der insgesamt acht Drachen und schienen nicht zu wissen, wie es nun weitergehen sollte. Lukas war diese Situation sichtlich unangenehm. Er stand mit leicht angewinkeltem, linken Vorderbein seitlich hinter Cuno und starrte die Ausserirdischen durchgehend an. Manuel lag scheinbar entspannt neben Stella, jedoch war seinem Blick Misstrauen zu entnehmen. Irma und Jenny hingegen schienen grösstenteils neugierig zu sein, da sie sich den Menschen vorsichtig schnuppernd näherten, um sie genauer betrachten zu können. Brigitte war die Einzige, die den Menschen keinerlei Beachtung schenkte, denn sie wanderte schnuppernd an den Schlossmauern entlang und folgte einigen alten Duftspuren.

Orell und Kristina blieben mit mehreren Kontrollblicken in meine Richtung stehen, als Jenny und schliesslich auch Irma die beiden mit ihren Schnauzspitzen anstupsten und anschliessend ihren Körperduft analysierten. Cuno, dessen silberne Schuppen bei nahezu jeder Bewegung im künstlichen Licht des Schlosses glitzerten, legte sich entspannt seufzend hin.

«Wir befinden uns in einem Schloss umgeben von Drachen. Jetzt fehlt nur noch ein König und ein Goldschatz.», durchbrach Orell plötzlich die Stille, während er sachte die Seite von Jennys Schnauze streichelte.

Dass er der lediglich zwei Meter und dreissig Zentimeter langen, gelbgrünen Drachin eher vertraute als ihrer beinahe doppelt so grossen Freundin war nicht verwunderlich.

«Weshalb meinst du? Was haben diese Dinge gemeinsam?», fragte ich leicht verwirrt aufgrund seiner Aussage.

Orell setzte seine Streicheleinheiten an Irmas Stirn fort, während sie die Augen schloss und ihren Kopf gemächlich zu Boden sinken liess.

«Es existieren viele uralte Geschichten über Drachen. In den meisten davon wird ein Königreich von einem Drachen angegriffen und es liegt an einigen tapferen Rittern, ihre Burg zu verteidigen.», antwortete er.

Da ich annahm, seine Worte könnten für die anderen von Interesse sein, leitete ich sie telepathisch weiter. Cuno reckte beinahe sofort seinen Kopf hoch und blickte Orell gespannt in die Augen, wobei dieser vorübergehend seine Streicheleinheiten einstellte, bis Jenny ihn an seinem Oberkörper anstupste.

«Weshalb sollten wir eine Burg angreifen?», entgegnete ich nicht minder interessiert.

«Die Drachen in unseren Geschichten lieben Gold über alles und da ein König oft haufenweise davon besitzt, ist seine Burg ein reizvolles Ziel.»

«Wie enden diese Geschichten zumeist?», fragte Cuno.

Ich leitete seine Frage an Orell weiter.

«Oft gelingt es dem tapfersten und mutigsten Ritter, die Bestie mit seinem Schwert zu besiegen.»

«Können die Drachen in euren Geschichten auch Feuer speien?»

«Ja.», erwiderte Orell.

«Ich halte die Vorstellung für höchst unwahrscheinlich, dass ein einzelner Mensch mit einer Klinge einen ausgewachsenen, feuerspeienden Drachen töten könnte. Solch eine Waffe müsste sehr klein sein, um von einem von euch geführt zu werden. Demnach ist es wohl kaum möglich, unseren Schuppenpanzer damit zu durchdringen. Die Klinge würde garantiert zerbrechen. Ausserdem würde kein Drache einen nicht fliegenden Gegner auf dem Boden bekämpfen. Eure Ritter würden in Flammen aufgehen, ehe sie auch nur einen Schwerthieb ausführen können.»

Das Übersetzen von telepathischen Signalen zu Worten und wieder zurück beschäftigte mich derart, dass ich mich nicht einmal an der Diskussion beteiligte. Erst als ich bemerkte, wie Cunos durch mich übersetzte Worte die Menschen verunsicherten, wurde ich mir dem Inhalt des Gesprächs vollends bewusst.

«Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken.», stammelte Orell leicht zittrig, dem silbernen Drachen zugewandt.

«Ich glaube nicht, dass du ihn gekränkt hast. Er hält diese Geschichten bloss für unwahrscheinlich.», sagte ich.

«Jage ich ihm etwa Angst ein?», fragte Cuno mich.

Er befürchtet, dich gekränkt zu haben, entgegnete ich telepathisch.

«Weshalb sollte mich das kränken? Es sind doch bloss Geschichten.», dachte Cuno verwirrt.

Dass diese Konversation sowohl den Menschen als auch den Drachen auf unterschiedliche Weise unangenehm war, liess mich amüsiert schmunzeln. Jenny lockerte die Situation auf, indem sie sich flach vor Orells Füssen hinlegte und ihm erwartungsvoll in die Augen blickte, bis er sich zu ihr herabbeugte und sowohl ihren Kopf als auch ihren Nacken zu kraulen begann.

«Wie alt sind eure Geschichten über uns?», fragte Stella derart plötzlich, dass mein Kopf instinktiv in ihre Richtung schnellte, was ein schmerzhaftes Stechen über meinem Nacken auslöste.

«Mehrere tausend Jahre. Wie alt die genau sind, weiss ich leider nicht.»

«Habt ihr bereits Überreste von Drachen auf dem Mars gefunden, worauf eure Geschichten basieren könnten?»

«Nicht das ich wüsste.»

«Eigenartig. Auf der Erde existieren tausende eurer Skelette aber wie mir scheint, war früher niemand von uns auf dem Mars. Was ist das älteste Relikt, welches ihr besitzt?»

«Das ist eine schätzungsweise achttausend Jahre alte Metallplatte, die in einem Museum in der Nähe des Bahnhofs ausgestellt wird. Es wird spekuliert, dass es einst ein Bauteil von einem Fahrzeug oder einer Panzerung gewesen war.»

«Sprichst du von Marsjahren oder Erdenjahren?»

«Marsjahre.»

«Demnach habt ihr vor fünfzehntausend Erdenjahren den Mars besiedelt.», schlussfolgerte Stella.

Orell und Kristina tauschten vielsagende Blicke aus.

«Über was sprecht ihr?», wollte Cuno wissen.

Ich brachte ihn auf den neusten Stand und übersetzte von nun an wieder alles.

«Wie kommst du darauf?», fragte Orell.

«Selbst in dreitausend Jahre alten Aufzeichnungen von uns wart ihr bereits nicht mehr auf der Erde. Wenn euer ältestes Relikt fünfzehntausend Jahre alt ist, müsst ihr die Erde in dieser Zeitspanne verlassen haben.»

Orell schüttelte ungläubig den Kopf, während er sanft mit seiner rechten Hand über Jennys Schnauze strich.

«Das ist absolut unmöglich. Wir Menschen lebten schon immer auf dem Mars. Wir waren noch nie zuvor im Weltraum.»

«Habt ihr bereits irgendwelche Knochen oder Rückstände von Lebensformen gefunden, die älter als fünfzehntausend Erdenjahre sind?», setzte Stella fort.

«Nein. Das wäre auch sehr unwahrscheinlich, da in dieser langen Zeit nahezu alles zu Staub zerfällt.»

«Bei uns auf der Erde existieren wesentlich ältere Überbleibsel von längst ausgestorbenen Tierarten, die allesamt in einem noch einigermassen guten Zustand sind. Zum Beispiel finden wir heute noch Knochen von drachenähnlichen Wesen ohne Flügel, die wir Dinosaurier nennen. Alle von diesen Knochen sind viele Millionen Jahre alt. Wie alt genau, wissen wir leider nicht.»

Stellas Aussage hatte nun endgültig Orells Interesse geweckt.

«Das liesse sich mit einer genauen Untersuchung der Fundorte und eventuell vorhandenen, radioaktiven Isotopen bestimmen. Ich muss unbedingt mal zur Erde fliegen und mir diese Knochen ansehen!»

Irma, die während der letzten Minuten weder von Kristina noch von Orell gestreichelt worden war, obwohl sie beide bereits mehrfach erwartungsvoll mit ihrer Schnauze angestupst hatte, drückte ihren Kopf nun zwischen Orell und Jenny, um die Aufmerksamkeit des Menschen zu erlangen. Orell schien umgehend zu begreifen, dass die orangefarbene Drachin eifersüchtig war, weswegen er ihr nun grinsend mit einer Hand über die Schnauze strich. Jenny richtete sich auf und starrte Irma vorwurfsvoll in die Augen.

«Was soll das? Such dir deinen eigenen Menschen aus!», meckerte sie und rammte den Kopf ihrer Freundin mit ihrem gesamten Körpergewicht beiseite, sodass nun wieder sie direkt vor Orell stand.

Stella musste aufgrund dieser Situation leise kichern und Brigitte, die das Geschehen aus der Ferne beobachtet hatte, grinste schadenfroh. Selbst Orell und Kristina mussten sich ein Lachen verkneifen.

«Ich glaube immer noch nicht, dass wir einst auf der Erde waren.», setzte Orell das Gespräch mit Stella fort.

Meine Tochter sah ihm nachdenklich in die Augen, bevor sie ihre nächste Frage stellte.

«Wie genau sieht dieses fünfzehntausend Jahre alte Metallteil aus? Gibt es irgendwelche speziellen Merkmale daran?»

«Nur dass es aus einer Titanlegierung besteht, die wir eigentlich erst seit einigen Jahrzehnten herstellen können.»

«Könnte es sein, dass ihr euren technologischen Fortschritt verloren habt?», mischte ich mich ein.

Orell zuckte mit den Schultern.

«Das Einzige, was ich noch darüber weiss, ist, dass es mit den Buchstaben 'DrSG' beschriftet ist. Als die Dariseg gegründet wurde, haben sie diese Buchstaben als Namen verwendet und Vokale hinzugefügt, damit man es besser aussprechen kann.»

Stella und ich sahen einander nachdenklich an, bis meine Tochter schliesslich eine weitere Frage stellte.

«Gibt es neben den alten Geschichten über Drachen sonst noch Wissen, was ihr seit Jahrtausenden hütet?»

«Ja, und zwar unser Regierungs- und Wirtschaftssystem. Vor über dreihundert Marsjahren wurden uralte Aufzeichnungen entdeckt, die das System mit den sieben Regierungsratsmitgliedern, der Gewaltenteilung und den Volksinitiativen beschreiben. Nach Jahrtausenden von gescheiterten Regierungen wollte man dieses System wiederaufleben lassen, da es laut einigen Schriftgelehrten sehr gut funktioniert haben soll. Es ging sogar so weit, dass man die damalige deutsche Sprache und selbst die Finanzwährung wiederhergestellt hat.»

«Da muss aber einiges nicht funktioniert haben, wenn man sich dermassen einem antiken System hingibt.», kommentierte ich.

«Das kann man wohl sagen. Es gab viele Könige, die allesamt gestürzt wurden. Anschliessend kamen Diktatoren, die dasselbe Schicksal erlitten haben. Nie waren alle Menschen zufrieden mit den Entscheidungen einzelner Personen. Alle wollten gleichberechtigt werden und nicht einem Machthaber oder Adligen untergeordnet sein. Deswegen hat man vor knapp fünfhundert Jahren auf Kommunismus gesetzt, was in einem gewaltigen Bürgerkrieg geendet hat, da beinahe jeder dieses System ausgenutzt hat. Zumindest diejenigen, die dazu in der Lage waren. Schlussendlich wurden die besagten Aufzeichnungen gefunden. Seither verwenden wir dieses direkt demokratische System und es hat sich tatsächlich bewährt.»

«Dass ihr eine antike Sprache verwendet, erklärt auch, weshalb wir euch verstehen können.», warf Stella ein.

Irma hatte sich inzwischen mit flehendem Blick neben Kristina auf den mit Moos überwucherten Pflasterstein gelegt. Orells Frau überwand endlich ihren grossen Respekt vor den Drachen und begann, Irma auf eine ähnliche Weise an ihrem Kopf zu streicheln, wie Orell es bereits seit Längerem bei Jenny tat. Sobald die Drachin sich bei den weichen Berührungen entspannte und die Augen schloss, konnte ich riechen, wie Kristina keine neuen Stresshormone mehr ausschied. Es bildete sich sogar ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht.

Das Gespräch zwischen Stella und Orell setzte sich noch lange fort, bis der inzwischen wolkenverhangene Himmel durch die aufgehende Sonne erhellt wurde. Cuno lauschte Stellas gedanklicher Übersetzung durchgehend mit grossem Interesse, während Jenny und Irma bei den Streicheleinheiten eingeschlafen waren. Brigitte hatte den Innenhof irgendwann verlassen und Lukas war ihr gefolgt, da er sich noch immer nicht gänzlich wohl fühlte in unmittelbarer Nähe von Ausserirdischen. Henriks dauerhafte Abwesenheit bereitete mir zunehmend Sorgen, da seine Taten schwer vorauszusehen waren, weswegen ich mich schlussendlich dazu entschied, mich auf die Suche nach ihm zu begeben.

Den Speer fest mit meinem Schwanz umschlossen, beschleunigte ich auf der längsten Gerade des Innenhofs, breitete meine Flügel aus und schwang mich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht dem Himmel empor. Die knappen Platzverhältnisse hatten dazu beigetragen, dass ich geringfügig mein linkes Flügelgelenk hatte belasten müssen. Sobald ich über die Dächer des Schlosses hinwegflog, entdeckte ich Brigitte, die entspannt im aufgewühlten Sand des Strandes lag und Lukas, der knapp dreissig Meter daneben sass und immer wieder verunsichert zur magentafarbenen Drachin blickte. Kurz darauf schien er mich zu wittern, denn er schnupperte plötzlich in meine Richtung, woraufhin er mich am Himmel entdeckte. Mit verlegen eingezogenem linken Vorderbein starrte er mich an, als hätte ich ihn während einer Missetat erwischt.

Wisst ihr zufälligerweise, wo Henrik ist? Fragte ich unbeirrt von Lukas' Verunsicherung.

«Nein, aber seine Duftspur führt dem Strand entlang in Richtung Westen.», antwortete Brigitte.

Während ich meine Flugrichtung anpasste, wobei ich aufgrund meiner Müdigkeit und des durcheinandergebrachten Schlafrhythmus ausgiebig gähnen musste, starrte mich Lukas noch immer verstohlen an. Ich erwiderte seinen Blick, weswegen er sich rasch von mir abwandte.

Was ist los, Lukas? Fragte ich, da meine Neugier nun obsiegte.

«Ach, nichts.», antwortete er.

Ich sah ihm mit misstrauisch schräg gelegtem Kopf in die Augen. Wie erwartet konnte er meinem Blick nicht standhalten. Um dennoch mit ihm sprechen zu können, setzte ich bereits zur Landung an.

«Du hast recht. Es gibt doch etwas, was mich belastet. Können wir das unter vier Augen besprechen?», setzte er fort.

Seine Augen fokussierten beinahe unmerklich Brigitte.

In Ordnung, dachte ich und flog weiter dem Strand entlang nach Westen, um nach unserem Gespräch bereits näher bei Henrik zu sein.

Lukas folgte mir wortlos mit hastigen Flügelschlägen. Mehrere Male blickte er zurück zu Brigitte, als befürchtete er, sie würde ihm folgen. Ich vermutete, dass sie diese Blicke bemerkt hatte, jedoch ignorierte sie sie gekonnt und sah sich stattdessen den scheinbar endlosen Ozean an.

Einige Minuten später landete ich gemeinsam mit Lukas neben einer kleinen Baumgruppe auf dem Strand. Sofort erweckten die Sandkörner zwischen meinen Klauen ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit in mir. Ohne etwas zu sagen, blickte ich dem viereinhalb Meter grossen, grauen Drachen in die Augen. Trotz seiner Grösse wirkte er aufgrund seiner Verunsicherung winzig klein. Selbst seinen Kopf hielt er stets geduckt. Er schluckte einmal leer, bevor er endlich mit seiner Erklärung begann.

«Wie könnt ihr, also Cuno, Stella, du und die anderen immer genau wissen, was zu tun ist?»

Ich legte fragend den Kopf schräg. Aufgrund seiner Reaktion von vorhin hatte ich vermutet, sein Anliegen hätte etwas mit Brigitte zu tun, da er sich offensichtlich geschämt hatte, es in ihrer Anwesenheit anzusprechen, jedoch schien ich mich getäuscht zu haben.

«Ihr wisst immer, was richtig ist und was nicht. Woher wisst ihr zum Beispiel, dass euch diese Ausserirdischen nicht plötzlich angreifen und weshalb vertraut ihr ihnen so sehr?», setzte er fort.

Wir werten bloss bekannte Fakten aus, vergleichen unsere Optionen und wählen den besten Kompromiss aus, antwortete ich noch immer verwirrt.

Lukas' Blick wanderte auf meinen Speer und anschliessend zurück zu meinen Augen, nur um eine Sekunde später wieder auf dem Boden hängenzubleiben.

«Aber wie trefft ihr diese Entscheidungen? Ihr seid alle so alt und weise und ich bin einfach nur ein ahnungsloses Kind.», dachte er verlegen, ohne mich anzusehen.

Du bist inzwischen achtzehn Jahre alt geworden, sofern ich mich nicht täusche. Demnach bist du kein Kind mehr.

«Trotzdem bin ich nicht weise wie ihr.»

Aufgrund seiner Aussage stiess ich amüsiert schmunzelnd ein Wölkchen aus Kondenswasser aus meinen Nüstern.

Weisheit ist eine Illusion, dachte ich.

Endlich sah Lukas mir wieder in die Augen.

«Wie jetzt?», fragte er verwirrt.

Jede Aussage oder Entscheidung kann unter gegebenen Umständen als weise dargestellt werden, solange sie dazu anregt, die eigene Denkweise zu verändern.

Lukas schwieg einige Sekunden, während er mich ausgiebig musterte.

«Aber das war auch wieder eine Weisheit.», antwortete er, woraufhin ich mir ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.

Ich wandte meinen Blick bereits schnuppernd in Richtung Westen ab, als mich Lukas erneut ansprach.

«Eigentlich wollte ich sagen, dass ich diese Wesen auf dem Mars nicht wirklich mag und ich glaube, sie sind gefährlich.»

Mit leicht zitternden Gliedmassen und eingezogenem Kopf dachte er an den Tod seiner Mutter Mia und die Entführung seines Vaters Gustav.

Du musst dich nicht vor ihnen fürchten.

«Das hat mir Cuno auch schon gesagt, aber woher könnt ihr das so genau wissen?»

Orell, Kristina und Ferdinand sind gute Menschen. Gib ihnen eine Chance und irgendwann wirst du ihnen vertrauen können wie wir.

«Die Zeit heilt alle Wunden, ich weiss.», dachte er traurig schniefend.

Das ist nicht gänzlich korrekt. Du wirst niemals vergessen können, was sie getan haben, aber irgendwann lernst du, besser mit deinem Verlust umzugehen und dein Urteilsvermögen nicht von deinen Emotionen beeinflussen zu lassen.

Lukas seufzte tief.

«Meinst du, ich soll mich einfach auf die Ausserirdischen einlassen und sehen, was geschieht?»

Genau. Wir werden dich frühzeitig warnen, falls sie sich doch gegen uns wenden sollten. Darauf kannst du dich verlassen, entgegnete ich.

Dies liess ein unsicheres, jedoch aufrichtiges Schmunzeln auf Lukas' Gesicht erscheinen.

«Danke, Nils.», dachte er mit neuer Selbstsicherheit.

Gern geschehen. Ich finde es gut, dass du über deine Anliegen sprichst. Solche Probleme sollte man nicht für sich behalten.

Mit diesen Worten nahm ich erneut Henriks Duftspur auf, beschleunigte auf dem weitläufigen Strand und schwang mich mit wellenförmigen Flügelbewegungen in die Höhe, sodass mein chronisch schmerzendes Gelenk nicht bewegt werden musste.

2

Verteidigungsministerium

Einige Minuten später erblickte ich endlich Henrik zwischen mehreren Bäumen. Aufgrund meines Geruchs wurde ihm meine Anwesenheit ebenfalls bewusst, weswegen er genervt knurrend dem Himmel emporblickte.

Komm doch wieder zu uns, anstatt hier mutterseelenallein in der Natur zu liegen, dachte ich.

«Verschwinde von hier und lass mich in Ruhe!», entgegnete er zornig.

Seufzend machte ich kehrt und flog zum Schloss zurück da ich vermutete, Henrik würde den Menschen doch keine Schwierigkeiten bereiten. Ich spielte mit dem Gedanken, nach Igor zu suchen, da ich ihn seit Tagen nicht mehr gesehen hatte, jedoch schnürte sich meine Kehle bereits beim Gedanken an eine Begegnung mit ihm zu, weswegen ich mich dagegen entschied. Nachdenklich liess ich mich durch die kühle Luft gleiten. Die Umgebung war bereits einigermassen hell, da die Sonne hinter den Wolken mittlerweile vollständig aufgegangen sein musste. Ich liess meinen Blick über den endlosen Ozean zu meiner Linken schweifen, bis ich plötzlich ein lautes Brüllen vernahm.

Mein Puls beschleunigte sich rasant, als mir bewusst wurde, dass dies ein Drache gewesen sein musste. Mit vor Adrenalin zitternden Flügeln näherte ich mich zielstrebig dem Schloss, wobei mir einige gepanzerte Fahrzeuge neben dem Eingangstor des Vorhofs auffielen. Offensichtlich bewaffnete Menschen stiegen in diesem Augenblick aus und rannten auf das Anwesen von Orell und Kristina zu. Ein blendend helles Licht in der Nähe des Gartens erregte meine Aufmerksamkeit. Cuno spie sein grell weisses Feuer auf mehrere kleine, scheinbar unbemannte Flugobjekte, die ihn umzingelt hatten. Eines davon wurde direkt getroffen und fiel nur eine Sekunde später als geschmolzener, glühender Metallklumpen zu Boden. Die anderen konnten sich dem silbernen Drachen bis auf wenige Meter nähern und verschossen ein Netz aus blauen Blitzen, die allesamt durch Cuno strömten und sich auf der jeweils anderen Seite seines Körpers in eines dieser Flugobjekte entluden. Ich vermutete, dass die Stromschläge nur durch Cuno die grosse Distanz zu den anderen Flugmaschinen hatten überbrücken können, weswegen die Blitze auch allesamt ihr Ziel gefunden hatten.

Der Silberne stürzte in verkrampfter Haltung auf mehrere Bäume zu, prallte hart mit dem rechten Flügel gegen einen breiten Stamm und blieb anschliessend bewusstlos liegen. Jenny, Irma und Brigitte lagen bereits gefesselt auf dem nahegelegenen Strand und die Menschen mühten sich damit ab, Irma erneut zu betäuben, da sie sich nach Kräften wehrte und ihr orangefarbenes Feuer bereits mehrere der Angreifer getroffen hatte, was bedauerlicherweise nichts bewirkte, da ihre dunkelgrauen Anzüge offensichtlich feuerfest waren.

Ich wandte meinen Blick unseren Raumschiffen zu, da ich in Erwägung zog, in eines davon einzusteigen, um meinen Freunden mithilfe der antiken Technologie helfen zu können, jedoch stellte ich ernüchternd fest, dass sie bereits vollständig von den blitzverschiessenden Flugobjekten umgeben waren. In meinen Augen war es unmöglich, den Schwarm dieser sich rasend schnell bewegenden Maschinen zu durchdringen, ohne getroffen zu werden.

Lukas, der das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, wagte sich plötzlich aus seiner Deckung heraus und schoss silberne Flammen in Richtung mehrerer Personen, die sich soeben Brigitte näherten. Allesamt waren mit grossen Projektilwaffen ausgestattet, sofern ich mich nicht täuschte. Die voluminösen Flammen schienen zumindest die Sicht der Menschen zu blockieren, denn sie blieben vorübergehend stehen, während das Feuer sie vollständig einhüllte. Kurz bevor Lukas sie mit gefletschten Zähnen erreicht hatte, war er bereits von mehreren der blitzschnellen Flugobjekte umgeben, die Cuno wenige Augenblicke zuvor betäubt hatten. Zwei Blitze schossen durch seinen Körper, wodurch sich seine Flügel krampfhaft zusammenzogen. Unkontrolliert stürzte er ab und verfehlte die Menschen nur um wenige Zentimeter. Zwei von ihnen hatten sogar zur Seite springen müssen, um nicht unter dem Drachen begraben zu werden. Sobald Lukas benommen auf dem Boden lag, warfen einige Menschen Seile aus Karbonfasern über seinen Kopf und seinen Rücken, um ihn anschliessend fesseln zu können. Zwei weitere zielten mit ihren Projektilwaffen auf Brigittes Augen, woraufhin Lukas verzweifelt aufjaulte und mit seinem krampfhaft zuckenden Schwanz die bewaffneten Menschen zu Boden schlug. Dies führte dazu, dass man den jungen Drachen mit weiteren Elektroschocks betäubte, bis dieser heftig zuckend und mit Schaum vor dem Maul liegenblieb.

«Was soll das? Hört auf damit!», schrie ich den noch knapp vierhundert Meter entfernten Menschen entgegen, so laut ich konnte.

Beinahe sofort richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf mich und vier der Flugobjekte näherten sich mir in schätzungsweise dreihundert Stundenkilometern. Ich hatte gerade noch Zeit, meinen Speer mithilfe des Schwanzes über meinen Rücken zu halten, bevor sie mich wenige Sekunden später erreichten und Blitze in meine unzerstörbare Waffe einschlugen. Da das schwarze Material jegliche Energie absorbierte, traf mich lediglich eine winzige Verästlung der Stromschläge, weswegen ich nicht abstürzte. Stattdessen erhitzte sich der Speer schlagartig um schätzungsweise eintausend Grad.

Die Flugobjekte schienen sich erneut aufladen zu müssen, denn es schossen keine weiteren Blitze mehr daraus hervor, als ich mich den Menschen näherte. Ich wollte gerade zur Landung ansetzen, als mir auffiel, dass meine Tochter in grosser Gefahr war.

«Ich habe Manuel frühzeitig gewarnt, sodass er Stella in Sicherheit bringen konnte. Leider war dieser Schwächling dermassen langsam, dass ich die Angreifer ablenken musste und dabei selbst gefasst wurde.», nahm ich Brigittes Gedanken wahr.

Ein starkes Gefühl der Erleichterung durchströmte nun meinen Verstand. Ausserordentlich dankbar sah ich Brigitte entgegen und entschied mich dazu, ihr nun zu helfen, um meine Schuld zu begleichen. Die durch Lukas zu Boden geschlagenen Menschen richteten sich erneut auf und nahmen ihre fallengelassenen Waffen zur Hand. Wieder zielten sie auf Brigitte, weswegen ich eine leichte Rechtskurve gefolgt von einer scharfen Linkskurve flog, um meinen Körper in eine Rotation zu versetzen, sodass ich meinen Speer werfen konnte. Im Gegensatz zu meinem Angriff auf Igor leitete ich den Schwung lediglich durch meinen Hals und schliesslich meinen Schwanz weiter, indem ich den Rücken steif hielt. Dadurch wurden keinerlei Schmerzen ausgelöst, als ich meine Waffe peitschenartig in Richtung der Angreifer verschoss. Rauschend schoss der glänzend schwarze, stark erhitzte Speer durch die Luft und traf schliesslich den vordersten Menschen, der seine Waffe auf Brigitte gerichtet hatte. Sofort entlud sich die darin gespeicherte Energie und schleuderte den Angreifer mit erstaunlich hoher Geschwindigkeit gegen seinen Kollegen, der wiederum kraftvoll von den Füssen gerissen und gegen eines der gepanzerten Fahrzeuge gestossen wurde. Demjenigen, den ich direkt getroffen hatte, war sein dunkelgrauer Brustpanzer zerfetzt worden und ein tiefes Loch klaffte in seinem Oberkörper. Beide Menschen rührten sich nicht mehr. Der unverkennbare Geruch von Blut strömte mir entgegen.

Einige der anderen richteten nun ihre Waffen auf mich, weswegen ich den Kopf von ihnen abwandte und die Flugrichtung änderte. Bedauerlicherweise verfügte ich nun nicht mehr über eine Waffe, welche sämtliche Stromschläge abfangen konnte, weswegen mich der Blitz zweier Flugobjekte, die noch immer neben mir flogen, vollständig durchdrang. Beinahe augenblicklich wurde mir schwarz vor Augen.

«… haben keine Berechtigung dazu, in unser Grundstück einzudringen und unsere Drachen anzugreifen!», nahm ich Orells aufgebrachte Stimme wahr, als ich mein Bewusstsein zurückerlangte.

«Es tut mir leid, Herr Meier, aber das Verteidigungsministerium hat entschieden, die kürzlich auf dem Mars eingetroffenen Drachen zu eliminieren, da sie eine Gefahr für die globale Sicherheit darstellen. Sie können Feuer speien, sind mit höchst fortschrittlicher Technologie ausgestattet und haben bereits zahlreiche Menschen getötet. Ausserdem könnten sie unbekannte Krankheiten übertragen.», sprach eine Frau, deren Stimme mir bekannt vorkam.

Ich öffnete meine Augen und schnupperte durch die Karbonfasern hindurch, die meine Schnauze vollständig einhüllten. Durch den Geruch dieser Frau identifizierte ich sie als diejenige, die damals zu Ferdinand gesprochen hatte, als ich erstmals von den schnellen, Blitze verschiessenden Flugobjekten betäubt worden war. Wie damals schoss ein pulsierender Schmerz durch meinen gesamten Schädel und mir war speiübel, was noch durch den derben Gestank ausgetretener Körperflüssigkeiten verstärkt wurde.

«Das ist vollkommener Schwachsinn! Die Drachen waren wochenlang isoliert in Raumschiffen unterwegs und ihre Körper nehmen häufig hohe Temperaturen an, was sämtliche Keime vernichtet.», entgegnete eine mir ebenfalls bekannte Stimme.

Verwirrt blickte ich zu Claudia Fuchs, die sich soeben von links näherte. In diesem Durcheinander hatte ich ihren grösstenteils neutralen Körpergeruch nicht wahrgenommen.

«Wir führen nur unsere Befehle aus.», verteidigte sich die Frau, deren Namen ich eigentlich kennen sollte.

«Wie viele Drachen existieren momentan auf dem Mars?», fragte Claudia Fuchs.

«Weshalb ist das relevant?», entgegnete ihr Gegenüber.

Ich vermutete, dass Frau Fuchs die andere Frau durchdringend anstarrte, jedoch war dies hinter ihrer dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen.

«Beantworten Sie mir bitte meine Frage, Frau Gasser.»

Die Angesprochene blickte verwirrt umher.

«Maximal zwei Dutzend, soweit ich weiss.»

«Unter welches Recht fallen Lebensformen, die lediglich in dieser geringen Anzahl auf unserem Planeten existieren?», setzte Frau Fuchs fort.

«Das Artenschutzgesetz.», entgegnete Frau Gasser.

«Somit zählen die Drachen als vom Aussterben bedrohte Lebensformen und es verstösst gegen das Gesetz, sie zu töten.»

«Dennoch haben wir den Auftrag erhalten, die Drachen zu betäuben und anschliessend zu erschiessen.»

Claudia Fuchs seufzte, als könnte sie kaum fassen, was sie soeben gehört hatte.

«Weshalb sperren Sie die Drachen nicht einfach ein, nachdem Sie sie betäubt haben? Dadurch verstossen Sie gegen kein Gesetz und diese Wesen stellen für niemanden mehr eine Gefahr dar.»

«Unsere Befehle lauten anders und wir sind nicht dafür ausgerüstet, die Drachen mitzunehmen.»

«Das ist nicht mein Problem, aber sollten Sie auch nur einen dieser Drachen töten lassen, werde ich Sie wegen dem Verstoss gegen das Artenschutzgesetz anklagen.»

Frau Gasser blickte nervös zu mir und anschliessend auf die Sonnenbrille ihres Gegenübers. Orell stand mehrere Meter abseits des Geschehens und beobachtete die beiden gespannt.

«Aber was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach machen? Ich kann die Drachen nicht mitnehmen.»

«Lassen Sie das meine Sorge sein. In Kürze werden entsprechende Transporter hier eintreffen.»

Ich wollte etwas sagen, um die Gefangennahme meiner Freunde zu vermeiden, jedoch brachte ich mit meiner zugebundenen Schnauze nichts als ein undeutliches Brummen hervor.

«Binden Sie sein Maul los, ich möchte hören, was er zu sagen hat.», befahl Claudia Fuchs.

«Das können wir nicht machen.», erwiderte Frau Gasser.

«Er kann kein Feuer speien wie die anderen.»

Frau Gasser blickte nervös zwischen ihren Mitarbeitern und Frau Fuchs umher, wobei ich ihre frischen Stresshormone riechen konnte. Vermutlich schien sie sich sowohl vor mir als auch vor der blonden Regierungsrätin mit Sonnenbrille zu fürchten.

«Na gut. Bindet seine Schnauze los.», befahl sie.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis zwei offensichtlich männliche Personen, die vollkommen von ihren dunkelgrauen, feuerfesten Anzügen verhüllt waren, die Seile um meine Schnauze gelockert und anschliessend entfernt hatten. Warmes Blut strömte unangenehm kribbelnd in meine Lefzen zurück. Ich ignorierte meine starken Kopfschmerzen und begann, zu sprechen.

«Bitte lassen Sie nicht zu, dass Claudia Fuchs uns gefangennimmt. Sie haben doch bestimmt in den kürzlich veröffentlichten Videos gesehen, was die Dariseg mit uns angestellt hat.», flehte ich Frau Gasser an.

In ihren Augen war ein leichter Glanz zu erkennen. Sie musterte mich lange nachdenklich, während Frau Fuchs mit verschränkten Armen neben uns stand.

«Es tut mir leid.», flüsterte sie schliesslich kaum wahrnehmbar.

«Die Transporter sollten in fünf Minuten hier sein.», merkte Frau Fuchs an.

Süffisant lächelnd liess sie ihren abschätzigen Blick über die gefesselten Drachen schweifen. Ich glaubte sogar, Gier in ihren Gesichtszügen zu erkennen.

«Mit lebendigen Drachen lässt sich mehr Umsatz generieren, nicht wahr?», setzte ich an Frau Fuchs gewandt fort.

Sie grinste mir schadenfroh entgegen.

«So läuft das Geschäft.», antwortete sie.

Frau Gasser schluckte leer und starrte die Regierungsrätin beinahe schockiert an. Sobald ihr Blick auf mich fiel, sprach ich sie erneut an, in der Hoffnung, ihr Mitgefühl wecken zu können.

«Das hier sind meine Freunde. Bitte helfen Sie uns, Frau Gasser. Wir werden keinem Menschen Schaden zufügen.», sagte ich.

«Und was ist mit diesen beiden? Die sehen ziemlich tot aus für mich.», konterte Frau Fuchs und deutete auf die Personen, die ich mithilfe meines Speers getötet hatte, um Brigitte zu beschützen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass der Erste von ihnen vollständig von meiner Waffe durchbohrt worden war. Der noch mit einer hauchdünnen Eisschicht bedeckte Stab ragte ungefähr mittig aus dem Brustkorb des Mannes hervor. Dahinter lag der zweite Mann in verrenkter Haltung neben dem gepanzerten Fahrzeug und rührte sich nicht.

«Ich habe bloss meine Freunde vor dem sicheren Tod bewahrt. Diese zwei Männer wollten ihr mit ihren Waffen in die Augen schiessen.», sagte ich, wobei ich zuerst mit der Schnauze auf die Leichen und anschliessend Brigitte deutete.

«Dennoch hast du sie getötet.»

Während ich überlegte, wie ich das Argument von Frau Fuchs kontern konnte, witterte ich plötzlich Kristina. Sie näherte sich in eiligen Schritten von rechts und ihrem Duft nach war sie höchst aufgebracht.

«Verschwinden Sie von unserem Grundstück!», schrie sie Frau Gasser und Frau Fuchs aus knapp vierzig Metern Entfernung an.

Die Regierungsrätin verschränkte die Arme vor der Brust und Frau Gasser trat verunsichert einen Schritt zurück, scheinbar unbewusst auf Jenny zu.

«Solch gefährliche Tiere dürfen nicht frei in der Nähe der Hauptstadt herumfliegen.», entgegnete Frau Fuchs gelassen.

«Sie sind nicht gefährlich, solange man ihnen keinen Grund dazu gibt!»

Kristina hatte uns nun erreicht und begann zielstrebig, Irmas Schnauze loszubinden. Die bewaffneten Männer und Frauen in den gepanzerten Anzügen blickten erwartungsvoll zu Frau Gasser, die wiederum tatenlos das Geschehen beobachtete. Gerade als Kristina das letzte Seil um Irmas Kopf entknotet hatte, näherte sich ein Mann von links, wahrscheinlich um Kristina aufzuhalten und die vier Meter grosse Drachin erneut zu fesseln. Irma knurrte ihn bedrohlich an, wodurch er stocksteif stehenblieb. Kristina legte ihr besänftigend eine Hand auf die Schnauzspitze. Irma starrte den Mann noch immer finster an, knurrte jedoch nicht mehr.

«Seht ihr? Die Drachen sind nicht böse!», setzte Kristina ihre Demonstration fort.

Um ihre Aussage zu unterstreichen, strich sie Irma behutsam über die Stirn.

«Das reicht jetzt, Frau Meier. Überlassen Sie die Drachen mir und ich werde mich gut um sie kümmern.», fuhr Frau Fuchs dazwischen.

Ihr Blick war durchgehend auf Irma gerichtet. Allem Anschein nach behagte ihr die Vorstellung einer teilweise ungefesselten Drachin in ihrer Nähe nicht. Da aus der Ferne bereits das leise Rumpeln der herannahenden Transportgefährte zu hören war und Frau Gasser noch immer nicht einschritt, sah sich Orell gezwungen, seiner Frau zu helfen. Er kniete sich vor mich und lockerte meine Fesseln, bis Frau Fuchs schliesslich mehrere Schritte zurückwich.

«Lassen Sie nicht zu, dass sie die Drachen befreien, Frau Gasser.», befahl sie verunsichert.

Zum ersten Mal seit ich sie kannte, roch ich ihre Stresshormone. Die Gewissheit, dass ihr die Kontrolle über die momentane Situation entglitt, liess mich siegessicher schmunzeln. Orell band mich vollständig los und ich stand auf, so gut es mit meinem starken Schwindelgefühl und der Übelkeit möglich war.

Die gesamte Welt schien plötzlich zu schwanken und ich war gezwungen, mich vorübergehend hinzusetzen, ehe ich mich der Befreiung meiner Freunde widmen konnte.

«Betäubt sie erneut!», sprach plötzlich ein mir unbekannter Mann in einem gepanzerten Anzug.

Mehrere Personen richteten ihre Betäubungswaffen auf mich und schliesslich auch Irma. Obwohl ich in meiner momentanen Verfassung beinahe nicht aufrecht sitzen konnte, ohne umzukippen, knurrte ich die Menschen zähnefletschend an.

«Nein, nicht!», fuhr Frau Gasser dazwischen.

Beinahe alle Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie.

«Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Drachen entkommen.», erwiderte der Mann.

Frau Gasser sah seufzend zu Frau Fuchs und anschliessend zu mir.

«Ich verbiete euch, einzuschreiten.», sprach sie kurz darauf leise.

«Aber …»

«Das ist ein Befehl!»

Da ihre Anweisung keinen Widerspruch zuliess, traten die bewaffneten Männer und Frauen beiseite, während Kristina und Orell bereits Irma und Jenny losbanden. Mein Blick wanderte zu meiner Waffe, jedoch entschied ich mich dazu, erst meinen Freunden zu helfen. Leicht torkelnd tapste ich auf Brigitte zu und zog mit den Zähnen an den Schlaufen der Karbonfaserseile, um die Knoten zu lösen. Sobald ich die Fesseln ausreichend gelockert hatte, sodass Brigitte sich eigenständig befreien konnte, sah sie mir erstaunt und dankbar zugleich in die Augen. Ich erwiderte ihren Blick unbewusst. Mehrere Sekunden war ihr Gesicht das Einzige, was ich wahrnahm.

Das stetig lauter werdende Rumpeln begleitet vom leisen Sirren einiger Elektromotoren weckte mich aus meiner Starre. Mit stark schmerzendem Kopf wandte ich mich meinem Speer zu. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich ihn erreicht hatte. Währenddessen liess mich der Gestank der beiden Leichen beinahe aufstossen. Ich biss in den scheinbar unendlich harten Stab meiner Waffe hinein und zog meinen Kopf ächzend zurück, jedoch gelang es mir nicht, den Speer herauszuziehen. Plötzlich verschwand der Widerstand beinahe vollständig, was mich aus dem Gleichgewicht brachte. Unsicher stolperte ich mehrere Schritte zurück, bis ich mit der Seite gegen Brigitte stiess, die mich offensichtlich beim Zurückgewinnen meiner Waffe unterstützt hatte, denn sie hielt das Ende des schwarzen Stabes im Maul. Sie zog die Hinterseiten ihrer Lefzen hoch, sobald sie meinen Blick bemerkte.

Aufgrund meines Schwindels liess ich meinen Speer los, richtete meinen Kopf in einer langsamen Bewegung gerade und setzte mich hin, bis sich die Marsoberfläche erneut stabilisiert hatte. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Lukas, der in trägen Bewegungen aufstand, nachdem er losgebunden worden war, und mit einem kurzen Blick zu Brigitte und mir in einem kräftigen Flügelschlag abhob. Ich kniff die Augen vorübergehend zu, als mir kubikmeterweise staubige Luft entgegengewirbelt wurde.

Irma trat mit mordlustigem Blick auf Frau Fuchs zu, die sich nun hinter einigen bewaffneten Männern versteckte. Ihr Zorn diesen Menschen gegenüber war gerechtfertigt, jedoch musste ich verhindern, dass ein Regierungsratsmitglied von einem Drachen getötet wurde, um meine Volksinitiative zu retten, sofern dies nicht ohnehin bereits ein hoffnungsloses Unterfangen geworden war.

Lass sie am Leben, dachte ich an die orangefarbene Drachin gerichtet.

«Ernsthaft?», entgegnete Irma telepathisch, stellte ihr Knurren ein und starrte mir misstrauisch in die Augen.

«Ich glaube, er hat recht. Wenn wir die Menschen jetzt angreifen, geben wir ihnen einen klaren Grund, uns Schaden zuzufügen.», warf Jenny ein.

Irma durchbohrte Frau Fuchs noch einmal mit ihrem zornigen Blick, breitete anschliessend die Flügel aus und schwang sich dem Himmel empor. Jenny folgte ihr umgehend, wobei ich feststellte, dass keine von ihnen durch die unbemannten Flugobjekte verfolgt wurden. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Frau Gasser, die noch immer unschlüssig inmitten des Geschehens stand und den Dingen ihren Lauf liess.

«Danke.», sagte ich zu ihr, was ihre Verunsicherung vorübergehend zu mindern schien.

Urplötzlich fühlte ich, wie mich jemand mit allen Vieren von hinten packte und mit den Flügeln schlug, um mich tragen zu können. Als ich anhand des Geruchs und der magentafarbenen Schuppen bemerkte, dass es sich um Brigitte handelte, liess ich ihre Hilfe widerstandslos zu. Die gesamte Welt schien willkürlich zu rotieren, als wir gemeinsam abhoben. Ein unangenehmes Stechen ging nun von meinem Magen aus und ich befürchtete, jeden Moment erbrechen zu müssen.

«Konzentriere dich auf meinen Geruch.», schlug Brigitte vor.

Seufzend folgte ich ihrer Anweisung. Mit geschlossenen Augen sog ich ihren Körperduft ein, während sie mit den Flügeln schlug und die starken Luftströmungen meinem chronisch schmerzenden Flügelgelenk ein starkes Ziehen entlockten. Ich versuchte, meinen Schwindel, die Kopfschmerzen und den Gestank der Leichen durch Brigittes Duft zu ersetzen, so gut es ging. Irgendwann schien meine Übelkeit tatsächlich abzunehmen, obwohl es mir innerlich widersprach, den Körpergeruch dieser Drachin dermassen in mir aufzunehmen.

Der kurze Flug nahm jäh ein Ende, als ich plötzlich auf einen harten, kalten Untergrund gelegt wurde. Verwundert öffnete ich die Augen und stellte fest, dass Brigitte mich direkt durch die Ladeluke in eines der grösseren Raumschffe gelegt hatte.

«Bleib hier! Ich kümmere mich um dein Raumschiff.», dachte sie und verschwand blitzschnell aus meinem Blickfeld.