Politische Philosophie - Reinhard Mehring - E-Book

Politische Philosophie E-Book

Reinhard Mehring

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Beschreibung

Reinhard Mehring erläutert den systematischen Ansatz Politischer Philosophie, geht ihren literarischen Traditionen nach und beschäftigt sich mit ihren aktuellen Aufgaben. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 172

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Grundwissen Philosophie

Politische Philosophie

von Reinhard Mehring

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Detlef HorsterPD Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf SchnellProf. Dr. Franco Volpi

Alle Rechte vorbehalten© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960118-2ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020121-3

www.reclam.de

Inhalt

1. Die politische Philosophie als Frage nach der Freiheit

2. Systematische Aspekte politischer Philosophie

Philosophie: Der »Sinn des Lebens«

Moral: Individuelle Verantwortung eigenen Handelns

Politik und Recht: Kollektive Organisation gemeinschaftlich guten Lebens

3. Zur Literaturgeschichte politischer Philosophie

Literarische Formen und Hermeneutik politischer Philosophie

Politisches Denken und Philosophie der Politik

Kurze Geschichte politischer Philosophie

4. Aktuelle Aufgaben politischer Philosophie

Ende der Universitätsphilosophie?

Implosion staatlicher Gerechtigkeit?

Krieg und Frieden

Anmerkungen

Kommentierte Bibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7]1. Die politische Philosophie als Frage nach der Freiheit

»Was dieser heute baut,/reißt jener morgen ein;Wo itzund Städte stehn,/wird eine Wiesen sein.«

Andreas Gryphius, 1643

Eine Einführung zu einem philosophischen Thema besteht nicht nur aus Zahlen, Daten und Fakten; sie zielt auch auf das Verständnis der leitenden Fragestellung und Methode und möchte dem Leser das Philosophieren näher bringen. Philosophieren lernt man wie das Schwimmen. Man springt hinein und strampelt, bis es einen trägt. Eigentlich springt man aber nicht, sondern strampelt »immer schon« in einem Fluss ohne Ufer mit offenem Horizont. Man beginnt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem klar begrenzten Geschäft der Philosophie; vielmehr hat man Fragen, die mit der menschlichen Existenz gegeben sind und mehr oder weniger streng bedacht werden können. Man startet nicht bei null und endet nicht mit einer einzig wahren, absolut richtigen Philosophie. Es geht darum, sich Gedanken zu machen und sie professionell in der Auseinandersetzung mit der klassischen Überlieferung und im lebendigen Gespräch mit Lehrern und Freunden zu entwickeln.

Der Wissensbestand oder Stoff, den philosophische Einführungen zu bieten haben, ist zumeist ziemlich unstrittig. So wird jeder Leser hier wohl erwarten, dass vom »Menschen« als einem sozialen, politisch lebenden Wesen, vom »Staat« als institutioneller Organisation des politischen Lebens und vom Verhältnis der Bürger zum Staat sowie der Staaten untereinander die Rede ist. Er wird auch erwarten, dass von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie, von Krieg und Frieden gesprochen wird. Weniger selbstverständlich dürfte aber sein, wie sich die philosophische Betrachtungsweise von [8] der rechtswissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen unterscheidet. Denn alle genannten Themen werden auch von Juristen, Soziologen und Politikwissenschaftlern in ihren Beschreibungen einer Staatsorganisation behandelt. Die Eigenart einer philosophischen Einführung also ist strittig. Welche Sprache ist ihr angemessen? Wie viel Stoff gehört hinein? Soll man sich auf die Ideengeschichte oder auf die philosophische Betrachtung aktueller Probleme konzentrieren?

Gute Einführungen sind zugleich Werbeschriften für die Philosophie. Man kann nicht eine Teildisziplin darstellen, ohne zugleich eine Gesamtauffassung vom Fach zu vertreten. Das vorliegende Bändchen macht sie eingangs explizit. Philosophie lässt sich, scheint mir, als argumentativer Versuch verstehen, die eigene Lebensführung akademisch umfassend zu verantworten: als Selbstbegründung der Freiheit. Weil Individuen sich Freiheit unterstellen, haben sie philosophische Fragen und Antworten. Politische Philosophie fragt deshalb nach den humanen Möglichkeiten und den historisch-politischen Bedingungen der Freiheit. Das Gute und das Gerechte lassen sich hier nicht gänzlich voneinander trennen. Denn die Selbstrechtfertigung zwingt moralisch zu der universalisierenden Forderung, dass auch andere Menschen unter ähnlichen Bedingungen in Freiheit leben sollten. Dies führt zu politischen Konsequenzen, ohne die eine Philosophie nicht vollendet wäre. Philosophie rechtfertigt insofern einen Teilnahmestandpunkt und sollte deshalb auch engagiert betrieben werden. Ihr Versuch, den eigenen Standpunkt akademisch auszuweisen, unterscheidet sie dabei vom geläufigen Parteistandpunkt. Ihr Teilnehmerstandpunkt hingegen unterscheidet sie von der Beobachterperspektive der Rechtsund Sozialwissenschaften. Zwar sind auch Juristen keine »neutralen« Beobachter, sondern nehmen mit ihren Positionen und Begriffen am politischen »Ringen um ›Verfassung‹ «1 Anteil; damit setzen sie aber einen Rechtsstandpunkt ihrer normativen Perspektive voraus. Politische Philosophen dagegen treten noch hinter das positiv geltende Recht zurück. Wie [9] Rechtsphilosophen fragen sie danach, ob eine Rechtsordnung gerechtfertigt ist. Anders als Rechtsphilosophen fragen sie jedoch auch, ob die konkrete Politik im Interesse der Entwicklung der humanen Möglichkeiten und politischen Verfassung wünschbar ist.

Eine Einführung in die politische Philosophie ist kein Lehrbuch. Sie kann nicht alle Argumente durchspielen und eine breite Übersicht über die Vielfalt historisch und aktuell vertretener Positionen bieten. In der gebotenen Kürze möchte ich dennoch den Grundriss politischer Philosophie vom Keller bis zum Dach zeigen. Die philosophischen Fundamente gehören dabei ebenso dazu wie das aktuelle Material und die ideengeschichtlichen Tapeten. Die Einführung gliedert sich deshalb in einen philosophisch-systematischen, einen werkgeschichtlich-literaturwissenschaftlichen und einen politisch-aktuellen Teil: Sie skizziert einen systematischen Ansatz, literarische Traditionen und Methoden sowie einige aktuelle Aufgaben politischer Philosophie. Zunächst wird der leitende Philosophiebegriff entwickelt, dann werden die ideengeschichtliche Methode und Überlieferung und schließlich einige aktuelle Aufgaben skizziert. Bei der kurzen Besichtigung des weiten Gebäudes soll dem Leser vor allem deutlich werden, dass politische Philosophie eine normativpraktische Disziplin ist, die sich in ständiger Reflexion auf die politische Geschichte entwickelt. Selbstverständlich gibt es auch andere Zugangsweisen: Peter Nitschke2 berücksichtigt die politische Ideengeschichte eingehender, Christoph Horn3 sondiert die Fülle aktuell möglicher Ansätze systematisch. Ich will die Einheit des philosophischen Fragens im Ansatz skizzieren, die literarische Tradition vorstellen und einen politischen Faden philosophisch knüpfen.

[10]2. Systematische Aspekte politischer Philosophie

Philosophie: Der »Sinn des Lebens«

Die Rede von »politischer Philosophie« ist leicht missverständlich. Denn sie lässt eine politische Betrachtung der Philosophie oder eine philosophische der Politik erwarten. Landläufig ist alles politisch, damit auch die Philosophie. Hier ist allerdings keine politische Betrachtung oder gar Politisierung der Philosophie gemeint, sondern eine philosophische Reflexion der Politik. Eine wichtige Aufgabe dieser Philosophie ist es, den Politikbegriff angemessen zu begrenzen. Denn nicht alles ist politisch. Zwar neigt der Sprachgebrauch dazu, alles interessegeleitete strategische Handeln politisch zu nennen. Dann müsste es aber auch Politik sein, wenn ein Kind sich von seinen Eltern ein paar Süßigkeiten erbettelt. Ein solcher Sprachgebrauch ist zu weit. Andererseits verengt es den Politikbegriff, politisches Handeln mit institutionellem Handeln gleichzusetzen und darunter nur staatliches Handeln zu verstehen. Damit würden die Bürger nur als Adressaten staatlicher Verwaltung angesprochen und fielen als politische Akteure aus. Zwischen diesen Extremen muss der Politikbegriff bestimmt werden. Statt also missverständlich von »politischer Philosophie« zu sprechen (oder den engeren Wortgebrauch nur durch eine Großschreibung als »Politische Philosophie« anzudeuten), sollte besser von einer »Philosophie der Politik« oder des »politischen Handelns« gesprochen werden, die sich auch als anwendungsorientierte politische Philosophie der Politik vorstellt. Deshalb könnte dieses Büchlein auch »Einführung in die Philosophie der Politik« heißen. Weil die Rede von politischer Philosophie aber verbreiteter ist und es gute Gründe gibt, sich am Sprachgebrauch zu orientieren, [11] wird weiter von politischer Philosophie gesprochen. Wo terminologische Klarheit erforderlich ist, steht »Philosophie der Politik«.

Historisch betrachtet gibt es eine Vielzahl von Philosophiebegriffen. Ein Blick in begriffsgeschichtliche Lexika1 belehrt darüber. Es wäre somit naiv, den eigenen Begriff schlicht für »die« Philosophie zu erklären. Andererseits gehört der Geltungsanspruch auf »Wahrheit« zur Sache. Die vorliegende Einführung will keine beliebige Meinung, sondern allgemein zustimmungsfähige Einsichten formulieren. Ein elementares Fachverständnis ist dabei weniger strittig als die systemphilosophische Ausarbeitung. Die Vielfalt der vertretenen Philosophiebegriffe reduziert sich bei vergleichender Betrachtung überhaupt schnell. Typologien und Klassifikationen belegen die Begrenztheit sinnvoll und konsequent möglicher Standpunkte.2

Das Wort »Philosophie«3 stammt bekanntlich aus dem Griechischen (philosophia). Es ist ein Kompositum aus philos (Freund) und sophia (Weisheit) und meint ein liebendes Streben nach Wissen im weiten Sinne von Kenntnissen, Fertigkeiten, Umsicht und Urteilskraft. Der Philosoph strebt nach Wissen. Er hat es nicht geoffenbart bekommen oder für sich gepachtet. Selten nennen wir einen Wissenschaftler weise. Denn »Weisheit« meint heute ein praktisches Tugendwissen. Einen weisen Menschen stellt man sich gern als alten Mann oder alte Frau am Fluss vor, als eine Person, die um die Sitten weiß und Lebenserfahrungen gesammelt hat, die sie in Geschichten, moralischen Exempeln oder Spruchweisheiten mitteilt. Ein solches Tugendwissen fällt in traditionalen Gesellschaften unter stabilen Verhältnissen mit dem Wissen um die Sitten, Gebräuche, Gepflogenheiten zusammen. Solche Klugheitsregeln des sozialen Erfolgs sind, historisch betrachtet, in einem Zwischenraum zwischen einem religiösen und einem säkular-moralischen Wissen um Prinzipien und Regeln angesiedelt. An der Schwelle der Unterscheidung moralischer Normen von religiösen Geboten steht ein Tugendwissen, das [12] sich nicht mehr rein religiös und noch nicht dezidiert moralisch in der Unterscheidung von konventionell überkommenen Sitten versteht. Es kennt die Gründe nicht, weshalb es moralisch ist, und pflegt ein moralisches Vorurteil für die Sitten. Das ist aber auch pragmatisch heikel. Denn die Sentenzen der Guten, Alten, Weisen verlieren unter gewandelten Lebensverhältnissen an praktischem Nutzen und Geltungskraft. Philosophie hingegen ist keine solche Weisheitslehre, sondern Wissenschaft. Sie begnügt sich nicht mit lehrhaften Geschichten, sondern sucht die moralischen Gründe für ein Verhalten im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit an einem Weltbild begrifflich zu bestimmen.

Historisch lässt sich der Unterschied von Philosophie und Weisheitslehre an der Schwelle der Entstehung der okzidentalen Wissensform »Philosophie« gut studieren. Man kann ihn auch diskursanalytisch und literaturwissenschaftlich untersuchen. Der philosophische Diskurs entstand in der Abgrenzung von der überlieferten religiösen und mythologischen Weltdeutung mit der Ausbildung wissenschaftlicher Prosa.4 Die ersten Autoren, die als Philosophen kanonisiert sind, pflegten noch literarische Formen, die heute nicht als Sachtexte gelten. Das Lehrgedicht, das Epigramm, der Aphorismus, der Kunstdialog, der Brief sind literarische Formen der Frühzeit der Philosophie. Noch Platon (428/427–349/348 v. Chr.) spricht nicht im eigenen Namen, sondern lässt für sich sprechen. Auch die Texte des Aristoteles (384/383–322 v. Chr.), ursprünglich Vorlesungsmanuskripte für den Schulgebrauch, wurden erst im 1. Jahrhundert v. Chr. (von Andronikos von Rhodos) zusammengestellt zum Muster der okzidentalen Wissenschaftsprosa.

In den heutigen Sprachgebrauch geht die Philosophiegeschichte ein. Schon Aristoteles setzte beim philosophiegeschichtlichen Sprachgebrauch an und prüfte ihn systematisch. Dieser begriffsgeschichtliche und -analytische Zugang ist heute selbstverständlich. Wenn es einen Fortschritt in der Philosophie gibt – und wenn Philosophie eine Wissenschaft [13] ist, sollte es ihn geben –, dann kondensiert die Alltagssprache ihn mehr oder weniger klar. Nicht nur die Philosophiegeschichte, sondern auch der alltagssprachliche Gebrauch ist deshalb ein Anhalt des Philosophiebegriffs.

Fragt man, wie Sokrates (470–399 v. Chr.) einst die Bürger und Sklaven Athens, in Deutschland einen beliebigen Passanten auf der Straße nach dem Gegenstand der Philosophie, so wird er vermutlich etwa sagen: »Die Philosophie sucht irgendwie nach dem ›Sinn des Lebens‹.« Bildungsstolz klingt an. Fragt man weiter nach der Methode, die die Wissenschaftlichkeit der Philosophie kennzeichnet, so antwortet er vielleicht: »Philosophen labern.« Eine solche Antwort baut den ersten Respekt mit der auftrumpfenden Versicherung ab, jedermann, so auch der Passant, philosophiere irgendwie und irgendwann. Der Durchschnittsbürger banalisiert die Philosophie zur Durchschnittsmeinung und hält alle Meinungen für relativ wahr. Er bezweifelt die Wissenschafts- und Wahrheitsfähigkeit der Philosophie und negiert den Sinn der »Sinnfrage«, von der er eingangs selbst sprach. Seine Skepsis gegenüber dem »Gelaber« ist zwar durchaus angebracht; Geringschätzung aber ist nicht angemessen. Denn Menschen »wohnen« in ihrer Sprache.

Die gängige Auffassung, Philosophie bearbeite in diskursiver Form und natürlicher Sprache Fragen nach dem »Sinn des Lebens«, kann als Minimalverständnis akzeptiert werden. Die Frage nach dem »Sinn des Lebens« heißt hier deshalb die »Grundfrage« der Philosophie. Sie kann nicht empirisch gültig beantwortet werden, weil sie die Handlungsorientierung durch Prinzipien und Normen betrifft, und sollte dennoch so intensiv wie möglich diskutiert werden.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis der Philosophie zu den anderen Wissenschaften? Die Philosophie gilt als Mutter aller Wissenschaften. Die Wissenschaftsgeschichte erscheint dann als ein Prozess der »Ausdifferenzierung« selbstständiger Wissenschaften. Dies lässt sich als Fortschritt der Profilierung der einzelnen Wissenschaften, so auch der Philosophie, [14] auffassen. Systemtheoretisch belehrt sehen wir heute die Schwierigkeiten interdisziplinärer Kooperation. Wissenschaftler tragen die Brille ihres Fachs und können die Methoden und Ergebnisse der anderen kaum nachvollziehen. Das ist für die Philosophie besonders beunruhigend, weil sie als weltanschauliches Synthesefach von der Überschau und Zusammenschau des gegenwärtigen Wissens lebt.5 Der Universalitätsanspruch der Philosophie, »Platzanweiser« der einzelnen Wissenschaften zu sein6 und jedem positiv festgestellten Wissen seinen Ort in einem enzyklopädischen System zuzuweisen, erscheint den anderen Wissenschaften heute zwar oft als eine Anmaßung; er rechtfertigt sich aber durch einen »schwachen«, oder besser: normativ-praktischen und »lebensweltlichen«, Wissenschaftsbegriff. Philosophie klärt den Funktions- und Organisationszusammenhang des Lebens aus der Perspektive des normativ-praktisch interessierten Individuums. Menschen müssen die Frage nach dem »Sinn des Lebens« individuell beantworten. Deshalb lässt Philosophie sich in der Tat als Mutter aller Wissenschaften bezeichnen. Denn alle Wissenschaften dienen in unterschiedlicher Weise der pragmatischen Bewältigung des Lebens durch eine Rationalisierung der Lebensführung.

Wissenschaft gibt es nur, weil Menschen sich als frei handelnde, moralische Wesen verstehen, die ihr Leben sinnhaft führen können. Diverse Wissenschaften haben einen pragmatischen Bezug zur Rationalisierung der Lebensführung, den sie allerdings in ihrer alltäglichen Forschungspraxis nicht thematisieren. Philosophie kann ihnen nicht hineinregieren; doch sie kann als Wissenschaftstheorie mit ihnen kommunizieren. Der wissenschaftstheoretische Bezug richtet sich dabei heute vornehmlich auf die methodologische Kritik der Forschungspraxis. Philosophie prüft dann die Begriffe und Methoden der anderen Wissenschaften und misst sie an ihren eigenen Begriffen.

Immanuel Kant (1724–1804) hat in seiner Universitätsschrift klassisch vorgeführt, wie dies geschieht7. Er geht dabei von [15] der überlieferten Einteilung der mittelalterlichen Universität aus und zeigt, dass den »oberen«, berufsausbildenden (theologischen, juristischen und medizinischen) Fakultäten die leitenden Grundbegriffe durch Kirche und Staat vorgegeben sind. Im Rahmen dieser autoritativen Vorgaben ist den oberen Fakultäten, so Kant, eine umfassende Bestimmung der Religion, des Rechts, der Gesundheit nicht möglich. Sie sind an einen »Nutzen« für Kirche und Staat gebunden, was freie, an der Idee der »Wahrheit« orientierte Forschung unmöglich macht. Die untere, philosophische Fakultät dagegen sei nur der Idee freier Forschung verpflichtet und könne deshalb die vorausgesetzten Begriffe von Religion, Recht, Gesundheit in ihren Grenzen prüfen.

Bei der heutigen, komplexeren Struktur der Universitäten ist diese Unterscheidung nutzenorientierter Ausbildung und wahrheitsorientierter Forschung zu einfach. Viele Wissenschaften institutionalisieren ihre philosophische Kritik auch in eigenen Lehrstühlen oder Lehraufträgen, und ein großer Teil der philosophischen Forschung hat sich aus dem interdisziplinären Gespräch auf das eigene Fach und dessen Geschichte zurückgezogen. Die Begriffs- und Theoriebildung der anderen Wissenschaften unterscheidet sich aber dennoch von der philosophischen. Es macht einen Unterschied, ob man seine Begriffe von Gott, der Natur oder dem Recht im Rahmen theologischer, physikalischer oder juristischer Forschung oder im Zusammenhang genuin philosophischer Theoriebildung entwickelt.

Idealtypisch lässt sich hier zwischen analytisch-beschreibenden und philosophisch-konstruktiven Theoriebildungen differenzieren. Unstrittig findet in theologischen oder juristischen Fakultäten auch philosophische Forschung statt. Umgekehrt mögen etablierte Philosophen bisweilen wie Historiker oder Juristen arbeiten. Dennoch ist die Unterscheidung hilfreich. So beschreiben etwa theologische oder auch transkonfessionelle religionswissenschaftliche Studien Praktiken und Selbstverständnisse, die sie historisch oder aktuell [16] vorfinden, ohne ihre Resultate an einer metapositiven philosophischen Begriffsbildung zu messen und etwa zu entscheiden, ob eine empirisch gegebene Religion einen philosophisch adäquaten Begriff von Gott hat. So analysieren beispielsweise Juristen die interne Kohärenz und Semantik eines Rechtssystems und formulieren dogmatisch tragende Grundbegriffe, ohne sie vor das Forum eines metapositiven Gerechtigkeitsbegriffs zu zitieren. Kant hat das spitz bemerkt:

»Was ist Recht? Diese Frage möchte den Rechtsgelehrten […] eben so in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben; aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang seine empirischen Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vorzüglich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten.«8

Die bundesdeutsche Rechtswissenschaft trägt der Eigenart einer juristisch disziplinierten Theoriebildung dadurch Rechnung, dass sie die analytische Rechtstheorie bis in die Lehrstuhlbeschreibungen hinein terminologisch von der Rechtsphilosophie absetzt.9 Schon Georg W. F. Hegel (1770–1831)10 unterschied beiläufig zwischen »Theorie« und »Philosophie«. Das ist sinnvoll, um die jeweilige akademische Perspektivierung von Grundlagendiskursen zu kennzeichnen. Deshalb schlage ich vor, trotz der abweichenden Begriffsgeschichte, die auf eine Gleichsetzung der beiden Termini hinausläuft, generell zwischen Theorie und Philosophie zu unterscheiden. Von analytischen Theoriebildungen ist dann zu sprechen, wenn Grundfragen aus der Perspektive empirischer Wissenschaften behandelt werden, von Philosophie dagegen nur [17] dort, wo die Begriffs- und Theoriebildung metapositiv mit philosophischen Mitteln erfolgt. Das ermöglicht es, den methodischen Ansatz bestimmter Forschungen terminologisch deutlicher zu markieren und den Beitrag philosophischer Fragestellungen im interdisziplinären Gespräch zu ermitteln. Im fachphilosophischen Gespräch gibt es immer wieder Unklarheiten darüber, wann sich ein Philosoph im Kompetenzbereich anderer Wissenschaften bewegt und wann er einen philosophischen Beitrag leistet. Solche Grenzüberschreitungen sind unvermeidlich und unerlässlich. Philosophen sollen möglichst »universitär« kommunizieren. Sie sollten aber auch wissen, was ihr genuiner Aufgaben- und Kompetenzbereich ist und wo sie in fremden Jagdgründen wildern. Das ist schon um der Klärung der jeweiligen Wissenschaftsstandards und Diskurspflichten willen nötig.

Üblicherweise wird innerhalb der Philosophie beispielsweise von Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie gesprochen.11 Hilfreich ist es, darüber hinaus zwischen Wissenschaftstheorie und -philosophie zu unterscheiden. Wissenschaftstheoretische Fragestellungen betreffen insbesondere die Methodologie der Forschung. Die Kompetenzvermutung liegt hier zunächst bei den empirischen Wissenschaften, die ihre Forschungspraxis oft besser beschreiben können, als Philosophen dies möglich ist. Dennoch gibt es interessante perspektivische Differenzen und Berührungen, weshalb ein interdisziplinäres Gespräch über wissenschaftstheoretische Fragen sinnvoll ist. Jenseits dieser Fragen gibt es aber auch einen Bereich wissenschaftsphilosophischer Fragen, bei denen die Kompetenzvermutung eher auf Seiten der Fachphilosophen liegt. Sie betrifft beispielsweise ethische Probleme der Forschungspraxis und ihrer technischen Verwertung oder den Status einer Wissenschaft im Feld der Natur- bzw. Geisteswissenschaften und die »Einheit« der Wissenschaften im Gesamtzusammenhang humaner Orientierung.

Im interdisziplinären Gespräch interpretieren Philosophen die Ansätze und Erträge der anderen Wissenschaften im [18] Hinblick auf deren Konsequenzen für die Menschen. Auch innerhalb des Kernbereichs philosophischer Forschung wird freilich die initiale Frage nach dem »Sinn des Lebens« kaum noch explizit gestellt. Erst in den letzten Jahren hat sich das in den Debatten um Philosophie als »Lebenskunst« zwar etwas geändert12, doch die Kärrnerarbeit an oft sehr speziellen Forschungsfragen und viel akademische Betriebsamkeit und Jargon lenken von der Grundfrage ab. Dabei weist die Frage nach dem Sinn des Fachs schon auf jene Grundfrage der Philosophie und die Richtung einer Antwort.

Wozu Philosophie? Welchen Sinn macht es in der Ökonomie eines Lebens, darauf Zeit und Mühe zu verwenden? Es gibt doch andere Wissenschaften, deren Studium sichere Erträge und berufliche Perspektiven verheißt! Philosophie ist kein Brotstudium, das einen klar umrissenen Ausbildungsbedarf deckt und seinen Absolventen gute berufliche Perspektiven bietet. Aus der Sicht der Berufswelt, unter den Bedingungen von Massendauerarbeitslosigkeit, ist sie existenziell riskant. Dennoch ist es sinnvoll, Philosophie zu studieren, weil die Frage nach dem »Sinn des Lebens« individuell bedacht und beantwortet sein will. Sie ist mit der menschlichen Existenz gegeben, weil der Mensch, anders als andere Lebewesen, nicht instinktiv gelenkt ist, sondern sein Leben bewusst führen muss. Die menschliche Freiheit ist das Problem, das praktische Antworten verlangt. Weil Menschen nicht sicher wissen, wie sie leben sollen, müssen sie ihr Leben selbst gestalten. Dieses praktische Problem individueller Selbstbestimmung stellt für sie zugleich ein theoretisches dar. Philosophie fragt deshalb nach dem Grund und Zweck menschlicher Freiheit; sie stellt diese Fragen aus der Position des Individuums, das seine Lebensführung politisch versteht und moralisch zu orientieren sucht.

Vieles lässt sich zwar teleologisch betrachten. Jede Maschine hat einen Funktionszusammenhang, jeder Organismus seine Zwecke. Von einem »Lebenssinn« oder »Sinn des Lebens« aber sprechen wir nur, wo ein Spielraum individueller [19] Wahrnehmung und Handlungsorientierung existiert. Solche Selbstbestimmung hat eine normative Struktur. Die Handlungszwecke diktiert ein »Wollen«, das dem Handelnden auch sinnhaft als »Sollen« erscheint. Der Sollenscharakter der Handlungsnormen begegnet objektiv als soziale Forderung, die Gemeinschaften oder Mitmenschen an einen richten, die vom Handelnden aber (positiv oder negativ) individuell bewertet wird. Die sokratische Frage nach dem »guten« und »richtigen« Leben und die neuere, nach Kant seit Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Wilhelm Dilthey (1833–1911) gängige13 und heute landläufige Frage nach dem »Sinn des Lebens« meinen deshalb eigentlich dieselbe Grundfrage der Philosophie: die Freiheit als Grund und Zweck des individuellen Lebens.

Individuen stellen sich diese Frage in ihrer Geschichte. Jedes Individuum stellt sie mehr oder weniger explizit. Das Fach Philosophie hat insofern lebensweltliche Wurzeln. Es radikalisiert und professionalisiert lebensweltlich geläufige Fragen. Philosophie geht von der Erfahrung einer individuellen Lebensführungsproblematik aus, klebt aber nicht an der Lebenswelt und bestärkt nicht die alltägliche Selbstgerechtigkeit, sondern reflektiert auf die allgemeinen anthropologischen Möglichkeiten und die historisch-politischen Bedingungen gelingenden Lebens oder individueller Freiheit. Dieser Rückgang auf allgemeine Möglichkeiten und Bedingungen ist schon moralisch geboten: Der moralische Standpunkt fordert eine Distanzierung von individuellen Aspekten und eine Generalisierung der Antwort. Als philosophische Antworten überzeugen nur systematische Argumente: keine heiligen Texte, historische Autoritäten oder exklusive Erfahrungen eines Du und Wir. Akademisches Philosophieren nimmt seinen Ausgang zwar meist bei mehr oder weniger kontingenten und speziellen Arbeitsschwerpunkten und Problemen. Jedes originäre Gesamtwerk aber lässt einen Bezug auf die Grundfrage und eine interne problemgeschichtliche Konsequenz erkennen und drängt zur systematischen Antwort.

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