Plötzlich Millionärin – nichts wie weg! - Gaby Hauptmann - E-Book
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Plötzlich Millionärin – nichts wie weg! E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Steffi steht das Wasser bis zum Hals. Was sie jetzt braucht, ist ein Sechser im Lotto. Und genau den hat sie! Erleichtert finanziert sie ihrem Sohn das Studium und tilgt die Schulden ihrer Schwester. Doch die findet, Steffi könnte mehr tun. Auch ihr Ex-Mann will Geld für seine neue Familie. Und plötzlich steht sie als die Egoistin da. Kurz entschlossen nimmt sie Reißaus und flieht nach Afrika, ihrer alten Sehnsucht. Bei einer Safari lernt sie Mike kennen. Er hat nach dem Verlust seiner großen Liebe alles verkauft und reist seitdem mit drei Koffern durch die Welt. Steffi fühlt sich zu ihm hingezogen, will aber auch ihr altes Leben zurück. Bloß – ihr altes Leben gibt‘s nicht mehr. Sie muss einen Entschluss fassen, und der braucht Mut ...

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Meinen Freundinnen, die immer da waren, wenn es darauf ankam

ISBN 978-3-492-99178-0 © Piper Verlag GmbH, München 2018 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.   In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Ich hätte auf meine Vorahnung …

Der Filialchef meiner Bank hatte mir …

Die Landung bewies, dass der Pilot …

Jede Pirschfahrt war anders, …

Ein langer Flug gibt einem …

In Frankfurt empfängt mich deutsche …

Zwei Wochen Urlaub und dann …

Ich kündige mich bei Susanne …

Nachwort

Danksagung

Guide

Ich hätte auf meine Vorahnung hören sollen. Wieso habe ich das nicht getan? Ich habe sie beiseite gewischt. Aber hinterher ist man immer schlauer – wer weiß das nicht!

Jetzt sitze ich auf diesem Flughafen, mitten in Afrika, und schüttle nur noch den Kopf: über mich, über das Schicksal, überhaupt darüber, dass die Dinge nie so sind, wie sie scheinen.

Wenn man zu einem Zeitpunkt, da einem das Wasser bis zum Hals steht, im Lotto gewinnt, dann wendet sich doch alles zum Guten. Glaubt man. Ja, eigentlich sollte man das glauben.

Gleichzeitig beginnen aber die Dinge um einen herum, ein dynamisches Eigenleben zu entwickeln. Denn eines ist sicher: Kaum hast du Geld, kommt die Gier der anderen. Und ich habe es nicht bemerkt.

Aber jetzt stecke ich mittendrin und habe Entscheidungen zu treffen, von denen ich vor Kurzem nicht einmal geträumt hätte. Wozu auch. Ich hatte ja kein Geld und war deshalb uninteressant für die meisten Menschen. Jetzt habe ich Geld, und einiges hat sich geändert. Für manche Menschen bin ich jetzt interessant. Sehr interessant.

Vor allem für meine eigene Familie.

Immerhin habe ich nun Zeit zum Nachdenken, denn ich habe meinen Weiterflug verpasst und bin gestrandet. Nachts in Nairobi. Und Hunderte von Fluggästen mit mir, weil unser Flugzeug von Johannesburg Verspätung hatte und der Anschluss nach Bangkok pünktlich war – also weg. Folglich sind wir nun alle hier, hier in Nairobi. Und stehen alle in einer langen Schlange vor einem einzigen Schalter, denn alle müssen übernachten. Das bedeutet, raus aus dem Flughafen. Aber bevor man Kenia betreten darf, braucht man ein Transit-Visa-Tagesticket. Die gelben Formulare sind angesichts der Menge an Menschen aber ausgegangen. Die weißen Formulare sind die falschen. So stehen nun alle in der Schlange und warten. Es sind noch zwei weitere Schalter besetzt: Dort aber steht niemand an, denn zwei Schilder »First Class« und »Diplomaten« zeigen uns, dass wir eben nur einfache Economics sind. Ein Herr mit Aktentasche probiert es trotzdem und wird von einer gähnenden Beamtin zurück in die lange Schlange geschickt.

Ich habe mich auf ein Fenstersims gesetzt und beobachte das Geschehen. Um 23.55 Uhr ist unsere Maschine nach Bangkok raus. Inzwischen ist es 1.55 Uhr, die nächste Maschine soll um 8.30 Uhr starten. Dann kann man doch eigentlich gleich im Flughafengebäude übernachten? Denkt man so, weil es praktisch wäre. Man wird aber eines Besseren belehrt: Geht nicht. Ist nicht erlaubt. Wir müssen raus aus dem Terminal.

Bloß wie, diese Frage ist noch offen.

Zeit zum Nachdenken.

Zeit, mein Gewissen zu prüfen.

Zeit, noch einmal alles zu überdenken.

Ich sehe mich noch einmal, wie ich zu Hause am Fernseher vorbeigelaufen und im Vorbeilaufen die Lottozahlen gesehen habe. Sehe diesen magischen Moment vor mir, der mich hat stehen bleiben lassen. Waren das meine Zahlen? Die Zahlen, die ich seit Jahren beharrlich jeden Monat einmal tippe, die Geburtsdaten von mir, meinem Sohn und meiner Schwester? Ich verharrte unentschlossen vor dem Bildschirm. Die Nachrichten hatten schon begonnen, und trotzdem kam ich nicht davon los. Habe ich tatsächlich meine Zahlen gesehen? 4, 5, 6, 14, 16, 20?

Im Moment herrschte in meinem Kopf ein totales Vakuum, dann drehte ich mich auf der Suche nach meinem Handy um meine eigene Achse. Auf dem Tisch stand das Glas Rotwein, das ich mir für den Spielfilm am Samstagabend schon gerichtet hatte, aber da lag kein Smartphone. Während ich zu suchen begann, schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Lass es wahr sein! Nur ein kleiner Gewinn, flüsterte ich, ein kleiner Gewinn würde schon reichen. Ich könnte den Hals aus dieser Finanzschlinge ziehen, die immer enger wurde und mich erdrückte. Einmal tief Luft holen. 10 000 Euro wären schon ein Geschenk des Himmels. Ich könnte Lars bei seinem Studium unterstützen. Ich könnte endlich mal wieder richtig durchatmen, aufatmen, die Brust dehnen, die sich schon so eng zusammengeschnürt hatte, dass ich kaum noch Luft bekam.

Ich lief hektisch durch die kleine Wohnung, aber das Handy blieb unauffindbar. Also die Fernbedienung, sagte ich mir. Teletext. Während vor mir auf dem Bildschirm gerade wichtige Menschen wichtige Reden hielten, suchte ich die richtigen Tasten. Ich war so nervös, dass ich mich vertippte. TTX, dachte ich, das kann doch nicht so schwer sein. Steffi, reiß dich zusammen! Was, wenn mir meine Fantasie einen Streich gespielt hatte? Endlich baute sich der Text vor mir auf. Weiß auf schwarz. Heutige Ziehung, Samstagslotto: 4, 5, 6, 14, 16, 20, Superzahl 8. Ich musste mich setzen. Dann bin ich aufgesprungen und ganz nah an den Fernseher herangegangen. Es änderte nichts: sechs Richtige, es waren meine Zahlen! »Es sind meine Zahlen!«, rief ich nach oben, zur Zimmerdecke. »Danke, lieber Gott, danke!«, und bin in den nächsten Sessel gefallen. Doch glauben konnte ich es noch immer nicht. Mein Aberglauben bremste mich: Wenn ich mich jetzt freue, kommt ganz bestimmt morgen die Enttäuschung. Entweder sind die Zahlen falsch, oder es gibt einen Formfehler oder sonst irgendetwas.

Gerade werden die gelben Zettel geliefert und auf einem Tisch mitten im Raum gestapelt. Die Schlange löst sich auf, denn jeder braucht jetzt so ein gelbes Formular. Nur hat kaum jemand einen Kuli griffbereit. Ich schon. Also hole ich mir so einen Zettel, bevor sie wieder ausgehen. Und dann fülle ich gewissenhaft aus, was morgen im Papierkorb landet – oder was machen die mit all diesen Formularen? Prüft das jemand? Und dann? Morgen um 8.30 Uhr sind wir doch alle wieder weg.

Die Beamtin hinter ihrem Schalter hat nun ordentlich zu tun: Formular prüfen, Ausweis kontrollieren, Fingerabdruck rechts, Fingerabdruck links, Foto, dann wird das neue Tages-Visum in den Pass geklebt. Und das bei hundert Menschen. Die beiden Uniformierten nebenan in ihren verwaisten Schaltern gähnen. Ich nun auch. Ich beobachte das Treiben von Weitem und rechne mir aus, dass es gut eine Stunde dauern wird, bis wir alle unsere Visa in der Tasche haben. Dann müssen wir alle noch unsere Übernachtungshotels zugeteilt bekommen und schließlich … gut, dann wird es längst nach 3 Uhr sein.

Ich gähne noch einmal, rutsche auf meinem Fenstersims herum, bis ich am kantigen Fensterrahmen eine bessere Stellung für meinen Rücken gefunden habe, schließe die Augen und sinke in meine Vergangenheit zurück. Ich weiß noch gut, wie ich mich gefühlt habe, es liegt ja auch noch nicht lange zurück. Wie ich an meinem Laptop aufgeregt überprüft habe, ob ich meinen Tippschein überhaupt ordnungsgemäß abgeschickt hatte und ob die Spielquittung auch wirklich per Mail eingetroffen ist. Ja, die Quittung war da. Kurze Erleichterung, aber dann fühlte ich mich, als ob eine Grippe im Anflug wäre. Heiße und kalte Schauer fuhren mir abwechselnd über den Körper, schließlich trank ich mein Glas Rotwein, aber es wurde nicht besser. Meine Nerven spielten verrückt, und ich wurde überhaupt nicht ruhiger. So einen Zustand hatte ich noch nicht gekannt. Weder bei Ottos Heiratsantrag dreiundzwanzig Jahre zuvor noch beim positiven Schwangerschaftstest ein Jahr später.

Ich überlegte, einen Mantel anzuziehen und rauszugehen. Eine Runde um die Häuser drehen, die nebelige, kalte Herbstluft würde mir guttun, dachte ich. Aber dann hatte ich Angst, etwas Wichtiges zu verpassen, also blieb ich sitzen und fragte mich, wie es nun wohl weitergehen würde? Würde tatsächlich demnächst der Mann mit dem Koffer vor der Tür stehen?

Ich hatte keine Ahnung, also gab ich im Internet den Begriff Lottogewinn ein. »Wer eine Benachrichtigung über seinen LOTTO-Gewinn erhält, sollte vor allem eins tun: erst einmal Ruhe bewahren. Der Gewinnbetrag – wie hoch er auch sein mag – wird erst einmal für viel Aufregung sorgen.« Und weiter: »Erst nach Vorlage der Quoten werden die Gewinner benachrichtigt.« Also gut, dachte ich, vor Montag also sicherlich nicht. Zwei Tage … Ich würde erst einmal abwarten müssen. Und tatsächlich Ruhe bewahren. Zwei volle Tage. Unvorstellbar lang.

Ich hätte so gern jemanden angerufen. Aber mit wem hätte ich dieses Problem besprechen können? Nein, sagte ich mir, ich muss da alleine durch. Und tatsächlich Ruhe bewahren. Und dann überlegen, was zu tun ist. Und ganz bestimmt, sollte es wirklich ein großer Lottogewinn sein, werde ich das nicht an die große Glocke hängen. Ich werde weiter im Drogeriemarkt arbeiten, Ware auszeichnen, Regale einräumen und an der Kasse sitzen. Und ich werde mich ganz einfach still und leise freuen, dass ich mein Leben im Griff habe, dass mich keine Ängste mehr quälen und dass ich befreit lächeln kann. Genau das werde ich tun.

Und jetzt musste es einfach irgendwie Montag werden, damit ich erfuhr, ob ich auch wirklich gewonnen hatte. Und wenn ja, wie viel!

Ich spürte schon wieder mein Herz klopfen und stand auf, um mir die Rotweinflasche aus der Küche zu holen. Ein einziges Glas hatte ich mir an dem Abend gönnen wollen – aber so, wie es aussah, würde das nicht ausreichen.

Am frühen Morgen des darauffolgenden Montags habe ich mich krankgemeldet. Ich bin immer die Zuverlässige, stets die, die für andere einspringt, jetzt konnte auch mal jemand anderes für mich da sein, dachte ich mir. Den ganzen Morgen über wartete ich auf die Mail, die mein Leben verändern würde. Oder eben auch nicht. Ich habe schon zu oft erlebt, dass die Dinge zum Greifen nah waren und dann doch wieder in weite Ferne gerückt sind.

Doch um 10.23 Uhr war sie da, die herbeigesehnte Mail aus der Lottozentrale:

»Sehr geehrte Frau Weiss, herzlichen Glückwunsch – Sie haben mit Ihrem Spielauftrag gewonnen! Weitere Einzelheiten und Hinweise finden Sie in Ihrem Kundenkonto sowie in unseren Teilnahmebedingungen. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Kundenservice.«

Mein ganzer Körper vibrierte vor Anspannung. Jetzt mussten die Gewinnquoten im Internet veröffentlicht sein. Selten hat mein Laptop eine Seite so langsam aufgemacht wie gerade diese. Ich hätte vor Ungeduld platzen können, aber jetzt, jetzt, da waren sie:

 

Klasse 1 (6 Richtige + SZ)   unbesetzt

Klasse 2 (6 Richtige)            1 × 1 171 349,10 Euro

Ich musste die Zahl immer und immer wieder lesen. War das möglich? Über eine Million Euro? Unfassbar. Die Zahl sah so seltsam aus. So lang. Eine Million? Wahnsinn!! Ich griff aufgewühlt zum Telefonhörer. Die Nummer der Lotto-Zentrale in Stuttgart hatte ich mir längst herausgeschrieben, der Zettel lag mitten auf dem Tisch. Ich hatte alles vorbereitet, trotzdem zitterte jetzt meine Hand. Du bist 45 Jahre alt, sagte ich mir, stell dich nicht so an. Trotzdem hatte ich Angst, dass ich gleich stottern würde.

»Staatliche Toto-Lotto GmbH Baden-Württemberg, Lore Langschild, guten Tag!«

»Ja, guten Tag, hier ist Steffi Weiss, und ich habe mal eine Frage, wenn meine Zahlen mit den Lottozahlen übereinstimmen, an wen kann ich mich dann wenden?«

»Ich stelle Sie zu unserem Kundenservice durch.«

Ich hielt die Luft an. Der Kundenservice. Jetzt würde ich es gleich wissen. Das Schicksal nahm seinen Lauf. Und tatsächlich erfuhr ich wenig später, dass ich, sollte meine Spielauftragsnummer 0306070816872658 lauten, die glückliche Gewinnerin von 1 171 349,10 Euro sei. Es käme bei der Gewinnsumme aber noch ein Glückwunschbrief mit der Bestätigung. Und außerdem seien die Großgewinner auch immer herzlich zu einem Gespräch in die Lotto-Zentrale eingeladen.

Als ich mein Handy wieder zur Seite legte, fühlte ich mich wie erschlagen. Warum kann ich mich nicht freuen?, fragte ich mich. Ich müsste doch einen Luftsprung machen und durchs Zimmer tanzen. Stattdessen fühlte ich mich wie gelähmt. Eine Million? Das ist ja ein Wahnsinn. Was mache ich denn mit einer Million?

Was mache ich denn mit einer Million? Mein Rücken tut mir weh, und ich öffne ein Auge, um die Situation zu überprüfen. Die Schlange ist kürzer geworden, ich werde mich also bald anstellen. Ja, die Million, denke ich, während ich die Leute mustere, die nun alle gelbe Zettel in der Hand halten. Manche nehmen es gelassen, scherzen und machen offensichtlich das Beste draus, andere stehen einfach in sich gekehrt da, einige Frauen tragen ihre schlafenden Kinder auf dem Arm. Die Million, die bringt dich in so einem Fall auch nicht weiter. Ob du nun Geld hast oder nicht, du musst dich der Situation fügen. Nur, ohne Geld wäre ich gar nicht hier, überlege ich weiter, denn ohne Geld hätte ich nicht reisen können. Wenn ich es genau besehe, war diese Reise aber auch eine Flucht. Und ohne Geld hätte ich gar nicht erst fliehen müssen.

Ich höre mich selbst seufzen. Soll ich also zurück, anstatt morgen weiterzufliegen? Ich könnte einen anderen Flug buchen, zurück nach Frankfurt. Ich könnte mich dem aussetzen, was dann sicher auf mich einprasselt. Will ich das? Ich habe noch Zeit, darüber nachzudenken.

Ich schließe wieder die Augen, versetze mich zurück und sehe mich durch meine kleine Wohnung gehen. Der Kühlschrank ist betagt und verbraucht zu viel Energie. Außerdem brummt er ständig vor sich hin. Das nervt mich schon lange. Und überhaupt – die ganze Küchenzeile ist alt. Alt und mit dem aufgeklebten Bambusmuster einfach nur unansehnlich. Aber als ich vor drei Jahren eingezogen bin, war ich froh, einige Möbel der Vor-Mieterin übernehmen zu können. Obwohl nichts davon meinem Geschmack entsprach und alles zusammen eher nach Sperrmüll als nach einer Einrichtung aussah. Aber man gewöhnt sich bekanntermaßen an fast alles, ganz besonders dann, wenn man kein Geld hat. Bei der schnellen Trennung von Otto war ich so paralysiert gewesen, dass er fast alles behalten konnte. Vor allem die schöne Wohnung, weil ich mir die alleine sowieso nicht leisten konnte. Und weil er ja Platz für seine neue Familie brauchte, denn seine Geliebte war schwanger geworden. Und auch Lars, unser Sohn, sollte ja sein Zimmer nicht verlieren. »Das Zimmer darf er nicht verlieren, seine Mutter dagegen sehr wohl«, habe ich nur traurig gesagt. Und der 17-jährige Lars, der kurz vor seinem Abitur stand, schrie: »Wenn ich jetzt mein Abi vermassele, seid ihr schuld!« Diese Schuld hat er mir noch mitgegeben. Und dann ist er vorübergehend zu einem Freund gezogen, weil er uns beide, Otto und mich, »zum Kotzen« fand.

Im Geiste sehe ich mich noch ins Schlafzimmer gehen und den Kleiderschrank und das Bett betrachten, beides von meiner Vormieterin übernommen. Da könnte ich doch etwas Geld aus meinem Lottogewinn sinnvoll einsetzen. »Rückenschmerzen ade!«, sagte ich extra laut und zeigte mit dem Finger auf die Matratze. »Jetzt gibt es eine neue!« Oder gleich ein neues Bett? Lieber nicht, auch eine Million kann schnell weg sein, wenn man es übertreibt. Aber ich könnte, und dieser Gedanke war der verlockendste von allen, ich könnte eine Reise machen. Schon immer hatte ich von schönen Reisen geträumt. Otto war ein Reisemuffel, er hatte noch nie einen Sinn darin gesehen, das Geld für etwas auszugeben, das man nachher nicht in den Händen halten konnte. Für ein schönes Auto, ja. Für einen großen Fernseher, ja. Für ein Dolby-Surround-System, natürlich. Aber mit dem kleinen Lars und seiner Frau mal an die Nordsee? Wellen, Meer und weite Strände? Mit kleinen Eimern und bunten Förmchen Sandburgen bauen? Da wurde ein Sandkasten für den Garten angeschafft, der tat es auch.

Warum sollte ich nach der Trennung darüber nachgrübeln, was war. Nach vorn schauen, das hatte mir meine Schwester damals eingebläut. Gut, sie hatte schon Erfahrung darin, ihre Scheidung lag länger zurück. Allerdings war sie damals im Haus wohnen geblieben. Ihr Mann war ausgezogen.

Und während ich so über die gewonnene Million nachdachte, kam mir die gute Idee, Susanne finanziell zu helfen. Ich wusste, dass sie von ihrem Kredit nicht runterkam, 5000 Euro. Schon die Zinsen für diesen Kredit taten ihr weh, denn ihr Sohn Felix studierte nun auch, und sie sparte sich jeden Cent von ihrem Gehalt ab. Schön, dachte ich, ich könnte ihr von einem kleinen Lottogewinn erzählen: 50 000 Euro. Davon 5000 Euro in die Studienkasse meines Sohnes und 5000 Euro für Susannes Kredit, also indirekt auch für die Studienkasse ihres Sohnes. Das wäre doch gerecht. Schließlich sind Lars und ihr Sohn phasenweise wie Brüder aufgewachsen und mussten nun beide jobben, um sich ihr Studium finanzieren zu können.

Tja, denke ich, da meinst du, du tust was Gutes. Ich schlage die Augen auf. Es stehen nur noch ein paar Leute vor dem Schalter, nun geselle ich mich dazu. Nicht, dass die Beamtin den Schalter schließt und in den Feierabend geht. Eine junge Frau steht vor mir, sie ist mir in ihrer schwarzen Lederhose und mit den tätowierten Schultern schon vorhin aufgefallen. Jetzt dreht sie sich nach mir um und spricht mich an:

»Den Flieger haben wir gar nicht verpasst, den haben die einfach gecancelt.«

Das ist mir neu. Aber gut, wir konnten auf keine Anzeigetafel mehr sehen, weil wir ja direkt beim Aussteigen vom uniformierten Bodenpersonal abgefangen worden waren.

»Und warum?«, will ich wissen.

»Zu wenig Fluggäste für die lange Strecke. Lohnt sich nicht, da kommt eine Übernachtung in Nairobi günstiger.«

»Das ist ja eine tolle Strategie«, sage ich.

Sie zuckt mit den Schultern. »Machen viele!«

»Ich habe keine Erfahrung damit«, radebreche ich auf Englisch, aber ihr Englisch scheint auch nicht ihre Muttersprache zu sei. »Wo kommen Sie her?«

»Rom!«, sagt sie. Und tatsächlich, hätte ich raten müssen, hätte ich auf eine Italienerin getippt. So schlank und lässig, wie sie vor mir steht, mit ihren langen schwarzen Haaren, die in Wellen über die Spaghettiträger ihres weißen Oberteils fallen.

»Und Sie?«, will sie wissen.

»Stuttgart. Germany.«

Sie lacht. »In Stuttgart hatte ich ein Auslandssemester in Kunst. Und ich habe mich verliebt«, sagt sie auf Deutsch. »War eine schöne Zeit.«

»Und warum sind Sie nicht geblieben?«

»Ich bin ein Wandervogel«, sie lächelt. »Und … er war sehr … I don’t remember the word«, fährt sie fort, »er wollte kein Geld ausgeben.«

»Sparsam«, helfe ich aus.

»Ja, so ähnlich …« Sie zwinkert mir zu.

Wahrscheinlich meint sie geizig, denke ich bei mir, aber das werde ich nicht sagen. Ich kenne keine geizigen Schwaben, obwohl ich immer davon höre. Vielleicht gilt das nur für höhere Einkommensschichten? So wie sie aussieht, lebt sie jedenfalls nicht von Pflastersteinkunst.

Während ich noch darüber nachdenke, stehe ich bereits vor der uniformierten Beamtin. Sie prüft laut Kaugummi kauend alles sehr genau, und nachdem sie mir mein Visum ausgehändigt hat, steht sie auf und mit ihr ihre zwei Kollegen nebenan. Schneller als ich sind die drei aus der Halle heraus.

Die Römerin wartet am Ausgang auf mich. »Also jetzt gilt es«, sagt sie und deutet die Treppe hinunter. Alle, die vorhin für die Visa angestanden sind, stehen nun vor den drei Tischen. »Hotelvergabe«, sagt sie. »Da sind wir mit ein paar Tricks schnell durch. Nützt aber nichts, weil die Busse sowieso erst fahren, wenn wir alle drin sind.«

Inzwischen sprechen wir eine Art von Englisch-Deutsch-Mix. Sie heißt Giulia, das weiß ich nun auch schon. Ich bin froh, eine Frau an meiner Seite zu haben, die sich auskennt, und ein bisschen wundere ich mich, dass sie sich meiner so nett annimmt. Schätzungsweise bin ich gut fünfzehn Jahre älter als sie.

»Und wieso reisen Sie nach Bangkok?«, fragt sie mich. »Ferien?«

Ich könnte ihr jetzt den wahren Grund erzählen, aber das ginge nicht ohne die Vorgeschichte.

»Scheidung«, sage ich schnell, das erscheint mir in meinem Alter plausibel, und so ein Thema ist schnell abgehakt. »Ich musste mal raus!«

»Liebe kann ganz schön kompliziert sein!«, stimmt sie zu, und ich denke: Wenn du wüsstest, wie recht du hast.

Plötzlich Geld zu haben aber auch. Ich war mit den Gedanken wieder zu Hause. Wirklich glauben können würde ich das alles erst, wenn diese unglaubliche Summe auf meinem Konto war, schwarz auf weiß zu lesen. Immerhin freundete ich mich mit dem Gedanken an, und am späten Nachmittag war es so weit, es zog mich hinaus, hinein ins Zentrum. Ich musste dringend durch die Calwer Passage gehen, mit ihren internationalen Restaurants, Nobel-Geschäften und den Designer-Läden, die ich immer gemieden hatte. Und auch an diesem Tag würde ich nicht hineingehen, nein, aber die Auslagen mit einem anderen Blick betrachten.

Was ich nicht sehe, macht mich nicht an, so hatte seit drei Jahren meine Devise gelautet. Und nach dieser Vorgabe lebte ich: Ich leistete mir gutes Essen, sparte nicht an der Heizung und kaufte mir zwischendurch eine Flasche Wein. Guten Wein. Dazu die Miete und die gelegentlichen Zuwendungen an Lars, damit war mein Verkäuferinnengehalt schon ordentlich ausgeschöpft. Und Rücklagen für die Versicherungen, für unvorhergesehene Reparaturen. Vielleicht mal ein Glas Wein mit einer Freundin in einer Weinkneipe und vielleicht auch mal eine Pizza beim Italiener. Aber das war auch das äußerste der Gefühle. Ottos monatliche 250 Euro überwies ich direkt an Lars weiter. Das war wenig genug. Wie mein Ex das bei unserer Trennung jongliert hatte, war mir auch nicht klar – aber er hatte seinen Abgang ja von langer Hand planen können. Und ich hatte keine Ahnung gehabt. Und keinen Anwalt.

Schnee von gestern, sage ich mir und beobachte Giulia, wie sie sich nach vorn schlängelt und dabei irgendwie einem der Offiziellen auffällt, der geschäftig zwischen den Tischen hin und her eilt und der sie prompt an einen leeren Tisch winkt. Sie dreht sich zu mir um und gibt mir ein Zeichen. Keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligt hat, aber ich gehe ebenfalls vor, und in kürzester Zeit haben wir zwei Voucher in den Händen: für das Crown Plaza. Inklusive Dinner, was um diese Uhrzeit aber wohl ein Witz ist. Immerhin, Crown Plaza hört sich jedenfalls nicht nach einer Jugendherberge an, denke ich und spüre jetzt die Müdigkeit aufsteigen. Kurze Busfahrt und Bett, dann kann ich noch ein bisschen schlafen. Das ist verlockend genug. Hinter Giulia trete ich vom Flughafengebäude hinaus in eine geschäftig laute Nacht. Vier grüne Busse stehen da, und ich bin Gott froh, dass Giulia die Führung übernimmt, denn ich wäre prompt in den falschen gestiegen. Die Bordkoffer stapeln sich hinter dem Fahrer, die Notsitze zwischen den Sitzreihen werden heruntergeklappt, und, ich glaube es nicht – so einen vollen Bus habe ich noch überhaupt nirgends erlebt. Sollte der Fahrer plötzlich Gas geben, fliegen die Koffer los und werden vor allem mich treffen, denn ich sitze auf dem vordersten Notsitz. Egal, beruhige ich mich, keine Panik, es wird schon nichts passieren.

Einige Sicherheitsschranken halten uns auf unserer nächtlichen Fahrt durch Nairobi auf. Erstaunlich viele Uniformierte und Kontrollen. Um diese Uhrzeit. An einer Schranke stehen wir ewig, denn sie lässt sich nicht öffnen. Die Gelassenheit des Busfahrers ist erstaunlich. Als er gerade zurückfahren will, um einen anderen Weg zu suchen, öffnet sie sich. Die holprige Fahrt geht weiter, und sie ist alles andere als kurz – nach einer Stunde kommen wir in unserem Hotel an und müssen dort durch eine Sicherheitsschleuse, das Gepäck wird durchleuchtet, alles wie am Flughafen. Giulia schafft es erneut, recht schnell an unsere Zimmerschlüssel zu kommen.

5 Uhr, schärft sie mir ein, müssen wir wieder unten sein. Die Fahrt dauere morgens länger, wegen der verschärften Sicherheitskontrollen. Ich kann mir keine Steigerung vorstellen, aber egal. Mein Zimmer ist sauber, in der Minibar finde ich Mineralwasser, und in meinem Handgepäck habe ich eine Zahnbürste und eine kleine Tube Zahnpasta. Dann also Katzenwäsche, denke ich und trete vor den Spiegel. Ein rundliches Gesicht sieht mir entgegen. Meine Gesichtsform fand ich als junge Frau zu altmodisch. Ich hätte lieber ein schmales Gesicht gehabt, aber heute sehe ich, dass ein rundes Gesicht länger faltenfrei bleibt. Zumindest glaube ich das. Meine Augen sind braun, genau wie mein Haare, ich habe dichte Augenbrauen, wie ich überhaupt einen starken Haarwuchs habe. Kleine, anliegende Ohren ohne Ohrringe, weil ich Angst vor dem Stechen hatte, eine kleine Nase, dafür einen großen Mund und ein eckiges Kinn. Bis vor Kurzem sind meine braunen Haare einfach so vor sich hin gewachsen, und wenn ich sie nicht im Nacken zusammengebunden habe, fielen sie ohne besonderen Schnitt über die Schultern. Das habe ich kurz vor meiner Reise geändert … Ich bin zu einem kleinen Friseur um meine Ecke gegangen, dessen Geschäft mir von außen schon immer recht gut gefallen hat. Und als ich wieder herausgekommen bin, habe ich mir auch gefallen. Mit wenigen Schnitten hat er Schwung in meine dicken Haare gebracht – und jetzt fallen sie wunderbar, selbst wenn ich nur mit zehn Fingern durchfahre – oder vielleicht sogar gerade dann.

Womit schlafe ich eigentlich heute Nacht? Ich habe kein Schlafzeug in meinem Handgepäck. Ich betrachte mich im bodentiefen Spiegel. Jeans, Bluse, darunter ein leichtes Unterhemd. Na, dann im Unterhemd. Während ich mich vor dem Spiegel ausziehe, denke ich: Alles noch ordentlich in Schuss. Ich bin nicht besonders groß und auch nicht besonders schlank, dafür habe ich eine ziemlich straffe Silhouette und eine ganz gute Kondition, denn ich gehe viel zu Fuß. Das tut mir gut. Und kostet nichts. Ich putze die Zähne, wasche mir mit der nassen Ecke des Handtuchs mein Gesicht und nicke mir zu.

»Schenk dir ein Lächeln«, sage ich zu meinem Spiegelbild und tatsächlich, es wirkt, meine Mundwinkel heben sich. »Und jetzt, gute Nacht!«

In der Nacht kommen die Gedanken. Zuerst ist man müde und dann plötzlich hellwach. Dinge laufen ab, die man kaum stoppen kann und die einen am Schlafen hindern. Mein großer Gewinn rumort noch immer in mir, das Warten auf die Gewinnbenachrichtigung, der Besuch in der Lotto-Zentrale, wo ich von zwei netten Herren bei einer Tasse Kaffee und einem Erdbeerkuchen Verhaltenstipps erhalten habe und die Information, dass das Geld einige Tage brauche, bis es auf meinem Konto sein würde. Danach die schleichende Angst, es könnte trotz allem noch etwas schiefgehen. Und dann endlich – der Moment bei meiner Bank.

Mir ist geraten worden, eine ganz andere Bank für die Überweisung zu wählen, irgendwo, wo kein Bekannter von meinem Gewinn erführe. Und auch kein bekannter Bankangestellter. Aber ich vertraue meinem Sparkassen-Filialleiter, der mich schon so lange durch alle Höhen und Tiefen begleitet hat. Allerdings hatte ich ihn vorgewarnt. 1 171 349,10 Euro waren schließlich kein alltäglicher Eingang – zumal auf einem Konto, das selten mit mehr als 400 Euro im Plus stand. Wir saßen da und sahen uns gemeinsam diese gigantische Zahl an. Ganze 80,60 Euro hatte ich vorher noch auf meinem Konto. Für die restlichen acht Tage des Monats. Jetzt stand dort einemillioneinhunderteinundsiebzigtausendvierhundertneunundzwanzig Euro und 70 Cent.

Zunächst sagte er kein Wort. Dann meinte er: »Passen Sie darauf auf. Damit können Sie unbesorgt alt werden! Es steht Ihnen jetzt eigentlich eine sorgenfreie Zeit bevor. Ein Lottogewinn ist mehr als nur Geld, er kann ihr Leben verändern.«

Ich nickte. Und unversehens kamen mir die Tränen. Er zog ein blütenweißes Taschentuch aus der Brusttasche seines Jacketts und reichte es mir, und als ich mich verabschiedete, sagte er: »Wird schon!« Genau das hatte er nach meiner Scheidung auch gesagt: »Wird schon!«. Als Mutmacher.

Ich war schon auf dem Weg zur Tür und drehte mich noch mal zu ihm um. »Sie sind ein wirklich guter Mensch, danke!«

»Bin ich nicht«, antwortete er. »Zumindest nicht immer. Aber bei Ihnen freut es mich wirklich!« Ich konnte nur nicken und war froh, als ich mit meinen ganzen Emotionen draußen an der frischen Luft war. Die Zahl, die ich schwarz auf weiß gesehen hatte, machte mich schwindelig. Irgendetwas musste ich tun. Ich musste jetzt in eine Bar und ein Glas Champagner trinken. Am frühen Nachmittag?, meldete sich mein Gewissen. Und musste es gleich Champagner sein? Doch es muss, bestimmte ich, aber dann befiel mich ein komisches Gefühl. Hoffentlich bringt das viele Geld kein Unheil. Unsinn, schimpfte ich mich, immer du mit deinen düsteren Vorahnungen.

Um 4.45 Uhr schrillt der Wecker meines Handys. Es kommt mir vor, als hätte ich erst zehn Minuten geschlafen. Am liebsten würde ich mich einfach umdrehen, aber die Sorge, den Bus zu verpassen, treibt mich aus dem Bett. Duschen macht keinen Sinn, also rein in Jeans und Bluse, das Pröbchen aus der Parfümerie für straffe Haut in beiden Handflächen verrieben und auf der Gesichtshaut verteilt, Zähne putzen, ab. Punkt fünf Uhr bin ich unten in der Hotelhalle. Ein paar gähnende Menschen stehen vor dem Kaffeeautomaten, der auf einem Sideboard platziert worden war. Schon wieder eine Schlange, denke ich und entscheide, vorerst auf einen Kaffee zu verzichten. Er drückt mir auch zu schnell auf den Magen, und der klapprige Bus hat keine Toilette. Also lieber nicht.

Langsam füllt sich die Halle. Wir kennen uns schon untereinander, stelle ich fest. Wie schnell man doch zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen kann, vor allem dann, wenn es eine Leidensgemeinschaft ist. Giulia kommt die Treppe herunter, sieht mich und winkt mir zu. Flugs hat sie zwei Kaffeebecher in der Hand und bietet mir einen an. Schon erstaunlich, wie sie das regelt. Ist es ihre charmante italienische Art? Ist es ihr Aussehen? Vielleicht eine Kombination von beidem.

Ich lehne den Kaffee ab und deute mit einem ungewissen Grinsen auf meinem Bauch.

»I bet, the driver is too late.«

Was heißt schon wieder »bet« denke ich, dann fällt es mir ein. Sie wettet, dass der Fahrer zu spät kommt. Wenn der Bus zu spät kommt und wir deshalb zu spät einchecken, dann können wir direkt nach dem nächsten Bangkok-Flug Ausschau halten. Oder ich fliege gleich nach Frankfurt zurück, das habe ich noch immer nicht entschieden.

Giulia hat recht. Der Bus kommt um sechs Uhr. Und hält mitten auf der Strecke, weil wir kontrolliert werden. Alle müssen aussteigen und mit ihrem Handgepäck in eine Baracke. Dort wird das Gepäck durchleuchtet, wir marschieren durch ein Sicherheitstor, dürfen wieder einsteigen und fahren schließlich weiter. Nun bin ich endgültig davon überzeugt, dass es mit unserem Weiterflug nichts mehr wird. Vor allem, als ich die Autoschlange vor dem Flughafen sehe. Schranke, Gesichtskontrolle durch Uniformierte, Weiterfahrt.

Unglaublich, sage ich zu Giulia, die neben mir sitzt, ganz Nairobi ist ein einziger Sicherheitstrakt. Ist Kenia denn so terrorgefährdet?

»Es gab einen Amoklauf an einer Schule und ein Attentat an einer Uni. Jeweils mit Toten. Und vor einigen Jahren zwei Explosionen hier in Nairobi, auf einem Markt.«

»Sicher ist man nirgends«, sage ich. Trotzdem sehe ich die vielen Sicherheitsvorkehrungen jetzt mit anderen Augen. Sollten wir den Flug verpassen, dann ist es eben so. Dann hat das Schicksal zugunsten des Rückflugs entschieden. Dann muss ich mich den schwelenden Problemen stellen.

Aber das Schicksal stellt eine andere Weiche. Wir verpassen den Flug nach Bangkok nicht, so sieht es zumindest aus, denn plötzlich haben wir noch jede Menge Zeit. In der Nähe unseres Abfluggates entdecke ich eine kleine Café-Bar mit knallroten, zerschlissenen Ledersesseln. Hat etwas von Buena Vista Social Club, denke ich, warum, weiß ich auch nicht. Aber die Mädchen hinter dem Tresen sind sehr fröhlich und nett, der Cappuccino ist gut und unglaublich günstig. Giulia sitzt mit Kopfhörern entspannt in einer Ecke, und ich hänge meinen Gedanken nach.

Es ist schön, so in seiner eigenen Gedankenwelt zu versinken. Noch denke ich nicht voraus, nicht an Bangkok und wer mich dort erwartet, nein, ich denke zurück.

In den Tagen meines Gewinns muss ich mich verändert haben. Ich weiß nicht, sieht man anders aus, wenn man unbeschwert ist? Plötzlich hatte ich den Eindruck, auf meine Mitmenschen anders zu wirken. Auf einmal habe ich Blicke eingefangen. In der Fußgängerzone. Einfach so. Auf ein Lächeln bekam ich ein Lächeln zurück. Und Bine, meine Kollegin im Drogeriemarkt, fragte mich sogar, ob ich verliebt sei. Erst war ich verdutzt, dann nickte ich. »Ja«, stimmte ich zu. »Ein bisschen schon, glaube ich.« In Geld, dachte ich. Kann man in so etwas Seelenloses wie in sein eigenes Bankkonto verliebt sein? Ich dachte darüber nach und überhörte prompt ihre Frage, was es denn für ein Typ sei? Älter, jünger? Geschieden, verwitwet – oder, schlimmster Fall, gar verheiratet? Und beruflich?

Was sollte ich ihr darauf antworten? Aber keine Antwort stachelte Bine nur an, und sie wiederholte ihre Frage.

Ich überlegte, ob ich ihr jetzt etwas vorschwindeln sollte, denn ich wusste schon, dass die eigentliche Triebfeder ihrer Neugierde ihre eigene unglückliche Ehe war. Vielleicht brauchte sie einfach nur ein fremdes Happy End nach einer Trennung, um es endlich selbst zu wagen.

»Ganz in den Anfängen«, sagte ich. »Nicht mehr als Augenkontakt und zartes Berühren. Sollte es mehr werden, bist du die Erste, die es erfährt.« Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht so ganz deuten konnte, aber wahrscheinlich glaubte sie mir nicht. Zartes Berühren … und das bei einem Mann. Gut, das war möglicherweise nicht besonders glaubwürdig. Ich habe auch eher an meine Geldscheine gedacht. Den Hunderter, den ich zu meiner eigenen kleinen Feier aus dem Geldautomaten geholt habe, habe ich wirklich zärtlich berührt.

»Ach, die Welt ist schön«, sagte ich laut, und Bine, die schon wieder weiter war, drehte sich noch mal nach mir um.

»Dich hat es aber ganz ordentlich erwischt!«

Ich nickte und stimmte ihr zu. »Ja«, sagte ich, »ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht!«

»Dann wünsche ich dir viel Glück mit deiner neuen Liebe.«

Ich dankte und dachte, ich mir auch.

Der Filialchef meiner Bank hatte mir einige Anlagemöglichkeiten vorgeschlagen. Seitdem höre ich bei den Aktienkursen in den Nachrichten besser hin. Und finde, dass dieses ständige Bergauf und Bergab eher Angst macht, als Vertrauen einzuflößen. Ich soll mir Zeit lassen, hatte er mich beruhigt. Wir können uns dann mal ganz in Ruhe darüber unterhalten, meinte er, im Moment sei es ja nicht dringlich.

»Ja, gut, aber dann liegt es halt da«, sagte ich. »Auf dem Girokonto. Das ist ja dann auch nicht so geschickt.«

»Hauptsache, es liegt überhaupt da.«

Da konnte ich ihm nur recht geben.

Das größere Thema kam nun überhaupt erst auf mich zu. Lars hatte sich angemeldet, er studiert Maschinenbau in Aachen und wollte ein Wochenende in Stuttgart mit seinen alten Kumpels verbringen. Ich empfand das als gute Gelegenheit, ihm von der Finanzspritze zu berichten. Aber mir war klar: Die wahre Summe konnte ich nicht angeben, das würde zu viele Begehrlichkeiten in ihm wecken. Und ich könnte mich schlecht gegen seine Wünsche wehren. Ich musste einen glaubhaften Gewinn angeben, der in unserer finanziellen Situation wahnsinnig hoch erschiene. Die 50 000 Euro, über die ich kürzlich schon mal wegen Susanne nachgedacht hatte, wären wahrscheinlich eine wirklich gute Summe. Aber wenn ich Lars so etwas erzählte, musste ich überzeugend sein, er spürte immer, wenn etwas nicht stimmte. Und vor allem würde er es mir nicht glauben, wenn ich ihm erst Tage nach der Ziehung von diesem wahnsinnigen Glück berichten würde. Wahrscheinlicher wäre doch, sofort zum Telefonhörer zu greifen und den Sohn mit dieser tollen Nachricht zu überraschen. Ich überlegte: Da er am Freitagnachmittag kommt, wäre Mittwochslotto wahrscheinlich. Was aber, wenn er die Zahlen wissen will und nachprüft?

Aber warum sollte er? 50 000 Euro Gewinn auf meinem Konto, 5000 für ihn, 5000 für Susanne, 40 000 als Rücklage auf ein Festgeldkonto. Warum sollte er das nachprüfen?

Ich recherchierte im Internet, um ganz sicherzugehen: Die Gewinnzahlen von Lotto am Mittwoch werden im ZDF um 18.54 Uhr vor den heute-Nachrichten bekannt gegeben. Die Quoten kommen am Donnerstagvormittag. Damit war der Plan klar – ich würde ihn im Laufe des Donnerstagvormittag anrufen. Dann könnten wir uns am Freitag gemeinsam über das Geld freuen.

Am Donnerstag Punkt 10 Uhr wählte ich seine Nummer.

»Mama?« Es hörte sich irgendwie hektisch an, dann hörte ich ein helles Lachen dicht neben ihm.

»Lars? Störe ich?«

»Ahh … rufst du vielleicht später noch mal an? Oder … ist es sehr dringend?«

»Nein, nein, schon gut. Es hat Zeit.« Ich legte mit einem kurzen Gruß auf und fühlte mich befreit. Ich habe nicht schwindeln müssen, freute ich mich, und wenn er am Freitag kommt, werde ich ihm einfach das Geld hinlegen und sagen, dass ich ihm das hatte mitteilen wollen. Wunderbar! Nur, weshalb wollte er nicht telefonieren? Habe ich ihn mitten in einer Vorlesung gestört? War das der Grund? Oder eher das helle Lachen neben ihm?

Per SMS teilte mir Lars mit, dass er am Freitag gegen sieben ankommen würde. Gern würde er, sollte ich Lust dazu haben, mit mir zu Abend essen und dann mit seinen Kumpels losziehen. Ob ich ihm das Ausziehsofa für die Nacht richten könne? Wäre klasse. Also richtete ich am Freitag das Ausziehsofa, wozu ich erst einmal alles, was sich in dem kleinen Zimmer angehäuft hatte, wegräumen musste. Wie schnell doch so ein Zimmer vollgestellt ist, dachte ich dabei. Bügelbrett, Staubsauger, ja, aber auch zwei Körbe voll Wäsche, Schmutzwäsche und Bügelwäsche, der alte Sessel, den ich nicht hergeben kann, weil Erinnerungen daran hängen, die hübsche Stehlampe, aus meiner Ehe gerettet, aber hier nur im Weg, und allerlei Dinge, die im Wohnzimmer aus Platzgründen nur stören. Berge von Illustrierten und auch ein aussortierter Bücherstapel. Nachdem ich alles hin und her getragen hatte und das Zimmer zum Schluss nicht viel besser aussah, bin ich auch noch einmal kritisch durch die anderen Räume gegangen. Nein, es gab keine neue Anschaffung, die meinen jähen Reichtum verraten könnte. Der alte Kühlschrank brummte noch immer, und die Matratze stöhnte wie eh und je.

Es hatte sich seit dem Einzug kaum etwas verändert. Unwahrscheinlich eigentlich, habe ich gedacht und mich mit meinen aufkeimenden Erinnerungen auf das frisch gemachte Bett gesetzt. Damals, nach der Trennung, war die Wohnung die erste gewesen, die ich auf die Schnelle hatte bekommen können. Eher eine Fluchtburg, denn eine Wohnung. Tür an Tür mit unendlich vielen anderen Menschen. Alle Eingangstüren dieser fünfstöckigen Mietskaserne liegen wie Perlen nebeneinander aufgereiht in dem grauen Betonklotz und führen auf einen langen Gang, der, durch ein rostiges Baustahlgitter vom Abgrund getrennt, im Freien liegt und an beiden Enden in steile Betontreppen mündet.

Als mir damals die Wohnung vom Hausverwalter gezeigt wurde, dachte ich zuerst: völlig unpraktisch. Es gibt keinen Flur, und direkt hinter der Eingangstür liegt das Wohnzimmer. Da fehlen die Ablagemöglichkeiten für Mäntel und Schuhe, und außerdem strömt im Winter die Kälte ungebremst in die Wohnung. Aber es war Frühling, und bis zum Winter wollte ich sowieso nicht dort bleiben. Übergangsmäßig, hatte ich Lars nach der Trennung erklärt, und ihm das Schlafzimmer angeboten. Ich würde mir die kleine Abstellkammer herrichten. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. Klar, im Verhältnis zu seinem komfortablen Jugendzimmer in der elterlichen Wohnung war dies natürlich eine Zumutung.

»Da holt man sich ja die Pest«, war sein Kommentar, und er blieb bei seinem Entschluss, vorübergehend bei seinem Freund zu wohnen. Dessen Eltern zeigten Verständnis, denn wie so viele andere lebte auch dieses Paar bereits in zweiter Ehe.

Ich stehe auf und hole mir einen weiteren Cappuccino. Meine Mitreisenden sitzen noch auf ihren Stühlen, nichts bewegt sich, also muss ich mich nicht beeilen. Afrikanisches Tempo, sage ich mir, alles hat Zeit. Somit setze ich mich wieder in meinen klebrigen Sessel und frage mich, warum ich eigentlich immer Schuldgefühle habe, wenn ich an meinen Sohn denke. Dabei müsste doch Otto die haben. Er hat mich hintergangen, hatte während seiner Arbeitszeit in der Stadtverwaltung ein Techtelmechtel mit seiner Kollegin angefangen und hinter meinem Rücken dann auch noch ein Kind gezeugt. Seinetwegen war die Ehe in die Brüche gegangen, seinetwegen musste ich ausziehen und seinetwegen hatte Lars plötzlich keine Eltern mehr, nur noch Elternteile. Und trotzdem war ich diejenige, die die Gründe vor allem bei sich selbst gesucht hat. Ich habe mich monatelang gefragt, was ich wohl falsch gemacht hatte? Ich war zu Hause geblieben, bis Lars in den Kindergarten gehen konnte, danach hatte ich mir eine Arbeit gesucht und sie ein paar Straßen weiter im Drogeriemarkt gefunden. Damit hatte ich zwar kein großes Einkommen, aber ich war flexibel, und ich konnte immerhin etwas zum Lebensunterhalt beisteuern. Nebenbei kümmerte ich mich um den Haushalt, um den Sohn, um das Wohlergehen meines Mannes, um alle bürokratischen Fragen wie Einschulung oder, als Ottos Mutter dement wurde, um Pflegemöglichkeiten für sie. Sein Vater und vor allem Otto selbst fühlten sich von dieser Problematik überfordert. Ich nicht. Ich konnte alles, so schien es oft, und alles zugleich.

Aber irgendwo hatte ich offensichtlich versagt. Hatte ich zu wenig auf mich geachtet? War ich zu Hause zu oft im bequemen Hausdress herumgelaufen? Aber Otto doch auch. Trainingshose und Unterhemd. Das war nun auch nicht besonders sexy. Und sonst? Der Sex? Ich hatte öfters Lust gehabt als er, schien mir. Vielleicht hatte ich auch öfters Lust, weil er so selten Lust hatte. Aber offensichtlich war er ja gar nicht so unlustig, wie sich dann herausgestellt hatte.

Ach, denke ich, was macht es Sinn, darüber nachzudenken? Ich nippe an meiner Tasse, berühre den weißen Milchschaum mit den Lippen und lasse meine Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit schweifen. Zurück bis zu dem Moment, als Lars an der Tür klingelte. Ich freute mich auf ihn, denn, auch wenn ich ihm das nie sagen würde, er war, ist und bleibt mein Ein und Alles. Er ist der Mensch, den ich geboren habe, den ich aufwachsen sah, dessen Butterbrote ich gestrichen und dessen aufgeschlagene Knie ich verpflastert habe, den ich getröstet und ermutigt habe und – ja, schlussendlich, – ich habe niemanden außer ihn. Meine Eltern sind noch rüstig und sich selbst genug, und meine Schwester ist schon mit sich selbst überfordert. Ihre Probleme kenne ich auswendig. Und meine Freundinnen? Eine richtige Freundin habe ich eigentlich gar nicht, das sind alles eher gute Bekannte. Und selbst wenn ich eine echte Busenfreundin hätte, ein eigenes Kind ist eben doch was anderes.

Es klingelte kurz, und dann hörte ich den Schlüssel im Türschloss. Adrenalin sauste durch meinen Körper, ich war voller Erwartungen, voller Glück. Ich hatte Lars’ Lieblingsessen gekocht, saftiges Gulasch und von Hand geschabte Spätzle. Alles wartete auf ihn, ich auch.

Ich wollte gerade aufstehen, da stand er schon in der Tür, groß und breitschultrig, so erwachsen. Mit Bart. Das war neu.

»Hi, Mama!« Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Vielleicht bin ich eine besondere Art von Glucke, aber dieses Gefühl ist einfach unbeschreiblich. Von mir aus hätten wir ewig so stehen bleiben können.

»Schön, dass du da bist«, sagte ich und löste mich von ihm. Er sollte nicht glauben, seine Mutter würde klammern.

»Es duftet verführerisch«, sagte er und schnupperte, während er seine dicke Jacke auszog und lässig auf das Sofa warf.

»Du siehst gut aus«, sagte er mit einem feinen Lächeln. Wenn er lächelt, gleicht er einer jungen Ausgabe seines Vaters. Ich würde es mir gern ersparen, Otto ständig wiederbegegnen zu müssen, aber seine Gene scheinen sich gegen meine durchgesetzt zu haben. Von mir hat Lars so gut wie nichts, außer vielleicht die dunkelbraunen Haare. Seine Augen sind hell, und sein Gesicht ist so schmal und kantig wie das seines Vaters. Und seine stattliche Größe hat er auch von ihm.

»Ja«, sagte ich und machte eine einladende Handbewegung, »ich habe mir Mühe gegeben.«

Er blieb am feierlich gedeckten Tisch stehen und nahm ein Sektglas in die Hand. »Gibt es was zu feiern?«

»Ja«, antwortete ich.

»Bei mir auch.«

»Ohh! Die Uni?« Das wäre ja erfreulich, habe ich noch gedacht. Bisher hatte ich eher das Gefühl, dass sich sein Maschinenbau-Studium ziemlich verlängerte.

»Eher privat.«

Privat? Das hörte sich nicht gut an.

Ich nahm die Flasche in ihrem Kühlmantel hoch und entkorkte sie.

»Du bist doch mit dem Zug gekommen?«, vergewisserte ich mich, bevor ich einschenkte.

»Gäbe es eine Alternative?«, fragte er.

»Das Auto eines Freundes …«

Lars schüttelte den Kopf, und ich setzte mich ihm gegenüber hin.

»Zwei Minuten«, sagte ich und hob mein Glas. »Lass uns den Aperitif erst genießen, dann gibt es Essen.«

»Und was gibt es bei dir zu feiern?«

»Erzähle ich dir später. Was macht die Uni?«

Er nahm einen Schluck und setzte das Glas ab. »Da habe ich mir was überlegt. Weil das Zimmer ja so teuer ist, muss ich viel jobben. Ich könnte bei einer Studentenverbindung eintreten, dann wäre alles viel günstiger. So könnte ich die viele Zeit, die ich fürs Jobben aufwenden muss, ins Studium investieren.«

»Burschenschaft?« Warum auch immer, aber bei diesem Wort stellten sich mir die Haare auf. Da habe ich ein gewaltiges Vorurteil: selbstherrlich, lautstark, Saufgelage, ehrlos, frauenfeindlich, Deutschtümelei.

»Oje«, sagte ich. »Gibt es da keine Alternative?«

»Doch! Anstatt in der großen WG zu wohnen, in der ich jetzt bin, mit ewigem Lärm, ewigem Ärger wegen Einkäufen und Putzen, was ja immer mit Anstrengung verbunden ist, könnte ich auch in eine kleine WG umziehen. Zu zweit. Das hätte Vorteile.«

Ich stand auf.

Eigentlich hatte ich die 5000 Euro neben sein Dessert legen wollen. Aber jetzt? Studentenverbindung? Zweier-WG? Da musste ich eine Alternative schaffen.

»Augenblick!«, sagte ich und schob ihm das rote Kuvert zu, auf das ich feierlich in Goldschrift »Lars« gemalt hatte.

»Was ist das?«, wollte er wissen. »Eine Einladung?«

Ich schüttelte nur den Kopf. »Mach auf.«

Mit dem Zeigefinger riss er den Briefschlitz auf, aber als er den Gutschein sah, stutzte er und runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Du wiederholst dich«, sagte ich lässig. »Das ist mein Argument gegen eine Burschenschaft.«

Er zog den handgemalten Gutschein über 5000 Euro heraus. Das hatte ich mir überlegt, denn das Geld konnte in der Kürze der Zeit ja noch nicht auf meinem Konto sein.

»Und wie kommst du denn dazu?«, wollte er ungläubig wissen.

»Gewonnen«, strahlte ich. »Lotto. 50 000 Euro. Und fünftausend davon sind für dein Studium.«

»Einfach so?«

Jetzt hätte ich ihn gern fotografiert. Dieser Gesichtsausdruck hätte dokumentiert werden müssen.

»Ich habe einfach gespielt, ja. Für 8,20 Euro, mache ich jeden Monat!«

»Nicht wahr!«

»Doch!«

»Nicht zu fassen!« Mein Sohn sprang auf, zog mich von meinem Stuhl hoch und umarmte mich. »Mit welchen Zahlen hast du denn gespielt?«

»Mein Geburtstag, dein Geburtstag und der von Susanne«, platzte ich heraus und hätte es sofort gern zurückgenommen.

Lars schüttelte den Kopf. »Verrückt!! Aber herzlichen Glückwunsch! Und … fantastisch! Ich freu mich. Für dich und natürlich auch für mich«, er wies auf den Gutschein, der nun neben dem Sektglas lag. »Herzlichen Dank! Das hilft mir enorm.«

Ich verkniff mir die Frage nach seinem Vater, der ihm eigentlich enorm helfen sollte, und nickte stattdessen zufrieden. »Gut. Sobald das Geld auf meinem Konto ist, kannst du ihn einlösen. Fein, freut mich, dann können wir ja jetzt essen!«

»Nein, noch nicht«, er streckte beide Arme, um mir direkt ins Gesicht sehen zu können. »Ich muss dir auch was sagen.«

»Dann los, bevor die Spätzle kalt werden …«

Er grinste. »Sie heißt Marie. Und ich habe mich ernsthaft verliebt.«

Ich sah meine 5000 Euro schwinden. Eine Marie? Das hörte sich nach schönen Kleidern an.

Oder nach … mehr?

»Marie? Aber ihr passt auf?« Das würde jetzt noch fehlen. Mein Sohn, mit 21 Jahren zu jung, um seine Zukunft ernsthaft anzugehen, und … Marie?

Lars zuckte die Schultern. »So ein kleines Menschenkind …«

»Quatsch, Lars«, brauste ich auf, »damit macht man keine Späße.«

Seine Mimik irritierte mich.

»Oder … ist sie schon? Marie? Ist sie …«

Lars lachte. Er lachte ein richtig glückliches Lachen, das gab mir am meisten zu denken. Mein Gott, der Kerl, am Anfang seines Lebens. Er wird doch nicht?

»Was ist?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein, ist sie nicht«, erklärte er. »Aber Papa meinte, ein Frischling sei doch prima, der könne dann mit seiner Kleinen spielen, die ist ja auch erst zweieinhalb. Die wären dann wie Geschwisterchen.«

Ich weiß nicht, ob man es Menschen ansehen kann, wenn das ganze Blut wegsackt, aber im Moment fühlte ich mich totenblass.

»So, das meint Papa«, wiederholte ich nur und ging in die Küche. Dort musste ich mich an der Arbeitsplatte festhalten. Mein Magen rumorte. Wahrscheinlich hatte mein Sohn keine Ahnung, was er mir da gerade angetan hatte. Ein Geschwisterchen für die Kleine.

Ich brauchte eine Weile, bis ich mich so weit gefasst hatte, dass ich mit dem Suppentopf voller Gulasch und der Platte mit den frischen Spätzle auftauchen konnte.

»Super«, strahlte Lars. »Wie früher. Das liebe ich!«

Wie früher? Nichts ist wie früher. Aber auch rein gar nichts!

Eine Hand auf meiner Schulter erinnert mich, wo ich bin. Giulia steht neben mir. »È il momento, la mia bellezza!«

Ich kann zwar kein Italienisch, aber das verstehe ich trotzdem. Und vor allem sehe ich es, denn in die wartenden Fluggäste ist Bewegung gekommen.

»Thanks!«

»You dreamed. Nice dreams?«

Hatte ich schöne Träume? Wenn ich das so genau wüsste.

»Daydreams«, ziehe ich mich aus der Affäre und stehe auf. Es geht weiter. Das ist ja immerhin etwas. Und zudem ziemlich ungewöhnlich, denn nachdem wir unsere Bordkarten vorgezeigt haben, gehen wir durch eine Schiebetür ins Freie und laufen über den Asphalt zu unserer Maschine. Ist ja eigentlich okay, denke ich, spart Zeit. Und möglicherweise auch Geld.

Ich habe einen Fensterplatz, und der Platz neben mir bleibt frei. Welches Glück bei neun Stunden und dreißig Minuten Flug. Langsam sollte ich mal anfangen, mich zu freuen. Vorfreude ist doch bekanntlich die schönste Freude? Aber ich habe da ein Gewicht auf der Seele. Zu Hause. Und das zieht mich runter. Es ist eben doch nicht alles Gold, was glänzt. Aber immerhin hat das Schicksal entschieden, davon bin ich überzeugt. Und nach dem Frühstück habe ich neun Stunden Zeit, um zu schlafen. Oder neun Stunden Zeit, um Vorfreude zu entwickeln. Oder neun Stunden Zeit, um zu grübeln. Aber diesen Gedanken verwerfe ich sofort.

Nachdem Lars aus dem Haus und die Küche gemacht war, bin ich ins Bett gegangen und habe erstaunlicherweise recht schnell und gut geschlafen. Ich bin sogar fröhlich aufgewacht und habe festgestellt, dass das alte Sprichwort, man soll mal eine Nacht darüber schlafen, wohl doch Sinn macht. Noch vor meinem Morgenkaffee fand ich: Otto kann mich mal kreuzweise. Und sollte diese Marie tatsächlich schwanger werden, dann könnte ja der vollmundige Otto mal in die Tasche greifen. Irgendwie nötigte mir das schon wieder ein Lächeln ab. Ha, ha, dachte ich, das möchte ich mal sehen. Ein Spielkamerädchen, ein Geschwisterchen, so ein Idiot!