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Der anarchistische Politikbegriff erscheint widersprüchlich: Der Ablehnung von Politik steht eine Bezugnahme auf sie gegenüber. Diese Paradoxie entspringt einer bestimmten Denkweise, die dabei hilft, Netzwerke zwischen verschiedenen Strömungen, Gruppen und Diskursen zu weben. So eröffnet sich die Möglichkeit, auf widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse zu antworten, um sie zu überschreiten. Dies zeigt sich im Modus des Strebens nach Autonomie, in Kontroversen zwischen Individualismus und Kollektivismus und in theoretischen Konzepten wie der sozialen Revolution. In diesem Kontext verdeutlicht Jonathan Eibisch, dass es eine zeitgemäße politische Theorie des Anarchismus gibt – und wie sie aussehen kann.
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Seitenzahl: 972
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Jonathan Eibisch
Politische Theorie des Anarchismus
Zum paradoxen Streben nach Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version der Dissertationsschrift »Figuren der (Anti-)Politik im Anarchismus«, welche am 26.01.2023 an der Fakultät für Sozialund Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena verteidigt und mit dem Prädikat »magna cum laude« bewertet wurde.
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Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld
© Jonathan Eibisch
Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld
Umschlagabbildung: Hartmut Kiewert (https://hartmutkiewert.de/)
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
https://doi.org/10.14361/9783839471838
Print-ISBN: 978-3-8376-7183-4
PDF-ISBN: 978-3-8394-7183-8
EPUB-ISBN: 978-3-7328-7183-4
Buchreihen-ISSN: 2702-9050
Buchreihen-eISSN: 2702-9069
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Hinweise zur Zitation und gegenderte Schreibweise
Verwendete Grafiken und Schemata
Vorwort und Danksagung
1.Konturen einer politischen Theorie des Anarchismus
1.1Ein kaum erforschtes Terrain betreten
1.1.1Ein (anti-)politisches Netzwerk
1.1.2Ein pluralistischer und pragmatischer Anarchismus
1.1.3Erste Eindrücke von anti-politischen Aspekten im Anarchismus
1.2Das wilde Feld überblicken
1.2.1Annäherung an die Gründe für anarchistische Anti-Politik
1.2.2Zeitgenössische Beobachtungen zur Ambivalenz der Politik
1.2.3Ebenen, Fragestellungen und Thesen der Arbeit
1.2.4Grundlegende postanarchistische Denkfigur
1.3Den verworrenen Weg ermessen
1.3.1Einschränkung und Rahmen, Relevanz und Forschungsstand
1.3.2Vorgehensweise und Quellenauswahl
1.3.3Überblick über die Kapital
2.Methodik, Hintergründe und postanarchistische Theorie
2.1Anarchismus, Wissenschaften und Metatheorie
2.1.1Zum Verhältnis von Anarchismus und Wissenschaften
2.1.2Philosophische Annäherungen an Paradoxität
2.2Sozialistische Spannung und Verwendung des Politikbegriffs
2.2.1Eine paradoxe Struktur anarchistischen Denkens?
2.2.2Die sozialistische Spannung im Politikbegriff
2.2.3Die Verwendung des Politikbegriffs in der zeitgenössischen anarchistischen Theorie
2.3Abgleich mit liberalen Überlegungen und antipolitischen Standpunkten weiterer Strömungen
2.3.1Erosion oder Öffnung des Politischen? – Liberal-demokratische Überlegungen zu Antipolitik
2.3.2Antipolitische Aspekte anderer Ausprägungen
2.3.3Schlussfolgerungen zur Abgrenzung anarchistischer Anti-Politik
2.4Zum theoretischen Rahmen der Arbeit
2.4.1Politikwissenschaftliche Bestimmung des vorausgesetzten Politikbegriffs
2.4.2Poststrukturalistische radikale Demokratietheorien
2.4.3Postanarchismus
2.4.4Das Spannungsfeld der (Anti)Politik bei Saul Newman
2.5Zusammenfassung der anarchistischen Methodik
3.Der gemeinsame Modus anarchistischer Strömungenin Tendenzen des Strebens nach Autonomie
3.1Zur Unterscheidung der anarchistischen Tendenzen des Strebens nach Autonomie
3.2Anarchistischer Individualismus
3.2.1Absage an die Negierung der Einzelnen
3.2.2Aufbegehren gegen Zwangskollektive und auferlegten Subjektstatus
3.2.3Selbstentfaltung von selbstbestimmten Einzelnen
3.2.4Individuen als anti-politischer Bezugspunkt für rebellische und selbstbestimmte Einzelne
3.3Anarchistischer Kommunismus
3.3.1Abbruch der verstaatlichten Beziehungen
3.3.2Aufbau von sozial-revolutionärer Klassenmacht
3.3.3Selbstorganisation der libertär-sozialistischen Gesellschaftsform
3.3.4Gesellschaft als anti-politischer Bezugspunkt für anarch@-kommunistische Gruppen
3.4Anarchistischer Syndikalismus
3.4.1Sezession der autonomen Gewerkschaftsbewegung
3.4.2Streik und direkte Aktionen zur Ermächtigung der Arbeiter*innenklasse
3.4.3Selbstverwaltung von Produktion und gesellschaftlichen Funktionen
3.4.4Ökonomie als anti-politischer Bezugspunkt für autonome Gewerkschaften
3.5Die Paradoxität des anarchistischen Politikverständnisses
4.Die Kontroverse um gemeinschaftliche Individualität als Diskurs über Selbstbestimmung
4.1Spaltungslinien und Kontroversen im Anarchismus
4.2Zur Spezifik des Spannungsfeldes zwischen Kollektivität und Individualität
4.3Umgangsweisen mit dem Spannungsfeld Individualismus – Kollektivismus
4.3.1Individualistische Gesellschaftsvergessenheit und der blinde Fleck der Gemeinschaft
4.3.2Die Eingliederung der Einzelnen oder ihre unbedingte Entfaltung
4.3.3Ohne Zwang gemeinschaftlich werden
4.3.4Die dritte Freiheit und gemeinschaftliche Individualität
4.3.5Verwobenheiten aushalten
4.4Das Spannungsfeld von Kollektivismus und Individualismus als bedeutende Kontroverse
5.Das Konzept der sozialen Revolution als Suche nach selbstorganisierten Transformationsstrategien
5.1Annäherung an Revolution als ambivalentes und umstrittenes Konzept
5.2Die Paradoxie des Konzeptes soziale Revolution im Anarchismus
5.2.1Anarchistische Geburtshilfe: Die soziale Evolution als Hintergrundannahme
5.2.2(Anti-)politische Verwaltung: Herausbildung der Föderation dezentraler autonomer Kommunen
5.2.3Soziale Regeneration: Die Neustrukturierung der Gesellschaft
5.2.4Soziale Revolution als Schlüsselbegriff und Transformationskonzept im Anarchismus
5.3Ambivalenzen in wesentlichen Aspekten des anarchistischen Revolutionsbegriffs
5.3.1Revolutionäre Zeitlichkeit und Geschichte im Modus der prophetischen Eschatologie
5.3.2Mit der Negation zur Konstruktion
5.3.3Die Immanenz der Utopie und ihr transzendierender Überschuss
5.3.4Ein adäquates Verhältnis von Zielen und Mitteln
5.3.5Ein plurales Ganzes der revolutionären Subjekte
5.3.6Die Aufgaben der Sozial-Revolutionär*innen
5.4Die Adaption anarchistischer Denkfiguren in aktuellen links-emanzipatorischen Transformationstheorien
5.4.1Vier Bezugnahmen auf anarchistische Theorie
5.4.2Ambivalenzen in den Kernaspekten der Transformationstheorien
5.4.3Die partielle Adaption anarchistischer Konzepte
6.Zum paradoxen Politikbegriff im Anarchismus
6.1Die Erkenntnisse verdichten
6.1.1Rekapitulation der Kapitel
6.1.2Gedanken zur Quellenarbeit und dem verarbeiteten Material
6.1.3Gesellschaftliche Sphären als anti-politische Bezugspunkte
6.2Politische Philosophie, politische Theorie und politische Praxis im Widerspruch
6.2.1Anarchistische Synthese und paradoxaler Charakter des Anarchismus – ein Widerspruch?
6.2.2Politik der Autonomie als Chiffre für die Herstellung von Gemeinsamem in Vielfalt
6.2.3Die Pluralität und Heterogenität einer sozial-revolutionären Politik der Autonomie
6.2.4Anarchistische Versuche mit gesellschaftlich erzeugten Widersprüchen umzugehen
6.3Ausgangspunkte zum Weiterdenken
6.3.1Die Eröffnung von Konflikten, Spannungen und Differenzen im Anarchismus
6.3.2Einwände gegen das libertär-sozialistische Projekt
6.3.3Konsequenzen (nicht nur) für die politische Theorie des Anarchismus
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
•Da in den zitierten Passagen sehr häufig Kursivierungen auftreten, wird auf die übliche Ergänzung (»kursiv im Original«) verzichtet, sondern umgekehrt kenntlich gemacht, wenn Kursivierungen im Originaltext vorgenommen wurden.
•Wenn in Zitaten ein ergänzender Einschub verwendet wird, geschieht dies in eckigen Klammern: »[Einschub X.Y.]«. Da derartige Ergänzungen in der vorliegenden Arbeit immer von mir stammen und somit ersichtlich ist, wer die Ergänzung vorgenommen hat, wird auf deren gesonderte Kennzeichnung in den entsprechenden Zitaten verzichtet.
•Ebenso wird auf die Kennzeichnung indirekter Zitate mit »vergleiche« (»vgl.«) verzichtet, da ohne Anführungsstriche deutlich wird, dass es sich um ein indirektes Zitat handelt. Ein »vgl.« wird eingefügt, wenn eine zuerst zitierte Quelle mit einer weiteren, sekundären, ergänzt wird oder wenn die formulierte Aussage eher sinngemäß aus der zitierten Quelle abgeleitet werden kann. Wenn mehrere Quellen nach einem »vgl.« aufgelistet werden, gelten auch alle weiteren Texte als Vergleiche.
•Da ein Großteil des Quellenmaterials historische anarchistische Texte sind, wird bei ihrer ersten Nennung im Text vor der Jahreszahl in der vorliegenden Publikation, wo es sich anbietet, das Jahr der Erstveröffentlichung genannt. Dies dient dazu, den spezifisch-historischen Kontext besser vor Augen zu haben bzw. Entwicklungen und divergierende Positionen in derselben Zeit besser abbilden zu können. An einzelnen Stellen geschieht die Nennung der Erstveröffentlichung auch noch nachfolgend, wenn es für einen Vergleich an der entsprechenden Stelle für relevant gehalten wurde.
•Zitation im Folgenden, in denen lediglich das Jahr und keine Seitenzahl angegeben wird, verweisen auf die verwendeten nicht paginierten Online-Publikationen. Ich habe mich gegen die Angabe von Zeilen oder Abschnitten entschieden, weil dies mehr verwirren als verdeutlichen würde. Gelegentlich verweisen solche Zitationen auch auf kürzere Beiträge in Sammelbänden bzw. gesammelten Schriften, deren Kernaussage für das jeweilige Argument sich aus dem Beitrag insgesamt erschließt.
•In dieser Arbeit markiere ich eine Gender-neutrale Schreibweise durch die Verwendung eines klein geschriebenen Sterns (*). Diese Form habe ich nicht gewählt, um politische Korrektheit zu signalisieren, sondern aus der bewussten Entscheidung, das Vorhandensein anderer Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen und einen Ansatzpunkt zur Dekonstruktion von Geschlechtskategorien zu schaffen. Mit der kleineren Zeichensetzung soll die Lesbarkeit gewährleistet werden.
•Um dieses Anliegen zu unterstreichen, verwende auch die Schreibweisen »Anarch@-Syndikalismus« und »anarch@-kommunistisch«. Hierbei möchte ich nicht besonders innovativ wirken, sondern den Standpunkt zu vertreten, dass die Dekonstruktion von Geschlechtsidentitäten ein Beitrag für eine umfassende Gesellschaftskritik und -transformation ist. Dies zu betonen, scheint mir in der spezifisch-historischen Konstellation (und nicht aus prinzipiellen Gründen) notwendig.
Fig. 1:Hauptströmungen des Sozialismus
Fig. 2:Anarchistische Strömungen (ideengeschichtliche Darstellung)
Fig. 3:Gesellschaftliche Sphären und Bereiche als anti-politische Referenzpunkte
Fig. 4:Antagonistische gesellschaftliche Verhältnisse: in-gegen-jenseits von Herrschaftsverhältnissen
Fig. 5:Verhältnisse zwischen Anarchismus und Wissenschaft
Fig. 6:Das Politische vor der Zerreißprobe in liberal-demokratischen Verständnissen
Fig. 7:Das Spannungsfeld zwischen Politik und Anti-Politik in Anschluss an Newman (2010), ergänzt um die Bereiche »Strategie« und »Programm«
Fig. 8:Tendenzen des Strebens nach Autonomie
Fig. 9:Schematische Schritte des Strebens nach Autonomie
Fig. 10:Bezugnahme auf politische Logiken, Praktiken, Formen bei klassischen anarchistischen Denkern
Fig. 11: Politische und anti-politische Implikationen der Tendenzen des Strebens nach Autonomie
Fig. 12: Kontroversen und Spaltungslinien
Fig. 13: Überblick der Quellenanordnung im Kapitel 4
Fig. 14: Das anarchistische Konzept der sozialen Revolution im Verhältnis zu anderen Transformations-Modi
Fig. 15: Auffächerung der Paradoxie anhand von Aspekten der sozialen Revolution
Fig. 16: Ambivalente Aspekte in anarchistischen Transformationsverständnissen
Fig. 17: Grundbegriffe der politischen Theorie des Anarchismus
Fig. 18: Gefahr der Verselbstständigung anti-politischer Bestrebungen
Die politische Theorie des Anarchismus erscheint als eine kaum erforschte, auf jedem Fall kaum bekannte Landkarte. Wie der Anarchismus als Hauptströmung im Sozialismus insgesamt und die zahlreichen verstreuten anarchistischen Projekte, ist sie aufzuspüren, zu erarbeiten und zu diskutieren. Der akademische Kontext ist dafür von seiner Struktur und Form her keineswegs besonders geeignet. Dennoch habe ich mich entschieden, diesen Rahmen zu akzeptieren, um anarchistisches Denken in die Diskussion zu bringen und öffentlich dafür einzutreten.
Es wäre ebenso anmaßend wie verkehrt, damit zu behaupten, ich würde für »die« anarchistische Szene schreiben und sprechen. Selbstverständlich habe ich auch persönliche Ansichten und Erfahrungen. Um von Anfang an Missverständnisse zu vermeiden, vertrete ich im Folgenden eine bestimmte Sichtweise auf den Anarchismus. Diese lässt sich mit den Adjektiven pluralistisch, synthetisch, pragmatisch, materialistisch, anti-fundamentalistisch und undogmatisch, handlungsorientiert und akteurszentriert, konstruktiv und libertär-sozialistisch, populär und sozial-revolutionärcharakterisieren. Neben dieser Positionierung erstreckt sich meine Kompetenz hingegen auf die politische Theorie, mit welcher ich mich zum Nutzen für Aktive in emanzipatorischen sozialen Bewegungen beschäftige.
Erfreulicherweise scheint das Interesse am politisch-theoretischen Gehalt des Anarchismus inzwischen (wieder) an einigen Stellen zu wachsen, wie sich meines Erachtens nach beispielsweise an den Debatten über Intersektionalität, Zwischenräume, Präfiguration,direkte Aktionen oder Netzwerkorganisationen zeigt. Damit wird die Realität sozialer Bewegungen reflektiert, in denen anarchistische Praktiken und Narrative zwar keineswegs mehrheitlich vertreten sind, die darin aber einen festen Stand haben. Teilweise ist dies auch dem geschuldet, dass herkömmliche sozialistische Theorien erschöpft sind und sich neue Inspirationsquellen erschließen müssen. Schließlich hat wohl auch die jahrelange inhaltliche Arbeit einiger weniger Personen im deutschsprachigen Raum dazu beigetragen, anarchistische Samen zu sähen.
Bedauerlicherweise ist Aktiven in sozialen Bewegungen, politischen Denker*innen als auch anderweitig anarchistisch gesinnten Personen bislang häufig nicht bewusst, woher sich ihre Vorstellungen speisen und dass man sie in Begriffe fassen und ihnen eine Kohärenz verleihen könnte. Eine der grundlegendsten Leerstellen darunter ist der Politikbegriff des Anarchismus. Dies ist auch nicht verwunderlich, da man sich bei einer Beschäftigung mit dem Politikverständnis mittels anarchistischer Herangehensweise dem anstrengenden Brückenbauen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Zielen und Kapazitäten, Engagement und Wissenschaft, Ideologie und Theorie, der Benennung und dem Offenhalten spezifischer Inhalte widmen muss. Diese Tätigkeit ist voraussetzungsvoll, anstrengend und zeitaufwendig. Und die meisten Personen, die sich als Anarchist*innen bezeichnen, haben schlichtweg nicht die Voraussetzungen, können oder wollen derartige Anstrengungen nicht auf sich nehmen und ihre Zeit und Kraft lieber in unmittelbare Projekte stecken, als eine politische Theorie des Anarchismus zu erarbeiten.
Auch wenn ich das nachvollziehen kann, bin ich dennoch der Ansicht, dass es ebenfalls theoretische Tätigkeiten braucht, um anarchistische Projekte zu stärken und zu erneuern. Sich in dogmatischen Ideologiegebäuden verschanzen, in exklusiven und selbstbezüglichen Szenen oder der Rebellion und Solidarität aus dem Bauchgefühl heraus zu verschreiben, halte ich nicht für ausreichend. Zumindest nicht, wenn dies mit dem Anspruch einhergeht, die bestehende Gesellschaftsform grundlegend, umfassend und nachhaltig verändern zu wollen. Dies gilt auch, bzw. insbesondere, für Zeiten, in denen sich die gesellschaftlichen Arrangements ohnehin in einem massiven Wandlungsprozess befinden, autokratische Herrschaftsordnungen auf dem Vormarsch sind und die technologischen Voraussetzungen für einen neuen Totalitarismus ebenso erschreckend fortgeschritten sind, wie die Vereinzelung und Entfremdung der Subjekte. Obwohl Hoffnungen auf umfassende Emanzipationsprozesse systematisch zerstört werden, regt sich Widerstand gegen diesen rasenden Stillstand und die zerstörerische Spirale der Apokalypse, welche wir täglich erleben. Und innerhalb von diesem gibt es stark engagierte Menschen, deren Handeln und Denken von anarchistischen Erfahrungen und Überlegungen gespeist ist.
Der Anarchismus an sich bietet weder fertige »Lösungen« noch beinhaltet er die Macht, jene umzusetzen. Gleichwohl ist Anarchismus ein Begriff für ethische Haltungen, Organisationsvorstellungen und theoretische Konzepte, mit dem eine gesamtgesellschaftliche Transformation denkbar wird. Daher stehe ich voll dahinter, dass ich in meiner Arbeit wenig Antworten liefere, sondern dazu anrege, die Perspektive zu wechseln und neuartige Fragen zu stellen. Ein Denken in Paradoxien und Spannungsfeldern mag niemanden zufriedenstellen, die klare und zügige Handlungsanleitungen für die drängenden Probleme der Gegenwartsgesellschaft erwartet. Ich glaube es beinhaltet gerade deswegen eine Radikalität, mit der es möglich wird, gesellschaftlich bedingte Widersprüche nicht lediglich zu reflektieren und zu kritisieren, sondern Ansatzpunkte aufzuzeigen, um sie zu transzendieren.
Dass die politisch-theoretische Arbeit dabei wieder anwendungsbezogen in Organisationen, Aktionen, Strategien und Visionen sozialer Bewegungen zurück zu übersetzen ist, ist dabei selbsterklärend. Diese Übersetzungsarbeit ist übrigens auch Aufgabe von sich als »kritisch« verstehenden Intellektuellen selbst, die in ihren theoretischen Überlegungen sonst lediglich mit einer gewissen Biedermeier-Haltung des radical chic am Elfenbeinturm weiterbauen. Dagegen freue ich mich, wenn die Ergebnisse meiner theoretischen Tätigkeit als hilfreicher Werkzeugkoffer verstanden werden. Deswegen und auch aufgrund der Weise, wie ich die Inhalte erarbeitet habe, können alle Kapitel auch für sich genommen gelesen und die jeweiligen Einleitungen gegebenenfalls übersprungen werden. Warum Anarchist*innen meiner Erkenntnis nach trotz vehementer Kritik an ihr, letztendlich nicht von der Politik loskommen können, argumentiere ich allerdings erst im letzten Kapitel.
Mit dem vorliegenden Buch wird mehr erfüllt als die Veröffentlichungspflicht, welche mit dem Promotionsprozess verbunden ist. Es ist vielmehr Ausdruck einer anhaltenden Auseinandersetzung, eines kontinuierlichen und zugleich arrhythmischen Arbeitsprozesses und einer häretischen Intervention auf dem Feld der politischen Theorie. Ohne das Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung, welches ich wider Erwarten ab Herbst 2017 drei Jahre lang erhielt, hätte ich diese Dissertation nicht erarbeiten können. Das Zutrauen und das damit verbundene Privileg, waren Ansporn für mich, abseits der mir bekannten politischen Theorien meiner Leidenschaft zu folgen und mit der Erforschung des anarchistischen Denkens in diesem Fachgebiet etwas Seltenes zu wagen. Dabei wühle ich nicht ungefragt in Verborgenem herum oder zerre ans Licht, was sich der Sichtbarkeit zu entziehen sucht. Vielmehr betrachte ich und schätze wert, was schon alltäglich unter uns ist und beachtet werden sollte. Mein Untersuchungsgegenstand sind keine Personen, sondern Texte, Begriffe und Konzepte, denen dennoch nur Bedeutung zukommt, wenn sie von konkreten Menschen formuliert und gelebt werden.
Sowohl mit der Wahl des umfangreichen Themas und als auch mit meiner etwas wilden Arbeitsweise habe ich es mir nicht leicht gemacht. Die drei kumulativen Kapitel zu paradoxen Modi, Kontroversen und Konzepten geben jeweils inhaltlichen Stoff für eine ganze Dissertation. Dabei gab es nur wenige akademische Werke, an denen ich mich orientieren konnte, vor allem nicht in deutscher Sprache. Somit fand ich mich in der unerwarteten Situation wieder, relativ grundlegende methodische Überlegungen anzustellen, eine große Anzahl von Quellentexten zu studieren sowie einen eigenständigen theoretischen Ansatz zu durchdenken. Mein nicht oder geringfügig bezahltes Engagement als Referent, Lehrbeauftragter und persönliche Herausforderungen erschwerten die Überarbeitung des Buches, die ich nun abschließen konnte und wollte.
Wenngleich mir kein Perfektionsanspruch im Weg steht, hätte ich gerne eine größere Stringenz in der Argumentation sowie eine stärkere Kohärenz der Thesen umgesetzt und auf einige Exkurse verzichtet. Ich stehe zu dem, was ich produziert habe, weil ich zugeben kann, dass meine Stärke nicht im systematischen Denken, sondern in der Vermittlung zwischen Positionierung und Wahrheitssuche liegt. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Interessierte, die den Gehalt und Sinn meiner Arbeit an einer zeitgemäßen und anwendungsbezogenen politischen Theorie des Anarchismus verstehen, einzelne Unterthemen, Aspekte, Einsichten, Perspektiven und Fragen aus meinen Überlegungen aufgreifen und mit ihnen weiterarbeiten. Mit der Publikation dieses Buches gelangt meine wissenschaftliche Arbeit an diesem Thema endlich zum angestrebten Abschluss. Ich hoffe, dass sie für mich am Ausgangspunkt steht, um damit in anderen Bereichen wirksam zu sein.
Hinter meiner häufig einsamen Beschäftigung mit Lesen, Denken, Konzeptualisierung, Schreiben und Referieren stehen zahlreiche Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen mit verschiedenen Menschen. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang den Betreuern und Gutachtern meiner Arbeit Tilman Reitz, Jens Kastner und Daniel Loick sowie einigen Mitarbeiter*innen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die dazu beitrugen, mein kritisches Denken zu entwickeln, darunter Jörg Oberthür, Joris Gregor und Andreas Braune. Ebenfalls danke ich den zahlreichen Studierenden, welche meine Seminare besuchten, mit denen ich einige gute Gespräche führen und meine Rolle als Seminarleiter einüben konnte. Stellvertretend danke ich auch Marcus Hawel von der RLS, der Autodidaktischen Initiative Leipzig sowie jenen Autor*innen auf deren besessene Arbeit an und mit anarchistischen Publikationen ich zurückgreifen konnte: unter anderem Jürgen Mümken, Philippe Kellermann, Gabriel Kuhn und Siegbert Wolf.
Ohne meine Genoss*innen und Freund*innen hätte ich nicht die richtige Einstellung entwickelt und ohne die jetzigen wäre ich nicht dabeigeblieben: darunter Anne, Kilian, Clemens, Thomas, Konsti, Ingo, Almuth, Felix, Alex, Marcel, Georg, Luzie, Anne, Annabel, Claudius, Jan, Teresa, Volker, Swantje, Tini, Chris, Hanni, Benni, Hannes, Georg, Lewin, Jule, Chrissi, Jessica, Mo, Aaron, Klara und sicherlich noch einige andere. Für den inhaltlichen Austausch in den letzten Jahren möchte ich darüber hinaus insbesondere auch bei Martin, Miko, Christian, Ferdinand, Thomas, Theresa, Shima, Alex und Malte bedanken.
Außerdem freue ich mich sehr, dass Hartmut Kiewert das Titel-Bild für dieses Buch gezeichnet hat. Ich danke auch meinen Eltern und Geschwistern, die einen durchaus anderen Lebensstil als ich pflegen und meine Sichtweisen nur bedingt teilen. Ihre grundsätzlich unterstützende Haltung, darin, dass ich meinen eigenen Weg finden werde, sehe ich nicht als selbstverständlich an. Und schließlich gilt mein Dank auch all denjenigen, die mich in den letzten Jahren zu Veranstaltungen eingeladen haben sowie allen, mit denen ich dabei gute Gespräche führen konnte. Ich komme gerne wieder vorbei. Für Rückmeldungen, Nachfragen und Einladungen bin ich erreichbar unter:[email protected].
Leipzig, Oktober 2023
Kaum ein Begriff ist im Alltagsverstand mit derart weitem und diffusem Bedeutungsgehalt aufgeladen und zwischen Intellektuellen verschiedener Lager so umkämpft wie jener der Politik. Eine lästige Eigenschaft von Politik ist, dass sie sich aufdrängt: Sie macht sich unentbehrlich, wenn man die eigene Lebensumgebung und die Gesellschaftsform insgesamt verändern will und muss. Statt auf »die Politiker« zu schimpfen, um im nächsten Satz zu äußern, dass sich »die Politik« endlich um die ausgemachten Probleme kümmern solle, gilt es die Dinge mit den eigenen Händen zu ändern. Verstörend ist, dass es auch mit einer solchen Einstellung unumgänglich scheint, sich bisweilen auch mit Politik auseinanderzusetzen.
Doch auch wer sich mit der politischen Theorie des Anarchismus zu beschäftigen beginnt, stößt rasch auf eine grundlegende Leerstelle: Wenngleich Politik im Anarchismus kaum theoretisiert ist, ruft der Begriff wilde Assoziationen bei anarchistisch gesinnten Personen hervor. Dies ist nicht verwunderlich, bedeutet Politik zu definieren doch, sich in Auseinandersetzungen zu begeben, die für viele Menschen unangenehm sind. Es meint weiterhin, Projekte zu skizzieren und Perspektiven zu benennen, für die bestimmte Positionen stehen. Analog dazu verlangt eine Definition politisch-theoretischer Begriffe im anarchistischen Denken, sich in Widersprüche zu begeben, die anstrengend sind und in welchen man sich allzu leicht verstricken kann. So besteht im Anarchismus eine spezifische Kritik der Politik bei gleichzeitiger Bezugnahme auf diese. Er schwankt zwischen der Notwendigkeit, gelegentlich radikaler Politik nachzugehen, und ausgeprägten anti-politischen Tendenzen. Diese Ambivalenz zu untersuchen und sie als unauflösbare Paradoxie zu begreifen, ermöglicht tiefgehende Einsichten in das anarchistische Denken und Handeln insgesamt. Mit diesem Buch habe ich dazu einen Beitrag verfasst, welcher in dieser umfassenden Weise bisher nie erarbeitet wurde.
Mit der Herangehensweise, dass ich valide Aussagen in einer spezifisch-wissenschaftlichen Rationalität treffen werde und mich dem Gegenstand zugleich so offen, tastend und neugierig wie möglich widmen möchte, ist diese Darstellung ein spezifisches Produkt ihres Kontexts und ihrer Zeit: der westeuropäischen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform des frühen 21. Jahrhunderts. Die ernsthafte und involvierte Beschäftigung mit der politischen Theorie des Anarchismus ist eine schwindelerregende Gratwanderung. Wenn ich diese über das Buch hinweg gehe, dann um Brücken zu bauen, wo in apokalyptischen Zeiten Gräben aufgerissen werden: Zwischen Wissenschaft und Engagement, zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Feststellung, zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen den Flügeln emanzipatorischer sozialer Bewegungen und zwischen den divergierenden Strömungen eines nach Autonomie strebenden libertär-sozialistischen Projektes.
Meine Beschäftigung mit dem Politikbegriff des Anarchismus ist von einem ganzen Bündel an großen Fragen motiviert. Sie mögen für Außenstehende zunächst phrasenhaft wirken, aber ich versichere, dass mit ihnen bestimmte Inhalte transportiert werden. Solche Fragen sind beispielsweise:
•Wie kann ein pluralistisches und sozial-revolutionäres (anti-)politisches Projekt zeitgemäß theoretisiert werden?
•Welche Voraussetzungen hat die Organisation eines solchen Bündnisses von emanzipatorischen sozialen Bewegungen und von unter der gegenwärtigen staatlich-kapitalistischen Herrschaftsordnung leidender sozialer Klassen und Gruppen?
•Wie sehen die Ideologie, Organisation, Strategie, Programmatik, Utopie und Ethik eines libertär-sozialistischen Projektes aus und wie können sie gestaltet werden?
•Wie können in einem Netzwerk von (anti-)politischen Gruppierungen, die sich auf verschiedene Weisen in sozialen Auseinandersetzungen mit den Herrschaftsverhältnissen befinden, gemeinsame Grundlagen herausgearbeitet werden?
•Und wie kann dies prozesshaft geschehen, ohne dabei die Autonomie, Dezentralität, den Föderalismus, die Freiwilligkeit und Horizontalität als Grundprinzipien libertär-sozialistischer Organisierung zu verletzen?
•Inwiefern kann dieses Vorhaben die Keimzellen einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform in sich bergen und diese präfigurativ in seinen Praktiken, Organisationsformen und Stilen vorwegnehmen?
Radikale, umfassende und anhaltende Gesellschaftstransformation ist im Wesentlichen kein spektakuläres Abenteuer, welches mit den Versprechungen und Möglichkeiten der kapitalistischen Konsumgesellschaft, den Produktionen der Unterhaltungsindustrie und neoliberalen Selbstverwirklichungsimperativen abgeglichen werden könnte. Vielmehr ist ihr Maßstab das langweiligste, unerfüllte, ethisch-utopische Anliegen der Welt: dass allen Menschen bedingungslos die Möglichkeit zukommen soll, ihr Leben in Würde und Absicherung selbst zu gestalten, ohne dass dies anderen streitig gemacht wird und die Voraussetzungen dafür erodiert werden. Dieses Anliegen beruht auf der anarchistischen Prämisse, dass gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaft1 vorstellbar, machbar und erstrebenswert ist.
Die historisch-gesellschaftliche Konstellation ist von zahlreichen Konflikten bestimmt und zwar zeitgleich an vielen Orten auf dem Planeten. Klassengesellschaft, enorme Ungleichheitsverhältnisse in Hinblick auf die Verfügung über Ressourcen und politische Partizipation, der staatliche Autoritarismus, tödliche Grenzregime, das Patriarchat, weiße Vorherrschaft und ökologische Zerstörung sind nicht zu leugnende soziale Tatbestände, deren Legitimität und/oder Unvermeidlichkeit zweifellos sehr unterschiedlich bewertet werden. Zugleich formierten sich seit der Jahrtausendwende mehrere wirkmächtige emanzipatorische soziale Bewegungen, deren Rhetorik, Forderungen und Distanzierung von bestehenden politischen Institutionen eine neue Qualität aufweisen. Sicherlich brachten bspw. die Autonomen und Punks der 1970er bis 1990er Jahre eine deutlichere Absage an »das System«, eine »Politik der ersten Person«, neue Formen der Selbstorganisation2 und die Do-it-yourself-Kultur hervor. Trotz ihrer Bedeutung für soziale Bewegungen und z.B. den Erfolgen der Anti-AKW- und der Jugendzentrumsbewegung blieben sie damit marginal. Demgegenüber haben die globalen feministischen, antirassistischen und Klimabewegungen der letzten 20 Jahre einen festeren Platz in der Debatte um gesellschaftliche Transformationsprozesse.3
Wirft man einen Blick auf die beachtlichen Demokratiebewegungen im arabischen Raum 2011, in Spanien, Griechenland und den USA 2011/2012, im Iran 2017/2018 und 2022, im Sudan 2019, in Chile 2019/2020 und in Hongkong 2019/2020, in Belarus, Russland und im Libanon 2020 oder in Myanmar und Kolumbien 2021, wird deutlich, dass diese im Zuge einer Zunahme des staatlichen Autoritarismus weltweit zu sehen sind. Gleichwohl handelt es sich hierbei nicht allein um Abwehrkämpfe, sondern ebenso um Bestrebungen, die Aspekte einer potenziell möglichen Gesellschaftsform beinhalten, die libertär-sozialistischen Vorstellungen entspricht. Dort, wo die Konfrontationen mit bestehenden Herrschaftsordnungen deutliche Konturen annehmen, entstehen im radikalen Flügel emanzipatorischer sozialer Bewegungen immer wieder Strömungen, deren Inhalte, Stile und Praktiken als anarchistisch beschrieben werden können. Dies betrifft nicht allein oder vorrangig Organisations- und Aktionsformen, vielmehr auch lebensweltliche und theoretische Aspekte. Großerzählungen und Visionen, nach welchen »alles« im Rahmen einer »gesellschaftlichen Totalität« verändert werden könne, gelten heute als illusorisch. Demgegenüber erscheint im anarchistischen Denken die von Adorno verkürzt entlehnte, rhetorische Feststellung, »[e]s gibt kein richtiges Leben im Falschen« (Adorno 2014: 43, vgl. sinngemäß auch die Herangehensweise von Mark Fisher 2009) als unsinnig. Denn sie führt zur Diskussion darüber, was das richtige oder gute Leben auszeichnet, wer daran teilhaben kann, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen dies geschieht und konsequenterweise dazu, wie diese kritisiert und verändert werden können, um bessere Bedingungen für »richtigere« Leben zu erkämpfen (vgl. Butler 2018c). Mit dem Anarchismus gilt es für eine lebenswerte Gesellschaftsform zu streiten, die präfigurativ in der Distanzierung von der staatlich-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft entdeckt und ausgeweitet wird. Nach dem Niedergang des »realen Sozialismus«, der neoliberalen Einhegung der Sozialdemokratie, dem Scheitern verschiedener linker Staatsprojekte sowie der Erschöpfung althergebrachter kommunistischer Ideologien, verbleibt der Anarchismus im 21. Jahrhundert als Inspirationsquelle für sozial-revolutionäre Bestrebungen. Damit ist die Sehnsucht nach einer potenziell anderen Gesellschaftsform gemeint, die mit dem Meta-Narrativ libertärer Sozialismus bezeichnet werden kann.
Anarchistische Gruppierungen und Netzwerke bestehen heute weltweit und mischen sich in die vorhandenen sozialen Auseinandersetzungen ein. Ebenso wichtig ist, dass Anarchie – gelegentlich dem Wort, aber v.a. dem Inhalt nach – als Fluchtlinie und Bezugspunkt für große Teile diffuser links-emanzipatorischer Szenen dient. Gleichwohl bleibt dieser nur fragmentarisch beschriebene leere Signifikant größtenteils unbestimmt und oftmals auch unbewusst. Welche Herausforderungen damit einhergehen, zu beschreiben, was der real-existierende Anarchismus eigentlich ist, eine Gemeinsamkeit in Vielfalt zu entwickeln und eine Kontinuität zwischen anarchistischer Tradition und gegenwärtigen sozialen Kämpfen herzustellen, zeigte sich mustergültig beim Internationalen Anti-Autoritären Treffen in der Schweiz im Juli 2023 (Kuhn 2023, Eibisch 2023a).
Zweifellos ist die reale Macht der radikalen Flügel emanzipatorischer sozialer Bewegungen gegenwärtig äußerst begrenzt. Zumindest, wenn man sie nach einer militärischen Logik ins Verhältnis zu repressiven Staatsapparaten setzt, sie mit der Macht politischer Parteien auf der Ebene des etablierten politischen Systems vergleicht oder sie anhand der organisierten Klassenmacht von ausgebeuteten und unterdrückten sozialen Klassen4 gegenüber der gesellschaftlichen Elite5 bemisst, welche mit Recht als ökonomisch und politisch herrschende Klasse bezeichnet werden kann. Dies spricht jedoch keineswegs dagegen, den ethischen Standpunkt der prinzipiellen Überwindbarkeit der gesellschaftlichen Antagonismen einzunehmen, wie es Anarchist*innen tun.
Die zeitgenössische Gesellschaftsformation ist nicht allein durch Klassenlagen und nationalstaatliche Grenzziehung, durch die Ungleichbehandlung von Geschlechtern oder die Unterwerfung des nicht-menschlichen Lebens gespalten. Darüber hinaus finden sich weltanschaulich-ideologische Differenzen, solche zwischen verschiedenen Ausprägungen einer multiplen Moderne, wie auch weitere herkömmliche Unterschiede, seien sie kulturell gewachsen oder sozial-strukturell ausgeprägt, wie bspw. jener zwischen Urbanität und Ruralität. Die ungebrochene Verbreitung der liberalen Individualisierung und die materielle und psychische Befriedung der Bevölkerung mittels Unterhaltungsindustrie und Konsummöglichkeiten erschweren es zusätzlich, eine größere Zahl unterschiedlicher sozialer Gruppen zu einem – nicht formal bestimmten, sondern real praktizierten – gemeinsamen sozial-revolutionären Projekt zu bewegen. Erschwerend wirken ferner die Weiterentwicklung von Überwachungs- und Kontrollmechanismen sowie die veränderte Rolle von politisch vermittelnden NGOs bzw. deren Vereinnahmung mittels neoliberaler Regierungstechnologien.
Auf der anderen Seite ist in inhaltlicher Hinsicht spätestens seit den 2010er Jahren eine zunehmende intersektionale Überschneidung6 verschiedener Themenfelder und sich an ihnen orientierender sozialer Bewegungen zu konstatieren. Dies betrifft zunächst die Unterdrückungs-Achsen von class, race und genderund kann analog auch auf die Überschneidungen verschiedener »thematischer« sozialer Bewegungen wie bei Feminismus, Antirassismus, Klassenkämpfen, Klimagerechtigkeit etc. gesehen werden. Diese Schnittstellen finden sich ebenfalls bei zeitgenössischen »Aktivist*innen«7 und ihren Gruppierungen. Eine Ausrichtung auf gemeinsame konkret-utopische Fluchtpunkte kommt dabei allerdings oft nicht über verbalradikale Bekenntnisse, die zur Selbstvergewisserung dienen, hinaus.8 In diesem Zusammenhang kann die Frage aufgeworfen werden, ob der Anarchismus seinem Inhalt nach das Potenzial aufweist, als Kristallisationspunkt verschiedener emanzipatorischer sozialer Bewegungen mit ihren jeweiligen Themengebieten, historisch gewachsenen politischen Traditionen und global unterschiedlichen Kontexten zu dienen. Dass derartigen spekulativen Überlegungen reale Kapazitäten und Grenzen entgegenstehen, sei hierbei dahingestellt. Denn eine solche Begrenzung festzustellen, macht diese Frage nicht weniger berechtigt, sondern lädt vielmehr zur sachlichen und kritischen Diskussion darüber ein.
Um diesem Anliegen ansatzweise nachgehen zu können, gilt es, Gemeinsamkeiten im Lager der potenziell sozial-revolutionären und emanzipatorischen (anti-)politischen Kräfte herzustellen, die realistischerweise nur auf der Differenz der beteiligten Akteur*innen und Strömungen beruhen können. Dies bedeutet keineswegs, ihre Unterschiede zu leugnen, sondern sie in produktiven und respektvollen Streiten zu verhandeln. Im Hintergrund des hier verfolgten Ansatzes geht es damit nicht um die Herausbildung eines kleinsten gemeinsamen Nenners von sich auf welche Weise auch immer als »links« verstehenden Akteur*innen, die von einer Partei angeführt und von avantgardistischen Aktivist*innengruppen flankiert werden müssten, sondern um ein verflochtenes Netzwerk von nach Autonomie9 strebenden emanzipatorischen sozialen Bewegungen und Gruppierungen. Mit anderen Worten geht es nicht um eine auf Politik im herkömmlichen Sinne ausgerichtete »Mosaik-Linke«, die »radikale Realpolitik« zu praktizieren beansprucht, sondern um eine pluralistische Politik der Autonomie.
Bereits bei einer geringen Kenntnis des Anarchismus als Bündel von Lebensformen, sozialen Bewegungen und politischen Theorien (vgl. Timm, in: Bartsch 1973: 323, Ward 1973/1996: 21–28, Graeber 2009: 215, Loick 2017: 11–14) springt dessen eigenwillige Heterogenität ins Auge. Im Schema unten wird die Pluralität des Anarchismus anhand einer ideengeschichtlich angelegten Unterscheidung seiner Strömungen verdeutlicht (→ Fig. 2). Bei oberflächlicher Betrachtung erscheint der Anarchismus als enorm widersprüchlich. Dies betrifft sowohl den klassischen Anarchismus, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts niederging, wie seine neueren Varianten, die im Zuge der globalen sogenannten 68er-Bewegung aufkamen. Alle Versuche, den Anarchismus ideologisch zu homogenisieren oder organisatorisch zu vereinen, scheiterten bis dato. Zugleich überschneiden sich seine parallel zueinander bestehenden Strömungen immer wieder und kommt es beständig zu Begegnungen und Austausch zwischen ihren jeweiligen Anhänger*innen – und dies trotz aller Identitäts-bezogenen Abgrenzungen, trotz aller dogmatischer Lehren und grundsätzlicher Kritik aneinander. Somit handelt es sich bei der Pluralität im Anarchismus um ein echtes, erklärungsbedürftiges soziales und politisches Phänomen. Wenn Pluralität und Heterogenität zudem als Merkmale des Anarchismus angesehen werden können, bedeutet dies, dass sich aus ihrer politisch-theoretischen Untersuchung bedeutende Einsichten über seinen grundlegenden Charakter gewinnen lassen.
Diese Spezifika sind nicht als ahistorische oder essentielle Eigenschaften zu verstehen, sondern im Zusammenhang mit den historisch-spezifischen Gesellschaftsformationen, sich verändernden Herrschaftsordnungen, politischen Konstellationen und kulturellen Prägungen zu erfassen. Von bestimmbaren Charakteristika des Anarchismus auszugehen, ist möglich ohne diesem eine Essenz zu unterstellen, wenn sich spezifische Phänomene, Diskurse und Praktiken wiederholt und in variablen Kontexten beobachten lassen.
In diesem Sinne wurde bisweilen geäußert, dass die Popularität des Anarchismus in den radikalen Flügeln emanzipatorischer sozialer Bewegungen gerade auf seiner inhaltlichen Unschärfe und Unverbindlichkeit beruhe und damit einer »postmodernen Beliebigkeit« entspräche. Dem ist insofern zuzustimmen, als dass politische Projekte stets an vorhandene Lebensstile und Gedankenwelten anknüpfen müssen, wenn sie popularisiert werden sollen. Sozial-revolutionäre Bestrebungen integrieren daher immer auch popkulturelle Elemente oder im Alltagsverstand verschiedener Bevölkerungsgruppen verankerte Konzepte, spiegeln diese wider und versuchen sie zugleich subversiv zu wenden, wodurch sich ihre Kohärenz reduziert.
Darüber hinaus erscheinen sowohl Dogmatismus wie auch Romantizismus als Kehrseiten jener modernen Gesellschaftsformen, welche die einzelnen Subjekte auf sich selbst zurückwerfen. In ihnen werden Gefühle des Mangels und der Unsicherheit genährt sowie kollektiv herzustellende Sinn-Erfahrungen, aufgrund der Tendenz zur Reduktion von Lebensqualität auf kapitalistische Verwertbarkeit, fortwährend nivelliert. Dogmatismus und Fundamentalismus, Romantizismus und Irrationalismus sind Modi, mit denen Individuen und Gruppen ihre psychische und soziale Integrität – entgegen gravierender Anfechtungen durch widersprüchliche gesellschaftliche Anforderungen, unsichere Zukunftsaussichten und sich ihrer Handlungsmacht entziehender, fremdbestimmter Lebensumstände – herzustellen und zu wahren versuchen.
Interessanterweise ist wiederum gerade die Gedankenwelt des Anarchismus von historisch gewachsenen – und kontinuierlich reproduzierten – dogmatischen und romantischen Fragmenten und Strängen durchzogen. Wenn Heterogenität und Pluralität aus politisch-theoretischen Gründen ebenso wie aus der Beobachtung des Anarchismus als seine Charakteristika angenommen werden, kann vermutet werden, dass er potenziell als Antidot gegen die dogmatische oder romantische Verkennung der Widersprüchlichkeit und Komplexität der bestehenden Gesellschaftsform wirken kann. Das daraus hervorgehende zielgerichtete, aber zugleich offen gehaltene, multidimensionale Handeln in gesellschaftlichen Widersprüchen und komplexen sozialen und politischen Konstellationen kann als anarchistischer Pragmatismus10 bezeichnet werden. Mit diesem wird sich an vorhandenen Bedingungen orientiert und abgearbeitet, zugleich aber über sie hinausgedacht und außerhalb von ihnen gehandelt.
Dennoch ist der Anarchismus nicht als agonales politisches Projekt neben anderen zu verstehen. Er geht nicht im Rahmen der liberalen Demokratie auf – in jenen Ländern und gesellschaftlichen Sphären, wo diese überhaupt besteht. Er wird nicht auf einem »Warenmarkt der Ideen« als mehr oder weniger alternatives oder innovatives Konzept gehandelt, sondern von seiner überschaubaren Zahl an Anhänger*innen als Überzeugung verstanden; als Überzeugung, die aus persönlichen Erfahrungen in einer durch Herrschaftsverhältnisse und -praktiken durchzogenen und geformten Gesellschaftsformation hervorgeht. Jener wird die Vorstellung entgegengestellt, dass eine andere Welt möglich und darüber hinaus bereits an vielen Orten in Ansätzen vorhanden sei, wodurch ein direktes Handeln im Hier und Jetzt motiviert wird. Offenzulegen, dass sich eine derartige weltanschauliche Positionierung in letzter Instanz einer rationalen Begründung entziehen muss, weil sie – neben anderem – aus einer subjektiven Strategie der Weltbewältigung oder auch durch die »Anverwandlung von Weltausschnitten« zur Stiftung gelingender »Weltbeziehungen« (Rosa 2013: 10)11 erfolgt, diskreditiert den Anarchismus nicht als bestimmte politische Ideologie. Vielmehr wird damit ein wichtiger Aspekt transparent gemacht – und damit diskutier- und verhandelbar –, welcher ihm generell eigen ist. Gerade jene, die sich für nicht-ideologisch halten, verweigern sich den Möglichkeiten über Ideologie zu reflektieren und sie intentional zu gestalten. Denn gegen die in diesem Zusammenhang aufscheinende Dimension der Entfremdung wenden sich Anarchist*innen ebenso wie gegen jene der Unterdrückung,Ausbeutung und Zerstörung, die sie als Folgen von Herrschaftsordnungen ansehen. Eine weitere Gleichzeitigkeit besteht im Anarchismus einerseits in der schlichten Reduzierung auf die Formel, jede Form von Herrschaft überwinden zu wollen, und andererseits im Bewusstsein über die Komplexität realer Herrschaftsverhältnisse, in ihren mannigfaltigen und schwer zu greifenden, klassenbasierten, institutionellen, bürokratischen, ideologischen und subjektiven Ausprägungen, die Menschen in soziale Hierarchien zueinander setzen.
Mit dieser Ausgangsbasis kann der Anarchismus als politische Ideologie und Weltanschauung12 verstanden werden, die sich im Wesentlichen als Hauptströmung des Sozialismus (→ Fig. 1) Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa formierte, auch wenn als anarchistisch oder anarchisch interpretierbare Traditionen, Organisations- und Lebensformen durchaus auch in früheren und nicht-westlichen Gesellschaftsformen auftraten.13 Die – insbesondere ausgehend von Pierre Clastres (1976) verbreitete – ethnologische Herangehensweise, den Anarchismus in egalitären Beziehungen (Lenz/Luig 1990, Haude/Wagner 2019) oder der vehementen Ablehnung von und der Flucht vor Staatlichkeit (Scott 2020, Scott 2009) in vormodernen Gesellschaft festzumachen, müsste an anderer Stelle ausgiebig diskutiert werden, verfolge ich in dieser Arbeit jedoch nicht. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Anhänger*innen des Anarchismus für eine alternative Moderne eintreten, in welcher Freiheit und Gleichheit miteinander realisiert werden, allen Menschen die Bedingungen für ihre Selbstbestimmung und Selbstentfaltung ermöglicht wird und Selbstorganisation und Selbstverwaltung in föderierten, dezentralen, freiwilligen und autonomen Kommunen praktiziert wird. Anarchist*innen wehren sich aus prinzipiellen Gründen gegen ihre Vereinnahmung und Vereinheitlichung. In ihrer vehementen Ablehnung von reinen Lehren oder letzten Wahrheiten, ihrer Kritik an Führung, ihrer Abwehr von formellen hierarchischen Strukturen und bezahlten Funktionär*innen; in ihrer Betonung von eigener Erfahrung, Individualität und Subjektivität und einer als notwendig erachteten Umsetzung von bestimmten Standpunkten in gelebten Alltagspraktiken, gleicht die anarchistische Bewegung – in einer Analogie bzw. Wahlverwandtschaft – einer Freikirche des Sozialismus.14 Die Herausbildung und gleichberechtigte Aushandlung von geteilten Grundlagen stellt sich für die Anhänger*innen des Anarchismus allerdings weit schwieriger dar, als etwa für freikirchliche Gemeinschaften. Es kann im Anarchismus per Definition kein gemeinsames Grundlagenprogramm, keine einheitliche Organisation oder eine allgemein akzeptierte Führungsspitze geben. Stattdessen orientieren sich die verschiedenen Menschen in ihm anhand eines inhaltlich bestimmten, aber gleichwohl offengehaltenen und umstrittenen Sets an ethischen Werten, organisatorischen Prinzipien, theoretischen Konzepte und Kriterien für anarchistische Taktiken, von denen ich einige in einem Schema im letzten Kapitel vorschlage (→ Fig. 17). Die Orientierung an einem derartigen Begriffsset ist deswegen erforderlich, weil sich der Anarchismus, wie erwähnt, nicht hauptsächlich oder vorrangig als politisches Projekt manifestiert und seine Anhänger*innen Politik oftmals mit ausgeprägter Skepsis begegnen.
Diesen Eindruck kann man auch in den lokalen Zusammenhängen einer anarchistisch geprägten »linken Szene« gewinnen. Unter »keine Politik machen« werden in explizit anarchistischen Gruppierungen gemeinhin so unterschiedliche Dinge verstanden wie u.a. sich nicht an selbstreferenziellen (postautonomen) Kampagnen zu beteiligen; keine vorrangig auf Medienecho zielende Symbolpolitik zu betreiben; nicht mit politischen Parteien zu kooperieren oder Hoffnungen in Gespräche mit Politiker*innen zu setzen; keine Themen singulär und ohne die Einbettung in Gesellschaftskritik zu bearbeiten; keine bezahlten Posten zu schaffen; nicht direkt oder indirekt Wahlkämpfe zu unterstützen; keine Petitionen einzureichen und zu verbreiten oder den Erfolg der eigenen Aktivitäten an ihrer Anerkennung durch linke Organisationen zu messen. In anarchistischen Kreisen ist eine problematisierende Diskussion von »Politik« vorhanden und strahlt von diesen in linke Szenen aus. Insofern kann angenommen werden, dass diese Skepsis umfassender mit der anarchistischen Tradition verknüpft ist.
Fig. 1: Hauptströmungen des Sozialismus
vgl. Holloway 2002: 11-18, Kuhn 2016, Wright 2017: 12, 418, 435-452
Fig. 2: Anarchistische Strömungen (ideengeschichtliche Darstellung)
vgl. Zenker 1895, Nettlau 1925, Woodcock 1962, Oberländer 1972. Stowasser 1995, Marshall 2008, Ward 2004, Ramonet 2013, Graham 2005/2009/2013, Loick 2017, Levi/Adams 2018
Diese Dissertationsschrift stellt eine hauptsächlich auf Quellentexten basierte, vorrangig politisch-theoretische Untersuchung über die genaueren Gründe – bzw. Begründungen – für die anti-politischen Aussagen im Anarchismus dar. Mit ihnen kann der Frage nachgegangen werden, welche Verständnisse von Politik im Anarchismus überhaupt vorhanden sind und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Erste Eindrücke finden sich bereits in Texten des klassischen Anarchismus.
So schreibt der anarchistische Intellektuelle Volin in seiner Reflexion über den Verlauf der russischen Revolution und die Vernichtung des Anarchismus durch die Bolschewist*innen: »Nach der anarchistischen Konzeption sollten die ökonomischen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft verändert werden, und zwar ohne Zuhilfenahme irgendeines Staates, einer Regierung, einer ›Diktatur‹; der Anarchismus wollte also, nach dem Sturz der letzten kapitalistischen Regierung, die Revolution durchführen und ihre Probleme lösen, ohne das Mittel der Politik und des Staates, sondern mit Hilfe einer natürlichen und freien ökonomischen und sozialen Aktivität der Assoziationen der Arbeiter selbst« (Volin 1947/1983a: 142). Henry David Thoreau trifft die Aussage: »Was man Politik nennt, das ist vergleichsweise etwas so Oberflächliches und Unmenschliches, daß ich praktisch niemals bemerkt habe, daß sie mich überhaupt angeht« (Thoreau 1849/2010b: 60f.). Max Stirner konstatiert, Schriftsteller füllten »ganze Folianten über den Staat an […], ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen [strotzen] von Politik […], weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im ›Menschtum‹ usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen« (Stirner 1845/2008: 47). In seinem Text Das Prinzip der Föderation formuliert Pierre-Joseph Proudhon, in der Politik existiert
»die Prinzipientreue nur als Ideal, während die Praxis Kompromisse jeder Art eingeht. Daher ist […] die Regierung trotz bestem Willen und aller erdenklichen Tugend […] eine zweideutige Schöpfung […]. Keine Regierung entgeht diesem Widerspruch. […] Da so die Willkür fatalerweise in die Politik eindringt, wird bald die Korruption zur Seele der Macht, und die Gesellschaft wird ohne Einhalt gnadenlos auf die nie endende abschüssige Bahn der Revolution getrieben« (Proudhon 1863/2017: 53f.).
Sein sozial-revolutionärerZeitgenosse Joseph Déjacque schreibt:
»Man darf sich keine Hirten geben, wenn man nicht Herde, keine Regierenden, wenn man nicht Sklave sein will. Weg mit der Regierung und diesen verderblichen Ambitionen […]. Weg mit diesen Kandidaten – Akrobaten, die auf dem Seil der Glaubensbekenntnisse tanzen, mit dem rechten Fuß für diesen, dem linken Fuß für jenen. Weg mit diesen politischen Taschenspielern, die mit den drei Worten der republikanischen Devise, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, jonglieren wie mit drei Kugeln […] um sie dann […] verschwinden zu lassen. Weg mit diesen Gauklern der öffentlichen Angelegenheiten, die […] uns seit soviel Jahren den gleichen Paraden beiwohnen lassen […]« (Déjacque 1854/1980a: 37).
Johann Most führt diesen Gedanken in Ablehnung der Bestrebungen zur Errichtung eines sozialistischen »Volksstaates« fort. So wurden die sozialistischen Vorstellungen »nicht eher besser, als bis auch in dieser Beziehung anarchistische Gedanken in die Debatten drangen. Von da ab wurde gezeigt, daß man nicht ein ›schlaue‹, eine Opportunitäts-, Zukunfts- oder wenn es hoch kam, ›revolutionäre‹ Politik zu treiben habe, sondern daß man mit der ganzen Politik aufräumen müsse« (Most 1899/2006Ab: 58f.). Hinsichtlich der Diskussion über die feministische Forderung nach der Einführung des Frauenwahlrechts äußert Emma Goldman:
»Ich glaube nicht, dass die Frau die Politik schlechter machen wird; aber ich kann auch nicht glauben, dass sie sie verbessern kann. Warum also auf einer solchen Gesetzgebung bestehen, wenn die Frau die Fehler des Mannes ohnehin nicht korrigieren kann? […] Die Geschichte der Bemühungen des Menschen in der Politik zeigt, dass ihm diese überhaupt nichts gebracht haben, was er nicht auch auf direkterem Wege, zu einem geringeren Preis und für einen längeren Zeitraum hätte erreichen können. Tatsache ist, dass er sich jeden Zentimeter Boden hart und ausdauernd erkämpfen musste und zwar durch einen endlosen Kampf für Selbstbehauptung, nicht durch das Wahlrecht« (Goldman 1911/2013d: 177f.).
Auch der Insurrektionalist Luigi Galleani formuliert einen anarchistischen Gemeinplatz: »Contrary to electoral and parliamentary action, which requires disciplined authoritarian organizations, anarchists favour direct action by the workers and abstention from political activity« (Galleani 1982: 13). Ein Vordenker des Anarch@-Syndikalismus, Fernand Pelloutier, hält fest, angesichts »ihrer zunehmenden Schwächung und ihrer erfolglosen Bemühungen, die Politik, die vor allem für den einzelnen von Interesse ist, mit der Wirtschaft zu verbinden, die von gesellschaftlichem Interesse ist, begriffen die Gewerkschaften schließlich […], daß ihre Spaltung eine tiefere Ursache hatte als die Gegensätze zwischen den Politikern und das eine wie das andere […] aus der Politik herrührte« (Pelloutier 1895/1973: 320). Sein Kollege Émile Pouget pflichtet ihm bei und meint, es sei »unmöglich, zwischen dem Kampf der Gewerkschaften und der Teilnahme am traurigen Geschäft der Politik eine Parallele zu ziehen – geschweige denn, beide zu verwechseln« (Pouget 1904/2014b: 90). Und der kommunitär orientierte Gustav Landauer benutzt in Anlehnung an Friedrich Nietzsche ab 1897 den Begriff »Antipolitik« um seine Position zu bezeichnen. Politik ist für ihn »primär staatsbezogenes Handeln« und der Staat ein »künstliches, autoritäres Gebilde« und Verhältnis (Landauer 2008: 62, vgl. Wolf 2010: 9). Weiterhin meint er, »es scheint, dass wir Anarchisten in allem paradox, gegen die Landläufigkeit sind. Wir haben nämlich auch keine politischen Bestrebungen, wir haben vielmehr Bestrebungen gegen die Politik« (Landauer 1897/2009d: 223). Dem setzt er die Vorstellung einer sinnerfüllten, sozialistischen »Gesellschaft aus Gesellschaften, die Gemeinsamkeit aus Freiwilligkeit« (Landauer 1911/1967: 61), entgegen, um von jeglicher Politik wegzustreben.
Diese Eindrücke beschäftigten offenbar auch den Anarchismus-Forscher Günter Bartsch, welcher am Übergang der »zwei verschiedenen Welten« von »Altanarchisten« zu den »Anarchos« steht (Bartsch 1972: 9). Dabei zählt er vier Eigenarten auf, welche den Anarchismus charakterisieren: »Der Anarchismus ist eine soziale, aber antipolitische, antiparteiliche und anationale Bewegung, die sich primär die Aufhebung des Staates und seine Ersetzung durch eine vielförmige Föderation zum Ziel gesetzt hat, deren Modell die anarchistische Organisationsform sein soll. Man könnte den Anarchismus auch ganz kurz als antiautoritäre Bewegung bezeichnen. Das würde jedoch gerade heute zu oberflächlichen Gleichsetzungen führen« (Bartsch 1972: 13). Das zweite Merkmal verdient für die vorliegende Arbeit besondere Aufmerksamkeit, insofern der Anarchismus laut Bartsch »eine soziale, aber keine politische Bewegung« darstellt, was aus seiner prinzipiellen Staatsfeindlichkeit hervorgehe: »Er kämpft nicht um die Macht, weil er sie für verderblich hält. Macht ist das entscheidende Mittel jener Herrschaft von Menschen über Menschen, die er unmöglich machen will. Da sie stets im Ergebnis politischer Kämpfe errungen wird, kann sie nach Überzeugung der Anarchisten durch Politik nicht abgebaut, sondern höchstens in ihrer Form verändert werden. So kam es zur Antipolitik, die eine Schöpfung des Anarchismus ist« (Ebd.: 12).
Doch wofür steht das Anti im Begriff »Antipolitik«, wie er bereits von Bartsch verwendet bzw. wieder aufgegriffen wird? Beinhaltet es einen positiven Inhalt und worin besteht dieser? Und weist die theoretische Figur der Anti-Politik nicht ihrerseits auf Bestrebungen zu einer umfassenden und hochgradigen Politisierung der Gesellschaft hin, in der etwa Gerhard Senft das Anliegen des Anarchismus sieht, wenn er schreibt, dass
»Herauslösen der in Händen einer Minderheit konzentrierten Macht und deren Umverteilung bedeutet, das Primat der Politik zurückzuerobern. Die Ausweitung und die breite Streuung der politischen Kompetenzen und der Einflußmöglichkeiten verhindert die Entstehung oligarchischer Herrschaftsformen. Autoritären/totalitären Anmaßungen wird so jegliche Basis entzogen. Eine Kultur der Teilhaberechte setzt an die Stelle der Machtmonopolisierung von Pluralismus getragene Formen der Selbstverwaltung. Es sind nur wenige politische Konzepte bekannt, die konsequent und ohne theoretische Kompromisse die Idee des politischen Primats im angedeuteten Sinne ohne Rückfall in vormoderne Denkmuster verfolgen. Dazu zählt ohne Zweifel der Anarchismus bzw. der ›libertäre Sozialismus‹« (Senft 2006: 32).
Ein näherer Blick verdeutlicht schnell, dass der verselbständigten politischen Sphäre von Anarchist*innen verschiedene Motive entgegengesetzt werden. In den zuvor aufgelisteten Beispielzitaten handelt es sich der Reihenfolge nach beim Advokaten der anarchistischen Synthese, Volin, um Formen föderativer nicht-hierarchischer Selbstverwaltung, bei Thoreau und Stirner um das sich selbst bestimmende und sich selbst erschaffende Individuum, bei Proudhon und Déjacque recht allgemein gefasst um sozialeSelbstorganisation, bei Most, Goldman und Galleani um das autonome sozial-revolutionäre Handeln, bei Pelloutier und Pouget um die ökonomische Sphäre und schließlich bei Landauer um die wirkliche Gemeinschaft in Gesellschaft. Daher wird in dieser Arbeit u.a. zu klären sein, inwiefern anarchistischer Individualismus, Mutualismus, Kommunismus, Syndikalismus und Kommunitarismus letztendlich der politischen Sphäre jene gesellschaftlichen Sphären der Individuen, des Sozialen, der Gesellschaft, der Ökonomieund der Gemeinschaft entgegensetzen (→ Fig. 3). Was den Insurrektionalismus angeht, ist der Bezugspunkt in der ultimativen Verwirklichung der Utopie, welche daher invertiert wird, noch einmal anders gelagert (→ 3.1).
Nicht-politische Handlungsmodi und Organisationsformen, Praktiken und Überlegungen finden im landläufigen Verständnis von »Politik« und ebenso in ihrer institutionalisierten staatlichen Form wenig Raum oder werden im Zuge der Ausdifferenzierung der politischen Sphäre (vgl. Reitz 2013: 99) zumindest nicht als bedeutende Bestandteile von ihr verstanden. Die verschiedenen anarchistischen Ansätze und Praktiken zielen offensichtlich – manchmal strategisch und bewusst, oftmals diffus und intuitiv – darauf ab, jenen Sphären, die von der politischen Sphäre zu ihrer Konstituierung ausgeschlossen oder lediglich instrumentell von ihr behandelt werden, einen ihnen angemessenen Geltungsbereich jenseits von und gegen die Politik zu verschaffen. Freilich speist sich diese sedimentierte Wahrnehmung im vorliegenden Zusammenhang nicht aus Überlegungen der soziologischen Systemtheorie,15 sondern beruht auf Erfahrungen aus den Kontroversen und divergierenden Ansätzen innerhalb sozialistischer Bewegungen, ihren Organisationsformen, ihren Lebenswelten und ihren sozialen Kämpfen.
In anarchistischen Praktiken und Bestrebungen geht es dabei nicht allein darum, dass der Staat lediglich föderaler und kommunaler strukturiert sein sollte, wie etwa in republikanischen, basisdemokratischen Ansätzen (z.B. Barber 1994). Im Anarchismus soll dem Staat nicht v.a. eine Schranke vor der Privatsphäre der Individuen gesetzt werden, wie im Liberalismus. Es geht in ihm nicht vorrangig um eine Stärkung der Zivilgesellschaft als Gegengewicht zum Staat oder um die Möglichkeit, sich ohne reglementierende Partei- und Vereinsstrukturen zusammenzuschließen. Anarchist*innen werten nicht einfach die Ökonomie (selbst eine sozialistische und dezentral organisierte) gegenüber dem Staat auf, wie es etwa vulgärmarxistische Gruppierungen mit ihrem Ökonomismus taten. Und schließlich wollen sie nicht – wie man kommunitaristischen Ansätzen unterstellen könnte – bloß mehr Gemeinschaftlichkeit und eine Versöhnung des Spannungsfeldes zwischen Individuen und Kollektiven, in einer oftmals als kalt und anonym empfundenen modernen Massengesellschaft realisieren.16 Vielmehr geht es ihnen um die Infragestellung der Bedingungen, unter denen Politik überhaupt stattfindet, um eine Ablehnung des Staates als institutionalisiertes politisches Herrschaftsverhältnis, welches inhärent autoritär, hierarchisch, zentralistisch und gewaltsam ist (Kropotkin 2008: 13ff.). Zusammengefasst laufen die stark ausgeprägten anti-politischen Tendenzen im Anarchismus – selbst bei dessen Verleugnung oder der emphatischen Betonung der Notwendigkeit des Handelns im Hier & Jetzt – letztendlich auf ein vages Meta-Narrativ hinaus: Im Hintergrund steht die utopische Möglichkeit einer selbstorganisierten, libertär-sozialistischen Gesellschaftsform, in welcher ein egalitäres, freiheitliches und solidarisches Zusammenleben nach einer sozialistischen Ethik17 realisiert werden kann.
Mindestens vier Gründe können für die Ausprägung anarchistischer Anti-Politik benannt werden. Sie bestehen in historischen Erfahrungen, der Vereinnahmung des Politischen durch den modernen Staat, dem Vorhandensein anderer Handlungsfelder sowie der sogenannten Politikverdrossenheit. Diese umreiße ich nun.
Die angedeutete, grundlegende anarchistische Skepsis gegenüber Politik gründet in sich wiederholenden historischen Erfahrungen. Zunächst ist dahingehend die wechselhafte Beziehung zwischen marxistisch geprägten Sozialdemokrat*innen und Anarchist*innen in der Ersten und Zweiten Internationalen Arbeiter-Assoziation (1864-1876 und 1889-1914) zu nennen, welche jeweils mit viel bösem Blut zum Ausschluss Letzterer und daraufhin zur Gründung eigenständiger anarchistischer Vereinigungen, nämlich zur Anti-Autoritären Internationalen(1872–1876) und zur Entstehung anarch@-syndikalistischer Gewerkschaften (1895–1919),18führte. Als die internationalen autonomen Gewerkschaften bei der Roten Gewerkschafts-Internationalen 1921 unter die Vorherrschaft der KPdSU und kommunistischer Parteien generell gestellt werden sollten, gründeten diese 1922 wiederum eine Internationale Arbeiter-Assoziation (vgl. Pestaña 1922/1972). Dass sich die Namensgebung dieses Zusammenschlusses direkt an jenem von 1864 orientierte, ist dabei kein strategischer Schachzug. Vielmehr sahen sich die syndikalistischen und kommunistischen Anarchist*innen mit ihrer Ablehnung von politischen Parteien und demokratischem Parlamentarismus des bürgerlichen Nationalstaates sowie mit ihrer Praktizierung dezentraler, autonomer und freiwilliger Selbstorganisation, den ursprünglichen Prinzipien der sozialistischen Bewegung verbunden.19 In ihren Augen hatte die Sozialdemokratie jene verraten, während der autoritäre Kommunismus spätestens nach 1921 auf eine totalitäre Herrschaftsordnung hinauslief, die den ursprünglichen sozialistischen Emanzipationsbestrebungen grundlegend widersprach (Berkman 1928, Rocker 2012, Volin 1983b).20 Anarchist*innen, die von mutualistischen und kollektivistischen Ansätzen überzeugt waren, wie auch jene, die sich in Kommunen und Alternativbewegungen engagierten, erklärten ohnehin, in Distanz zum Staat und der bürgerlichen Lebenswelt zu stehen. Umso mehr war dies bei den Individualanarchist*innen der Fall, welche aus ihrer renitenten Organisationskritik heraus, einige bedeutende Beiträge entwickelten, bspw. auf den Gebieten der Pädagogik oder sexuellen Befreiung. Im Kontext der Neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre gab es nur wenige Schnittpunkte zwischen Anarchist*innen und traditionellen kommunistischen Parteien, wenngleich diskutiert werden könnte, inwiefern die Forderung nach einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« während des Prager Frühlings 1968 libertär-sozialistischen Gehalt aufweist. Kommunistische Parteien waren bspw. in Italien und Frankreich in Zeiten des Kalten Krieges selbst zu systemstabilisierenden Faktoren geworden, während die Anarchist*innen sich zwar nicht mehr als klar konturierte Bewegung formieren, aber dennoch eine gewisse Wirkungsmacht in den sozialen Bewegungen entfalten konnten. Der von Rudi Dutschke 1967 proklamierte »Marsch durch die Institutionen« erzielte keine ernsthaften Erfolge und so wurde die Problematik der Partizipation am politischen System des bürgerlichen Staates erst wieder mit der Entstehung von Parteien wie »Die Grünen« (1980 gegründet) aus der außerparlamentarischen Bewegung heraus neu aufgeworfen bzw. breiter debattiert.
Wenn die Abgrenzung von und die Auseinandersetzung mit anderen sozialistischen Strömungen die Anarchist*innen zu einem grundlegenden Unbehagen gegenüber »Politik« führte, so umso mehr die Vereinnahmung des Politischen durch den modernen Staat. Der Sozialismus kann insgesamt in seiner Genese als soziale Bewegung für eine alternative Moderne21 angesehen werden, in welcher die Klassenunterschiede aufgehoben und soziale Freiheit, Gleichheit und Solidarität verwirklicht werden. Im Anarchismus wird dabei betont, dass dieses Vorhaben nur ohne und gegen den Staat verwirklicht werden kann. Was mit dem Anarchismus politisiert wird, sind die Erfahrungen unterschiedlicher sozialer Gruppen, durch staatliche Institutionen vertrieben, gefoltert, reglementiert, zu Lohnarbeit und Militärdienst gezwungen, klassifiziert, normalisiert, homogenisiert und greifbar gemacht zu werden.22 Dies betrifft freilich schon Gesellschaften vor der Entstehung des modernen Staates zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert (Scott 2020). Jener wirkte jedoch mit seiner spezifischen Rationalität, seiner bürokratischen Verwaltung, seiner Tendenz zum Zentralismus, seiner Zivilreligion der Nation, der Grenzziehung, dem Militarismus und der rechtlichen Institutionalisierung der bürgerlichen Familie auf viele Menschen ungeheuerlich (vgl. Reclus 2013b). Wenngleich es all dies bereits zwei- bis fünftausend Jahre zuvor, in ägyptischen, sumerischen, Maya-, chinesischen, indischen, akkadischen oder römischen »Hochkulturen« gegeben hatte, sind moderne Gesellschaften und Staaten von diesen politischen Reichen bzw. Imperien zu unterscheiden. Im Prinzip moderner Staatlichkeit liegt es, alle geographischen Gebiete zu unterwerfen und zu kontrollieren, alle ihm Unterworfenen zu Bürger*innen zu formen, ihre Produktivität nutzbar zu machen, sie zu lenken und in soziale Hierarchien einzuordnen. Der Staat dehnt sich auf immer weitere gesellschaftliche Sphären aus, strebt tendenziell danach, alle Lebensbereiche zu regulieren und sich in den Subjekten zu verinnerlichen. Grenzen findet die Ausdehnung und Verinnerlichung des modernen Staates zunächst, wo sie dysfunktional für seinen Selbsterhalt werden – maßgeblich bei der Kontrolle und Regulierung kapitalistischer Wirtschaft. Ferner dort, wo ihm Menschen Widerstand entgegensetzen, der v.a. dann effektiv wird, wenn die Widerständigen zugleich andere Modi gesellschaftlicher Organisation kennen und praktizieren. Schließlich basiert moderne Staatlichkeit darauf, dass sich Staat als eigenständiges Prinzip (vgl. Newman 2010: 77ff.) und Institutionenset von der Gesellschaft absondern muss, um sie relativ autonom verwalten und regieren zu können.
Damit einher geht die Ausdifferenzierung von Politik als spezifische gesellschaftliche Sphäre,23 welche vom Staat vereinnahmt und von Staatlichkeit als Prinzip der Zentralisierung, des Autoritarismus und der Hierarchisierung dominiert wird.24 Aus diesem Grund bedingt die Ablehnung des Staates die anarchistische Skepsis gegenüber jeglicher Politik. Auch wenn sie außerhalb des Staates stattfindet, scheint Politik diesem dennoch zugeordnet, auf Gewalt gegründet und reduzierend zu sein (vgl. Kastner 2000: 47–79, Reitz 2013: 169, Regier 2023: 23–50), bzw. sind staatliche Verhältnisse auch über das Institutionen-Ensemble Staat hinaus verbreitet und wirksam. Alternative politische Ansätze wie sie in der demokratischen 1848er-Bewegung aufschienen und welche in den Französischen Kommunen um 1871 in Ansätzen umgesetzt wurden (Hartmann/Wimmer 2021), wurden blutig niedergeschlagen, während die staatliche Repression gegen die erstarkenden sozialistischen Bewegungen fortwährend zunahm. Während dies auf sozialdemokratischer Seite vielfach zur Einhegung und Anpassung führte, wurde in den anarchistischen Kreisen ab den 1880er Jahren der Insurrektionalismus entwickelt, mit welchem jeglichen positiven Gesellschaftsvisionen, Programmen oder formellen Vereinigungen eine Absage erteilt wurde, weil diese als reformerisch und politisch galten (vgl. IAA-Kommissionsbericht 1881/2016, vgl. Cahm 1989: 152–177). Gleichwohl führte die Abwendung von der politischen Ebene – auch durch den Syndikalismus und Individualismus – im Anarchismus zu einem blinden Fleck. Daher versuchte bspw. Peter Kropotkin diesen mit seiner Konzeption einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsordnung zu füllen, deren ökonomische Organisation kommunistisch und deren politische Dimension anarchistisch sein sollte (Kropotkin 1973: 106, 196). Aktivist*innen wie Errico Malatesta wirkten im bereits angeführten Sinne als pragmatische (Anti-)Politiker*innen im libertär-sozialistischen Lager (vgl. Malatesta 2014). Gustav Landauer bezeichnete sich als ein solcher (Landauer 2008: 62–68). Rudolf Rocker fand in der Rätebewegung im Nachgang des Ersten Weltkrieges den adäquaten politischen Ausdruck für anarchistische Vorstellungen (Rocker 1924b). Die autonomen Räte in der sogenannten »Sowjetunion« wurden dagegen bekanntermaßen vom kommunistischen Staat instrumentalisiert und als leere Hüllen zur Durchsetzung zentralistischer Interessen pervertiert. Nach der Zerschlagung der spanischen sozialen Revolution 1936 war es Anarchist*innen kaum noch möglich, auf politischer Ebene als signifikante Macht in Erscheinung zu treten. Diese Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass für sie im Nachgang der 68er-Bewegung die kulturelle Dimension große Bedeutung gewann. Aufgrund der Vorgeschichte und dem Niedergang bzw. der Integration der Arbeiter*innenbewegung in die bürgerliche Gesellschaft, erscheint es daher nachvollziehbar, dass Anarchist*innen zu einem großen Teil subkulturelle, mikropolitische und themenbezogene Handlungsstrategien hervorbrachten.
Dies führt zum dritten Punkt: der anarchistischen Skepsis gegenüber dem Politikmachen. Für Anarchist*innen gibt es offenbar viele andere Handlungsfelder neben dem politischen, auf welches sie sich eher notgedrungen begeben. Seien es das Engagement in einer Stadtteilinitiative oder in einem autonomen Zentrum, die Unterstützung von Geflüchteten, das Leben in einem Hausprojekt, die Organisation eines Festivals oder die Durchführung einer Bildungsreihe; seien es Antifa-Recherchen, direkte Aktionen verschiedenster Art, das Kochen in einer selbstorganisierten Küche oder die Besetzung eines Hauses oder Waldes aus ethischer Motivation – viele Aktivitäten fühlen sich »authentischer« an, bestätigten das Selbstwertgefühl und den Wunsch nach Selbstwirksamkeit von Menschen weit mehr als all das, was mit »Politik« assoziiert wird. Politik erscheint dagegen als langweilig, langwierig und aufgrund der Formen, welche die Aushandlung divergierender Interessen annehmen, wegen den Intrigen und Machtspielen, die mit ihr verbunden sind, auch als grundsätzlich suspekt. Dies beinhaltet, dass Politik aus anarchistischer Sicht nicht als adäquate Ebene angesehen wird, um emanzipatorische Vorstellungen umzusetzen. Aufgrund ihrer formalisierten, hierarchischen und bürokratischen Abläufe wirkt sie entfremdend und auf die Initiative von Einzelnen oder Gruppen lähmend. Während mit ihr fortwährend Minderheiten übergangen werden, lassen sich durch sie dennoch stets nur mehr oder weniger faule Kompromisse erkämpfen. Da Befreiung nicht stellvertretend für andere gelingen kann, sondern durch die von Herrschaft betroffenen Subjekt selbst geschehen muss, bedeutet dies, dass befreiendes Handeln immer auch Aspekte der Selbstbefreiung aufweisen soll. Dies wird von Anarchist*innen hinsichtlich der Politik für unwahrscheinlich gehalten. Individualität, das Soziale, die Gesellschaft, die Ökonomie und die Gemeinschaft wirken zunächst jeweils eher als gesellschaftliche Sphären, Kultur, Utopie und Ethik und damit eher als Bereiche, in denen Emanzipationsprozesse – verknüpft mit dem Abbau von Entfremdung – möglich sind, als in und durch Politik.25 Da diese Unterscheidung für diese Arbeit hinsichtlich verschiedener Tendenzen des Strebens nach Autonomie (→ 3) eine größere Rolle spielen wird, wird sie unten verbildlicht (→ Fig. 3).
Schließlich gibt es noch einen Aspekt der Skepsis gegenüber Politik, welchen der Anarchismus nicht hervorbringt, aber aufzugreifen versucht. Es handelt sich um die viel beschworene sogenannte Politikverdrossenheit. Deren politikwissenschaftliche Thematisierung scheitert systematisch daran, ihre Ursachen anzuerkennen, weil sie notwendigerweise das bestehende politische System als zu erhaltendes Gut ansieht, welches allen anderen grundsätzlich überlegen wäre. Unmut über »die« Politiker*innen scheint aufgrund der Entzauberung »der« Politik jedenfalls weit verbreitet zu sein (Hay 2007). Ein Indikator für Politikverdrossenheit ist der Anteil der Nichtwähler*innen. Doch auch anti-demokratische Einstellungen können als Ablehnung von zeitgenössischen politischen Institutionen und Prozessen interpretiert werden. Ein »Rechtsruck« ist zweifelsfrei empirisch belegbar und korreliert mit den Erfolgen der extremen Rechten, ebenso wie mit Unsicherheiten über beschleunigte gesellschaftliche Entwicklungen, den Abbau des Sozialstaates oder mit Ängsten vor Pandemien oder Migrant*innen, verknüpft mit einer als zunehmend unsicher und unbeeinflussbar empfundenen Zukunft. Ebenso hat das Potenzial des Rechtsterrorismus zugenommen, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in vielen Ländern weltweit. Dies sind Anhaltspunkte für die Verbreitung demokratiefeindlicher Einstellungen, die über das Verhältnis zum demokratischen Staat weit hinausgehen. »Demokratiefeindlichkeit« ist dabei keineswegs vorrangig ein Phänomen – oft imaginierter – gesellschaftlicher Randgruppen, sondern geht mindestens ebenso aus ihrer »Mitte« hervor (Decker/Brähler 2018). Entgegen dieser in den Politikwissenschaften verbreiteten Diagnose, kommt Pierre Rosanvallon zu einem anderen Schluss. Demnach sei die politische Sphäre der Gegenwartsgesellschaft nicht durch Technokratie oder Populismus ausgehöhlt. Vielmehr gälte es, den Blick zu verschieben und ein komplexeres Verständnis von Politik im 21. Jahrhundert zu entwickeln, mit welchem die zahlreichen Akteur*innen jenseits der staatlichen Institutionen und Prozesse in den Blick genommen werden können. Ein Verstehen und Fördern der vielgestaltigen »Gegen-Demokratie« ermögliche die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer demokratischen Vermittlung (Rosanvallon 2018).
Eine anarchistische Einstellung bedeutet weder, demokratische Werte und Vorstellungen zu teilen, noch sie abzulehnen. Dahingehend finden sich im Anarchismus zwei Stränge (→ 2.4.2). Im ersten wird in der Demokratie das Potenzial zu ihrer Vervollkommnung als Anarchie gesehen, welche bei ihrer Überschreitung und einer »Demokratie gegen den Staat« (Abensour 2012) erreicht werden könnte (z.B. Godwin, Woodcock, Goodman, Chomsky, Graeber, Milstein). Mit dem zweiten Strang wird Demokratie – angefangen bei ihrer Wortbedeutung – als Herrschaftsform aufgefasst, welche es zur Verwirklichung von Anarchie ebenso wie andere Herrschaftsformen zu überwinden gälte, da sich demokratische und anarchistische Regulationsmodi grundlegend unterscheiden würden (z.B. Gelderloos, CrimethInc). Da beide Stränge plausible Argumente hervorbringen, lässt sich diese Gleichzeitigkeit im Anarchismus nicht einfach auflösen, sondern wird fortgesetzt. Dies verweist jedoch nicht auf einen Widerspruch im anarchistischen Denken, sondern auf einen in der Demokratie selbst.26 Dennoch argumentierten bereits klassische Anarchist*innen, dass es selbstverständlich wesentliche Unterschiede in den jeweiligen Herrschaftsordnungen gibt (z.B. Bakunin, Malatesta, Goldman). Sozialist*innen kritisierten an der bürgerlichen Demokratie, dass mit ihr keine »wirkliche« Gleichheit, Freiheit und Solidarität verwirklicht werden könne, wenn sich diese lediglich auf die politische, nicht aber auf die ökonomische Dimension erstrecke. Anarchist*innen kritisierten darüber hinaus die Sozialdemokratie dafür, dass sich diese ethischen Ziele nicht über Reformen erreichen ließen, und den autoritären Kommunismus deswegen, weil er jene mit seinem Führungsanspruch zwangsläufig konterkarieren müsse. Da die Demokratie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann, erscheint sie als unzulänglich, was sich strukturell anhand der Gesellschaftsordnungen erklären lässt, in denen sie zur Herrschaftsform erklärt wird. Der von Anarchist*innen früh hervorgebrachte Einwand, dass es eine Absurdität darstelle, anzunehmen, dass das
