Poison Princess - In den Fängen der Nacht - Kresley Cole - E-Book

Poison Princess - In den Fängen der Nacht E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Die tödlichste Karte in diesem Spiel ist– die Liebe.

Beinahe wäre Evie den Verlockungen im Reich des Todes verfallen, doch als sie erfährt, dass Jack in Gefahr schwebt, hat sie nur eins im Sinn – Flucht. Evie macht sich auf in die Außenwelt, die sich in eine eisige Ödnis verwandelt hat, um in jenem unerbittlichen Krieg mit ihren Verbündeten gegen die grausamsten aller Arkana anzutreten – die Liebenden. Doch damit dies gelingt, müssen sowohl der hitzköpfige Jack als auch der unwiderstehliche Tod an ihrer Seite kämpfen. Kann Evie die beiden überzeugen? Zu zart scheint manchmal die Grenze zwischen Liebe und Hass und Evie selbst ist zerrissen zwischen den beiden ungleichen Rivalen …

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Seitenzahl: 477

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DIE AUTORIN

Foto: © Deanna Meredith Studios

Kresley Cole lebt mit ihrem Mann in Florida. Mit ihrer paranormalen Romance-Serie Immortals after Dark eroberte sie die Bestsellerlisten und wurde mehrfach ausgezeichnet. Poison Princess ist der Auftakt ihrer ersten Jugendbuchserie.

Von Kresley Cole sind außerdem bei cbt erschienen:

Poison Princess

Poison Princess – Der Herr der Ewigkeit

Kresley Cole

Poison

Princess

In den Fängen der Nacht

Aus dem Englischen

von Katja Hald

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Oktober 2015

© 2015 by Kresley Cole

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »Dead of Winter.

The Arcana Chronicles« bei Simon & Schuster,

Children’s Publishing Divisions, a trademark

of Simon & Schuster, Inc., New York.

© 2015 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Katja Hald

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,

unter Verwendung eines Bildes von Shutterstock

© Vita Khorzhevska

he · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15898-9

www.cbt-buecher.de

Dieses Buch widme ich in tiefer Verbundenheit

der außergewöhnlichen Christina Lauren

(Christiana Hobbs und Lauren Billings).

Alles begann in einem Bus …

Das Schlachtfeld

Der Blitz, eine verheerende Sonneneruption, hat die gesamte Erdoberfläche zu Asche verbrannt und alle Gewässer verdunsten lassen. Die Pflanzenwelt und nahezu alle Tiere sind ausgerottet. Ein Großteil der Menschheit, sehr viel mehr Frauen als Männer, kam ums Leben. Nach Monaten der Dürre regnet es nun ununterbrochen. Die Sonne geht nicht mehr auf, es herrscht eine endlose Finsternis. Die Pest breitet sich aus.

Hindernisse

Verschiedene Milizen schließen sich zu größeren Streitkräften zusammen. Sklavenhändler und Kannibalen sind auf der Suche nach neuen Opfern. Sie alle machen unerbittlich Jagd auf Frauen. In der Dunkelheit sind gefährliche Wiedergänger unterwegs, vom Blitz erschaffene Zombies, deren Biss ansteckend ist. Sie sind auf der Suche nach Flüssigkeit, vor allem Blut.

Feinde

Die anderen Arkana. In jedes dunkle Zeitalter werden zweiundzwanzig Teenager mit übernatürlichen Kräften geboren. Wir sind dazu bestimmt, in einem Spiel um Leben und Tod gegeneinander zu kämpfen. Unser Schicksal ist auf den Karten eines Tarot-Decks abgebildet. Ich bin die Herrscherin. In diesem Moment spielen wir wieder. Ich habe die Liebenden im Visier, die Jack in ihrer Gewalt haben.

Arsenal

Um die Liebenden und die anderen Arkana zu besiegen, muss ich die Kräfte der Herrscherin einsetzen. Ich habe die Fähigkeit, extrem schnell zu heilen, und kontrolliere alles, was Wurzeln schlägt oder blüht. Ich kämpfe mit Dornentornados – und Gift. Ich bin die Prinzessin der Gifte …

– Die Großen Arkana –

0. Der Narr, Hüter des Spiels (Matthew)

I. Der Magier, Meister der Illusion (Finn)

II. Die Hohepriesterin, Herrscherin über die Tiefe

III. Die Herrscherin, Unsere Dornenkönigin (Evie)

IV. Der Herrscher, Oberster Herr der Steine

V. Der Hierophant, Herr der dunklen Rituale (Guthrie)

VI. Die Liebenden, Herzog & Herzogin der Perversion (Vincent & Violet)

VII. Der Wagen, Meister der Boshaftigkeit

VIII. Kraft, Herrin der Tiere (Lark)

IX. Der Eremit, Meister der Alchemie (Arthur)

X. Rad des Schicksals, Schicksalsbotin

XI. Gerechtigkeit, Herrin der Qual (Spite)

XII. Der Gehängte, Beherrscher des Unheimlichen

XIII. Tod, Herr der Ewigkeit (Aric)

XIV. Mäßigkeit, Trägerin der Last der Sünde (Calanthe)

XV. Der Teufel, Garstiger Schänder (Ogen)

XVI. Der Turm, Herr der Blitze (Joules)

XVII. Der Stern, Obskure Lenkerin

XVIII. Der Mond, Überbringerin des Zweifels (Selena)

XIX. Die Sonne, Heil der glorreichen Erleuchterin

XX. Gericht, Der Erzengel (Gabriel)

XI. Die Welt, Die Übernatürliche (Tess)

1

TAG 372 (oder 373?) N. D. BLITZ

Irgendwo im Gebiet der Sklavenhändler

Ein, aus, ein, aus …

Ich jagte auf meinem Pferd durch die Landschaft und vernahm dabei immer wieder ein tiefes, keuchendes Atmen.

Vom schwarzen Himmel fiel Regen, der mir ins Gesicht prasselte. Wind peitschte die Mähne meines Pferdes, die Kapuze meines Regenumhangs flatterte.

Und dennoch hörte ich das Atmen.

Die winzigen Härchen in meinem Nacken sträubten sich. Auch die Stute schnaubte und spitzte die Ohren. Obwohl ich weder Larks animalische Instinkte noch Selenas geschärfte Sinne einer Jägerin besaß, konnte ich spüren, dass mich jemand – oder etwas – beobachtete.

Mich verfolgte?

Ein, aus …

Ich steigerte das Tempo, zwang mich, mein strauchelndes Pferd gefährlich schnell durch das felsige Gelände zu treiben.

Seit ich vor Tagen aus der geheimen Festung des Todes geflohen war, hatte ich nicht mehr geschlafen – sofern man in dieser unaufhörlichen Dunkelheit überhaupt von »Tagen« sprechen konnte. Allein mein eiserner Wille hielt mich noch im Sattel. Ich war wie im Delirium.

Vielleicht verfolgte mich auch gar niemand, und es war nur mein eigener Atem, der fremd in meinen Ohren klang. Wenn ich mich doch nur für ein paar Minuten ausruhen könnte …

Konzentrier dich, Evie! Es stand so viel auf dem Spiel. Es ging um Jacks Leben.

Ich war fest entschlossen, ihn vor den Liebenden, Vincent und Violet Milovníci, zu retten.

Der sadistische Vincent hatte ihn gefangen genommen und Violet war auf dem Weg, ihren Bruder zu treffen. Sobald sie vereint wären, würden die psychopathischen Zwillinge Jack mit ihren Apparaten foltern.

Um schneller zu sein als Violet, nahm ich enorme Risiken auf mich. Noch immer konnte ich kaum glauben, was ich getan hatte, um Aric zu entkommen.

Alle paar Minuten traf mich ein Regentropfen direkt im Auge und der stechende Schmerz verschleierte mir die Sicht. Während ich blinzelte, um wieder klar zu sehen, machte sich in meinem Kopf die Erinnerung an die letzte Begegnung mit dem Tod breit …

Das Gefühl seiner von den Schwertgriffen rauen Hände um meine Taille. Seine heisere Stimme, als er mich auf sein Bett gezogen und mir ins Ohr geflüstert hatte: »Gibst du dich mir hin, so wirst du nur mir gehören. Wirst meine Frau sein, in jedweder Hinsicht. Dafür werde ich alles tun.« Er hatte sogar versucht, mich mit dem Versprechen zu nötigen, als Gegenleistung Jack zu retten.

Blinzel.

Sein Duft – Sandelholz, Pinie, Männlichkeit – war wie eine Droge gewesen, die mich schwach werden ließ und die Hitze des Gefechts in mir unterdrückte. Dennoch hatte ich es geschafft, mich ihm zu widersetzen. »So wie du dir das vorstellst, wird es nicht funktionieren.«

Blinzel.

Sein Gesicht war näher gekommen, ein intensiver Blick seiner bernsteinfarbenen Augen, dann hatten sich seine Lippen auf die meinen gelegt. Die Art, wie er mich küsste, brachte mich immer so durcheinander, dass ich alles andere vergaß.

Blinzel.

»So ist es schon besser«, hatte er gemurmelt, während er mir die Kleider abstreifte. »Ich will dich sehen … berühren.« Mit seinen übernatürlichen Kräften musste es ihm schwergefallen sein, die Spitzenborte meines Slips nicht einfach zu zerreißen.

Ich hatte nackt vor ihm gelegen, wie hypnotisiert von den winzigen Lichtpunkten in seinen bernsteinfarbenen Augen, die wie Sterne funkelten. »Großer Gott, Sievã. Deine Schönheit ist demütigend.« Er hatte mir eines seiner seltenen offenen Lächeln geschenkt. »Was ich empfinde, muss reines Glück sein.« Ich hätte heulen können.

Blinzel. Blinzel. Blinzel.

Energisch schüttelte ich den Kopf und versuchte, mich zu konzentrieren. Ich konnte es mir nicht leisten, mich in Erinnerungen zu verlieren – oder womöglich vom Weg abzukommen.

Während ich beim Tod panisch meine Ausrüstung und einen Überlebensrucksack zusammenpackte, hatte Matthew mir telepathisch eine Wegbeschreibung übermittelt: – Folge dem rauschenden Wasser stromaufwärts ins Gebiet der Sklavenhändler. Finde das verkohlte Tal und durchquere es. Wenn du das Massengrab erreichst, bist du zu weit geritten. Reite den nächsten Berg hinauf in den Steinwald. –

Seither hatte er allerdings auf keinen meiner Rufe mehr geantwortet.

Das Ende eines zu schwarzer Asche verbrannten Tals hatte ich nun erreicht und ritt bergauf. Es begann, in Strömen zu regnen.

Minuten (Stunden? Tage?) verstrichen. Trotz der Bedrohung, die ich spürte, konnte ich mich kaum noch wach halten. Immer wieder kippte mein Kopf nach vorne. Und wenn ich mich nur kurz ausruhte – nur für ein paar Sekunden? Ich ließ mich nach vorne fallen, legte der Stute die Arme um den Hals und schmiegte meine Wange in ihre Mähne.

Mir fielen die Augen zu.

Als ich sie wieder öffnete, war ich in Haven.

Die Stute war verschwunden. Kein Regen, kein Wind. Der Nachthimmel war sternenklar. Um mich her herrschte die gespenstische Stille der Zeit nach dem Blitz.

Befinde ich mich in einer deiner Visionen, Matthew? Alles fühlte sich so echt an. Bittere Asche benetzte meine Zunge. Ein Geruch nach verbrannten Eichen und Zuckerrohrfeldern stach mir in die Nase. In der Ferne erkannte ich Haven House, eine geschwärzte Ruine. Der Scheiterhaufen meiner Mutter.

Ich hatte unser Haus mitsamt ihrem Körper niedergebrannt.

Jack hatte ihr heimlich geholfen zu sterben. Warum er es getan hatte, konnte ich inzwischen verstehen, aber nicht, wie er es getan hatte. Ich konnte mich einfach nicht damit abfinden.

All die Lügen, die er mir erzählt hatte.

Eine tiefe Trauer um meine Mutter und unser Leben vor dem Blitz schnürte mir das Herz ein. Mein neues Leben war so brutal und unberechenbar, dass ich mich fragte, ob die Erinnerungen an die Zeit vor der Apokalypse nur ein verschwommener, märchenhafter Traum waren.

Was war wirklich? Was unwirklich?

Obwohl Matthew weggesehen hatte, als meine Mom starb, konnte er Szenen aus der Vergangenheit heraufbeschwören. Wollte er mir ihren Tod zeigen? Eine leichte Brise strich über den aschebedeckten Boden und erzeugte ein wundersames Geräusch. Es klang wie ein Seufzen. Mit schwacher Stimme hörte ich meine Mutter zu Jack sagen: »Nimm das Kissen …«

Nein, Matthew! Ich kann das nicht sehen! Noch nicht …

Das Heulen eines Wolfs zerriss die Nacht.

Ich schreckte im Sattel hoch. Der Regen hatte sich in ein nebliges Nieseln abgeschwächt. Wie lange hatte ich geschlafen?

Ich rieb mir die brennenden Augen und hätte um ein Haar laut geschrien. Überall um mich her lauerten schattenhafte Gestalten.

Nein, Moment. Das waren keine Gestalten. Es waren Steinhaufen, aufgeschichtet wie Holz für ein Lagerfeuer. Von den Haufen gab es so viele, dass die Gegend an einen Wald erinnerte. Der Steinwald.

Wer würde seine Kraft vergeuden, um all diese Steine aufzuhäufen? Und warum wirkten sie auf mich so beängstigend?

Matthew, bist du da?

Endlich konnte ich seine Gegenwart in meinem Kopf spüren!

– Herrscherin! –

Ist Violet schon bei ihrem Bruder?

– Die ist nicht dort. –

Gott sei Dank!

– Bald. –

Verdammt! Du hast gesagt, Vincent hätte sein Lager nur ein paar Tagesritte von der Festung des Todes entfernt aufgeschlagen. Ich reite schon seit TAGEN.

– Überall sind Arkana. –

Wie durch ein Megafon hörte ich ihre Rufe …

– Die Augen zum Himmel, liebe Leute! – Joules.

– Gefangen in meiner Hand. – Tess.

– Ich beobachte dich wie ein Falke. – Gabriel.

– Siehe die Überbringerin des Zweifels! – Selena.

– Schau nicht auf diese Hand, schau auf jene. – Finn.

– Verrückt wie ein Fuchs. – Matthew.

– Wir werden dich lieben. Auf unsere Art. – Die Liebenden.

Wenn so viele Arkana in der Nähe waren, konnte das nur heißen, dass ich fast angekommen war.

– Schrecken aus der Tiefe! – Was?

Gerade wollte ich mich bei Matthew erkundigen, wem dieser neue Ruf gehörte, als mich plötzlich wieder das Gefühl überfiel, beobachtet zu werden. Ruckartig drehte ich mich um.

– Nur noch den Steinwald und eine Lichtung, Herrscherin. Da sind … Hindernisse zwischen uns. –

Bewegung. Aus den Augenwinkeln erspähte ich einen Mann, der von einem Steinhaufen zum nächsten huschte.

Kurz darauf folgt ihm ein zweiter. Das bewaffnete Paar trug Kampfanzüge und gruselige Nachtsichtbrillen. Soldaten der Armee der Liebenden?

Die aufgeschichteten Steine dienten ihnen zur Deckung, wie auf einem Gotchaspielfeld! Wie lange hatten die Männer hier wohl schon auf der Lauer gelegen?

Matthew, ich habe ein Problem! Ich gab der Stute die Zügel. Sie protestierte mit einem Wiehern, legte aber einen Zahn zu und galoppierte mit bebendem Brustkorb im Slalom um die Steinhaufen.

Ich blickte mich um. Aus zwei Soldaten waren zehn geworden, die mit den Waffen im Anschlag aus ihrer Deckung getreten waren. Hatten sie mich eingekesselt?

Das Gelände wurde flacher, die Steinhaufen weniger. Um besser sehen zu können, schirmte ich mit der Hand meine Augen gegen den Regen ab. Da, vor mir lag die Lichtung, von der Matthew gesprochen hatte!

Mein Gesicht wurde lang. Keine Vegetation. Nur ein Sumpf, der aus nichts als riesigen, mit Wasser und Schlamm gefüllten Kratern bestand.

Dahinter ragte eine fast zehn Meter hohe Mauer empor. Was sie wohl verbarg?

Ein Schuss war zu hören und eine Kugel zischte knapp an meinem Kopf vorbei. Der laute Knall ließ die Stute davonpreschen. »Lauf, LAUF!«

Die Panik verwandelte meine Fingernägel in Dornenklauen, deren messerscharfe Spitzen sich durch die Handschuhe bohrten. Auch meine Hieroglyphen kamen in Bewegung und wanderten über meine Haut.

Ein zweiter Schuss. Die Kugel verfehlte mich nur knapp. Neben den Hufen der Stute spritzte der Schlamm auf. Sie wieherte und trabte schneller.

Die Soldaten schossen mit Absicht daneben. Sie wollten mich – und das Pferd – lebendig.

Frauen und Pferde waren seit dem Blitz eine begehrte Ware.

Ich musste mich dringend in Sicherheit bringen und richtete meinen verzweifelten Blick auf die Mauer. Männer bewachten ein hell erleuchtetes Tor.

– Zum Tor, Herrscherin. –

Ich würde meine Stute durch den Sumpf quälen müssen. Wie ein Graben lag er vor der Mauer. Bis ich dort wäre, hätten mich die Soldaten längst geschnappt.

Ein greller Farbfleck zog meine Aufmerksamkeit auf sich. An einem Pfosten hing ein handgemaltes Schild, auf dem ein roter Totenkopf mit überkreuzten Knochen prangte – zusammen mit der Warnung: VORSICHT! MINEN!

Das erklärte die Krater.

Machst du Witze, Matthew? Hinter mir Soldaten, vor mir Minen. Wie soll ich denn über das Minenfeld kommen?

Hinter mir erklang ein schmerzerfüllter Schrei.

Ich wagte einen Blick zurück. Es waren nur noch neun Soldaten, die mir folgten, aber sie kamen immer schneller auf mich zugerannt. Die Männer an den Flanken hatte die Waffen im Anschlag – zielten aber daneben.

Ein zweiter qualvoller Schrei.

Dann ein dritter.

Die Soldaten schossen wild um sich. Mündungsfeuer durchschlugen den Nebel, sodass ich nichts mehr erkennen konnte.

Ich drehte den Kopf wieder nach vorn und schrie auf.

Vor mir standen drei Soldaten, deren Gewehre auf mein Gesicht gerichtet waren. Die Stute scheute und schlug mit den Hufen nach ihnen.

Die Soldaten hatten mich in die Arme ihrer Kameraden getrieben!

Doch im Rücken der Männer tauchte aus dem Schatten eine schwarze Bestie auf. Ein einzelnes goldenes Auge leuchtete in der Nacht wie eine Laterne.

Zyklop! Hatte Lark ihren einäugigen Wolf geschickt, um mich zu beschützen?

Das Tier bleckte seine dolchgleichen Fangzähne und gab ein fürchterliches Knurren von sich. Die Männer drehten sich um …

Zyklop stürzte sich auf die vor Schreck starren Soldaten und riss sie zu Boden. Seine scharfen Zähne gruben sich in ihre Gliedmaßen und Gewehre, zerbissen Knochen und Metall.

Körperteile flogen durch die Luft. Blut sprudelte wie aus einem Springbrunnen. Obwohl ich so etwas eigentlich gewohnt sein sollte, ließ mich der Anblick zusammenfahren.

Schließlich hob der Wolf den Kopf aus dem Blutbad, das er angerichtet hatte, und knurrte die entsetzten Soldaten hinter mir an. Diese Mistkerle hatten mich in eine Falle getrieben, doch Zyklop hatte die Falle gefressen.

Beim Anblick des bluttriefenden Mauls der Bestie flohen sie Hals über Kopf.

Für mich wedelte Zyklop mit seinem vernarbten Schwanz.

»Braver Wolf. Guter Junge.«

Matthew sagte: – Reite zum Fort! Du musst es bis zur Mauer schaffen. –

Was ist hinter der Mauer? Soviel ich wusste, schickte mich Mathew direkt ins Lager der Milovnícis.

– Reite! –

Ins Minenfeld? Wir werden in die Luft gesprengt! Selbstheilungskräfte hin oder her, von einem abgerissenen Kopf würde auch ich mich nicht mehr erholen.

– Reite nach links. –

Wollte er mich um die gefährlichen Stellen herumlotsen?

Ich wandte mich an Zyklop, der von unserem Kampf mit der Karte des Teufels noch immer humpelte: »Ich weiß ja nicht, ob du mich verstehen kannst, oder ob es Lark ist, die ihren Schutzgeist lenkt, aber wenn du dir keine neuen Läufe wachsen lassen willst, solltest du meinem Pferd auf Schritt und Tritt folgen.«

Er schnaubte, an seiner Schnauze bildeten sich Blutblasen. Dann wedelte er kurz mit dem Schwanz und schnappte sich trotzig einen abgetrennten Arm, den er wie ein Beißspielzeug in der Schnauze trug. Aber er trottete hinter mich.

Ich verlasse mich auf dich, Matthew. Mit einem Schlucken lenkte ich mein Pferd nach links.

– Von MIR aus gesehen links! –

Kleine Korrektur. Zyklop folgte mir.

– Schneller, Herrscherin, sonst findet die Aso den Weg durch unser Minenlabyrinth heraus. –

Durch euer was? Und wer oder was ist die Aso?

– A.S.O. Die Armee des Südostens. Jetzt drei Sekunden nach rechts. Dann wieder links. –

Ich hielt den Atem an und gab dem Pferd wieder die Zügel. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Dann zog ich rechts die Zügel.

– Schneller! –

Einen telepathischen Arkana im Kopf und einen riesigen Wolf auf den Fersen galoppierte ich durch das Minenfeld.

Wieder vernahm ich das feuchte Atmen. Natürlich, der Wolf war mir gefolgt! Sollte ich diese Nacht überleben, würde ich schwer in Larks Schuld stehen.

Vor mir öffnete sich knarrend das Tor und ich jagte mit der Stute ins Fort.

Ohne zu wissen, was mich dort erwartete …

2

Direkt hinter Zyklops Schwanz schlug das Tor wieder zu.

Matthew erwartete uns mit einem ausdruckslosen Lächeln. Dann kam er mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ich ließ mich aus dem Sattel fallen, doch meine Beine fühlten sich an, als hätte ich keine Knochen mehr. Er fing mich auf und half mir zu stehen.

»Wo sind wir hier?« Keuchend sah ich mich um. Die Mauer war aus Schrott errichtet worden: Kühlerhauben, Straßenschilder, Stahlbetonbrocken. Auf einem beachtlichen Areal standen überall verteilt große Militärwohnzelte. An Seilen aufgehängte Lampen sorgten für Licht.

»Der Jäger hat hart gearbeitet, solange du weg warst.«

»Ist das Jacks Werk?« In einem Stall dösten Pferde, es gab ein Gehege mit gackernden Hühnern und Dutzende von Menschen gingen geschäftig auf und ab.

Nur Männer, versteht sich. Sie starrten aber nicht nur mich an – ein weibliches Wesen –, sondern auch meinen gigantischen einäugigen Bodyguard, der gerade das letzte Stück seines menschlichen Beißspielzeugs hinunterschlang. Wölfe müssen nun mal fressen.

Matthew machte sich von mir los und schob sich den Ärmel hoch. »Zieh deine Handschuhe aus, Herrscherin.«

Ich gehorchte, zu erschöpft, um zu protestieren. In meinem Kopf drehte sich alles. Als wäre ich gerade aus einem Spielplatzkarussell gestiegen.

Matthew zückte ein Messer, und bevor ich ihn davon abhalten konnte, schnitt er sich in den blassen Arm. Dann malte er mit seinem Blut einen Strich über meinen Handrücken. »Das ist das Blut des Spielhüters. Hier stehst du unter seinem Schutz.« Quer über die beiden Male, die die beiden von mir getöteten Arkana symbolisierten, zog sich eine rote Spur. Als wären die Male durchgestrichen. »Hier gibt es viele Arkana, doch wir halten uns die Treue. Auf geheiligtem Grund greift keiner an.«

»Die Treue?«

»Die Treue. Wir sind die getreuen Karten«, sagte er und fügte dann finster hinzu: »Auf bestimmte Zeit.«

Matthew war es gelungen, mit Kräften, von denen ich bislang nichts gewusst hatte, eine befriedete Zone zu schaffen.

Ich sah zu ihm auf. In den letzten drei Monaten war er noch größer geworden. Hatte er schon Geburtstag gehabt? War er nun siebzehn? Er trug einen wasserfesten Parka, ein Wollhemd, Jeans und Wanderstiefel. Alles sah ziemlich neu aus. Hatte Jack Kleider für ihn aufgetrieben?

So wie Aric für mich?

Der Gedanke ließ mich innerlich zittern. »Danke, Matthew. Dafür, dass du mich sicher hierhergebracht hast.«

Er sah mich mit seinen herzerweichenden braunen Hundeaugen an. »Ist die Herrscherin meine Freundin?« Früher hatte er das immer lautstark verkündet, nun musste er sich vergewissern.

War ich noch sauer, weil er Jacks Lügen gedeckt hatte? Als er Aric erklärt hatte, wie er meine Kräfte neutralisieren konnte, war ich außer mir gewesen vor Wut. Letztendlich hatte er mir damit aber wahrscheinlich das Leben gerettet.

Vielleicht sollte ich einfach akzeptieren, dass alles, was er tat, einen Grund hatte. Ich hatte ihm vertraut, als er mich durch das Minenfeld lotste (wo wir gerade von teambildenden Maßnahmen sprechen). Und um dem Tod zu entkommen, hatte ich mich ebenfalls auf seine rätselhafte Führung verlassen.

Aber Matthew voll und ganz zu vertrauen, würde einem freien Fall gleichkommen. War ich dazu bereit?

Das Leben war schon vor dem Blitz zu kurz gewesen, um nachtragend zu sein. Und nun … »Evie ist deine Freundin.« Ich schlang meine Arme um ihn und drückte ihn fest an mich. Dann ließ ich ihn wieder los und fragte: »Wo ist Jack, Matthew?«

»Der Jäger ist nah.«

»Wie komme ich zu ihm?«

»Pferd.«

Ein unscheinbarer Mann mittleren Alters kam auf uns zu. Mit einem besorgten Blick in Richtung Wolf nahm er die Zügel des Pferdes und versprach, sich um das Tier zu kümmern. Ach ja, die Stute. Während er sie zu den Stallungen führte, nahm ich mir fest vor, eine kleine Belohnung für sie wachsen zu lassen. »Wer sind all die Leute?« Ein paar Männer reinigten unter einer bunten Plane, wie man sie früher oft auf rauschenden Gartenpartys gesehen hatte, ihre Waffen. Andere erhitzten Wasser und wuschen Wäsche.

»Menschen. Jack sammelt sie ein. Ich mag ihre Suppe.«

»Wissen sie, was wir sind?«

»Jack lässt sie glauben, wir wären Götter. Sie nennen das hier Fort Arkana, errichtet im Jahre 1 nach dem Blitz.«

»Und was ist mit der Geheimhaltung unserer Existenz? Hast du nicht gesagt, Arkana und Nicht-Arkana passen nicht zusammen? Und dass Menschen verbrennen, was sie fürchten?«

Über Matthews Gesicht huschte ein Schatten, der mich nervös machte.

»Es sind nicht genügend Menschen übrig, dass man sich sorgen müsste.«

Darüber würde ich später nachdenken. »Matthew, ich muss …«

»Der Wachturm!« Er betrat einen Bretterweg, eine Art schmalen Steg, der wie eine Autobahn durch das schlammige Lager führte, und marschierte davon.

»Der was?« Meine Beine waren so schwer, dass ich kaum die Balance halten konnte, aber ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

Neben mir her tappte Zyklop, dessen zerzaustes schwarzes Fell schimmerte. Seine vernarbte Schnauze befand sich so nah neben meinem Kopf, dass die Tasthaare fast meine Wange berührten. Von seinen riesigen Pfoten spritzte der Schlamm gegen meine Hosenbeine.

Steckte da ein Finger im dreckigen Filz unter seinem Kinn?

Ich folgte Matthew ans andere Ende des Forts. »Hast du mir eine Vision von meiner Mutter geschickt? Oder habe ich geträumt?«

Über die Schulter gab er zurück: »Unsere Feinde lachen. Wahnsinnig und gebrochen. Verfallen und getroffen.«

War das seine Antwort? Manchmal würde ich ihn am liebsten packen und schütteln.

»Wir sind da.« Am hinteren Teil der Mauer befand sich eine dreistöckige, mit Metallplatten verkleidete Konstruktion. Matthew stieg eine Leiter bis ganz nach oben.

Ich ließ den Wolf unten patrouillieren und folgte ihm. Keuchend und ächzend erklomm ich eine Sprosse um die andere. »Können wir … bitte … über Jacks … Rettung sprechen?«

Auf der obersten Ebene angekommen, hob Matthew ein altes Nummernschild an und zeigte mir einen schmalen Schlitz. »Herrscherin.« Er bedeutete mir hindurchzusehen.

»Okay, wonach soll ich Ausschau halten? Oh, wow.« Wir befanden uns hoch oben auf einem stürmischen Aussichtspunkt. Vor uns eine steile Felswand, unter uns ein Fluss so breit wie der Mississippi. Ein beeindruckender Ausblick. Vor dem Regen hatte es hier noch keine solchen Gewässer gegeben.

»Die Lage des Forts ist genial.« Drei Seiten grenzten an das Minenlabyrinth, die vierte wurde durch eine steile Klippe und den Fluss geschützt.

»Jack«, sagte er nur. »Fort Arkana ist auch dein Werk. Die Mission …« Als Jack nicht hatte herausfinden können, wo der Tod mich versteckt hielt, hatte er für mich – und für sich selbst – die Liebenden aufgespürt. Er wollte an den Milovnícis auch seine persönliche Blutrache üben.

Ich starrte über das Wasser auf die gegenüberliegende Klippe. Die Gegend war gesprenkelt von brennenden Feuern. Hinter ein paar schützenden Felskämmen erstreckten sich kilometerweit Zelte.

»Ist das die Armee des Südostens?« Sie war gewaltig. Wo hielten sie Jack wohl gefangen? Ich war so nah bei ihm …

»Die halbe Aso. Aso Süd. Aso Nord lagert nicht allzu weit von hier.«

Was bedeutete, dass auch Violet ganz in der Nähe war. Wie konnte ich nur vor ihr zu Jack gelangen? »Dieser Wind lässt wahrscheinlich nie nach, oder?« Ich könnte von hier Sporen ausstreuen und die Soldaten betäuben. Dann müsste ich nur noch mit dem Boot übersetzen, ins Lager spazieren und Jack herausholen.

»Der Wind weht die ganze Nacht. Also, den ganzen Tag.«

Damit hatte sich dieser Plan erledigt …

Aus dem Lager über dem Fluss ertönten Schüsse – viele Schüsse auf einmal. Als ihr Echo über das Wasser zu uns herüberhallte, sackte mir der Magen in die Knie. Ruckartig drehte ich mich zu Matthew um: »Jack?«

»Nein. Tägliche Exekutionen.« Damit sorgten die Milovnícis unter den gemeinen Soldaten also für Disziplin.

Ich war so erleichtert, dass ich mich schon fast schuldig fühlte. Dann fragte ich mich, wie die Schüsse wohl auf Jack gewirkt hatten.

»Er denkt, es kommt keine Hilfe«, flüsterte Matthew. »Er weiß, er kann nicht entkommen. Seine Freunde hält er für tot.«

Die Vorstellung, dass Jack ganz alleine und ohne Hoffnung war, zerriss mir das Herz. »Hat er … Angst?«

»Er ist sich sicher, dass er sterben wird. Dafür hat er erstaunlich wenig Angst.«

»Woher weißt du das? Du hattest doch immer Probleme, seine Gedanken zu lesen.«

Ein Nicken. »Drei Monate Übung.«

»Aber seine Zukunft kannst du nicht sehen?«

Matthews Blick verfinsterte sich. »Ich wollte nicht, dass das passiert.«

»Kannst du ihm sagen, dass wir ihn befreien werden?«

Ohne ein weiteres Wort ging Matthew zur Leiter und kletterte hinunter.

Unbeholfen folgte ich ihm. Als wir wieder am Boden waren, sagte er: »Dein Bündnis ist verletzt.«

Wollte er mir damit sagen, dass meine Verbündeten verletzt auf der Bank saßen, oder dass mein Bündnis wackelte? »Bringst du mich zu Finn und Selena?« Ich hatte sie seit Monaten nicht gesehen.

»Über den Hof zu den Baracken.« Wieder balancierte Matthew über die schmalen Planken davon, diesmal in die andere Richtung.

Mit Zyklop an meiner Seite stampfte ich über die schlammverkrusteten Bretter durch einen kleinen, zentral gelegenen freien Bereich (Hof war wohl ein wenig übertrieben).

Vor einem der Zelte machte Matthew halt, und ich befahl dem Wolf, draußen zu warten. Mit einem empörten Schnauben ließ er sich in den Schlamm plumpsen.

Ich holte tief Luft, zog mir die Kapuze des Umhangs vom Kopf und trat ein. Matthew folgte mir.

Selena und Finn lagen auf Feldbetten. Die Bogenschützin hatte einen Arm – ihren Zielarm – in der Schlinge und strich mit der freien Hand über die Federn eines Pfeils, der auf ihrem Schoß lag. Es war ein Geräusch wie beim Kartenmischen. Sie schien ins Leere zu starren.

Finn hatte ein geschientes Bein, das er auf einem Überlebensrucksack hochgelagert hatte. Neben seinem Bett lehnte eine Metallkrücke.

In der Mitte des Zelts brannte unter einem Lüftungsloch im Dach ein Feuer. Um die Feuerstelle saßen auf Bänken noch mehr Arkana: der Turm, das Gericht und die Welt – ein Dreierbündnis.

Joules musterte mich von Kopf bis Fuß. Gabriel neigte zum Gruß einen seiner schwarzen Flügel und Tess Quinn winkte mir schüchtern zu. Ihre Fingernägel waren bis auf die Haut heruntergekaut. Matthew ließ sich neben sie auf die Bank fallen.

»Nun, wenn das nicht unsere holde Herrscherin ist«, sagte Joules mit seinem starken irischen Akzent.

Selena setzte sich ruckartig auf, sodass ihr das silberblonde Haar über die Schultern fiel.

»Evie!«, rief Finn. »Wie bist du dem Tod entkommen?«

Das konnte schwierig werden. »Ähm, es hat sich eine gute Gelegenheit ergeben … mich davonzustehlen.« Und auch gleich noch ein Pferd mit Sattel, einen nagelneuen Überlebensrucksack und die Hightech-Outdoor-Klamotten, die ich trug, mitgehen zu lassen. »Aber das ist nicht so wichtig. Hauptsache, ich bin hier.«

»Mein Angebot hast du nicht angenommen.« Joules’ rotbraunes Haar war zerzaust. Argwöhnisch sah er mich an.

Selena – die mich nicht begrüßt hatte – meinte: »Wenn du dich mit dem Tod angelegt hast, um zu fliehen, warum hast dann nicht gleich Joules’ Bezahlung mitgebracht?«

Aric war nicht der Einzige gewesen, der mir angeboten hatte, Jack zu retten. Nur dass Joules als Gegenleistung den abgeschlagenen Kopf des Todes verlangt hatte.

»So einfach ist das nicht«, gab ich zurück. »Die Dinge sind nicht, wie wir dachten.«

»Was soll das heißen? Hattest du nun die Gelegenheit, den Sensenmann zu töten, oder nicht?« Joules sah mich skeptisch an. Dann brüllte er: »Na klar, du hättest ihn verdammt noch mal erledigen können! Den Herrn der Ewigkeit, den ewigen Gewinner!«

Selena blieb der Mund offen stehen. »Der Tod stirbt, J. D. überlebt. Wo ist denn da das Problem?«

»Das können wir später noch besprechen.« Die Sorge um Jack schnürte mir die Luft ab und ich war zum Umfallen erschöpft. »Lasst uns jetzt erst mal überlegen …«

»Wir sind ein Bündnis gegen den Tod«, schnaubte Selena. »Du hast uns zusammengeführt. Matthew hat gesagt, du hättest deine Kräfte zurück, und wir dachten, nun würdest du alles daransetzen, Jack zu retten – gerade vor den psychopathischen Liebenden.« Selena strich sich mit der Hand über das fahle Gesicht. »Stattdessen hintergehst du uns. Vor allem J. D.! Hast du überhaupt eine Vorstellung, was sie ihm antun werden?«

Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass die Liebenden ihre Opfer entstellten und dann derart pervertierten, dass diese Folter und Schmerz am Ende als Lust empfanden. »Ich kann’s mir vorstellen!« Auf meiner Haut erschienen Hieroglyphen, ein Zeichen, dass ich aufgebracht – und aggressiv – war. Dennoch versuchte ich, nicht die Geduld zu verlieren. »Deshalb sollten wir auch aufhören, über Dinge zu diskutieren, die wir ohnehin nicht mehr ändern können, und seine Rettung planen!«

Vielleicht hatte Gabriel ja schon einen Erkundungsflug über das Gelände der Armee unternommen und war mit den Gegebenheiten auf der anderen Flussseite vertraut. Wir könnten eine Befreiungsaktion auf die Beine stellen.

»Du willst planen?«, gab Selena höhnisch zurück. »Du hast also noch nicht einmal einen Plan? Deine Nerven möchte ich haben. Tauchst hier auf, wohlgenährt und in schicken Klamotten, aber ohne Ideen und ohne den Kopf des Todes.«

Tatsächlich sah ich im Moment genauso aus wie Selena, als ich sie das erste Mal getroffen hatte.

»Wegen dir muss J. D. gerade leiden.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Warum hast du den Turm nicht bezahlt?« Übernatürlich schnell sprang sie von ihrem Feldbett auf und stürzte sich auf mich.

3

Selenas gesunde Hand schwebte in der Luft, bereit, mich zu ohrfeigen. Instinktiv schossen meine Dornenklauen hervor …

»Das Blut des Hüters!«, schrie Matthew.

Selena und ich heulten auf vor Schmerz. Auf unseren Händen glühten identische rote Spuren.

Gleichzeitig sprang Zyklop ins Zelt und fletschte seine monströsen Fangzähne. Ich machte mir Selenas Schockstarre zunutze und stolperte von ihr weg.

Tess wich wimmernd vor der Bestie zurück, Gabriel spreizte die Flügel.

»D… der Wolf war doch tot!«, stotterte Finn auf seinem Feldbett. »Die Kannibalen hatten Larks Kampfwölfe alle getötet.«

Joules öffnete die Hand und aus dem Nichts materialisierte sich ein silberner Stab. Es war einer seiner Blitzspeere. In einer Rauchschwade wuchs er zu voller Länge. »Ich habe diese Bestie schon einmal mit einem Blitz gebraten!«

Deshalb hatte Zyklop ein so krauses Fell. »Larks Schutzgeister sind … zäh.« Die ganze Wahrheit, dass die drei Wölfe nämlich unsterblich waren, solange Lark selbst lebte, verschwieg ich.

»Er beschützt dich?«, fragte Selena entgeistert.

»Solange mir keine Gefahr droht, wird er niemandem etwas tun.«

»Hast du dich jetzt mit Lark verbündet?« Finns Augen wanderten zwischen Matthew und mir hin und her, als ob der Narr ihnen das hätte sagen müssen. »Obwohl sie uns verraten und verkauft hat?«

Matthew wiegte sich auf seiner Bank vor und zurück.

»Lark kannte uns nicht, als sie mit dem Tod den Deal machte, uns auszuliefern«, erklärte ich. »Für sie hätten wir genauso gut Kannibalen sein können, so wie die Gefolgsleute des Hierophanten.«

Finn sah den Wolf an. »Aber dann hat sie uns doch kennengelernt«, sagte er zu Zyklop.

Hoffte er, dass Lark uns durch ihren Schutzgeist hören konnte?

»Und sie hat uns trotzdem hintergangen. Mich. Wegen ihr haben wir tagelang dort unten festgesessen. Es war stockdunkel und das Wasser stieg immer weiter an. Wir wären fast ertrunken.« Die Erinnerung ließ ihn zittern. Der Wolf winselte leise. »Und als ich dann auch noch kapiert habe, dass sie nur ihre Spielchen mit mir getrieben hat, hat mir das endgültig den Rest gegeben.«

»Wenn sich die Herrscherin mit Lark zusammengetan hat, steckt sie auch mit dem Tod unter einer Decke«, sagte Joules. »Wahrscheinlich ist sie hier, um den beiden das Tor zu öffnen, während wir schlafen.«

Ich rieb mir den brennenden Handrücken. »Wir haben jetzt keine Zeit für diesen Unsinn!«

»Du hast ja nicht die leiseste Ahnung, was wir in den letzten Monaten durchgemacht haben.« Selena rückte ihre Armschlinge zurecht und ließ sich zurück auf ihr Feldbett fallen. »Und alles nur, um dich vor dem Tod zu retten!«

Finn strich sich die aschblonden Haare hinter die Ohren. »Während du dich mit unseren Feinden angefreundet hast, sind wir durch die Hölle gegangen.«

Glaubten sie wirklich, ich hätte einfach so die Seiten gewechselt? »Es reicht! Ihr habt alle viel durchgemacht, aber ich auch.«

Selena warf mir einen ihrer Was-du-nicht-sagst-Blicke zu, der mich anstachelte, etwas mehr zu erzählen.

»Wenn dir ein paarhufiges Monster verkündet, es würde sich an deinen Knochen laben – und du ihm glaubst –, dann ist das auch ein Höllentrip.« Meine Worte taten ihre Wirkung. »Lark hat Seite an Seite mit mir gegen Ogen gekämpft – auch dann noch, als er drei Stockwerke groß wurde! Und nun liegt sie mit gebrochenen Knochen im Bett, weil sie zu mir gehalten hat.«

Finn zuckte zusammen. Er war über das Mädchen noch lange nicht hinweg.

»Wären sie und ihre Wölfe nicht gewesen, wäre ich längst tot.« Ich deutete auf Zyklop, der eine majestätische, sphinxgleiche Pose einnahm, deren Wirkung allerdings unter dem Finger, der immer noch in seinem Fell steckte, ein wenig litt.

»Wir haben davon gehört, als Ogen enthauptet wurde.« Joules polierte mit dem Saum seines Mantels den tödlichen Speer. Das glänzende Metall war mit kryptischen Symbolen verziert. »Ich konnte allerdings kaum glauben, wer es getan haben soll.«

»Es war der Tod. Er hat Lark und mir das Leben gerettet.«

Joules sah hoffnungsfroh in die Runde. »Wenn er einen seiner eigenen Verbündeten getötet hat, ist er geschwächt. Oder bist du inzwischen der Ersatz für Ogen?«

Ich strich mir mit den Fingern über den Nasenrücken. Offenbar musste ich akzeptieren, dass ich diesen Arkana die Sache mit Aric nie würde erklären können. Und überhaupt, konnte ich mich wirklich für ihn verbürgen?

»Wirst du mir helfen, Jack zu retten, Joules?«

»Wer garantiert uns, dass du dich mit Vincent und Violet nicht auch anfreundest, so wie mit Lark und dem Tod? Mein Bündnis macht da nicht mit. Wir sind hergekommen, um einen Job zu erledigen. Der Job wurde gecancelt. Morgen sind wir weg.«

Obwohl Gabriel und Tess noch kein Wort gesagt hatten, konnte ich spüren, dass sie bereit wären, zu helfen. Aber Joules war ihr unangefochtener Gewerkschaftsführer.

»Womit könnte ich dich noch bezahlen, Söldner?« In der Hoffnung, in seinem Gesicht etwas zu entdecken, woraus ich einen Vorteil ziehen konnte, sah ich ihn abschätzend an – so wie der scharfsinnige Jack es oft tat. »Komm schon, Joules. Jeder will doch irgendetwas.«

Der Tod wollte mich ins Bett kriegen. Selena sehnte sich nach Jack. Lark wünschte sich, älter als zwanzig zu werden. Und Ogen hatte nach Opfern für seinen Altar gelechzt.

Joules ließ nichts durchblicken, ein Buch mit sieben Siegeln. Tess war zwar das genaue Gegenteil, aber da war nichts, wovon ich profitieren konnte. Und der geheimnisvolle Gabriel zeigte ein Pokergesicht.

»Ich will nur den Kopf des Todes, sonst nichts.« Aric hatte Joules’ Freundin im Kampf getötet. »Und so wie’s aussieht, bekomme ich ihn vielleicht doch noch. Sicher ist er hinter dir her, so wie in den anderen Spielen.«

Nichts und niemand konnte den Herrn der Ewigkeit aufhalten. Ich zitterte.

»Wir werden ihn erwarten.« Den Speer durch die Finger wirbelnd erhob er sich und verließ das Zelt, wobei er einen großen Bogen um Zyklop machte.

Tess, die ununterbrochen an den Nägeln kaute, folgte ihm. »Tut mir leid, Leute.«

Gabriel, der ebenfalls aufgestanden war, hielt am Zeltausgang noch einmal inne. »Gehabt euch wohl.« Er warf Selena einen so flüchtigen Blick zu, dass ich die Sehnsucht in seinen grünen Augen fast nicht wahrgenommen hätte.

Schon vor ein paar Monaten hatte ich den Verdacht gehabt, dass er von der atemberaubenden Bogenschützin fasziniert war. Offensichtlich waren seine Gefühle stärker geworden. Konnte mich das irgendwie weiterbringen?

Er ging und ließ mich mit Selena, Finn und Matthew zurück.

In etwas versöhnlicherem Ton sagte Selena: »Du hast ja keinen blassen Schimmer, wie sehr Jack gelitten hat bei der Vorstellung, was der Tod dir alles antun könnte.«

»Das kann ich mir sehr wohl vorstellen. Ich war ja selbst außer mir vor Sorge, als ich hörte, er wolle es mit der Armee der Liebenden und anderen Arkana aufnehmen. Ich könnte genauso gut euch drei für seine Gefangennahme verantwortlich machen!«

»J. D. wollte einfach keine Vernunft annehmen.« Sie griff wieder nach ihrem Pfeil und strich wie zum Trost über die Federn. »Monatelang war er wie von Sinnen und dann hast du ihn einfach verlassen.«

Finn atmete hörbar aus. »Hör mal, Evie, die etwas schroffe Begrüßung tut mir leid. Wenn du einen Plan für eine Rettungsaktion hast, raus damit. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.«

»Wie denn, Magier?«, fauchte Selena. »Du kannst ohne Krücke nicht laufen und ich kann meinen Bogen nicht spannen. Wie sollen wir es da mit einer ganzen Armee aufnehmen? Joules und Gabriel waren unsere einzige Chance.«

Wir? »Ich könnte mich ins Lager schleichen«, schlug ich vor. »Bevor ich losgehe, verwandelt Finn mich in einen Soldaten – dazu müsste er das Fort gar nicht verlassen –, und sobald ich über den Fluss bin, betäube ich die Wachen mit meinen Sporen.« Vorausgesetzt, der Zauber hielt so lange vor.

»Das Lager ist riesig«, gab Selena zurück. »Woher sollen wir wissen, in welchem Zelt Jack steckt?«

»Der Wolf kann seine Fährte aufnehmen.«

Zyklop schnaubte, sein Atem ließ das Feuer aufflackern.

Finn rückte seine Beinschiene gerade. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem Zustand einen Monsterwolf verzaubern kann. Menschen sind einfacher.«

»Außerdem können wir den Fluss nicht mit dem Boot überqueren.« Selena tippte sich mit dem Pfeil gegen das Kinn. »Er wird von der Hohepriesterin kontrolliert. Sobald wir auch nur in die Nähe des Wassers kommen, wird sie uns in die Tiefe ziehen.«

– Schrecken aus der Tiefe! – »Sie ist hier? Hat sie sich mit den Liebenden zusammengetan?«

Wir starrten alle fragend Matthew an, aber der sah nur auf seine Hand. Das bedeutete, für ihn war das Thema beendet.

Ich wandte mich wieder Selena zu. »Du sprichst immer von wir. Sagtest du nicht, du könntest keinen Bogen spannen?«

»Dann werde ich wohl eine Pistole benutzen müssen. Oder ein Schwert. Selbst wenn ich verletzt bin, habe ich immer noch meine übernatürliche Kraft und meine blitzartigen Reflexe.« Und auch ihre bewundernswerte Bescheidenheit hatte offenbar nicht gelitten!

Für einen Moment war ich unentschlossen, dann nickte ich. »Okay, dann müssen wir einen anderen Weg über den Fluss finden. Gibt es eine Brücke?«

»Ein paar Kilometer von hier«, sagte Selena. »Da haben sie J. D. geschnappt. Die Aso patrouilliert dort regelmäßig.«

Mit jedem ihrer Worte sank meine Hoffnung mehr. Wie komme ich nur zu Jack? Wie …?

Mir kam eine Idee. »Wenn wir weder zu Fuß noch mit dem Boot über den Fluss kommen, dann fliegen wir eben.«

4

»Ich überrede Gabriel, dass er uns rüberfliegt.«

Selena verdrehte ihre dunkelbraunen Augen. »Großer Gott, hast du Alzheimer? Gerade eben haben die uns noch erklärt, sie machen bei gar nichts mit. Es sei denn, wir schnappen uns den Tod.«

»Haben das wirklich alle gesagt? Ich habe das Gefühl, Gabriel wird mir helfen.« Weil ich nämlich Selena dazu überreden würde, mit ihm zu flirten. Der Zweck heiligt die Mittel … »Mag schon sein, dass die drei sich als Söldner verstehen, aber wer sagt denn, dass Gabriel nicht zwischendurch mal einen kleinen Nebenjob annehmen darf?«

»Er ist ein anständiger Kerl«, bestätigte Finn. »Es kann nicht schaden, ihn noch mal unter vier Augen zu fragen.«

»Ich geh und rede mit ihm.« An die Bogenschützin gewandt fügte ich hinzu: »Und sobald ich dazu komme, informiere ich dich dann, was Sache ist.«

Selena reagierte mit ihrem gewohnten Ach-ihr-könnt-mich-alle-mal-Gesicht. »Na gut! Ich zeig dir, wo ihr Zelt ist.« Sie legte sich den Mantel wie einen Umhang um die Schultern.

Zu Zyklop sagte ich: »Du bleibst hier bei Finn und Matthew.« Ich kam mir immer ein wenig lächerlich vor, wenn ich mit dem Wolf sprach, aber er war klüger als die meisten Tiere – und es war ja durchaus möglich, dass ich mit Lark sprach.

Im CLC, dem Irrenhaus, in das sie mich gesperrt hatten, durften die Patienten sich nur uralte Serien wie Lassie ansehen, und nun befürchtete ich, mir könnte jeden Moment ein Satz wie »Was ist los, Zyklop? Ist Timmy in einen Brunnen gefallen?« herausrutschen.

Kaum hatten Selena und ich das Zelt verlassen, begann sie auch schon herumzunörgeln. »Was deine Erfolgsaussichten angeht: Joules und Gabe sind so dicke.« Sie streckte zwei überkreuzte Finger in die Luft. »Die beiden verbindet eine echte Männerfreundschaft. Eins zu einer Milliarde, dass du es nicht schaffst. Du wirst wie eine Idiotin dastehen.«

Ich starrte sie böse an. »Weißt du, wie Efeuranken an glatten Mauern hochklettern? Sie bohren und bohren, bis sie eine weiche Stelle finden, in die sie sich hineingraben können. Und genau das werden wir auch tun. Es sei denn natürlich, du hast eine bessere Idee?«

Sie zog einen Schmollmund. Dann sagte sie: »Ich bin ja hier. Oder etwa nicht?« Sie hatte wohl bemerkt, dass meine Geduldsgrenze erreicht war.

»Okay, sprechen wir über die Liebenden.« Matthew hatte gesagt, er würde mir meine Erinnerungen nur sporadisch zeigen (damit ich nicht wahnsinnig wurde – haha).

Ich versuchte, mich an die Liebenden vergangener Spiele zu erinnern, aber da war nichts. Vielleicht war ich ihnen ja nie persönlich begegnet.

Alles, was mir verschwommen in den Sinn kam, war ein Picknick mit meiner Großmutter. »Was hast du da, Evie?« Ich erinnerte mich vage, wie sie sich absichtlich mit einer Pekannussschale in den Daumen geschnitten hatte und das Blut hervorquoll.

»Also reden wir.« Graziös wie eine Gazelle sprang Selena mit ihren langen Gliedern von einer Planke zur nächsten.

Während ich hinter ihr herhumpelte, als hätte ich Gewichte in den Stiefeln. »Der Tod hat mir erklärt, sie würden nach Schmerz lechzen. Aber ich weiß nicht, warum.«

»Vielleicht weil sie abartig böse sind, wie der Hierophant und der Alchemist?«

Und Ogen? Und eventuell die Hohepriesterin? Was, wenn alle Arkana die Fähigkeit besaßen, wahrhaft böse zu sein? Was, wenn genau diese Fähigkeit uns erst zu Arkana machte? Mein Alter Ego, die rote Hexe, jagte sogar mir selbst Angst ein. »Sag mir, was du über die Kräfte der Liebenden weißt.«

Selena zögerte.

»Das ist jetzt nicht der richtige Moment, Informationen für sich zu behalten.« Mitten auf dem Hof blieb ich stehen. »Wir werden zusammenarbeiten müssen. Ich jedenfalls werde für diese Rettungsaktion mein Bestes geben. Und was ist mit dir?«

Sie kam zurück und baute sich vor mir auf. »Man hat mir beigebracht, die Informationen meiner Chronisten niemals preiszugeben. Matthew sagt doch immer: ›Zusammenhalten und haushalten‹. Mir wurde gesagt: ›Zusammenhalten, haushalten und geheim halten‹.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, unnachgiebig wie eine Eiche.

Nach einer Weile sagte sie dann: »Für J. D. vergesse ich sogar mein jahrelanges Training. Ich werde für ihn da sein und ihm beistehen, bis in alle Ewigkeit. Nur leider brauche ich dazu deine Hilfe.«

Bis in alle Ewigkeit?

»In meinem Arkana-Lehrbuch wurde viel über die Liebenden spekuliert.«

Sie hatte ein Lehrbuch? Ich hätte auch gerne ein Lehrbuch gehabt.

Stattdessen musste ich mit meiner Großmutter vorliebnehmen. Sie war eine Tarasova, eine Wahrsagerin des Tarots, und wäre ein Quell des Wissens, wenn ich sie nur finden und zu ihr gelangen könnte. Aber Selena war ebenfalls eine gute Informationsquelle – wenn ich ihr trauen konnte.

»Es wird behauptet, wenn sie einem gleichzeitig in die Ohren flüstern, empfindet man Schmerz als Lust. Und indem sie sich an den Händen fassen und mit den Armen schwingen, verführen sie einen dazu, Böses zu tun, zu morden oder sich selbst zu töten. Passt das irgendwie zu dem, was du gehört hast?«

»Von ihren Verführungskräften habe ich gehört. Aber das war’s auch schon.«

»Andere Chronisten halten sich völlig vage, was die Liebenden angeht. Der Herrscher? Jeder weiß, dass er Berge versetzen, Erdbeben auslösen und mit Lava töten kann. Die Hohepriesterin beherrscht das Wasser und ertränkt ihre Feinde. Das sind harte Fakten. Aber die Liebenden sind ein Mysterium. Vielleicht weil sie in den Spielen immer schon früh sterben. Oder weil sie ihre Kräfte gut zu verbergen wissen. Wie die meisten von uns.«

»Ich habe dir schon erzählt, was ich alles kann. Wie ist es mit dir? Welche Kräfte verbirgst du?«

Sie antwortete mit einer abwehrenden Geste. »Ich wusste nicht, dass Larks Tiere kugelsicher sind oder dass Ogen so riesig werden kann. Und wo wir gerade vom Teufel sprechen, du hast mir zwar erzählt, was Ogen getan hat, aber nicht, was der Tod mit dir gemacht hat.«

Der Tod? Er hatte mich fast dazu verführt, mich in ihn zu verlieben, und dann hatte er mir das Herz gebrochen. »Konzentrieren wir uns auf die Zwillinge, okay? Ich werde versuchen, aus Matthew noch mehr herauszubekommen.«

»Na dann viel Glück. Er redet noch wirrer daher als früher – falls das überhaupt möglich ist –, und er hat Anfälle. J. D. ist der Einzige, der ihn beruhigen kann.«

Es versetzte mir einen Stich, als ich hörte, dass Jack sich um ihn gekümmert hatte. »Haben Joules und seine Leute keine Infos?«

»Gabriels Familie hat als einzige Chroniken geführt, aber die sind schon vor Jahrhunderten zerstört worden.«

Ich hätte wetten können, Aric wusste alles über die Liebenden. Als dreimaliger Arkana-Champion lebte er schon seit Jahrtausenden und hatte genauso viel Wissen angehäuft wie unbezahlbare Altertümer …

Zwei mit Gewehren bewaffnete Wachen in Tarnumhängen gingen an uns vorüber. Sie nickten uns höflich zu.

»Drehen die nicht durch, wenn sie Arkana sehen?«, flüsterte ich Selena zu. »Allein der Anblick von Gabriels Flügeln müsste sie doch umhauen.«

»Anfangs schon. Aber sie haben sich ein Beispiel an J. D. genommen. ›Den Jäger‹ verehren sie wie einen Helden.«

Der charismatische Jack konnte alle faszinieren – wenn er wollte.

»Mit der Hilfe von uns Arkana gelingt es ihm, hier die Disziplin zu wahren«, erklärte Selena. »Die Aso hat zwar die Zwillinge, aber Jack kann mit dreien von uns aufwarten – einem Hellseher, einer exquisiten Schützengöttin und einem Zauberer.«

»Wie ist das Fort entstanden?«

»Einen großen Teil der Mauer hat Jack mit eigenen Händen errichtet. Er hat bis zur Erschöpfung daran gearbeitet. Sie würde einem Panzer standhalten.« Selena klang unheimlich stolz. »Er hat Botschaften für die Späher hinterlassen und so fähige desertierte Aso-Soldaten rekrutiert. Unter seiner Führung und mithilfe von Finns Illusionen haben wir der Armee tonnenweise Material gestohlen: Nahrungsmittel, Benzin und sogar die Minen, die J. D. im Festungsgraben verlegt hat.«

»Sieht aus, als ob ihr gerade die Oberhand gewinnt.«

Selena nickte. »Deshalb hat die Aso auch die Hälfte ihrer Truppen losgeschickt, um am anderen Flussufer ihr Lager aufzuschlagen. Noch sind ihre Waffen zu weit entfernt, um uns zu treffen. Aber wir gehen davon aus, dass die Aso Nord mit stärkeren Geschützen nachrückt. Und wenn die dann hier ankommen …«

Noch etwas, um das ich mir Sorgen machen musste. »Wie wurde Jack gefangen genommen?«

»Wir hatten vor, die Brücke, von der ich gesprochen hatte, in die Luft zu sprengen. Und zwar zusammen mit Vincent. Wir haben Stellung auf einem Felsvorsprung bezogen, von dem aus man das Ganze überblicken konnte, und dort auf den Konvoi gewartet. J. D. hatte die Finger die ganze Zeit am Zünder.«

»Matthew sagt, Vincent hätte euch überrascht.«

»Der Mistkerl hat direkt vor der Brücke haltgemacht. Und während wir uns einen neuen Schlachtplan überlegten, hat uns ein Konvoitruck, der die Brücke schon überquert hatte, mit einer 50-Kaliber unter Beschuss genommen.«

Ich nickte, als ob ich eine Ahnung hätte, was eine 50-Kaliber war. Klang auf jeden Fall übel. »Erzähl weiter.«

»Die Kugeln zerfetzten den Berg. Finn wurde getroffen. Aber J. D. und ich hielten irgendwie dagegen. Er kletterte weiter nach oben, um auf Vincent schießen zu können. Um den Beschuss auf mich zu lenken, stieg ich ebenfalls auf eine Erhebung. Dann wurde ich getroffen.«

»Woher wussten sie, wo ihr wart?«

Sie sah sich vorsichtig um. »Ich glaube, es gibt hier Verräter. Spitzel der Milovnícis.«

Ich rieb mir den Nacken.

»Wenn wir es schaffen, J. D. zu befreien, räuchern wir sie aus.« Sie deutete hinter mich. »Dort drüben ist Gabes Zelt, geradeaus über den Hof. Wie wollen wir ihn überreden?«

»Du flirtest mit ihm.«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

»Er ist total verknallt in dich.«

Selena schnaubte ungeduldig. »Verständlicherweise. Aber wie soll uns das weiterhelfen? Willst du etwa, dass ich so tue, als würde ich ihn mögen? Der ist doch voll schräg.«

Ja, okay, er trug einen altmodischen Anzug mit einer merkwürdigen Krawatte (einer Art Halstuch oder so). Und ja, seine Sprache war etwas altertümlich. Aber …

»Ich hätte gesagt exzentrisch.«

Sie schnaubte. Dann sagte sie mit gesenkter Stimme: »Tess hat mir erzählt, er sei auf einer einsamen Bergspitze in einer Art Arkana-Kloster aufgewachsen. Seine Chronisten waren Anhänger einer Sekte, die einen Flügel-Kult betrieben. Über Generationen hatten sie sich von der Gesellschaft abgeschottet und auf seine Geburt gewartet.«

Kein Wunder, dass er so altmodisch war. »Du sagst, seine Bücher sind zerstört worden?«

»Dorfbewohner brannten das Kloster der Sekte nieder, à la Frankenstein, und die Chroniken gingen in Rauch auf.«

Auch mich hatten Dorfbewohner in der Vergangenheit schon verbrennen wollen. Sie verbrennen, was sie fürchten.

»Selena, du sollst mit Gabriel ja keine Familie gründen. Ich bitte dich lediglich, ihn nett zu fragen, ob er uns rüberfliegen kann.« Ich strich ihr das Haar zurück und steckte ihr eine seidige silberblonde Locke hinters Ohr. »So wie wir aussehen, könnten wir beide ein bisschen Lipgloss vertragen.«

»Ach, halt den Mund. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich da mitmache. Ich hasse es, mit den Waffen einer Frau zu kämpfen. Normalerweise würde ich ihn einfach würgen, bis er Ja sagt.«

Ich seufzte. »Das wäre dann Plan B. Efeu tut das manchmal auch.«

5

»Hey, Gabe!« Vor dem Zelt warf Selena mir noch einen schnellen Blick zu. »Ich muss mit dir reden.«

Geduckt und mit zusammengefalteten schwarzen Flügeln stürzte er heraus. Sein schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und wie Lark hatte er Krallen und spitze Eckzähne. Seine Augen waren von einem dunklen Grün.

Er war ein gut aussehender, wenn auch etwas ungewöhnlicher Typ.

»Selena«, hauchte er mit geröteten Wangen. »Oh, und die Herrscherin.«

Warum war ich überhaupt mitgekommen? Matthew würde sagen: »Natur und Lauf. Blüte und Liebe.«

»Seid gegrüßt.« Er rückte seine Anzugjacke zurecht. Es musste ziemlich schwierig sein, die Schlitze im Rücken so zu setzen, dass die Flügel genau hindurchpassten. »Was ist euer Begehr, meine Damen?«

Selena verdrehte die Augen: »Du meinst wohl: Was geht?«

Wow, Selena wusste wirklich, wie man flirtet. Die reinste Herzensbrecherin.

Er nickte. »Ich für meinen Teil glaube ja, wenn etwas zwischen uns gehen würde, wäre das zum Besten aller.« Selena und ich sahen ihn mit großen Augen an.

»Wie auch immer.« Selena kam direkt zur Sache. »Wir werden J. D. retten und du wirst uns dabei helfen.«

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Joules hat seine Meinung diesbezüglich schon kundgetan. Unser Bündnis wird sich nicht …«

»Ich frage nicht euer Bündnis«, unterbrach sie ihn. »Ich frage dich. Wir brauchen dich als Transportmittel. Du sollst uns nur über den Fluss fliegen. Das ist alles.«

Mir fiel noch eine weitere seiner übernatürlichen Fähigkeiten ein: animalische Sinneswahrnehmung. »Und um Jack aufzuspüren. Es würde mir sehr viel bedeuten – und Selena noch viel mehr.« Ich sah sie herausfordernd an.

»Oh ja. Es wäre mir wirklich wichtig, Gabe«, fügte sie hinzu und legte ihm dabei die Hand auf seinen muskulösen Arm.

Ihm blieb der Mund offen stehen und seine Flügel begannen unkontrolliert zu flattern. Moment, war er da nicht eben zusammengezuckt? War mit unserem Transportmittel womöglich etwas nicht Ordnung?

»Geht es dir gut?«, fragte ich.

Keine Antwort. Er starrte nur auf die Hand auf seinem Arm.

Ich rechnete Selena hoch an, dass sie ihn nun auch noch sanft drückte.

»Wir können uns also auf dich verlassen?«, fragte sie.

Offensichtlich war er noch unentschlossen – oder Selenas Berührung machte ihn völlig perplex. »Hilf uns, die Liebenden heute Nacht zu erledigen«, sagte ich. Zumindest einen der beiden.

Er sammelte sich wieder und sagte: »Ich dachte, du wolltest das Spiel nicht mehr spielen, Herrscherin.«

»Will ich auch nicht. Aber ich brauche Zeit, um herauszufinden, wie ich es beenden kann.« Ich stellte mir das Spiel wie eine Maschine mit einem Zahnradgetriebe vor – die ich gerne in die Luft sprengen würde. »Die Zwillinge werden niemals aufhören, uns alle zu jagen.«

»Wie ist dein Plan?«

»Finn verwandelt uns, du fliegst uns über den Fluss und wir spazieren unerkannt ins Lager der Liebenden. Ich nebele ihre Zelte mit giftigen Sporen ein. Dann holen Selena und ich Jack raus.«

Gabriel sagte lange Zeit nichts.

Erst als Selena ihre Hand wegnahm und ihn böse ansah, reagierte er. »Ich werde euch nicht nur als Transportmittel zu Diensten sein, sondern als vollwertiges Mitglied der Rettungsmannschaft. Unter einer Bedingung.«

»Lass hören.«

»Das Ziel muss sein, alle Milovnícis zu töten. Ohne Gnade. Wir werden sie nicht bitten, unserem Bündnis beizutreten.«

Damit war ich absolut einverstanden, auch wenn ich nicht damit gerechnet hatte, dass er so knallhart war.

»Soldaten haben uns von den Taten des Generals und seiner Brut berichtet. Wir müssen ihnen Einhalt gebieten.«

»Wir werden sie töten«, versicherte ich ihm.

Er streckte mir seine Hand mit den Krallen entgegen und ich schüttelte sie. »Joules wird nicht erfreut sein. Ich rechne mit einer AC/DC-Reaktion.«

Was? »Sprichst du von der Band?«

»Nein, von elektrischer Ladung. Aber ich werde damit umzugehen wissen.«

»Das wirst du«, sagte Selena. »Bring ein Halstuch als Maske gegen die Sporen mit. Wir treffen uns Punkt Mitternacht am Wachturm.«

»Das sind ja noch Stunden«, stöhnte ich.

»Die Soldaten der Liebenden halten sich, genau wie wir hier, an einen strengen Zeitplan«, erklärte sie. »Der Weckruf ertönt schon vor Tagesanbruch. Das heißt, um Mitternacht werden nahezu alle im Lager schlafen.« An Gabriel gewandt fügte sie hinzu: »Und kein Wort zu niemandem.«

»Das versteht sich von selbst.«

Verstohlen trat ich Selena gegen den Stiefel. Sie richtete sich auf und sagte: »Ach ja. Danke, Gabe. Das werde ich dir nie vergessen.«

»Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite, Selena. Ich sehe unserer Mission mit Freude entgegen.« Er bekam große Augen. »Oh, nicht dass der Anlass Grund zur Freude wäre, natürlich.«

Sie half ihm aus der Klemme. »Ich freu mich auch darauf, diesen Serienmördern ordentlich in den Arsch zu treten.«

Er grinste. »Genau das wollte ich damit sagen.«

Wir machten uns auf den Weg zurück zu Selenas und Finns Zelt. Auf halber Strecke murmelte sie: »Ich kann’s einfach nicht glauben. Er hat sich tatsächlich gegen Joules gestellt! Ich hätte meinen Bogen verwettet, dass er Nein sagt. Verdammt, Evie, wenn das klappt, können wir J. D. noch heute Nacht retten …« Obwohl Selena sonst eine knallharte Nummer war, schimmerten ihre Augen feucht – ein kleiner Riss in der steinernen Fassade. »Wenn wir ihn zurückbekommen, werden wir beide wieder bessere Freundinnen sein.«

»Waren wir denn jemals Freundinnen?« Ich war das genaue Gegenteil von Selena und anfangs hatten wir uns sogar gehasst. Aber irgendwie waren wir immer besser klargekommen, bis wir uns schließlich in allem aufeinander verlassen hatten. Und nun schien ihr Misstrauen mir gegenüber weitgehend verschwunden. Noch während ich darüber nachdachte, verhärteten sich ihre Züge allerdings schon wieder.

»Ein Pfeil der Bogenschützin ist in jedem Spiel für die Herrscherin reserviert.«

Ich schnaubte. »Ja, schon klar. Ich erinnere mich.«

»In diesem Spiel könnte ich ihn schon verschossen haben.« Sie straffte die Schultern und wandte sich von mir ab.

Während sie davonging, wurden mir zwei Dinge klar:

Erstens, Selena würde niemals deutlichere Worte finden, um mir die Freundschaft anzubieten.

Und zweitens, ich würde ihr Angebot annehmen.

6

»Der Herrscherin steht eine Schlacht bevor.«

Es war kurz vor Mitternacht und Matthew und ich hatten es uns auf der obersten Ebene des Wachturms gemütlich gemacht. Wir saßen uns auf dem Boden gegenüber, Stiefelspitze an Stiefelspitze, und unterhielten uns mit gedämpften Stimmen – wie damals, als wir bei Selena und Jack hinten im Lieferwagen saßen.

Eine Gaslaterne flackerte. Draußen tobte ein Sturm, unten hielt Zyklop Wache.

»Ich bin bereit«, sagte ich. Es mit psychopathischen Massenmördern aufzunehmen und mich mit einem geflügelten Jungen in die Lüfte zu schwingen. Eine Bö ergriff den Turm und brachte ihn ins Wanken. Nicht gerade ideale Flugbedingungen …

Nachdem Selena und ich Gabriel überredet hatten, uns zu helfen, hatte ich nach meiner Stute gesehen. (Es ging ihr schon viel besser, aber sie war immer noch sauer auf mich.) Dann war ich in Jacks Zelt gegangen, das er sich mit Matthew teilte, um mich ein wenig auszuruhen.

Doch sobald ich mich auf Jacks Feldbett gelegt hatte und von seinem vertrauten Geruch eingehüllt wurde, war mein Puls schneller geworden. Hin- und hergerissen zwischen meiner Sehnsucht nach ihm und der panischen Angst, was sie ihm in der Gefangenschaft antun könnten, hatte ich kaum geschlafen.

Nun fragte ich Matthew: »Möchtest du heute Nacht mitkommen?«

Er zuckte mit den Achseln, als hätte ich ihm ein Stück Kuchen angeboten. »Ich muss noch was erledigen.«

»Was denn?«

»Irgendwas.« Er klang wie ein bockiger Teenager.

»Erzählst du mir etwas über die Liebenden? Irgendwas?«

»Der Herzog und die Herzogin der Perversion.« Er sprach noch leiser. »Ihre Karte steht auf dem Kopf. Alles ist verdreht.«