Polarlichter und Grizzlybären - Marie Hoehne - E-Book

Polarlichter und Grizzlybären E-Book

Marie Hoehne

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Hannah für ihren ersten richtigen Job als Reiseredakteurin ausgerechnet in Alaska landet, hält sich ihre Freude darüber erst einmal in Grenzen. Statt Broadway und Freiheitsstatue warten auf sie Bären, Wildnis und ein wortkarger Typ namens Ryan, der alles andere als freundlich zu ihr ist. Als dann jedoch mit einem Mal ihre ganze Reportage zu platzen droht, ist es ausgerechnet Ryan, der sich ihrer annimmt, und Hannah mit einer Welt bekannt macht, die sie immer stärker in ihren Bann zieht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


MARIE HOEHNE

 

 

 

 

 

POLARLICHTER

UND

GRIZZLYBÄREN

EINE ALASKA-LOVESTORY

Kapitel 1

 

 

 

 

Hannah roch das Aftershave ihres Chefs, noch bevor sie ihn sah.

Der Geruch war herb, fast ein wenig zu stark und der intensive Moschusduft brannte leicht in ihrer Nase. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte sie, dass er wieder einmal dasselbe langweilige Hemd trug, wie an jedem Tag – weiß, gebügelt und mit einem leicht durchscheinenden Unterhemd darunter.

Schnell wandte sie sich ab und blickte hinaus aus dem Fenster, durch welches man auf einen tristen, grauen Hof hinuntersehen konnte. Irgendwie passte dieser Ausblick zu Hannahs derzeitiger Stimmung: Sie war frustriert. Frustriert angesichts dessen, was sie, seit über einem Jahr, an diesem Schreibtisch tat: Artikel lesen und redigieren. Der Umstand, dass sie sich diesen Job selbst ausgesucht, machte das Ganze nicht gerade besser.

Doch obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie sich doch mehr von all dem erhofft: Reiseredakteurin. Das klang nach weiter Welt und Abenteuer. Zumindest hatte es das noch vor achtzehn Monaten getan, als Hannah nach mehr als zehn Jahren Arbeit bei diversen TV-Produktionsfirmen zu einem Verlag für Reisemagazine gewechselt hatte. Endlich wollte sie das tun, was alle ihre Freunde nach dem Abitur bereits getan hatten: Die Welt sehen, neue Menschen und Kulturen kennenlernen. Reisen.

Und darüber schreiben.

Stattdessen klebte sie nun an ihrem Schreibtisch im obersten Stock des Verlagshauses fest und das Weiteste, was sie bislang zu sehen bekommen hatte, war die Tourismusbörse auf dem Messegelände gewesen. So hatte sie sich ihren neuen Job nun wirklich nicht vorgestellt.

Da hätte sie auch gleich beim Fernsehen bleiben können. Die letzten zehn Jahre dort waren zumindest wie im Flug vergangen. Einfach so, ohne großes Aufsehen. Nun gut, Hannah hatte einiges erlebt, hatte Menschen interviewt, die sie mochte und einige, die sie nicht mochte. Sie hatte unzählige Events gesehen, war bei Awardshows gewesen und hatte Leute kennengelernt, auf deren Bekanntschaft sie im Nachhinein gerne verzichtet hätte. Aber sie hatte auch Freunde gefunden. Neue Freunde wie Sarah, die ähnlich tickten wie sie selbst, und als ewige Dauersingles durch das viel zu laute und viel zu überladene Berlin streiften.

Im Gegensatz zu all‘ ihren Schulfreunden, die schon in Amerika, Asien und Australien gewesen waren und sich nun, mit Kindern und Partnern, am Stadtrand niedergelassen hatten, hatte es Hannah bisher weder zu einer eigenen Familie noch zu einem Stempel in ihrem verwaisten Reisepass gebracht. Dabei war sie für diverse Interviews schon durch ganz Europa geflogen. Aber Übersee? Für Übersee hatte es bislang nie gereicht.

Dass sie überhaupt nach all der Zeit den Schritt aus dem Fernsehbusiness hinausgewagt hatte, hatte jedoch nichts damit zu tun gehabt, dass sie sich selbst für besonders abenteuerlustig hielt. Vielmehr hatte sie es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Ihr ehemaliger Chef Thilo wechselte fast täglich mehrmals seine Meinung und aus einem achtstündigen Arbeitstag wurden nicht selten zwölf oder mehr.

Natürlich ohne Vergütung.

Fürs Team, für die Passion, fürs Produkt.

Noch heute drehte sich ihr der Magen um, wenn sie an die unzähligen Spätmeetings dachte, in denen Thilo schier endlose Monologe darüber gehalten hatte, wie gesegnet sie doch alle mit ihrer Arbeit waren, und dass dies auch ganz schnell wieder vorbei sein konnte. Wer nicht mitspielte, wurde ersetzt. So war das eben. Hannah hatte viele Leute kommen und gehen gesehen. Zu viele. Und irgendwann hatte sie beschlossen, es ihnen gleich zu tun.

Sie war gegangen und nun war sie hier: im Lohmeier-Verlag. Ein Familien-Traditionsunternehmen mit dem Schwerpunkt auf Nah- und Fernreisen.

Das Verlagshaus befand sich mitten in der Stadt und war so riesig, dass sie sich in den ersten Wochen dort fast täglich verlaufen hatte. Das lag allerdings nicht daran, dass der Lohmeier-Verlag ein besonders großes Unternehmen war, sondern war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass er sich das Gebäude mit diversen anderen Firmen teilte. Ihr Team bestand im Wesentlichen aus rund zwanzig festen und freien Mitarbeitern, welche die meiste Zeit über durch die Welt tingelten und nur selten überhaupt in der Redaktion vorbeischauten. Bis auf Hannah selbst natürlich.

Nun hatte sie zwar endlich ihren Achtstundenarbeitstag, war abends meist Zuhause oder schaute bei ihrer besten Freundin Lisa vorbei, doch glücklicher fühlte sie sich dadurch nicht. Es half ihr auch nicht, dass Lisa sie glühend um ihre Freiheit beneidetet. Ihre Freundin war gerade erst zum vierten Mal Mutter geworden und alles, was Hannah ihr von ihrem Tag in der Redaktion zu berichten hatte, schien in Lisas Ohren nahezu unanständig aufregend zu klingen.

So sah es nun also aus, ihr Leben. Das Leben von Hannah Wagner, achtundzwanzig Jahre alt, Sternzeichen ‚Stier‘ und gelernte Redakteurin.

„Hannah, ich muss mit dir reden.“ Die Stimme von Dietmar Lohmeier riss sie aus ihren trübseligen Gedanken. Abermals wandte sie sich zu ihm um und blickte nun geradewegs in das faltige Gesicht mit den dicken, runden Brillengläsern.

Zwar kannten sie sich erst seit gut eineinhalb Jahren, doch schon nach kurzer Zeit hatte sie sein großes Herz und seine offene Art wahrlich zu schätzen gelernt. Im Gegensatz zu Thilo traf er keine unbedachten Entscheidungen und war überwiegend fair und freundlich zu allen Mitarbeitenden. Allerdings förderte er sie eben auch nicht sonderlich.

„Hannah, ich habe eine Aufgabe für dich. Eine neue Aufgabe, eine aufregende Aufgabe“, schnurrte er da auch schon los und ließ sich mit einem schweren Schnaufen auf eine Ecke des altersschwachen Tisches fallen.

Verstohlen warf sie einen Blick auf ihren Monitor. Doch alle Webseiten, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten, waren geschlossen. Beruhigt erwiderte sie sein warmes Lächeln.

„Gibt es eine neue Reisemesse? Oder kann ich etwas für deine Frau besorgen?“ Hin und wieder hatte er sie tatsächlich schon einmal losgeschickt, um 'eine schöne Kleinigkeit für die liebe Susanne' zu kaufen. Obwohl Hannah vor ihrer Kollegin Sarah immer so tat, als fände sie das unerhört, musste sie sich insgeheim eingestehen, dass ihr diese Aufgabe Spaß bereitete. Schließlich kam sie auf diese Weise immerhin einige Zeit lang von ihrem Schreibtisch weg, Susanne freute sich und Dietmar hatte gute Laune, weil Susanne gute Laune hatte. Eine sogenannte Win-Win-Situation.

Zu ihrem Bedauern jedoch schüttelte Dietmar Lohmeier den Kopf.

„Nein, viel besser“, lächelte er verschmitzt. „Ich schick dich auf eine Reise. Was denkst du? Ich schick dich nach Amerika.“

„Was?“

Hannah musste sich verhört haben.

Amerika?

Sollte es nun endlich soweit sein? Ihre erste richtige Reise als Reiseredakteurin? Und dann gleich ein anderer Kontinent! Mit einem Mal wurde ihr ganz heiß vor Freude.

„Meinst du das im Ernst?“, krächzte sie und wedelte sich dabei mit einer Hand unbeholfen Luft zu. Reiseredakteurin Hannah Wagner auf Auslandseinsatz in den USA! Sie würde aus New York berichten, aus dem Yosemite-Nationalpark und vom Weißen Haus! Genau so hatte sie sich ihren Job vorgestellt. Endlich!

„Ja, ich denke, du bist nun soweit. Du konntest dir ein gutes Bild von dem machen, was deine Kolleginnen und Kollegen tun und wie unsere Artikel und Reportagen aufgebaut sind.“ Er machte eine kurze Pause und sah sinnierend einen Moment lang zu Sarah hinüber, die über ihren Laptop gebeugt dasaß und vollkommen in Gedanken versunken zu sein schien. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Du erinnerst dich doch sicher noch an Harry? Den Neffen meiner Frau? Er war vor ungefähr einem Jahr mal hier zu Besuch und ist dann mit Annie nach Amerika gezogen. Die beiden haben dort so etwas wie eine ‚Agentur für Abenteuerurlaub‘ aufgemacht, und ich möchte, dass du sie dort besuchst und eine Reportage darüber schreibst. Mache diese Reise stellvertretend für unsere Leserinnen und Leser und finde heraus, ob sie sich lohnt. Solltest du allerdings Bedenken haben, können wir auch warten, bis Paul aus Dubai zurück ist ...“

„Ich mache das schon“, fiel Hannah ihm eilig ins Wort, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte. Ihr war noch immer ganz schwindelig vor lauter Vorfreude. Natürlich hatte sie bereits hin und wieder mit dem Gedanken gespielt, auch ohne ihre Arbeit nach Übersee zu fliegen, doch irgendwie hatte ihr die Vorstellung nie zu richtig zugesagt. Sie beneidete Menschen, die das ohne Probleme tun konnten. Doch Hannah war viel zu verkopft, um auch nur ausreichend Mut dafür aufzubringen. Nun allerdings würde sie im Auftrag ihres Arbeitgebers unterwegs sein.

Ein albernes Grinsen erschien auf ihrem Gesicht und unwillkürlich musste sie an Peter denken. Nicht einmal in ihrer Kurzzeitbeziehung mit ihm war sie auch nur über die Landesgrenzen hinausgekommen. Gerade einmal ein knappes Jahr lang waren sie überhaupt so etwas wie ein Paar gewesen, bevor er auf die Idee gekommen war, sich nicht nur an eine einzige Frau verschwenden zu wollen. Und so war er von einem Tag auf den anderen einfach wieder aus Hannahs Leben verschwunden.

So wie auch all‘ die anderen Männer, die sie in den vergangenen zehn Jahren getroffen hatte.

Sie alle hatten nur etwas Unverbindliches gewollt, 'ein bisschen Spaß' und ganz sicher nichts mit Zukunft. Doch genau so tickte Hannah eben nicht. Sie war keine Frau für One-Night-Stands, was sie wirklich bedauerte, und so hatten die meisten Männer spätestens nach dem zweiten Date mit ihr - ohne nennenswertes Näherkommen - auch schon das Handtuch geworfen.

„Na prima, dann ist das also abgemacht? Du fliegst zwei Wochen lang zu Harry und seiner Frau.“

Hannah nickte so heftig, dass ihr Nacken unangenehm knackte, doch das kümmerte sie kaum.

Zwei volle Wochen Amerika! Sie war selig.

„Wann?“, fragte sie aufgeregt.

„Am besten so schnell wie möglich. Ich habe gerade mit Harry gesprochen. Du kannst jederzeit dorthin fliegen.“ Hannah konnte sehen, wie viel Freude es Dietmar Lohmeier bereitete, ihr das zu sagen. Er war ein wirklich herzlicher Mann. „Urlaub brauchst du natürlich keinen einzureichen, du bist ja schließlich dienstlich unterwegs.“ Er zwinkerte ihr zu.

Hannahs Lächeln wurde so breit, dass ihr Gesicht seltsam zu schmerzen begann.

„Nun gut, dann gucke ich am besten mal, wann der nächste Flieger geht.“ Mit zittrigen Fingern startete sie ein neues Browserfenster.

Sie würde wegfliegen.

Sie würde endlich etwas erleben!

„Wo genau geht es denn eigentlich hin?“ Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie die wichtigste Frage noch gar nicht gestellt hatte.

Amerika klang in ihren Ohren so vielversprechend, so aufregend, dass es ihr eigentlich auch egal war, an welchen Ort sie Dietmar Lohmeier schicken würde. Welche Stadt es auch immer zu sein vermochte, Hannah würde in jedem Fall über New York fliegen oder Los Angeles oder Chicago. Das würde sich schon irgendwie einrichten lassen.

Erwartungsvoll blickte sie zu ihm auf.

„Also, wo fliege ich hin?“

„Nach Anchorage.“

Kapitel 2

 

 

 

 

Anchorage.

Die mit Abstand größte Stadt Alaskas mit ihren knapp 300.000 Einwohnern lag mitten im Nirgendwo. Zumindest für Hannah.

Sie war noch immer fassungslos, wenn sie nur daran dachte, mit welcher Selbstverständlichkeit Dietmar Lohmeier sie ans Ende der Welt verfrachtet hatte. Einfach so. Ohne auch nur die Spur eines schlechten Gewissens.

Er schien in der Tat davon überzeugt zu sein, die ganze Reise würde für sie ein einziger Spaß werden. Doch Spaß sah definitiv anders aus! Ihr Flug hatte nicht einmal ansatzweise das Amerika gestreift, von dem sie immer geträumt hatte. Nicht einmal umsteigen durfte sie in New York, Los Angeles oder Chicago. Ihr einziger Aufenthalt beschränkte sich auf einige dröge Stunden im Abflugbereich des Seattler Flughafens, von wo aus sie direkt nach Anchorage verfrachtet worden war.

Nun hatte sie also tatsächlich ihr Ziel erreicht, doch in der gesamten Ankunftshalle konnte sie niemanden entdecken, der auch nur im Entferntesten nach ihr Ausschau zu halten schien.

Mutlos blieb sie vor einem Schaukasten stehen, aus dem sie ein ausgestopfter Polarbär furchteinflößend anstarrte. Mit einer Hand umklammerte sie dabei den Griff eines überdimensionalgroßen Schrankkoffers, den Lisa normalerweise für ihre Familienurlaube nutze – zusammen mit vier Kindern und ihrem Mann. Doch sie hatte darauf beharrt, Hannah den Koffer zu leihen, und diese hatte es nicht über das Herz gebracht, das Angebot abzulehnen. Dabei besaß Hannah nicht einmal genug Kleidungsstücke, um auch nur die Hälfte des Ungetüms vollständig ausfüllen zu können. Sie trug gerne schlichte Kleidung. Basics. Gedeckte Farben und wenig Ausgefallenes. Modische Accessoires passten nicht zu ihr, ebenso wenig wie schrille Outfits und hohe Schuhe. Mit ihren dunklen Locken und der blassen Haut fühlte sie sich in Jeans und T-Shirts am wohlsten und besaß davon gerade einmal so viele Teile, dass sie bequem durch eine ganze Woche kam. Hoffentlich verfügten Harry und seine Frau überhaupt über eine Waschmaschine!

Nervös zwinkerte Hannah, um das Brennen in ihren Augen zu vertreiben. Sie war so müde. So unfassbar erschöpft. Doch es half ja alles nichts. Sie musste Harry finden und das am besten sofort. Unruhig ließ sie ihren Blick durch den Eingangsbereich schweifen und verharrte dabei kurz an dem Modell eines Wasserflugzeugs, welches direkt unter der Decke zu schweben schien.

Alaska war wahrhaftig eine vollkommen andere Welt und nicht zum ersten Mal seit ihrem Abflug aus Deutschland wünschte Hannah sich, sie hätte einfach 'Nein' gesagt.

Nein zu Anchorage.

Nein zu dieser Reise.

Sie war ein Großstadtkind. Städte lagen ihr, dort kannte sie sich aus. Volle U-Bahnen und Straßen, laute Menschen und Hochhäuser. Aber Wildnis, Berge und Seen?

Das war ganz sicher nicht ihre Welt. Wie bitte sollte sie objektiv über etwas schreiben, was sie von vornherein eher abschreckte? Natürlich hatte Hannah versucht, professionell an die ganze Reise heranzugehen, doch ihre Enttäuschung war einfach zu groß gewesen. Dass Harry mit seiner Frau Annie ausgerechnet ins beschauliche Alaska gezogen war, konnte sie schlicht nicht nachvollziehen. Welcher Mensch wollte an so einem Ort leben, geschweige denn Urlaub machen? Nach einem Tag in der Natur hatte man doch gewiss alles gesehen, was dieser Bundesstaat einem zu bieten hatte, oder lag mit dieser Annahme vielleicht vollkommen falsch?

Abermals sah sie sich um, doch noch immer konnte sie niemanden entdecken, der zufällig wie ein Harry wirkte. Zu ihrem eigenen Verdruss nämlich, konnte sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie genau Susanne Lohmeiers Neffe eigentlich aussah. War er groß oder klein gewesen? Füllig oder eher hager? Hannah wusste es nicht und sie hatte es nicht gewagt, Dietmar Lohmeier nach einem Foto zu fragen, so selbstverständlich, wie dieser davon ausgegangen war, dass sie sich an Harrys Besuch von vor mehr als einem Jahr erinnerte.

Erschwerend kam hinzu, dass sie sich mittlerweile seit mehr als sechsundzwanzig Stunden auf den Beinen befand. Obwohl sie ihrem eigenen Rat gefolgt war und sich nur in bequeme Schlabberhosen und Sweatshirt auf die lange Reise begeben hatte, fühlte sie sich in den Sachen inzwischen regelrecht eingeengt, und auch der dringende Wunsch nach einer Dusche und einem Bett wurde von Minute zu Minute stärker.

Immer mehr Passagiere verließen die Ankunftshalle und noch immer war niemand aus der wartenden Menge heraus auf sie zugetreten, um sie in Empfang zu nehmen. Was, wenn Harry gar nicht gekommen war, um sie abzuholen? Wenn er sie vergessen hatte oder gar von einem Bären auf einer seiner Abenteuerreisen gefressen worden war? In Alaska gab es Bären, so viel wusste Hannah bereits. Bären, menschenleere Landschaften und unglaublich viel Natur.

Sie seufzte schwer.

Sie hatte wirklich keinerlei Vorstellung davon, was sie in den kommenden zwei Wochen in dieser Einöde erwarten würde. Inzwischen war sie auch nicht einmal mehr in der Lage dazu, sich auch nur annähernd weitere Gedanken darüber zu machen. Schlafen, war alles, wonach sie sich sehnte. Das Brennen in ihren Augen wurde immer stärker, und mittlerweile umklammerte sie ihren Reisepass, mit dem frisch gestempelten Visum, so fest, dass es weh tat. Ihr erster Stempel aus Übersee – und dann ausgerechnet aus Alaska.

Die Tage vor ihrer Abreise hatte sie praktisch wie in Trance verbracht. Dietmar Lohmeier hatte ihr kaum Zeit gegeben, sich über irgendetwas genauer zu informieren. Er ließ seine Assistentin Flug und Visum buchen und gab Hannah einen Crashkurs im Fotografieren, da sie natürlich ohne Begleitung nach Alaska fliegen sollte. Das Budget für die Reise war knapp, da diese vor allem deswegen stattfand, um Harry und seiner Frau einen Gefallen zu tun und ihre kleine Agentur zu promoten.

Ihre Freundin Lisa war von Anfang an hin und weg gewesen – im Gegensatz zu Hannah selbst. Alles, was eben außerhalb ihrer eigenen vier Wände stattfand, begeisterte ihre Freundin jedes Mal mit so einer Vehemenz, dass Hannah sich beinahe schuldig fühlte. Doch auch Lisas Euphorie hatte sie nicht so recht mitreißen können. Im Gegenteil, die zwei Wochen, die sie bei Harry und dessen Frau verbringen sollte, kamen ihr von Mal zu Mal länger vor. Um nicht zu sagen, viel zu lang.

Warum nur hatte sie nicht einfach ‚Nein‘ gesagt?

Doch ihre Gedanken drehten sich im Kreis und schließlich kannte Hannah durchaus die Antwort darauf: weil sie eben ein Feigling war.

Wie hätte sie Dietmar Lohmeier auch verklickern sollen, dass so eine Art von Reise doch nicht das Richtige für sie war? Er selbst hatte sie seit ihrem Gespräch nahezu ununterbrochen angestrahlt, und wenn Hannah es nicht besser gewusste hätte, hätte sie sich fast einbilden können, dass er sich auf die zwei freien Wochen ohne sie so richtig freute.

Hoffentlich hatte sie nach ihrer Rückkehr überhaupt noch einen Job.

Hoffentlich kam sie überhaupt zurück!

Vielleicht hatte Harry ja den Auftrag, sie den Bären zum Fraß vorzuwerfen.

Sie war wirklich müde.

Müde und paranoid.

Und allein.

Mittlerweile war in der Halle - außer ihr und zwei weiteren Frauen in Stewardessuniformen - niemand mehr. Kein anderer Mensch also, der sie abholen würde.

Lustlos griff sie in ihre Jackentasche und zog ihr Handy hervor. Sie hatte es während des Fluges ausgestellt und wartete nun ungeduldig darauf, dass es sich in das amerikanische Netz einwählte.

Doch genau das passierte nicht.

Kein Netz.

Ihr Handy wollte sich nicht verbinden.

Unwillkürlich spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. War sie jetzt etwa hier gestrandet?

Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es in Deutschland gerade einmal zwei Uhr nachts war. Sie konnte Dietmar Lohmeier unmöglich aus dem Bett klingeln und fragen, wo sein verflixter Neffe steckte, oder etwa doch?

Nein. Sie würde schon zurechtkommen. Schließlich war sie fast dreißig Jahre alt, und ihr Chef würde mit Sicherheit wenig Verständnis dafür aufbringen können, wenn sie sich wie ein unselbständiges Kind verhielt. Hannah würde eine Lösung finden. Irgendwie musste sie Harry und seine Frau eben auf eigene Faust ausfindig machen. So eine Reiseagentur musste doch auch irgendwo registriert sein, oder?

Entschlossen ballte sie eine Hand zur Faust.

Es war alles nur eine Frage der Perspektive. Dann begann ihr Abenteuer eben schon hier, direkt am Flughafen. Sie würde ihren Chef ganz sicher nicht enttäuschen. Alaska war ihre Chance sich zu beweisen und genau das würde sie auch tun. Und dann würden ganz sicher weitere Reisen auf sie warten. Australien vielleicht oder Bali oder sogar Afrika!

Auf der Suche nach einem Internetzugang ließ Hannah den Blick abermals durch den verwaisten Eingangsbereich schweifen. Dabei registrierte sie einen großen, schlanken Mann, der soeben die Halle betreten hatte. Er trug eine Sonnenbrille, wie es nur Piloten taten, und hatte schulterlanges, braunes Haar, welches sein kantiges Gesicht mit dem leichten Bartschatten sanft umspielte.

Er sah gut aus. Nicht wie diese Posterboys, die man an jeder Ecke sah, sondern irgendwie – verwegen. Er trug eine Lederjacke und Jeans und sah sich suchend nach allen Seiten um.

'Bitte, komm zu mir.' Lautlos flehend verfolgte sie mit den Augen jeden seiner Schritte, auch wenn ihr durchaus bewusst war, dass dieser Mann ganz sicher nicht Harry sein konnte. An ihn hätte sie sich mit Sicherheit zurückerinnert.

Doch zu ihrer Überraschung kam er nun geradewegs auf sie zu.

„Hannah?“, fragte er, noch bevor er sie ganz erreicht hatte.

Vollkommen überrumpelt nickte sie.

Natürlich. Eben noch hatte sie sich gewünscht, dass er auf direktem Wege zu ihr kam, und nun, nachdem ihr dämmerte, welche Erscheinung sie nach sechsundzwanzig Stunden Anreise in Schlabberklamotten wohl abgeben musste, wollte sie diesen Wunsch umgehend revidieren.

'Geh weg', dachte sie im Stillen, nickte aber erneut, als er sie noch immer fragend ansah.

„Ok, gut. Dann lass uns gehen. Harry kann leider nicht kommen, aber ich bringe dich zu ihm.“

Hannah zögerte und umschloss den Griff ihres Koffers unwillkürlich noch ein wenig fester, als der Mann auch schon eine Hand danach ausstreckte, um ihn ihr abzunehmen.

Sie konnte doch nicht einfach so mit einem wildfremden Menschen mitgehen! Das war ihr schließlich schon im Kindergarten beigebracht worden. Und dann auch noch inmitten eines ihr vollkommen fremden Landes. Ein einsames Land, mit nur wenigen Einwohnern und vielen Möglichkeiten, ein naives Mädchen aus der Großstadt unauffällig verschwinden zu lassen.

Sie sah eindeutig zu viele Krimis im Fernsehen, aber sie kannte ja noch nicht einmal seinen Namen!

„Es tut mir leid“, stotterte sie unbeholfen. „Aber ich kenne dich nicht.“ Ihr Englisch klang wie das eines Kleinkindes, dabei hatte sie durch ihre Arbeit beim Fernsehen eigentlich einen recht guten Wortschatz entwickelt. Nur leider hatte sie diesen scheinbar Zuhause in Deutschland vergessen.

„Ich bin Ryan. Du bist Hannah und jetzt müssen wir uns wirklich beeilen. Mein Flugzeug wartet nebenan, und wenn wir nicht gleich starten, bekommen wir so schnell keine Erlaubnis mehr.“

„Bitte was?“ Mit einem Schlag fühlten sich ihre Knie weich wie Butter an. Dieser Typ, Ryan, erwartete doch nicht ernsthaft, dass sie zu ihm in ein Flugzeug stieg?

Waren jetzt alle verrückt geworden?

Ryan seufzte schwer, bevor er endlich die Sonnenbrille abnahm, und sie mit zwei ernsten, blauen Augen eingehend musterte. Schlagartig wurden nicht nur Hannahs Knie weich. Bestürzt spürte sie, wie ihr die Hitze langsam in die Wangen stieg. Sie wurde doch jetzt nicht auch noch ernsthaft rot?

„Hannah, hör zu, ich habe keine Zeit für so etwas. Entweder kommst du mit, und ich bringe dich nach Pinebell oder du bleibst hier und machst dir eine gute Zeit in Anchorage, ok? Harry kann dich nicht abholen. Verstehst du? Außerdem haben er und Annie gerade ein kleines Problem in einer ihrer Gästehütten und können sowieso nicht weg. Also, kommst du nun mit?“

Durchdringend sah er sie an. Was hatte sie überhaupt für eine Wahl? Umdrehen und nach Hause fliegen? So viel Geld hatte sie nicht einmal mehr auf dem Konto, und in Anchorage konnte sie deshalb auch nicht bleiben. Wieso nur hatte ihr Dietmar Lohmeier nichts von Pinebell gesagt? Er hatte immer nur von Anchorage gesprochen, aber wahrscheinlich hatte er selbst keine Ahnung, wo genau sein angeheirateter Neffe eigentlich lebte.

Zögernd nickte sie schließlich und noch eher sie irgendetwas erwidern konnte, griff Ryan bereits abermals nach ihrem Koffer, während er auch schon auf den Ausgang zu eilte.

Hastig stolperte Hannah los und für einen kurzen Moment stellte sie sich die Frage, was sie wohl tun sollte, wenn er mit ihrem Koffer auf und davon rannte.

Doch er kannte Harry, er war hier, um sie, Hannah Wagner, abzuholen und es lohnte sich ganz sicher nicht für ihn, sie zu entführen. Geld suchte man in ihrer Familie nämlich vergebens.

So schnell sie ihre müden Beine tragen konnten, folgte sie ihm aus dem Gebäude, vorbei an der großen Glasfront der Halle, hinüber zu einem See, über dem es verdächtig laut brummte. Irritiert hob Hannah den Blick und sah, wie sich ein seltsam aussehendes Flugzeug schwankend in die Luft erhob, nur um Sekunden später auch schon davon zu segeln. Bei dem Tempo, was Ryan vorgab, hatte sie allerdings kaum Zeit, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie konnte froh sein, wenn sie ihn nicht aus den Augen verlor. Der Mann hatte es scheinbar wirklich eilig.

Sie durchquerten eine weitere Halle, und Ryan nickte im Vorbeigehen einer Check-in-Mitarbeiterin zu, eher er stehen blieb und sich nach Hannah umsah.

„Wir müssen hier raus, mein Flugzeug wassert dort drüben“, informierte er sie knapp.

Ein wasserndes Flugzeug?

Hannahs müdes Hirn verstand gar nichts mehr, doch sie folgte ihm bereitwillig auf eine ausladende Fläche hinaus, die an einem riesigen See mündete. Der ‚Lake Hood‘. Das zumindest stand auf einer großen Tafel, die nicht zu übersehen war.

Anchorages Wasserflughafen.

Unwillkürlich wurde ihr schlecht.

Sollte sie etwa in so einem Kasten fliegen?

Mit weichen Knien trottete sie zu Ryan hinüber, der mittlerweile neben einer kleinen, weiß-blauen Maschine, zum Stehen gekommen war.

Das Flugzeug war in der Tat winzig, zumindest im Vergleich zu den großen Passagiermaschinen, in denen Hannah für gewöhnlich mitflog.

Ein schwerer Kloß verschloss ihren Hals, als Ryan auch schon die Tür öffnete und ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, dass sie einsteigen sollte.

„Wie weit ist es denn bis Pinebell?“, schrie sie gegen den Lärm der startenden und landenden Ungetüme um sie herum an, mehr um sich selbst abzulenken, als aus wirklichem Interesse.

„Ungefähr eine Stunde Flugzeit.“ Gekonnt verstaute Ryan ihren Koffer im hinteren Teil der Maschine und kletterte schließlich neben sie auf den Pilotensitz.

„Eine Stunde?!“ Was sollte sie nur eine ganze Stunde lang mit diesem Kerl reden? Und wo lag Pinebell überhaupt?

Sie wiederholte ihre letzte Frage laut, während sie mit klopfendem Herzen nach den Sicherheitsgurten griff. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie in einer solch kleinen Maschine gesessen und schon gar nicht direkt neben dem Piloten!

Die ganze Konzeption schaukelte wie ein Boot vor und wieder zurück, und Hannah zwang sich, nicht hinaus auf das Wasser zu blicken.

„Pinebell liegt direkt zwischen einigen Bergen und einem See.“

Tolle Antwort.

„Und wie viele Einwohner hat es?“, unbeirrt starrte sie ihn an. Nur nicht aus dem Fenster gucken, ermahnte sie sich lautlos. Sie musste sich voll und ganz auf etwas Anderes konzentrieren, auch wenn das bedeutete, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf diesen seltsam wortkargen Typen zu richten. Ein Typ, dessen blaue Augen längst wieder hinter seiner Sonnenbrille verschwunden waren und die dennoch einen nachhaltigen Eindruck auf Hannah hinterlassen hatten.

„Vielleicht achthundert, ein paar mehr oder weniger.“ Ryan drückte mehrere Knöpfe, und als sich die Maschine langsam in Bewegung setzte, machte Hannahs Magen einen Sprung.

Achthundert! Das war definitiv ein weiteres Abenteuer. Nie zuvor hatte Hannah in so einer kleinen Stadt gelebt. Das war etwas völlig anderes, als der Broadway in New York oder Malibu.

Doch Ryan ließ ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Zielstrebig lenkte er seine Maschine direkt auf den riesigen See hinaus, während sie über die Kopfhörer bereits den Tower vernehmen konnte.

Mittlerweile klopfte ihr Herz so laut, dass er es definitiv hören musste.

Sie hatte wirklich Angst und dabei machte ihr das Fliegen normalerweise nicht viel aus. Aber hier, in dieser winzigkleinen Maschine, war das etwas ganz anderes. Noch dazu war ihr Ryan noch immer suspekt, gutes Aussehen hin oder her. Zum wiederholten Male fragte sie sich, wie Dietmar Lohmeier ihr wichtige Informationen, wie die Weiterreise mit einem Wasserflugzeug, hatte verschweigen können?

„Bist du bereit?“

Fragend sah er sie an.

Ergeben nickte Hannah, während sie ihn weiterhin dabei beobachtete, wie er die verschiedensten Knöpfe am Armaturenbrett drückte. Nur wenige Sekunden später schossen sie auch schon über das Wasser hinweg.

Erschrocken kniff sie die Augen zusammen und spürte, wie sich Teile ihrer Fingernägel tief in ihre Handflächen bohrten.

Ihr Magen schlug Purzelbäume und kleine Schweißperlen rannen ihr über die Stirn. Sie war froh, dass sie sich selber nicht sehen konnte. Sie musste erbärmlich aussehen.

Erst, nachdem sie ihre Flughöhe erreicht hatten, wagte sie es, die Augen zu öffnen. Vorsichtig lugte sie zu Ryan hinüber, der jedoch vollkommen entspannt in seinem Sitz thronte und den Blick starr nach vorne gerichtet hielt.

Zögernd blickte sie schließlich nach rechts und der Ausblick, der sich vor ihr auftat, raubte ihr einige Sekunden lang den Atem. Ein blauer und grüner Teppich aus unzählbaren Bäumen, Bergen und Seen schwirrte unter ihnen hinweg und vor lauter Staunen blieb Hannah der Mund offen stehen.

Diese Farben waren einfach atemberaubend!

„Es sieht wunderschön aus.“ Gedankenverloren strich sie sich eine Locke aus der Stirn.

Das war also Alaska, der Teil der USA, mit dem sie sich bis zum heutigen Tage nie näher auseinandergesetzt hatte. Alle Vorstellungen, die Hannah von den USA gehabt hatte, schienen auf dieses Gebiet wahrlich nicht zuzutreffen: Zahlreiche Menschen, hippe Läden und hohe Gebäude gab es in diesem Teil der Welt scheinbar tatsächlich nicht, allerdings war sie sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob sie das wirklich so tragisch fand.

Wieder warf sie einen Blick zu Ryan hinüber, der jedoch vollkommen in Gedanken versunken zu sein schien.

Wie es wohl sein musste, hier zu leben?

Harry hatte sich schließlich ganz bewusst dazu entschieden. Er war, wie sie selbst auch, in Deutschland aufgewachsen und hatte sich dann, wenn sie sich recht an Dietmar Lohmeiers Erzählung erinnerte, während einer Kanada-Reise in Annie verliebt. Und Annie stammte aus Alaska. Hannah hatte Harrys Frau noch nicht kennengelernt, unwillkürlich fragte sie sich jedoch, ob womöglich alle Einwohner Alaskas so wortkarg und schroff verhielten, wie Ryan es tat.

Seine Art verwirrte sie, andererseits war sie aber auch froh, dass er sie in Ruhe ließ. Sie war noch immer wahnsinnig erschöpft. Das Adrenalin, welches seit seinem Auftauchen durch ihren Körper gejagt war, verebbte nun allmählich, und nicht zum ersten Mal an diesem Tag spürte sie, dass ihr immer wieder die Augen zu fielen. Das Letzte, an was sie sich noch erinnerte, bevor sie endgültig den Kampf gegen ihre Müdigkeit verlor, war das unglaubliche Blau des Himmels, in das sie geradewegs hineinzufliegen schienen.

 

Ryan bedachte seinen schlafenden Fluggast mit einem kurzen Seitenblick. Bereits am Flughafen war ihm aufgefallen, wie erschöpft sie aussah. Vermutlich hatte sie seit ihrer Abreise aus Deutschland nicht ein einziges Mal ein Auge zugemacht. Trotz allem war sie immer noch sehr hübsch, das musste er zugeben, und das seltsame Gefühl, welches ihr Anblick in ihm auslöste, behagte ihm ganz und gar nicht. Ihr Kopf war im Schlaf ein wenig zur Seite gerollt, so dass einige widerspenstige Locken nun Teile ihrer linken Wange bedeckten.

Leise fluchend unterdrückte Ryan den Drang, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Das war nun wirklich mehr als albern! Seit wann bitte machte er sich über solche Dinge überhaupt wieder Gedanken? Die Antwort war so unbefriedigend wie einfach: Seit er Hannah verloren in der Ankunftshalle hatte herumstehen sehen.

Zunächst hatte er sogar an ihr vorbeigehen wollen. Sie wirkte nämlich so gar nicht wie die taffe Reisereporterin, die Harry ihm beschrieben hatte. Doch im Grunde hatte auch Harry keinerlei Ahnung gehabt, wer Hannah Wagner eigentlich war, geschweige denn wie sie aussah. Alles, was Harry wusste, war, dass eine Frau namens ‚Hannah‘ an diesem Tag in Anchorage hatte ankommen sollen, um Annie und ihm beim Start ihrer kleinen Agentur ein wenig unter die Arme zu greifen. Doch nun saß Harry wegen eines defekten Abwasserrohrs in einer seiner beiden Gästehütten fest und hatte Ryan kurzerhand darum gebeten, ohne ihn nach Anchorage zu fliegen, um die junge Frau abzuholen.

Natürlich hatte er Harrys Bitte nicht abschlagen können. Schließlich war er der Mann seiner Schwester Annie, die noch dazu kurz vor der Entbindung ihres ersten Kindes stand.

Und Hannah? Sie schien so durch und durch anders zu sein, als Ryan es erwartet hatte, und dabei hatte er es sich eigentlich längst abgewöhnt, überhaupt noch irgendwelche Erwartungen zu haben. Doch ihre zurückhaltende Art und das fast scheue Lächeln passten einfach nicht zu dem Bild, welches er von Reportern im Allgemeinen und Reisejournalisten im Speziellen so hatte.

Sie hatte seine Neugier geweckt, ein Umstand, der ihm jedoch alles andere als recht war. Schließlich hatte er dieses Kapitel seines Lebens schon vor langer Zeit abgehakt. Und nicht nur abgehakt: Dieses Kapitel war praktisch nicht mehr vorhanden. Zusammengeschnürt und weggesperrt. Und den Schlüssel zu all dem hatte er irgendwo zwischen New York und Pinebell in einem Fluss versenkt. Zumindest im übertragenen Sinne.

Oh Mann.

Ryan verzog das Gesicht.

Er konnte noch immer ganz schön melodramatisch sein. Wie gut, dass niemand in der Lage war, seine Gedanken zu hören.

Aber im Endeffekt war es nun einmal so und alles, was er nun mehr wollte, war, Hannah so schnell wie möglich in Pinebell abzuliefern, um dann endlich weiter nach Fairbanks zu fliegen.

Denn Fliegen war mittlerweile alles, was für ihn zählte. Nur die Weite des Himmels und die unglaubliche Landschaft zu seinen Füßen gaben ihm die Ruhe, die er in seinem Leben so dringend brauchte.

Kapitel 3

 

 

 

 

„Hannah, wach auf!“

Blinzelnd hob Hannah den Kopf.

Wo war sie? Und wieso nur schmerzte ihr Nacken so seltsam?

„Hannah!“ Da war sie wieder, diese fremde Stimme, doch nun klang sie geradezu ungeduldig.

Wenig elegant richtete sie sich auf und stellte dabei fest, dass sie in einem Cockpit saß. Angeschnallt und mit einem schiefen Kopfhörer auf den Ohren.

Erschrocken wollte sie aufspringen, doch der Gurt um ihren Oberkörper hielt sie schmerzhaft zurück. Sie schwankte und stieß dabei mit dem Kopf gegen die niedrige Decke.

Stöhnend hielt sie sich die Stirn.

„Ist alles ok?“

Erst jetzt fiel ihr Blick auf den jungen Mann vom Flughafen, der missmutig neben der geöffneten Tür des Wasserflugzeuges stand und sie mit undurchdringbarer Miene beobachtete.

Ryan! Sie hatte seine Anwesenheit vollkommen verdrängt.

Benommen wischte sie sich über das Gesicht und hoffte dabei inständig, dass sie im Schlaf nicht gesabbert hatte.

„Ich komme zurecht“, murmelte sie verlegen, während sie unbeholfen ihren Gurt löste. Vorsichtig trat sie auf den kleinen Vorsprung unterhalb der Türöffnung und sprang dann hinunter auf den – Steg? Hatten sie tatsächlich an einem Steg angelegt?

Einen kurzen Moment lang wurde ihr ein wenig flau, doch sie fing sich eilig wieder und warf dabei einen raschen Blick auf ihre Umgebung: Um sie herum gab es nichts anderes zu sehen als Wasser und Wälder.

„Wo sind wir?“

„In Pinebell.“ Ryan griff nach ihrem Koffer, den er allem Anschein nach bereits ausgeladen hatte, und lief voran auf das Ufer zu.

Mit wackeligen Beinen folgte Hannah ihm.

Das Holz schwankte unter ihren Füßen, doch sie zwang sich tapfer weiterzugehen.

'Abenteuerurlaub', wiederholte sie immer wieder in ihrem Kopf. „Ich bin hier für Abenteuerurlaub“. Genau das hatte Dietmar Lohmeier ihr aufgetragen. Das war ihr Job. Sie würde das durchstehen, schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden, oder etwa doch?

Ryan wartete bereits auf sie, als Hannah schließlich vom Steg aus ans Ufer sprang und sich dabei abermals suchend umsah.

„Er ist nicht da“, sagte er knapp.

„Wer?“

„Na Harry. Ich hatte ihm vor unserem Abflug eine Nachricht übermittelt, aber er ist nicht gekommen.“

„Ist es denn weit bis zu ihm?“

Ryan zuckte die Schultern und machte dabei ein paar Schritte auf einen schmalen Weg zu, der hinauf auf eine Straße zu führen schien.

---ENDE DER LESEPROBE---