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Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Der zerstreute Professor Timofey Pnin ist ein einsamer Individualist, den der American Way of Life tief verstört. Der Immigrant wirkt auf seine Umwelt wie ein komischer Versager. Aber seine Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit lassen ebendiese Umwelt lächerlich erscheinen: Sie versagt an ihm. Alles, was Pnin widerfährt, macht uns diesen altmodischen russischen Gelehrten liebenswert. «Ein Wunderwerk des Humors. Ein Jahrhundertroman.» (Marcel Reich-Ranicki, Der Spiegel)

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Seitenzahl: 322

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Vladimir Nabokov

Pnin

Roman

Deutsch von Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Der zerstreute Professor Timofey Pnin ist ein einsamer Individualist, den der American Way of Life tief verstört. Der Immigrant wirkt auf seine Umwelt wie ein komischer Versager. Aber seine Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit lassen ebendiese Umwelt lächerlich erscheinen: Sie versagt an ihm. Alles, was Pnin widerfährt, macht uns diesen altmodischen russischen Gelehrten liebenswert.

 

«Ein Wunderwerk des Humors. Ein Jahrhundertroman.» (Marcel Reich-Ranicki, Der Spiegel)

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 5. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

Kapitel 1

1

Der ältere Reisende, der da auf der Nordfensterseite jenes unerbittlich dahinrollenden Eisenbahnwagens saß, neben sich einen leeren Sitzplatz und zwei leere gegenüber, war niemand anderer als Professor Timofey Pnin[1]. Vollkommen kahl, sonnengebräunt und glattrasiert, wie er war, begann er recht imposant: mit seiner großen braunen Kuppel, einer Schildpattbrille (die verdeckte, dass ihm wie einem Kind die Augenbrauen fehlten), einer gorillahaften Oberlippe, einem dicken Hals und einem Athletenrumpf in einer ziemlich eng sitzenden Tweedjacke – endete dann jedoch einigermaßen enttäuschend mit einem Paar spindeldürrer (jetzt flanellumhüllter und übereinandergeschlagener) Beine und zerbrechlich wirkenden, fast femininen Füßen.

Seine rutschenden Socken waren aus scharlachroter Wolle mit lilafarbenen Rauten; seine konservativen schwarzen geschnürten Halbschuhe hatten ihn etwa so viel gekostet wie seine ganze übrige Garderobe (flamboyanter Ganovenschlips eingeschlossen). Vor den vierziger Jahren, während der gesetzten europäischen Epoche seines Lebens, hatte er stets lange Unterhosen getragen, die Bündchen in die Fesseln adretter, an den Seiten mit feinem Stickmuster verzierter Seidensocken von nüchternem Farbton gesteckt, die entlang seinen baumwollumspannten Waden von Sockenhaltern hochgehalten wurden. Anderen den Anblick jener weißen Unterwäsche zuzumuten, wenn er etwa ein Hosenbein zu hoch zog, wäre Pnin in jenen Tagen genauso ungehörig vorgekommen, als hätte er sich Damen ohne Kragen und Krawatte gezeigt; denn selbst als die angemoderte Madame Roux, die Concierge des schmuddeligen Mietshauses im sechzehnten Arrondissement von Paris – wo Pnin nach seiner Flucht aus dem leninisierten Russland und der Beendigung seines Studiums in Prag fünfzehn Jahre zugebracht hatte –, zufällig einmal zum Kassieren der Miete heraufkam, als er gerade ohne seinen faux col war, bedeckte Pnin seinen vorderen Kragenknopf mit keuscher Hand. Alles dies änderte sich im berauschenden Klima der Neuen Welt. Jetzt, mit zweiundfünfzig, nahm er mit Hingabe Sonnenbäder, trug er Sporthemden und Freizeithosen, und wenn er die Beine übereinanderschlug, stellte er sorgfältig, absichtsvoll, schamlos ein gewaltiges Stück bloßen Schienbeins zur Schau. So hätte ein Mitreisender ihn gesehen; aber außer einem Soldaten, der am einen Ende schlief, und zwei Frauen, die am anderen Ende in ein Baby vertieft waren, hatte Pnin den Wagen für sich allein.

Hier muss nun ein Geheimnis verraten werden. Professor Pnin befand sich im falschen Zug. Er wusste es nicht, und ahnungslos war auch der Schaffner, der den Zug entlang Pnins Wagen bereits näher und näher kam. Pnin war im Moment sogar durchaus mit sich zufrieden. Als sie ihn eingeladen hatte, in Cremona – etwa zweihundert Werst westlich von Waindell[2], Pnins universitärem Unterschlupf seit 1945 – einen Freitagabend-Vortrag zu halten, hatte die stellvertretende Vorsitzende des Frauenclubs von Cremona, eine gewisse Miss Judith Clyde, unseren Freund darauf aufmerksam gemacht, dass der günstigste Zug in Waindell um 13 Uhr 52 abfuhr und um 16 Uhr 17 in Cremona eintraf; doch Pnin – der wie so viele Russen eine ungemeine Schwäche für Fahrpläne, Landkarten, Kataloge hatte, sie sammelte, sie in dem erhebenden Gefühl, etwas umsonst zu bekommen, reichlich an sich nahm und besonders stolz darauf war, selber Verbindungen zusammenzupuzzeln – hatte nach einigem Studium einen unauffälligen Hinweis auf einen noch günstigeren Zug entdeckt (ab Waindell 14.19 Uhr, an Cremona 16.32 Uhr); die Fußnote tat kund, dass der um vierzehn neunzehn auf dem Weg in eine ferne und sehr viel größere Stadt, die ebenfalls von einem weichen italienischen Namen geschmückt war, freitags, und nur freitags, in Cremona hielt. Zu Pnins Pech war sein Fahrplan fünf Jahre alt und in Teilen seit langem überholt.

Er unterrichtete Russisch am Waindell College, einer leicht provinziellen Bildungseinrichtung mit einem künstlichen See inmitten eines parkartigen Campus, mit efeuüberwachsenen Bogengängen, welche die verschiedenen Gebäude miteinander verbanden, mit Wandgemälden, welche erkennbare Mitglieder des Lehrkörpers im Begriff zeigten, die Fackel des Wissens von Aristoteles, Shakespeare und Pasteur an eine Schar monströs gebauter Farmerjungen und Farmermädchen weiterzureichen, sowie einer riesigen, dynamisch gedeihenden Deutsch-Abteilung, die ihr Leiter, Dr. Hagen, selbstgefällig (und unter genauer Betonung jeder einzelnen Silbe) «eine Universität in der Universität» nannte.

Im Herbstsemester jenes Jahres (1950) hatten sich für die russischen Sprachkurse eingeschrieben: im Mittelkurs eine Studentin, die pummelige und ernste Betty Bliss, bei den Fortgeschrittenen ein Student, ein bloßer Name (Ivan Dub, der sich niemals materialisierte), und im blühenden Anfängerkurs drei, Josephine Malkin, deren Großeltern in Minsk geboren waren; Charles McBeth, dessen phänomenales Gedächtnis bereits zehn Sprachen erledigt hatte und bereitstand, zehn weitere in sich zu bestatten; und die matte Eileen Lane, der jemand gesagt hatte, man müsse praktisch nur das russische Alphabet meistern, um Anna Karamasow im Original lesen zu können. Als Lehrer konnte es Pnin keineswegs mit jenen staunenswerten, über ganz Amerika verstreuten russischen Damen aufnehmen, die es ohne jedwede Fachausbildung dank Intuition, Redseligkeit und einer Art mütterlichen Elans fertigbringen, einer Gruppe unschuldig dreinsehender Studenten in einer Atmosphäre von Mütterchen-Wolga-Liedern, rotem Kaviar und Tee eine magische Kenntnis ihrer schwierigen und schönen Sprache zu vermitteln, noch hätte sich Pnin als Lehrer jemals herausgenommen, sich den erhabenen Hallen der modernen wissenschaftlichen Linguistik zu nähern, dieser asketischen Korporation von Phonemen, diesem Tempel, in dem ernste junge Leute nicht die Sprache selber lernen, sondern die Methode, anderen die Methode beizubringen; die Methode, die wie ein von Fels zu Fels platschender Wasserfall aufhört, ein Medium verständiger Navigation zu sein, aber in sagenhafter Zukunft vielleicht dazu dienen mag, esoterische Dialekte – Basales Baskisch und dergleichen – hervorzubringen, welche nur von komplizierten Maschinen gesprochen werden. Zweifellos war die Art, wie Pnin an seine Arbeit heranging, amateurhaft und leichtfertig, da sie sich ganz und gar auf die Grammatikübungen verließ, die der Leiter der Slawischen Abteilung eines viel bedeutenderen Colleges als Waindell herausgegeben hatte – ein ehrwürdiger Schwindler, dessen Russisch ein Witz war, der aber großmütig den Produkten anonymer Plackerei seinen klangvollen Namen lieh. Seinen vielen Schwächen zum Trotz war Pnin ein entwaffnender, altmodischer Charme eigen, den Dr. Hagen, sein standhafter Beschützer, mürrischen Kuratoriumsmitgliedern hartnäckig als einen fragilen Importartikel anpries, der heimisches Bargeld wert war. Während der ihm um 1925 von der Universität Prag mit einigem Pomp verliehene Titel in Soziologie und Volkswirtschaft um die Mitte des Jahrhunderts zu einem Doktorgrad in Obsoletheit geworden war, war Pnin als Russischlehrer dennoch keine völlige Fehlbesetzung. Nicht um irgendeiner sachdienlichen Fähigkeit willen war er beliebt, sondern wegen seiner unvergesslichen Abschweifungen, wenn er die Brille abnahm, um die Vergangenheit anzustrahlen, während er die Linsen der Gegenwart massierte. Nostalgische Ausflüge in gebrochenem Englisch. Autobiographische Appetithäppchen. Wie Pnin in die Sojedinjonnyje Schtaty (die Vereinigten Staaten) kam. «Examinierung auf Schiff vor Landung. Sehr gut! ‹Nichts zu verzollen?› – ‹Nichts.› Sehr gut! Dann politische Fragen. Er fragt: ‹Sie sind Anarchist?› Ich antworte [der Erzähler legt für eine kurze Weile behaglicher stummer Fröhlichkeit eine Pause ein] – ‹Erstens, was wir verstehen unter Anarchismus? Praktisch, metaphysisch, theoretisch, mystisch, abstraktisch, individuell, sozialisch Anarchismus? Als ich jung war›, sage ich, ‹alles das für mich war wichtig.› So wir hatten sehr interessante Diskussion, und war ich dann ganze zwei Wochen auf Ellis Island» – das Zwerchfell beginnt sich zu heben und senken; hebt und senkt sich; der Erzähler kringelt sich.

Doch was den Humor anlangt, so gab es noch bessere Lehrveranstaltungen. Mit einer Miene koketter Heimlichtuerei, der die Kinder auf das herrliche Geschenk vorbereitete, das ihm selber einst zuteilgeworden war, und einem unbezwingbaren Lächeln, das ein unvollständiges, aber gewaltiges bräunliches Gebiss entblößte, klappte der großmütige Pnin ein zerlesenes russisches Buch an der Stelle auf, wo er vorher sorgfältig ein elegantes kunstledernes Lesezeichen eingelegt hatte; klappte es auf, woraufhin meist ein Ausdruck tiefster Bestürzung auf seine plastischen Züge trat; offenen Mundes durchblätterte er den Band fieberhaft nach vorne und nach hinten, und Minuten konnten verstreichen, bis er die richtige Seite fand – oder sich davon überzeugte, dass das Lesezeichen doch richtig gelegen hatte. Gewöhnlich entstammte die Passage seiner Wahl irgendeiner alten und einfältigen Komödie aus dem Kaufmannsmilieu, die Ostrowskij vor fast einem Jahrhundert zusammengeschustert hatte, oder einem ähnlich bejahrten und noch stärker veralteten Stück trivialer, auf Wortverdrehungen beruhender Leskow’scher Lustigkeit. Er bot diese abgestandenen Waren mit dem bombastischen Pathos der klassischen Alexandrinka dar (eines Petersburger Theaters) und nicht mit der knackigen Einfachheit der Moskauer Künstler; doch da nicht nur eine gründliche Kenntnis der Umgangssprache, sondern auch eine ordentliche Portion Literaturverständnis nötig waren, um den Humor zu würdigen, der diesen Stellen etwa noch innewohnen mochte, und da seiner armen kleinen Schülerschar beides abging, war der Vortragende der Einzige, der in den Genuss der assoziativen Feinheiten seines Textes kam. Das Heben und Senken, das wir schon in einem anderen Zusammenhang bemerkt haben, wurde an dieser Stelle zu einem wahrhaften Erdbeben. Alle Scheinwerfer eingeschaltet und alle Masken des Geistes in mimischer Tätigkeit, richtete Pnin sein Gedächtnis auf die Tage seiner glühenden und empfänglichen Jugend (in einem strahlenden Kosmos, der umso frischer wirkte, als er durch einen einzigen Schlag der Geschichte ausgelöscht worden war) und berauschte sich an seinen privaten Weinen, während er Kostprobe auf Kostprobe dessen zum Besten gab, was seine Zuhörer höflich für russischen Humor zu halten gesonnen waren. Dann wurde es ihm des Spaßes zu viel; birnenförmige Tränen rieselten ihm die gebräunten Wangen hinab. Nicht nur sein schockierendes Gebiss, sondern darüber auch ein erstaunliches Quantum rosafarbenen Zahnfleisches kam plötzlich zum Vorschein, so als sei ein Krampus hervorgeschossen, und während noch seine Schultern zuckten und hievten, fuhr seine Hand eilig zum Mund. Und obwohl die Rede, die er hinter seiner tänzelnden Hand erstickte, für seine Schülerschar nunmehr doppelt unverständlich war, erwies sich seine völlige Hingabe an die eigene Fröhlichkeit als unwiderstehlich. Wenn er schließlich vor ihr kapituliert hatte, bogen auch seine Schüler sich vor Lachen; von Charles kamen abrupte Belltöne uhrenhafter Heiterkeit, ein blendender Strom unverhofften lieblichen Lachens verklärte Josephine, die nicht hübsch war, und Eileen, die es war, verwandelte sich in einen Wackelpudding aus unvorteilhaftem Gekicher.

Was alles nichts an der Tatsache ändert, dass Pnin sich im falschen Zug befand.

Wie sollen wir seinen traurigen Fall diagnostizieren? Pnin, das vor allem muss betont werden, war alles andere als die Verkörperung jener gutmütigen deutschen Plattitüde des vergangenen Jahrhunderts, eines zerstreuten Professors. Im Gegenteil, er war vielleicht zu wachsam, zu beständig auf der Suche nach teuflischen Fallgruben, zu ängstlich auf der Hut, dass ihn seine erratische Umwelt (das unberechenbare Amerika) ja nicht zu irgendeinem furchtbaren Versehen verleite. Die Welt war es, die zerstreut war, und es war Pnins Sache, sie wieder einzurenken. Sein Leben war ein unablässiger Kampf mit leblosen Dingen, die entzweigingen oder ihn attackierten oder nicht funktionieren wollten oder tückisch abhandenkamen, sobald sie in seine Lebenssphäre gerieten. Mit den Händen war er in ungewöhnlichem Maße ungeschickt; doch da er aus einer Erbsenschote im Nu eine Ein-Ton-Mundharmonika basteln, einen flachen Kieselstein zehnmal über die Oberfläche eines stillen Teichs hüpfen lassen und mit seinen Handknochen das Schattenbild eines Kaninchens (samt blinzelndem Auge) werfen und eine Reihe jener anderen harmlosen Tricks vollführen konnte, die Russen in petto zu haben pflegen, glaubte er selber sich mit beträchtlichem manuellem und mechanischem Geschick ausgestattet. Technischem Krimskrams war er mit einer Art benommenem, abergläubischem Entzücken zugetan. Elektrische Apparaturen bezauberten ihn. Von Plastik war er ganz und gar hingerissen. Tiefe Bewunderung hegte er für den Reißverschluss. Doch die ehrfürchtig in die Steckdose gesteckte Uhr brachte seinen Morgen durcheinander, wenn mitten in der Nacht ein Gewitter das nächste Kraftwerk lahmgelegt hatte. Sein Brillengestell brach an der Brücke und ließ ihn mit zwei identischen Teilen zurück, die er auf unbestimmte Weise wiederzuvereinen suchte, vielleicht in der Hoffnung, dass ihm irgendein organisches Restaurierungswunder zu Hilfe kommen würde. Der Reißverschluss, auf den ein Gentleman am meisten angewiesen ist, löste sich in einem Albtraumaugenblick der Eile und Verzweiflung unter seiner perplexen Hand.

Und noch immer wusste er nicht, dass er sich im falschen Zug befand.

Eine besondere Gefahrenzone war in Pnins Fall die englische Sprache. Mit Ausnahme einiger nicht sehr hilfreicher Schnipsel wie «the rest is silence», «nevermore», «weekend», «who’s who» und einiger gewöhnlicher Wörter wie «eat», «street», «fountain pen», «gangster», «Charleston», «marginal utility» (Randnutzen) hatte er überhaupt kein Englisch gekonnt, als er aus Frankreich in die Staaten kam. Hartnäckig machte er sich an die Aufgabe, die Sprache Fenimore Coopers, Edgar Poes, Edisons und von einunddreißig Präsidenten zu erlernen. 1941, nach einem Jahr der Bemühung, war er sprachkundig genug, schlagfertig Ausdrücke wie «wishful thinking» (Wunschdenken) und «okey-dokey» in den Mund zu nehmen. 1942 war er imstande, seine Erzählung mit der Floskel «to make a long story short» zu unterbrechen. Als Truman seine zweite Amtsperiode antrat, war Pnin nahezu jedem Thema gewachsen; doch im übrigen schien der Fortschritt allen seinen Anstrengungen zum Trotz zum Stillstand gekommen zu sein, und 1950 war sein Englisch immer noch voller Fehler. Jenen Herbst ergänzte er seine Russischkurse, indem er eine wöchentliche Vorlesung in einem von Dr. Hagen geleiteten sogenannten Symposion hielt («Europa ohne Flügel – Überblick über die zeitgenössische kontinentaleuropäische Kultur»). Alle Vorlesungen unseres Freundes, eingeschlossen seine diversen Vorträge anderenorts, wurden von einem der jüngeren Mitglieder der Deutsch-Abteilung überarbeitet. Die Prozedur war einigermaßen verwickelt. Professor Pnin übersetzte seine eigene, von idiomatischen Redensarten strotzende mündliche russische Rede mühsam in sein Flickenenglisch. Dies wurde von dem jungen Miller durchgesehen. Dann tippte Dr. Hagens Sekretärin, eine gewisse Miss Eisenbohr, das Ganze ab. Dann strich Pnin die Stellen, die ihm unverständlich waren. Dann las er die Resultante seinem allwöchentlichen Publikum vor. Ohne den vorbereiteten Text war er total verloren, und auch der altbewährten Methode, seine Schwäche zu verbergen, konnte er sich nicht bedienen – nämlich so viel Wörter zu schnappen, wie das Auge fassen konnte, sie dem Publikum entgegenzuhaspeln und das Ende des Satzes dermaßen in die Länge zu ziehen, dass er nach dem nächsten Fang tauchen konnte. Pnins besorgtes Auge hätte unweigerlich die Orientierung verloren. Darum zog er es vor, den Blick unverwandt auf seinen Text zu richten und seine Vorträge in einem langsamen, monotonen Bariton abzulesen, der eines jener endlosen Treppenhäuser emporzusteigen schien, wie sie Leute benutzen, die etwas gegen Fahrstühle haben.

Der Zugschaffner, ein grauhaariger, väterlicher Mensch mit einer ziemlich weit unten auf seiner einfachen, funktionalen Nase sitzenden Stahlbrille und einem Fitzel schmutzigen Heftpflasters auf dem Daumen, hatte nur noch drei Wagen abzufertigen, ehe er zum letzten gelangte, in dem Pnin saß.

Pnin hatte inzwischen der Stillung eines typisch pninschen Verlangens nachgegeben. Er befand sich in einer pninschen Zwickmühle. Unter verschiedenen Artikeln, die für eine pninsche Übernachtung in einer fremden Stadt unerlässlich waren, etwa Schuhleisten, Äpfeln, Wörterbüchern und so weiter, enthielt seine zweiteilige Reisetasche einen verhältnismäßig neuen schwarzen Anzug, den er an jenem Abend für den Vortrag («Ist das russische Volk kommunistisch?») vor den Damen Cremonas anzulegen vorhatte. Gleichermaßen enthielt sie die Symposion-Vorlesung vom kommenden Montag («Don Quijote und Faust»), mit der er sich am morgigen Tage auf dem Rückweg nach Waindell zu befassen beabsichtigte, sowie ein Referat der bereits den höheren akademischen Weihen entgegenstrebenden Studentin Betty Bliss («Dostojewskij und die Gestaltpsychologie»), das er für Dr. Hagen durchsehen musste, der ihr Hauptdenkwart war. Die Zwickmühle war folgende: Wenn er das Cremona-Manuskript – einen Packen sorgfältig in der Mitte geknickter Seiten im Schreibmaschinenformat – bei sich behielte, in der Geborgenheit seiner Körperwärme, war es theoretisch nicht ausgeschlossen, dass er vergessen würde, es aus dem Jackett, das er jetzt trug, in jenes umzuquartieren, das er dann tragen würde. Wenn er andererseits die Vorlesung aus der Anzugtasche jetzt schon in die Reisetasche steckte, würde ihn, das wusste er, der Gedanke quälen, dass sein Gepäck gestohlen werden könnte. Dritterseits (Gemütszuständen wie diesem wachsen in einem fort weitere Seiten) befand sich in der Innentasche seiner jetzigen Jacke ein wertvolles Portefeuille mit zwei Zehn-Dollar-Scheinen, dem Zeitungsausschnitt eines Briefes betreffs der Konferenz von Jalta[3], den er 1945 mit meiner Hilfe an die New York Times gerichtet hatte, sowie seine Einbürgerungsurkunde; und es war im Prinzip möglich, die Brieftasche, wenn benötigt, auf eine Weise herauszuziehen, dass der gefaltete Vortrag verhängnisvoll disloziert wurde. Während der zwanzig Minuten im Zug hatte unser Freund die Reisetasche schon zweimal geöffnet, um mit seinen verschiedenen Papieren zu hantieren. Als der Schaffner den Wagen erreichte, las sich der emsige Pnin mühsam Bettys letzten Kraftakt durch, der mit den Worten anhob: «Wenn wir das geistige Klima betrachten, in dem wir alle leben, kommen wir nicht umhin zu bemerken …»

Der Schaffner kam herein; weckte den Soldaten nicht; versprach den Frauen, sie rechtzeitig wissen zu lassen, wann sie aussteigen mussten; und schüttelte dann den Kopf über Pnins Fahrschein. Der Halt in Cremona war vor zwei Jahren gestrichen worden.

«Wichtiger Vortrag!», rief Pnin. «Was tun? Es ist eine Katas-Troffe!»

Ernst und gemütlich sank der grauhaarige Schaffner auf den gegenüberliegenden Sitz nieder und zog schweigend ein zerfleddertes Buch voller Einlegeblätter mit Eselsohren zu Rate. In ein paar Minuten, nämlich um 15 Uhr 08, müsse Pnin in Whitchurch aussteigen; dann könne er gerade noch den Vier-Uhr-Bus erwischen, der ihn so um sechs in Cremona absetzen würde.

«Ich habe gedacht, ich gewinne zwölf Minuten, aber jetzt verliere ich fast zwei ganze Stunden», sagte Pnin bitter. Woraufhin er unter Räuspern und den Trost überhörend, den ihm der freundliche Graukopf spendete («Sie schaffen es schon noch»), die Lesebrille abnahm, sein Gepäckstück an sich raffte, das schwer war wie ein Stein, und sich in den Vorraum des Waggons verfügte, um dort darauf zu warten, dass das vorbeihuschende konfuse Grünzeug gelöscht und durch den bestimmten Bahnhof ersetzt wurde, auf den sein Sinn gerichtet war.

2

Whitchurch materialisierte sich fahrplanmäßig. Eine heiße, apathische Weite aus Zement und Sonne lag jenseits der geometrischen Festkörper verschiedener scharf umrissener Schatten. Für Oktober war das hiesige Wetter unglaubhaft sommerlich. Wachsam trat Pnin in eine Art Wartesaal mit einem überflüssigen Ofen in der Mitte und sah sich um. In einer einsamen Nische war das Oberteil eines schwitzenden jungen Mannes auszumachen, der auf dem breiten Holztresen vor sich Formulare ausfüllte.

«Information bitte», sagte Pnin. «Wo hält Vier-Uhr-Bus nach Cremona?»

«Genau gegenüber», antwortete der Angestellte fix, ohne aufzusehen.

«Und wo möglich Gepäck lassen?»

«Die Tasche da? Ich kümmere mich darum.»

Und mit der Lässigkeit der Nation, die Pnin immer wieder verblüffte, schob der junge Mann die Reisetasche in eine Ecke seiner Nische.

«Quittance [Quittung]?», erkundigte sich Pnin, indem er das russische kwitanzija ins Englische übersetzte, wo ein anderes Wort (receipt) angebracht gewesen wäre.

«Was ist das?»

«Nummer?», versuchte Pnin.

«Nummer brauchen Sie nicht», sagte der Bursche und nahm seine Schreibarbeit wieder auf.

Pnin verließ den Bahnhof, vergewisserte sich der Bushaltestelle und betrat ein coffee shop. Er speiste ein Schinken-Sandwich, bestellte noch eins und verspeiste auch das. Nachdem er für das Essen bezahlt hatte, nicht jedoch für einen hervorragenden Zahnstocher, den er in einem hübschen, kleinen, tannenzapfenförmigen Becher neben der Registrierkasse sorgfältig ausgewählt hatte, ging Pnin genau fünf vor vier zum Bahnhof zurück, um seine Reisetasche zu holen.

Dort tat jetzt ein anderer Mann Dienst. Der erste war nach Hause gerufen worden, um seine Frau schleunigst in die Entbindungsklinik zu fahren. Er würde in ein paar Minuten zurück sein.

«Aber ich muss meinen Koffer erhalten!», rief Pnin.

Der Stellvertreter bedauerte, konnte aber nicht das Geringste tun.

«Da ist er!», rief Pnin, lehnte sich vor und zeigte auf ihn.

Das war ungünstig. Noch während er in die Ecke wies, wurde ihm klar, dass er die falsche Reisetasche forderte. Sein Zeigefinger schwankte. Dieses Zögern war verhängnisvoll.

«Mein Bus nach Cremona!», rief Pnin.

«Um acht fährt noch einer», sagte der Mann.

Was sollte unser armer Freund tun? Eine schreckliche Situation! Er warf einen Blick auf die Straße. Der Bus war soeben angekommen. Der Vortrag bedeutete einen Nebenverdienst von fünfzig Dollar. Seine Hand fuhr an seine rechte Seite. Er war da, slawa Bogu (gottseidank)! Sehr gut! Dann würde er eben seinen schwarzen Anzug nicht tragen – wot i wsjo (das ist alles). Und die Reisetasche auf dem Rückweg abholen. In seinem Leben hatte er viele wertvollere Dinge verloren, vergeudet, vertan. Energisch, fast heiter bestieg Pnin den Bus.

Diese neue Phase seiner Reise hatte er nur ein paar Straßenkreuzungen weit erduldet, als ihm ein fürchterlicher Verdacht dämmerte. Seit der Trennung von seiner Reisetasche hatte sich sein linker Zeigefinger mit der Innenseite seines rechten Ellbogens darin abgewechselt, eine kostbare Anwesenheit in seiner inneren Jackentasche zu überprüfen. Plötzlich riss er jetzt das Ding brutal heraus. Es war Bettys Referat.

Unter Lauten, die er für internationale Ausrufe der Angst und des Flehens hielt, hievte sich Pnin aus seinem Sitz. Taumelnd gelangte er zum Ausgang. Mit einer Hand melkte der Fahrer wütend eine Handvoll Geldstücke aus seiner kleinen Maschine, erstattete das Fahrgeld und brachte den Bus zum Stehen. Der arme Pnin wurde mitten in einer fremden Stadt ausgesetzt.

Er war weniger stark, als seine mächtig vorgewölbte Brust anzudeuten schien, und die Woge hoffnungsloser Müdigkeit, die seinen oberlastigen Körper plötzlich überkam und ihn sozusagen von der Wirklichkeit trennte, war keine ihm ganz unbekannte Empfindung. Er fand sich in einem feuchten, grünen, ein wenig violetten Park der steifen und friedhofhaften Art mit dem Akzent auf düsteren Rhododendren, blankem Lorbeer, verzweigten Schattenbäumen und kurzgeschorenen Rasenflächen; und kaum war er in eine Allee von Kastanien und Eichen eingebogen, die nach der kurz angebundenen Auskunft des Busfahrers zum Bahnhof zurückführte, als jenes unheimliche Gefühl, jenes Prickeln der Unwirklichkeit ihn vollständig überwältigte. War es etwas, das er gegessen hatte? Dieses eingelegte Gürkchen auf dem gekochten Schinken? War es eine geheimnisvolle Krankheit, die bislang allen seinen Ärzten entgangen war? Mein Freund fragte es sich, und ich frage es mich auch.

Ich weiß nicht, ob jemals festgestellt wurde, dass ein Hauptmerkmal des Lebens die Separatheit ist. Wenn uns keine Fleischschicht umhüllt, sterben wir. Der Mensch existiert nur in dem Maße, in dem er von seiner Umwelt abgesondert ist. Die Schädeldecke ist der Schutzhelm eines Raumfahrers. Bleib drinnen, oder du gehst zugrunde. Der Tod ist Entkleidung, der Tod ist Kommunion. Es mag wunderbar sein, mit der Landschaft eins zu werden, aber es wäre das auch des zarten Egos Ende. Die Empfindung, die den armen Pnin jetzt heimsuchte, war etwas jener Entkleidung, jener Kommunion sehr Ähnliches. Er kam sich porös und durchlässig vor. Er schwitzte. Er war zutiefst erschrocken. Eine steinerne Bank zwischen den Lorbeerbäumen bewahrte ihn davor, auf dem Gehsteig zusammenzubrechen. War diese Anwandlung ein Herzanfall? Ich bezweifle es. Dieses eine Mal bin ich sein Arzt, und ich wiederhole, ich bezweifle es. Mein Patient war einer jener raren und unglückseligen Menschen, die ihrem Herzen («einem hohlen Muskelorgan» nach der schauerlichen Definition in Webster’s New Collegiate Dictionary, das in Pnins verwaister Reisetasche steckte) mit angewidertem Schauder, nervöser Abneigung, krankhaftem Hass gegenüberstehen, als wäre es irgendein starkes, schleimiges, unberührbares Ungeheuer, das leider von einem schmarotzte. Wenn ihnen bisweilen sein stolpernder und strauchelnder Puls ein Rätsel aufgab, untersuchten die Ärzte ihn gründlicher, und das Kardiogramm zeichnete sagenhafte Gebirgsmassive und deutete auf ein Dutzend tödlicher, sich gegenseitig ausschließender Krankheiten hin. Er hatte Angst, das eigene Handgelenk anzufassen. Er versuchte nie, auf der linken Seite zu schlafen, selbst in jenen trostlosen Nachtstunden nicht, wenn der Schlaflose seine beiden Seiten durchprobiert hat und sich nach einer dritten sehnt.

Und jetzt im Park von Whitchurch empfand Pnin, was er schon am 10. August 1942 und am 15. Februar (sein Geburtstag) 1937 und am 18. Mai 1929 und am 4. Juli 1920 empfunden hatte – dass der scheußliche Automat, den er beherbergte, ein eigenes Bewusstsein entwickelt hatte und nicht nur unflätig am Leben war, sondern ihm Pein und Panik verursachte. Er presste seinen armen kahlen Kopf gegen die steinerne Lehne der Bank und rief sich all die früheren Anlässe einer ähnlichen Versehrung und Verzweiflung in Erinnerung. Konnte es diesmal eine Lungenentzündung sein? Vor ein paar Tagen hatte er in einem jener herzhaften amerikanischen Durchzüge, die ein Gastgeber seinen Gästen nach der zweiten Cocktailrunde angedeihen lässt, bis ins Mark gefroren. Und plötzlich fühlte Pnin (war er im Sterben?), wie er in die eigene Kindheit zurückglitt. Dieser Empfindung waren retrospektive Einzelheiten von einer Schärfe eigen, die als das dramatische Privileg Ertrinkender besonders in der ehemaligen russischen Marine gilt – ein Erstickungsphänomen, das ein Veteran der Psychoanalyse, dessen Name mir entfallen ist, als das unbewusst evozierte Trauma der eigenen Taufe erklärt hat, welches die zwischen dem ersten und dem letzten Eintauchen liegenden Erinnerungen zum Explodieren bringe. Es geschah in einem einzigen Augenblick, doch es lässt sich nicht kürzer als durch eine Menge aufeinanderfolgender Worte wiedergeben.

Pnin entstammte einer achtbaren, einigermaßen begüterten Petersburger Familie. Sein Vater, Dr. Pawel Pnin, ein angesehener Augenfacharzt, hatte einmal die Ehre gehabt, bei Lew Tolstoj eine Bindehautentzündung zu behandeln. Timofeys Mutter, eine zerbrechliche, nervöse kleine Person mit Wespentaille und Bubikopf, war die Tochter des einstmals berühmten Revolutionärs Umow und einer Deutschen aus Riga. In seiner halben Ohnmacht sah er die Augen seiner Mutter auf sich zukommen. Es war ein Sonntag mitten im Winter. Er war elf. Er hatte die Schularbeiten für den Montagsunterricht am Ersten Gymnasium gemacht, als eine seltsame Kühle seinen Körper durchdrang. Seine Mutter maß die Temperatur, sah ihren Sohn mit einer Art von Verblüffung an und rief auf der Stelle den besten Freund ihres Mannes, den Kinderarzt Bjelotschkin. Er war ein kleiner Mann mit zusammengewachsenen Brauen, einem kurzen Bart und kurzgeschnittenem Haar. Die Frackschöße lüftend, setzte er sich zu Timofey auf die Bettkante. Es fand ein Wettrennen zwischen der dicken goldenen Uhr des Arztes und Timofeys Puls statt (der mühelos siegte). Darauf wurde Timofeys Oberkörper entblößt, und an den presste Bjelotschkin die eisige Nacktheit seines Ohrs und die sandpapierhafte Seite seines Kopfes. Wie die flache Sohle eines Einfüßlers wanderte das Ohr über Timofeys ganzen Brustkasten und Rücken, blieb an diesem oder jenem Hautflecken haften und stürmte dann weiter zum nächsten. Kaum war der Arzt gegangen, da packten Timofeys Mutter und ein derbes Dienstmädchen mit Sicherheitsnadeln zwischen den Zähnen den in einem erbärmlichen Zustand befindlichen kleinen Patienten in eine zwangsjackenähnliche Kompresse. Sie bestand aus einer Lage feuchten Leinens, einer dickeren Lage saugfähiger Watte und einer dritten straffen Flanells, wobei klebriges teuflisches Wachstuch – in der Farbe von Urin und Fieber – zwischen den klammen Berührungen des Leinens auf der Haut und dem grässlichen Quietschen der Watte zu liegen kam, um die die äußere Flanellschicht gewickelt war. Eine arme verpuppte Larve, lag Timoscha (Tim) unter einem Haufen zusätzlicher Decken; gegen den sich verzweigenden Frost, der ihm von seinem erstarrten Rückgrat aus nach beiden Seiten die Rippen hinaufkroch, waren sie machtlos. Die Augen konnte er nicht schließen, weil seine Augenlider so brannten. Das Sehen war nichts als ein ovaler Schmerz mit schrägen Lichtstichen; vertraute Formen wurden zu Brutstätten böser Sinnestäuschungen. In der Nähe seines Bettes stand ein vierteiliger Wandschirm aus poliertem Holz mit Brandzeichnungen, die einen von einem Laubfilz bedeckten Reitpfad, einen Seerosenteich, einen auf einer Bank kauernden Greis und ein Eichhörnchen[1] darstellten, das in den Vorderpfoten einen rötlichen Gegenstand hielt. Timoscha, ein systematisches Kind, hatte sich oft gefragt, was dies für ein Gegenstand sein mochte (eine Nuss? ein Tannenzapfen?), und da er jetzt nichts anderes zu tun hatte, nahm er sich vor, dieses triste Rätsel nunmehr zu lösen, doch das Fieber, das in seinem Kopf summte, ertränkte jede Anstrengung in Pein und Panik. Noch bedrückender verlief sein Zweikampf mit der Tapete. Es war ihm immer klar gewesen, dass senkrecht eine Kombination aus drei verschiedenen Büscheln violetter Blumen und sieben verschiedenen Eichenblättern etliche Male mit beruhigender Genauigkeit wiederkehrte; doch jetzt störte ihn die unabweisliche Tatsache, dass er nicht herauszufinden vermochte, welches Prinzip von Ein- und Ausschluss die waagerechte Abfolge des Musters regierte; dass es eine solche Abfolge gab, erwies sich daran, dass er imstande war, die ganze Wand entlang, vom Bett zum Schrank und vom Ofen zur Tür, hier und da das Wiederauftauchen dieses oder jenes Elements der Serie zu erkennen, doch wenn er von einer bestimmten Gruppe aus, bestehend aus drei Blütenständen und sieben Blättern, nach rechts oder links zu wandern versuchte, verirrte er sich prompt in einem sinnlosen Wirrwarr aus Rhododendron und Eiche. Wenn der boshafte Zeichner – der Zerstörer des Geistes, der Freund des Fiebers – den Schlüssel zu dem Muster mit so monströser Sorgfalt versteckt hatte, dann war es nur logisch, dass dieser Schlüssel so kostbar war wie das Leben selbst und dass er, war er einmal gefunden, Timofey Pnin seine gewohnte Gesundheit, seine gewohnte Welt zurückgeben würde; und dieser luzide – leider zu luzide – Gedanke zwang ihn, in seinem Kampf fortzufahren.

Das Gefühl, zu irgendeiner Verabredung zu spät zu kommen, die so abscheulich genau festlag wie die Schule, das Abendessen oder die Schlafenszeit, fügte den Schwierigkeiten einer Suche, die in ein Delirium überging, die Beschwerden einer peinlichen Hast hinzu. Ohne dass ihr vielfältig komplexes Webmuster angetastet wurde, schienen sich Blattwerk und Blumen in einem einzigen wogenden Stück von ihrem hellblauen Untergrund zu lösen, der seinerseits seine papierne Flachheit verlor und sich in die Tiefe dehnte, bis das Herz des Betrachters als Reaktion auf die Dehnung fast zersprang. Durch die verselbständigten Girlanden hindurch konnte er immer noch gewisse Teile des Kinderzimmers erkennen, die sich hartnäckiger ans Leben klammerten als die übrigen, etwa den lackierten Wandschirm, den Schimmer eines Wasserbechers, die Messingknäufe seines Bettgestells, doch diese kamen den Eichenblättern und den üppigen Blumen so wenig ins Gehege wie in der Fensterscheibe das Spiegelbild eines Gegenstandes im Innern der Landschaft draußen, die man durch dasselbe Glas wahrnimmt. Und obwohl der Zeuge und das Opfer dieser Hirngespinste fest zugedeckt im Bett lag, saß er im Einklang mit der Doppelnatur seiner Umgebung gleichzeitig auf einer Bank in einem grün-und-violetten Park. Einen schmelzenden Augenblick lang hatte er das Gefühl, endlich den Schlüssel in der Hand zu halten, den er gesucht hatte; doch ein von sehr weit her kommender raschelnder Wind, dessen weicher Nachdruck zunahm, als er die – nunmehr blütenlosen, blinden – Rhododendren zauste, brachte jedes rationale Muster durcheinander, das Timofey Pnins Umgebung je gehabt haben mochte. Er lebte, und das war genug. Die Rückenlehne der Bank, an die er sich immer noch spreizte, fühlte sich ebenso wirklich an wie seine Kleidung oder seine Brieftasche oder das Datum der Großen Moskauer Feuersbrunst – 1812.

Ein Grauhörnchen, das vor ihm auf dem Boden bequem auf den Hinterbeinen hockte, probierte einen Pfirsichstein. Der Wind hielt inne und bewegte dann das Laubwerk von neuem.

Aus dem Anfall war er ein wenig verängstigt und zitterig hervorgegangen, doch er überlegte, dass er sich gewiss sehr viel erschütterter und besorgter fühlen würde, hätte es sich um einen wirklichen Herzanfall gehandelt, und dieser Umwegschluss vertrieb seine Furcht ganz und gar. Es war jetzt vier Uhr zwanzig. Er schnäuzte die Nase und trottete zum Bahnhof.

Der erste Angestellte war zurück. «Hier ist Ihre Tasche», sagte er frohgemut. «Tut mir leid, dass Sie den Bus nach Cremona verpasst haben.»

«Wenigstens» – und welch würdevolle Ironie versuchte unser unglücklicher Freund in dieses «wenigstens» zu legen – «ich hoffe, dass mit Ihrer Frau ist alles in Ordnung.»

«Wird schon werden. Müssen uns wohl bis morgen gedulden.»

«Also», sagte Pnin, «zeigen Sie mir, wo ist publikes Telephon?»

Der Mann deutete mit dem Bleistift so weit zur Seite, wie er konnte, ohne seinen Bau zu verlassen. Die Reisetasche in der Hand, setzte sich Pnin in Bewegung, wurde indessen zurückgerufen. Der Bleistift deutete jetzt auf die Straße.

«Hören Sie. Sehn Sie die beiden Typen, die da den Lkw beladen? Die fahren gleich nach Cremona. Sie brauchen denen nur zu sagen, dass Bob Horn Sie schickt. Die nehmen Sie bestimmt mit.»

3

Manche Menschen – und ich selber gehöre zu ihnen – haben für Happy Ends nichts übrig. Wir fühlen uns hintergangen. Unglück ist das Normale. Das Verhängnis sollte nicht klemmen. Die Lawine, die in ihrem Lauf ein paar Meter über dem sich duckenden Dorf zum Stillstand kommt, benimmt sich nicht nur unnatürlich, sondern unmoralisch. Hätte ich über diesen sanften alten Herrn gelesen, statt über ihn zu schreiben, so wäre es mir lieber gewesen, er hätte bei seiner Ankunft in Cremona entdeckt, dass sein Vortrag nicht an diesem, sondern erst am nächsten Freitag stattfinden sollte. Tatsächlich jedoch traf er nicht nur wohlbehalten ein, sondern sogar noch rechtzeitig zum Dinner – Obstsalat als Magenöffner, Pfefferminzgelee zum anonymen Fleischgericht, Schokoladensirup zum Vanilleeis. Und vollgestopft mit Süßigkeiten, saß er bald darauf in seinem schwarzen Anzug auf einem Stuhl neben dem Rednerpult und jonglierte mit drei Papieren, die er sich alle in die Jacke gezwängt hatte, um das eine, welches er brauchte, auf jeden Fall dabeizuhaben (und so jedes Missgeschick mit mathematischer Notwendigkeit auszuschließen), während am Pult Judith Clyde, eine alterslose Blondine in wasserblauem Reyon, deren große, flache Wangen schöne Flecken in Bonbonrosa zierten und deren zwei helle Augen hinter einem randlosen Kneifer in blauem Wahnsinn schwammen, den Vortragenden vorstellte:

«Heute», sagte sie, «ist der Redner des Abends … Dies ist übrigens unser dritter Freitagabend; wie Sie sich alle erinnern werden, hatten wir letztes Mal das Vergnügen, zu hören, was Professor Moore über die Landwirtschaft in China zu sagen hatte. Ich bin stolz darauf, dass wir heute den aus Russland gebürtigen, in Amerika eingebürgerten Professor … jetzt kommt was Schwieriges, fürchte ich … Professor Pan-nihn bei uns haben. Hoffentlich war das so richtig. Er braucht wohl kaum vorgestellt zu werden, und wir alle freuen uns, dass er bei uns ist. Wir haben einen langen Abend vor uns, einen langen und lohnenden Abend, und ich bin sicher, dass Sie alle gerne Zeit hätten, ihm hinterher Fragen zu stellen. Übrigens habe ich gehört, dass sein Vater der Hausarzt der Familie Dostojewskij war, und er ist auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs eine Menge herumgekommen. Darum will ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen und nur noch ein paar Worte zu unserm nächsten Freitagabendvortrag in dieser Reihe sagen. Sicher werden Sie alle entzückt sein, dass uns alle eine große Überraschung erwartet. Unsere nächste Rednerin ist die angesehene Lyrikerin und Prosaschriftstellerin Miss Linda Lacefield. Wie wir alle wissen, hat sie Gedichte, Prosa und einige Kurzgeschichten geschrieben. Miss Lacefield wurde in New York geboren. Ihre Vorfahren beiderseits kämpften im Revolutionskrieg auf beiden Seiten. Ihr erstes Gedicht hat sie noch vor dem Schulabschluss geschrieben. Viele ihrer Gedichte – wenigstens drei davon – standen in Antwort – Hundert Liebesgedichte von amerikanischen Frauen. 1922 bekam sie den Bargeldpreis, gestiftet von …»

Aber Pnin hörte nicht zu. Eine schwache Welle, die aus seinem jüngsten Anfall herrührte, fesselte seine faszinierte Aufmerksamkeit. Sie dauerte nur ein paar Herzschläge lang, mit einer zusätzlichen Systole hier und da – letzte, harmlose Echos –, und löste sich in der spröden Realität, als seine distinguierte Gastgeberin ihn ans Pult bat; doch solange sie anhielt, wie klar war da die Vision! In der Mitte der vordersten Stuhlreihe erblickte er eine seiner baltischen Tanten, angetan mit den Perlen und den Spitzen und der blonden Perücke, die sie bei allen Auftritten des großen Schmierenkomödianten Chodotow getragen hatte, den sie aus der Ferne anhimmelte, ehe sie dem Wahnsinn verfiel. Mit schüchternem Lächeln, den glatten dunklen Kopf gesenkt, den sanften braunen Blick unter samtigen Augenbrauen strahlend zu Pnin emporgerichtet, saß neben ihr eine tote Liebste und fächelte sich mit einem Programmheft. Ermordet, vergessen, ungerächt, unverdorben, unsterblich, waren viele alte Freunde und Bekannte unter weniger weit zurückliegenden Leuten im dämmrigen Saal verteilt, Miss Clyde etwa, die bescheidentlich wieder auf einen Platz in der ersten Reihe gelangt war. Wanja Bjednjaschkin, den die Roten 1919 in Odessa erschossen hatten, weil sein Vater ein Liberaler gewesen war, machte seinem früheren Schulkameraden aus dem Hintergrund des Saales fröhlich Zeichen. Und aus einer unauffälligen Position sahen Dr. Pawel Pnin und seine besorgte Frau, beide ein wenig verschwommen, doch im Großen und Ganzen aus ihrer dunklen Auflösung wunderbar auferstanden, ihren Sohn mit der gleichen verzehrenden Leidenschaft, dem gleichen verzehrenden Stolz an, mit dem sie ihn an jenem Abend im Jahre 1912 angesehen hatten, als er (ein bebrillter Knabe ganz allein auf der Bühne) bei einer Schulfeier zum Gedenken an Napoleons Niederlage ein Gedicht von Puschkin aufgesagt hatte.

Die kurze Vision war vorüber. Die alte Miss Herring[1], eine emeritierte Geschichtsprofessorin, Autorin von Russland erwacht (1922), beugte sich über ein oder zwei intermediäre Zuhörerinnen hinweg, um Miss Clyde zu ihrer Rede zu beglückwünschen, während hinter jener Dame eine andere blinzelnde Alte ein Paar welker, lautlos klatschender Hände in ihr Blickfeld reckte.

Kapitel 2

1

Die berühmten Glocken von Waindell waren mitten bei ihrem Morgengeläut.

Laurence G. Clements, Professor am Waindell College, dessen einzige beliebte Lehrveranstaltung seine Philosophie der Gebärde war, und seine Frau Joan, Absolventenjahrgang 1930 des Pendelton College, hatten unlängst von ihrer Tochter Abschied genommen, der besten Studentin ihres Vaters: Isabel hatte in ihrem vorletzten Studienjahr einen Waindell-Studenten geehelicht, der in einem fernen Staat des Westens eine Stelle als Ingenieur angetreten hatte.

Melodiös klang das Glockenspiel in der silbrigen Sonne. Vom Panoramafenster eingerahmt, erschien das Städtchen Waindell – weiße Farbe, schwarzes Zweigmuster – in der Perspektive eines Kindes in die schiefergrauen Hügel projiziert, ganz ohne luftige Tiefen; alles war hübsch mit Reif überzogen; was an den geparkten Autos überhaupt nur glänzen konnte, das glänzte; Miss Dingwalls alter Scotchterrier, eine Art walzenförmiger kleiner Keiler, hatte seine Rundgänge die Warren Street hinauf und die Spelman Avenue hinab und wieder zurück aufgenommen; doch noch so viel Nachbarschaftsgeist, Landschaftsgärtnerei und Glockengeläut vermochten die Jahreszeit nicht milder zu stimmen; nach einer Grübelpause würde in vierzehn Tagen das Studienjahr in seine winterlichste Phase treten, das Frühjahrssemester, und das Ehepaar Clements kam sich in seinem netten alten zugigen Haus, das ihnen jetzt anhing wie die schlaffe Haut und die schlackernde Kleidung einem Narren, der sich ein Drittel seines Körpergewichts heruntergehungert hat, bedrückt, beklommen und vereinsamt vor. Isabel war schließlich noch so jung und so unbestimmt, und von der Familie ihrer Schwiegereltern kannten sie wirklich nicht mehr als jene Hochzeitsauswahl von Marzipangesichtern in einem gemieteten Festsaal, wo die duftige Braut ohne ihre Brille so hilflos gewirkt hatte.

Unter der enthusiastischen Leitung von Dr. Robert Trebler, einem tatkräftigen Mitarbeiter der Musik-Abteilung, spielten die Glocken im Himmel der Engel noch immer kräftig auf, und bei einem frugalen Frühstück aus Orangen und Zitronen[1]