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Ein auf vielen Ebenen packender Psycho-Thriller, der das traditionelle True-Crime-Genre auf faszinierende Weise erweitert – filmisch erzählt, hochspannend und extrem fesselnd. Er war »das Ungeheuer vom Schwarzwald«: Der Serienmörder Heinrich Pommerenke (1937 – 2008) versetzte im Jahr 1959 eine ganze Region in Angst und Schrecken und beging eine unvergleichliche Serie von mehr als sechzig Überfällen, Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen und Morden. Anfang unseres Jahrtausends besucht die junge Journalistin Billie den Verbrecher mehrfach im Gefängnis, weil sie seine Biografie schreiben möchte. Das Ungeheuer ist nun ein alter Mann, aber noch immer ein Meister darin, Menschen zu manipulieren … Während der Beschäftigung mit Pommerenke und seinen Verbrechen driftet Billie tatsächlich immer weiter in eine Wahnwelt ab. Ihre Recherchen werden zunehmend atemloser, die grausamen Taten und die Überführung des Mörders Teil ihrer Realität. Das Leben des Serienmörders setzt sich langsam zusammen, das von Billie zerfällt. »Gewalt ist toxisch, der Umgang mit Monstrositäten lebensgefährlich. Zownir & Anfuso erzählen meisterhaft von einer jungen Frau, die sich radikal diesem Risiko aussetzt.« Thomas Wörtche
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Seitenzahl: 493
Veröffentlichungsjahr: 2017
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: September 2017
ISBN 978-3-95988-089-3
Er war »das Ungeheuer vom Schwarzwald«: Der Serienmörder Heinrich Pommerenke (1937 – 2008) versetzte im Jahr 1959 eine ganze Region in Angst und Schrecken und beging eine unvergleichliche Serie von mehr als sechzig Überfällen, Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen und Morden.
Anfang unseres Jahrtausends besucht die junge Journalistin Billie den Verbrecher mehrfach im Gefängnis, weil sie seine Biografie schreiben möchte. Das Ungeheuer ist nun ein alter Mann, aber noch immer ein Meister darin, Menschen zu manipulieren …
Während der Beschäftigung mit Pommerenke und seinen Verbrechen driftet Billie tatsächlich immer weiter in eine Wahnwelt ab. Ihre Recherchen werden zunehmend atemloser, die grausamen Taten und die Überführung des Mörders Teil ihrer Realität. Das Leben des Serienmörders setzt sich langsam zusammen, das von Billie zerfällt.
Ein auf vielen Ebenen packender Psycho-Thriller, der das traditionelle True-Crime-Genre auf faszinierende Weise erweitert – filmisch erzählt, hochspannend und extrem fesselnd.
»Gewalt ist toxisch, der Umgang mit Monstrositäten lebensgefährlich. Zownir & Anfuso erzählen meisterhaft von einer jungen Frau, die sich radikal diesem Risiko aussetzt.«/em> Thomas Wörtche
Nico Anfuso, geboren 1969, aufgewachsen in einem griechisch-italienischen Elternhaus, lebt seit Ende der Achtzigerjahre in Berlin. Ausbildungen unter anderem zur Kauffrau für audiovisuelle Medien und Produzentin/Produktionsleiterin. Sie arbeitet als Autorin, Interviewerin sowie Produzentin von Filmen und Hörbüchern.
Zownir & Anfuso
Pommerenke
Ein True-Crime-Roman
»Ich werde Sie für 40 Jahre ohne jede Beschäftigung einsperren und Sie dann nach 40 Jahren aufsuchen, um mich zu erkundigen, wie weit Sie es gebracht haben.«
F. M. Dostojewski,
Auf dem Weg nach Venedig verwandelte ein heftiger Gewittersturm die Autostrada in wenigen Minuten in ein reißendes Flussbett und brachte die labile Elektronik des altersschwachen Citroën GX zum Stillstand. Ein letztes Flackern und Zucken, dann versagte die Lichtanlage. Branco hatte gerade noch Zeit, das dunkle Auto auf den rechten Fahrstreifen zu steuern. Er konnte kaum etwas erkennen, der Regen peitschte über die Windschutzscheibe, die ausgeleierten Scheibenwischer sackten kraftlos herunter. Branco schlug wütend gegen das stumme Radio, Billie stemmte ihre nackten Füße gegen das Armaturenbrett.
»Du fährst zu schnell, Schatz«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Du verlierst die Kontrolle.«
»Ich hab einen beschissenen Laster am Arsch.«
»Dann lass ihn überholen.«
»Der Geisteskranke will einfach nicht!«
»Fahr rechts ran.«
»Es gibt keinen Haltestreifen.« Branco zerrte entnervt den Rückspiegel vor seine Augen. »Er hat die Fernlichter an, der Scheißtyp will uns fertigmachen.« Er ließ sich für ein paar Sekunden von den Scheinwerfern hinter sich blenden, dann drehte er den Rückspiegel zur Seite und drückte aufs Gas.
»Du fährst zu schnell, Branco.«
»Hör auf zu nerven, Billie. Wenn ich langsamer fahre, macht uns der Laster platt.«
»Du siehst doch überhaupt nichts mehr.«
»Ich kann aber nicht langsamer fahren, verdammt!«
Das Auto schlitterte fast aus der Kurve. Branco bremste abrupt ab, riss das Lenkrad nach links und beschleunigte wieder. Der Regen hatte die Fahrbahn schlüpfrig gemacht, und ein scharfer Wind rüttelte den Citroën kräftig durch. Ein Alfa Romeo raste so dicht an ihnen vorbei, dass Branco die Luft wegblieb. Die Dunkelheit vor seinen Augen wurde zu einer blinden, undurchdringlichen Mauer. Ein Crash, und alles wäre vorbei, bevor es begonnen hätte. Die Fernlichter eines weiteren Rasers explodierten vor seinen Augen wie Lasergeschosse und rissen ihn aus der Trance. Brancos rechter Fuß zuckte unentschlossen zwischen Bremse und Gaspedal, aber kurz bevor er die Stoßstange eines Anhängers rammte, der aus dem Nichts vor ihm auftauchte, fand er endlich in den richtigen Groove und entspannte sich etwas.
»Ich weiß, ich fahr zu dicht auf …«, brummte Branco.
Er erwartete einen Einwand von Billie, aber sie erwiderte nichts. Sie spielte nur abwesend an ihren nackten Zehen herum. Billie war alles andere als eine ängstliche, leicht einzuschüchternde Frau. Sie hatte in ihren sechsundzwanzig Jahren schon mehr erlebt, als ihr lieb sein konnte. Wobei ihr offenes, liebenswertes Gesicht mit den dunklen Augen und den schwarzen, glatten Haaren keine Spuren ihrer Vergangenheit zeigte. Sie wirkte noch immer jugendlich frisch, nur die Ernsthaftigkeit ihrer Züge gab ihr eine von Geheimnissen umwitterte Aura, die auf Distanz hielt.
»Ich glaube, wir sind ihn los«, sagte Billie.
Der Abstand zu dem Lkw hinter ihnen hatte sich sichtlich vergrößert. Die unmittelbare Gefahr war vorerst gebannt.
»Ja, ich habe ihn abgehängt«, sagte Branco.
Er fummelte eine Zigarette aus seiner Jacke und steckte sie an. Billie begann, leise eine Ballade zu summen, brach mitten in der traurigsten Stelle ab und starrte melancholisch in den prasselnden Regen hinaus. Irgendwo da draußen zogen sich Kilometer um Kilometer trostlose Sümpfe und Wälder dahin, die überhaupt nicht zu ihrer Vorstellung von Italien passten. Die wenigen Reklame- und Hinweisschilder blieben ohne Licht anonyme Flächen, die sich wie Sekundenblenden vor die Pupillen schoben, verschwanden, sich im Gedächtnis verloren und mit Millionen anderer Eindrücke das Unterbewusstsein mit wertlosen Informationen verstopften.
Branco hielt die Augen stur auf die Rücklichter des Anhängers geheftet. Die Vorstellung, anzuhalten, ging ihm gegen den Strich, aber weiterfahren war zu gefährlich. An der nächsten Ausfahrt fuhr er ab und suchte nach einem Fixpunkt. Doch nirgendwo brannte ein Licht. Vor ihnen lag völlige Dunkelheit. Er fuhr im Schritttempo weiter, ohne etwas sehen zu können.
»Woran orientierst du dich eigentlich?«
»An nichts, ich bin kein Insekt.«
»Warum hältst du nicht an, und wir versuchen, zu Fuß weiterzukommen?«
»Das ist doch absurd.«
Grade wollte er trotzdem anhalten, als er die erste beleuchtete Straßenlampe bemerkte. Dann eine zweite, und nach der dritten lenkte er das Auto auf einen verödeten Parkplatz und stellte den Motor ab.
»Geschafft«, stöhnte Branco erleichtert.
Er lehnte sich erschöpft in den Sitz zurück. Er hätte Billie gern umarmt, doch er wollte, dass die Initiative von ihr ausging. Er hatte sie verdammt clever aus einer brenzligen Situation herausmanövriert.
»Unsere erste Nacht in den Flitterwochen, Baby.«
»Willkommen in Bella Italia«, erwiderte Billie.
»Ich könnte jetzt eine dicke Tüte vertragen.«
»Ich dreh uns eine.«
Branco stieg aus und versuchte, die Ritzen der Türen mit Tape abzukleben. Er schaffte es nicht und kam komplett durchnässt in den Wagen zurück. Durch die rechte Vordertür tropfte immer noch Wasser.
»Verdammte Scheiße«, fluchte Branco.
Er trocknete sich mit ein paar Papiertüchern die Haare ab und zog lange am Joint. Dann versuchte er vergeblich, die Vordersitze in die Horizontale zu drehen, aber die Schrauben saßen fest. Umständlich stiegen Branco und Billie auf den Rücksitz, und er begann, an ihr herumzufummeln.
»Ich habe mich noch nicht mal gewaschen«, sagte Billie ruhig.
Branco nahm seine Finger von ihrem Schlüpfer.
»Willst du im Regen duschen?«
»Lass uns Hände waschen und Zähne putzen.«
»Meinetwegen«, sagte Branco. Er fühlte sich nun auch etwas schmuddelig, obwohl ihm das eben noch nichts ausgemacht hatte.
Nach der Katzenwäsche fühlte sich Billie ein wenig bereiter. Branco hatte sich etwas abgekühlt und versuchte, wieder in Stimmung zu kommen. Das monotone Geräusch des Regens und die stickige Enge im Wagen machten die Sache nicht leichter. Er zog die Hose bis zu den Knöcheln herunter, versuchte, sie über die Schuhe zu zerren, blieb hängen und fluchte.
»Lass dir doch Zeit«, sagte Billie.
Sie zog sich den Schlüpfer aus, während er sich ungeduldig die Schuhe von den Füßen streifte. Dann biss er zärtlich in ihren Nacken und leckte an ihren Ohren herum. Er brauchte ungewöhnlich lange, bis er in sie eindringen konnte, verlor ein wenig an Steifheit und begann, sich Sorgen zu machen.
Seine Bewegungen wurden verkrampfter, und er bemerkte, wie er immer mehr aus dem Rhythmus kam. Aber Billies entspannte Art, sich auf ihn einzustellen, gab ihm schließlich die Zuversicht, in ihrer ersten Honeymoon-Nacht nicht zu versagen. Er wurde endlich richtig scharf und kam schneller zum Höhepunkt, als er beabsichtigt hatte. Er hätte sie gern noch einmal gehabt und zum Orgasmus gebracht, aber Billie gab ihm sanft zu verstehen, dass sie zu müde war. Sie wischte sich ab und zog den Schlüpfer an.
Branco beugte sich über den Vordersitz und startete den Motor.
»Immer noch kein Licht«, knurrte er. »Wir müssen auf den Morgen warten.«
»Kein Problem«, gähnte Billie.
Branco stellte den Motor ab.
»Aber morgen nehmen wir uns das beste Hotel in Venedig.«
»Klar«, sagte Billie. Sie lachte, obwohl sie wusste, dass sie sich ein Zimmer der gehobenen Klasse nicht leisten konnten. Jedes Zimmer mit Bad und Blick auf einen Kanal hätte sie glücklich gemacht. Sie war wie ein Kind.
Während Billie ohne Probleme einschlafen konnte, suchte Branco auf den unbequemen Vordersitzen nach der richtigen Lage. Er stieß mit seinem rechten Knie gegen das Lenkrad und unterdrückte einen Fluch, um Billie nicht aufzuwecken. Dann stopfte er seine feuchte Jacke in die Ritze zwischen den Sitzen, zog seine Füße zu sich heran, um sie trocken zu halten und starrte frustriert in den Regen hinaus.
Am nächsten Morgen nahmen sie das erste Hotel auf dem Weg nach Venedig. Es war ein kleines, schmuckloses Zimmer mit einem Kruzifix an der Wand und zwei einzelnen Betten, die Branco zusammenrückte. Billie ging summend ins Badezimmer, und Branco folgte ihr.
»Geile Titten«, schwärmte er, als sie sich auszog.
»Danke.«
»Und erst dieser göttliche Arsch. Zum Reinbeißen.«
»Du musst dich noch etwas gedulden, Schatz.«
»Das Zimmer hat weder ein Radio noch ein Fernsehgerät«, sagte Branco, das Thema wechselnd.
»Macht doch nichts. Oder?«
»Ich weiß, ich habe dir versprochen, mein iPhone nicht einzuschalten …«
»Ist schon okay.«
»Ganz ohne News geht einfach nicht.«
»Kein Problem, Schatz.«
Billie stellte sich unter die Dusche. Sie ließ das warme Wasser über sich rieseln und fühlte sich herrlich erschöpft. Sie hatten ein sauberes Bett, würden sich lieben, schlafen, vielleicht noch einmal lieben, eine Kleinigkeit essen, auf dem Festland kurz vor Venedig parken, das Centro Storico mit einem Boot anlaufen und von dort mit einer Gondel zu ihrem Traumhotel gleiten. Die 5. Symphonie von Mahler hören. Venedig erleben. Obwohl sie vor seinen stinkenden, rattenverseuchten Kanälen einen ganz schönen Bammel hatte. Romantische Vorstellungen hielten nicht immer der Wirklichkeit stand, aber Billie war nie pessimistisch. Am Ende siegte stets die Hoffnung.
Als sie mit einem dicken Frottierhandtuch über den Schultern ins Zimmer trat, starrte Branco noch immer auf sein iPhone.
»Willst du nicht duschen, Schatz?«
»Doch«, antwortete Branco zerstreut.
»Interessante News?«, fragte Billie.
Branco lehnte sich gegen die Wand und streckte die Beine auf dem Bett aus. »Herbie hat mir eine SMS geschickt«, sagte er verlegen. »Er hat mir einen Job in New York angeboten.«
»Wie schön«, sagte Billie entzückt.
»Aber ich müsste schon heute fliegen.«
»Heute? Wir sind doch gerade erst losgefahren.«
»Wenn ich ablehne, übernimmt es Frost«, sagte Branco kleinlaut.
»Ach so? Du nimmst an?«
»Was soll ich denn machen, Billie? Wenn ich nicht zugreife, kann ich mich aufhängen.«
»Du hast doch immer gesagt, du bist besser als Frost«, sagte Billie. »Das wäre nicht das Ende deiner Kariere.«
»Doch«, sagte Branco. »Gut oder schlecht sind beim Fernsehen keine Kriterien. Frost ist immer verfügbar, zuverlässig, macht, was man von ihm verlangt und ist so ehrgeizig, dass er mich ausstechen wird, wenn ich ihn einmal an mir vorbeilasse.«
Billie seufzte. »Dann musst du den Job eben annehmen, Schatz.«
Nachdem Branco geduscht und sich rasiert hatte, gingen sie zusammen ins Bett, und eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Auto. Bis zum Morgengrauen war es kühl und verregnet geblieben, aber jetzt gegen Mittag kam die Sonne hervor und verwandelte die trostlose Ebene in eine glitzernde Märchenlandschaft, als hätte sich jeder Regentropfen in einen Diamanten und jede Wasserlache in flüssiges Silber verwandelt. Kein wimmerndes himmlisches Kind. Keine Wolken. Nur die Bäume schienen zu weinen und die Krähen aus ihren Nestern zu jagen. Riesige, pechschwarze Scharen, aus den Sümpfen und Wäldern vertrieben, die sich wie betrunkene Totengräber benahmen und faustgroße Löcher in die schlammige Erde hackten. Billie mochte diese rauen Gesellen. Aber sie waren nicht ihre Lieblingstiere. Mit ihren gierigen Schnäbeln zerhackten sie unermüdlich Würmer und Raupen. Billie dachte an all die Schmetterlinge, die niemals über die Wiesen flattern würden, und an das Kind, das sich niemals von ihren zarten Farben verzaubern lassen würde. Aber dafür konnten die Krähen nichts. Das war ihre eigene Schuld. Sie hatte ein Embryo für ihre Freiheit geopfert. Damals hatte sie keine Beziehung zu der lebenden Frucht, die in ihr wuchs, aufbauen können. Falscher Erzeuger, falscher Zeitpunkt, keine Perspektiven und deshalb auch keine Geburt. Ihre Logik von damals überzeugte sie nicht mehr. Obwohl sie sich immer noch nicht vorstellen konnte, ein Kind zu haben. Vielleicht später. Besser geplant, weniger spontan und mit Branco als Vater. Aber nichts würde das tote Baby zurückbringen können.
»Wir holen unseren Honeymoon nach, versprochen«, sagte Branco.
»Klar. Von wo aus fliegst du?«
»Mailand.«
Billie dachte an den Mailänder Dom und die Scala und stellte sich vor, wie sie mit Branco durch die Stadt bummeln würde.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Schieß los«, sagte Billie zerstreut.
»Wenn ich bis Mittwoch nicht zurück bin, sag das Interview ab.«
Billie fuhr auf. »Das kann ich nicht machen, Branco. Heinrich hat Krebs, wer weiß, wie lange er noch dazu in der Lage ist.«
»Wir haben genug Material.«
»Nein«, sagte Billie. »Wir können das Projekt nicht gefährden.«
»Sei doch nicht so verbissen. Nach drei Jahren Recherche und Interviews habe ich einfach keinen Bock mehr auf Heinrich.«
»Aber ich. Du hast ihn mir längst überlassen.«
»Ich glaube, du übernimmst dich.«
»Quatsch«, sagte Billie energisch. »Wenn du bis Mittwoch nicht zurück bist, gehe ich eben wieder allein zu ihm. Heinrich vertraut mir eh mehr als dir.«
»Wie du meinst«, sagte Branco. »Aber bis Mittwoch bin ich sicher wieder zurück.«
»Na dann«, antwortete Billie.
Sie sah zum Fenster hinaus. Das Wetter war auch nicht mehr, was es mal gewesen war. Stürme, die aus dem Weltall in die Meere stürzten und mit einem Bruchteil ihrer verbleibenden Kräfte launische meteorologische Freakshows veranstalten konnten. Billie dachte an die Hilflosigkeit der Menschen vor der Natur und kicherte unkontrolliert.
»Ich liebe dich, Baby.«
»Ich dich auch«, sagte Billie.
Nachdem sie Branco am Flughafen abgesetzt hatte, stellte sie den Citroën vor einer Werkstatt mit einem Schrottplatz ab. Es war gerade Mittagspause, und sie schlenderte eine Weile ziellos in der Gegend herum. Es war ein grauer Vorort Mailands, so trostlos wie Reinickendorf, und der Gedanke an Brancos überstürzte Abreise machte Billie traurig. Als sie wieder zum Schrottplatz zurückkam, war noch immer Siesta, und nach weiteren zwanzig Minuten Schwermut und Langeweile hielt sie ein Taxi an und ließ sich zum Flughafen fahren.
Am nächsten Morgen blieb das Loft lange dunkel. In den Büros gegenüber brannten dafür sämtliche Lichter. Es hatte kräftig geregnet, und eine dumpfe, phlegmatische Dunstglocke erschwerte das Atmen. Erst gegen Mittag präsentierte sich der sonnenlose Tag in freundlicheren Nuancen von Grau, als ungebetener Bote eines wolkenverhangenen Himmels. Die Sicht war besser geworden, aber die Sonne würde sich, wenn überhaupt, erst gegen Abend in ihren letzten untergehenden Zuckungen zeigen. Von ihrem Platz auf der Fensterbank aus konnte Billie die vierspurige Straße bis zur Hochbahn betrachten und einen kleinen Fetzen vom südlichen Himmel erkennen. In Venedig würde die Sonne scheinen und den Canal Grande mit seinem rotbraunen Wasser für alle Verliebten in die schönsten Aquarellfarben tauchen.
Billie lächelte leicht bei dem Gedanken, wieder verheiratet zu sein. Sie hatte ihren Traummann gefunden, aber Traumwesen blieben ebenso wenig greifbar wie Sternschnuppen oder achttausend Kilometer entfernte Gedanken. Ihr war, als hätte man ihre Liebe in einen Traum verwandelt, der sich von ihrem Bewusstsein nicht steuern ließ und alles verscheuchte, was ihr bestätigen sollte, dass ihre Gefühle erwidert wurden.
Sie hatte keine Lust mehr, die Scheiben zu putzen, und stieg vom Fenstersims. Sie hatte den ganzen trostlosen Morgen lang Großputz gemacht und an Branco gedacht. Er würde noch schlafen und sie nicht vor siebzehn Uhr anrufen. Sie hatten das Loft erst zwei Wochen vor ihrer Hochzeit gemietet, und die kalten, riesigen Räume flößten ihr ein leichtes Unbehagen ein. Zu den ungewohnten Ecken und Ausläufern, die zum Teil noch mit Möbeln vom Vormieter zugestellt waren, hatte sie noch kein Verhältnis aufbauen können. Sie hatte gehofft, deren Geheimnisse mit Branco ergründen zu dürfen und versuchte sie nun so gut wie möglich zu meiden. Sie kam sich ein wenig kindisch und unreif vor und schob ihre trüben Gedanken aufs Wetter. Wo steckte bloß Toni, ihr Kater? Mit Toni hätte sie beinahe ebenso gut wie mit Branco ihr neues Nest lieben gelernt. Sie hatte noch nie in einer solchen Wohnung gelebt und spürte nun, dass sie ungeheuer stolz darauf war. Sie hatte mit fünfzehn ihr Elternhaus verlassen und seither immer in engen Wohnverhältnissen ausharren müssen. Ihr Job als Kassiererin im Kino, den sie immer noch zwei Mal die Woche machte, gab nicht viel her. Er zahlte gerade die Extras. Eigentlich hatte sie für eine kleinere Wohnung plädiert, aber Branco hatte auf dem Loft bestanden, und im Nachhinein gab sie ihm recht. Wenn sie nun das Heinrich-Projekt durchzog, ob mit oder ohne Branco, dann hatte sie gute Aussichten, einen Großteil ihrer finanziellen Verpflichtungen von seinen Schultern zu nehmen.
Obwohl sie den ganzen Vormittag in Bewegung gewesen war, machte sie zwanzig Minuten lang gymnastische Übungen. Danach drehte sie sich einen Joint und legte sich in die Badewanne, die so groß war wie ihr früheres Schlafzimmer. In ihrer Fantasie sprangen Branco und sie in Coney Island ins Wasser und schwammen so weit ins Meer hinaus, bis sie ein Riesenrad auf einem kleinen Felsen erreichten. Sie stiegen nackt auf eine Gondel und liebten sich, während sie sanft durch die Lüfte schwangen, bis Brancos iPhone klingelte und Herbie ihn zum Einsatz rief. Während Branco wieder zurückschwamm, blieb sie allein im Riesenrad sitzen und wartete, bis die Sonne dem Mond wich. Dann sprang sie ins Meer und ließ sich von den Wellen der Flut in eine unbekannte Richtung treiben.
Billie plätscherte lustlos im Badewasser herum. Früher oder später gingen immer die Gedanken mit ihr durch und flüchteten Hals über Kopf in eine Welt der Unsicherheit und Ängste, die sie mit beinahe stoischer Gleichgültigkeit zu erwarten schien. Von den unendlich vielen Möglichkeiten des Lebens wählte sie immer die einsamsten Wege, obwohl sich in einem anderen Teil ihres Bewusstseins ein sonniges, lebensfrohes Wesen verbarg.
Ohne sich abzutrocknen, stieg sie aus der Wanne, eilte klatschnass in ihr provisorisches Wohnzimmer und schob eine CD von Snoop Dogg in den Player. Nach dem dritten Song hatte sie von Snoop Dogg genug, aber sie fühlte sich besser.
Ich muss raus aus der Wohnung, dachte Billie unter dem Föhn. Besorgungen machen, Bekannte treffen, spazieren gehen. Ich darf mich vor allem nicht hängen lassen.
Sie musste Branco und sich selber beweisen, dass sie ohne ihn klarkam. Kein Anhängsel war. Eigenständig verantwortlich an einer Sache arbeiten konnte, die selbst Branco über den Kopf wuchs. Sie hatte die Zeit und die Muße dafür, und das Projekt faszinierte sie. Es war noch ein Niemandsland aus Fragmenten, grausigen Details und absurden Erklärungsversuchen, aber sie spürte, dass sie es aus seinem langen Dornröschenschlaf erwecken und daraus ein seriöses Buch machen konnte. Sie hatte selbst das Gefühl, seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr geschlafen und von Branco zu neuem Leben erweckt worden zu sein.
Lange vor der Zeit, dachte Billie verzückt. Dornröschen hatte hundert Jahre warten müssen.
Über den Schminktisch gebeugt, einen Hip-Hop-Song summend, kam sie wieder ins Grübeln. Warum hatte sie in letzter Zeit immer das Gefühl, dass das Leben ein Wettkampf sei? Im Grunde genommen war es ihr egal, ob jemand stärker, schöner, glücklicher oder erfolgreicher war als sie. Sie gönnte jedem Glück, Schönheit, Erfolg und Gesundheit und wünschte sich eine harmonische Welt. Obwohl sie ebenso wenig an eine heile Welt glauben konnte wie an das Gegenteil.
Die meisten ihrer Klamotten waren noch in Koffern verstaut. Weil sie nicht bügeln wollte, zog sie die Kleider vom Vortag an. Rote, halbhohe italienische Lackschuhe, einen schwarzen, etwas zu kurzen Rock, eine knallbunte Bluse mit Panther-Motiven, darüber einen schlichten, schwarzen Trenchcoat, in dem sie gleichzeitig ernst und etwas verwegen wirkte. Dazu trug sie schwarze Ohrringe mit einem düsteren, kryptischen Muster. Sie prüfte noch einmal den Lippenstift, entschloss sich, ihn wieder abzuwischen und malte damit ein Herz auf den Spiegel. Dann nahm sie den Vorderausgang zum Aufzug, drückte den Fahrstuhlknopf und eilte, ohne zu warten, ungeduldig die Treppen hinunter. Vor dem Hauseingang pisste gerade ein streunender Hund an einen Kastanienbaum. Billie warf ihm einen freundlichen Blick zu. Das Wetter war milder, als sie erwartet hatte. Sie knüpfte sich den Trenchcoat bis zu den Brüsten auf. Sie fühlte sich prächtig. Auf dem Weg zum Supermarkt dachte sie an die schweren Tüten, die sie nicht mit sich herumschleppen wollte und verschob den Einkauf auf später. Sie ging eine Weile den Fluss entlang, bis sie merkte, dass sie sich immer weiter von der Stadt entfernte. Unbebaute Flächen und Brachland. Überall Zäune. Versperrte Zugänge, die sich immer dreister zwischen sie und den Fluss drängten. Schweinefleisch grillende Osteuropäer, wahrscheinlich Rumänen. Sie überquerte den letzten Fetzen Brachland, der noch zugänglich war, wich einer kleinen Horde von nomadisierenden Punks mit ihren frei herumtobenden Kötern aus und bemerkte einen alten, verwahrlosten Mann, der seinen nackten Oberkörper mit Aluminiumfolie eingewickelt hatte. Auf seiner Stirn und seinen Wangen klebten Schokoriegelhüllen. Über seine Nase hatte er zwei Brillen gestülpt. Er war etwa in Heinrichs Alter, hatte ebenso riesige Hände und kratzte sich unablässig die Läuse aus den blutverkrusteten Haaren. Wahrscheinlich hatte er niemals jemandem etwas zuleide getan, aber sein Los war schlimmer als das eines Mörders. Man hätte ihn in eine Mistgrube werfen, verbrennen oder auf Golgatha kreuzigen können, es hätte seinen Zustand um keine Nuance verschlimmert. Er hatte den Verstand verloren, keine Bleibe und würde den nächsten Winter wahrscheinlich nicht überleben. Billie merkte, wie sie sich immer unbehaglicher fühlte. Sie hatte sich zu lange mit dem armen Irren befasst.
Zumindest scheint die Sonne, dachte sie kläglich. Davon kann Heinrich in seiner Zelle nur träumen.
Sie winkte einem Taxi und ließ sich spontan nach Kreuzberg fahren. Das hektische Gedränge dort ging ihr schnell auf die Nerven. Sie setzte sich in ein Café und bestellte einen doppelten Espresso. In dem Laden saßen hauptsächlich Schwule, und sie langweilte sich ein wenig. Die Unterhaltungen waren kultiviert und gediegen. Vielleicht ein wenig zu geziert und steril, wie das ganze Schickimicki-Ambiente. Sie blätterte lustlos ein Schwulen-Lifestylemagazin durch. Es war erst drei Uhr, und sie dachte daran, wie schwer es ihr fiel, die Zeit totzuschlagen. Sie hätte jemanden anrufen können, aber sie hatte keine Lust zu erklären, warum sie in Berlin und nicht in den Flitterwochen mit Branco war. Ab morgen würde sie ihre Tage straffer organisieren. Es war zu wenig, auf einen Anruf von Branco zu warten und so zu tun, als wäre sie ausgefüllt. Sie hätte aufs Dach ihres Lofts gehen können, um den Himmel zu malen, aber außer ein wenig Spaß hätte ihr das nichts eingebracht. War es möglich, dass sie mit einem Mal ehrgeizig wurde? Oder lag es daran, dass sie ohne Branco das Gefühl hatte, etwas aus ihrem Leben machen zu müssen? Wenn die Liebe nicht greifbar war, wurde sie schnell zur fixen Idee, und es genügte nicht mehr, sich von ihr verzaubern zu lassen. Man wurde schnell misstrauisch, unsicher, einsam.
Er ist gerade mal einen Tag weg, sagte sie sich. Was denke ich für einen Unsinn.
Nachdem sie bezahlt hatte, ging sie über die Straße und stöberte in einem Antiquariat in den Regalen herum. Aus Gewohnheit verbrachte sie eine Zeitlang bei den Romanen der Weltliteratur. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte nach Tatsachenberichten über Psychokiller oder entsprechende Biografien. Sie fand jede Menge Material, von Fritz Haarmann über Ted Bundy bis zu dem »Rosa Riesen«, Wolfgang Schmidt, aber nichts über Heinrich. Auch der Buchhändler fand im Verzeichnis lieferbarer Bücher keine Literatur über ihn. Billie fühlte sich um einen Zentner erleichtert und gleichzeitig so hoch motiviert, dass sie am liebsten losgestürmt wäre, um sich an die Arbeit zu machen. Sie hatte so viele Ideen, aber ihr schauderte etwas vor den Aufgaben, die ihr bevorstanden. Sie hatte noch nicht mal das Bett gemacht oder die Koffer ausgepackt. Sie hatte nur den ganzen Morgen geputzt, als hätte sie ihre Wohnung in einen jungfräulichen Neuanfang schrubben wollen. Aber es gab keinen jungfräulichen Neuanfang. Entweder man war Jungfrau, oder der Neuanfang würde entjungfert beginnen.
Auf dem Weg zur U-Bahn fielen ihr die vielen Paare auf, die vor den Cafés saßen und entspannt miteinander plauderten. Ebenso fielen ihr die Einsamen auf, die dazwischen saßen, nicht entspannt waren und keinen Kaffee tranken. Wie viele waren um diese Uhrzeit schon angetrunken? Man sah es den meisten nicht an. Aber es sah auch keiner Billie an, dass sie ständig bekifft war. Jeder hielt sich so gut es ging über Wasser. Das Leben war eine einzige Sturmflut, und Noahs Arche hatte nur für die Privilegierten Platz.
Sie stieg gerade am Alex um, als Branco anrief. Er klang ziemlich hektisch, war bereits mitten in seinem neuen Projekt, lästerte über Herbie und ließ nebenbei durchblicken, dass er sich mit Marla als Assistentin herumplagen musste.
Ausgerechnet Marla! Die ist doch nur dabei, weil alle scharf auf sie sind, dachte Billie ungewöhnlich gehässig. Anstatt die Flitterwochen mit ihr zu verbringen, war er mit Marla zusammen.
»Du klingst etwas einsilbig, Baby«, sagte Branco, der ununterbrochen geredet hatte.
»Ich bin okay.«
»Vermisst du mich eigentlich?«
»Klar«, sagte Billie. »Ich kann dich kaum noch verstehen. Die Verbindung ist schlecht. Ich bin in der U-Bahn.«
Ein paar Sekunden lang hörte sie nur ein Rauschen.
»Bist du noch dran?«, fragte Branco.
»Ja«, sagte Billie. »Wie lange bleibst du noch weg?«
»Keine Ahnung.«
»Schaffst du es bis Mittwoch?«
»Ich hoffe es, Baby. Ich liebe …«
»Ich liebe dich auch«, sagte Billie.
»Hörst du … ich … scheiße … nichts … spät … ver…«
Sie fühlte sich etwas unwohl nach dem kurzen Gespräch und wollte Branco zurückrufen, um noch einmal seine Stimme zu hören. Aber ihr wurde mitgeteilt, dass ihr Guthaben für das Gespräch nicht mehr ausreichen würde.
In ihrem Loft fiel ihr auf, dass sie nichts eingekauft hatte. Ich muss das Handyguthaben aufladen, dachte sie, keine weiteren Gedanken mehr an das Essen verschwendend. Sie hatte noch ihren Trenchcoat an und wollte wieder zum Ausgang stürzen, aber unterwegs hielt sie an, warf sich auf das Sofa und nahm sich vor, eine Weile gar nichts zu tun.
Eine halbe Stunde später kaufte sie im Supermarkt ein, schleppte die Beutel zurück und fühlte sich mit den Lebensmitteln und einem Ladecode für ihr Handy über vierzig Euro wieder etwas entspannter. Aus den Einkäufen stellte sie sich, eine dicke Tüte im Mund, ein einigermaßen vernünftiges Essen zusammen. Kein schickes Dinner for Two, mit Kerzen, Austern und Wein. Branco und sie waren nie große Prasser gewesen. Sie rief seine Nummer an, aber das Handy war ausgeschaltet. Sie machte sich Kaffee und wusch das Geschirr ab. Dann ging sie rüber ins Arbeitszimmer und zog aus einer großen Kiste voller Zeitungsartikel und einem Wirrwarr aus Notizen ein Manuskript hervor.
Aus dem hageren blonden Jüngling, der vor siebenundvierzig Jahren in diesem Gefängnis verschwand, ist ein neunundsechzig Jahre alter Mann geworden. Breitbeinig und übergewichtig steht er mir gegenüber. Große Augen, blau und suchend. Langes, schütter gewordenes, zurückgekämmtes Haar. Sein weißer Prophetenbart verhüllt den zahnlosen Mund. Ein Handtuch hängt über seinen Schultern. Er schwitzt. Der Mann, der sich früher bei den Polizeivernehmungen selbst als Teufel bezeichnet hat, sieht aus wie ein alt gewordener Hippieprediger. Er trägt einen blauen Jogginganzug und Gummilatschen. Er streckt mir zur Begrüßung seine Hand entgegen. Eine weiße, geschwollene Hand. Die Hand, auf die Oberstaatsanwalt S. gedeutet und dabei pathetisch gerufen hat: »Solange Blut in seinen Mörderhänden pulsiert, muss er hinter Schloss und Riegel bleiben.«
»Ich sehe, du hast dich allein zu mir gewagt«, sagt Heinrich mit fester Stimme und setzt sich.
»Branco lässt Sie grüßen. Aber er ist leider verhindert.«
»Wir bleiben lieber besser gleich beim Du, sonst wird das nichts mit uns beiden.«
»Sorry, ist mir nur so rausgerutscht.«
»›Sorry‹ sagen jetzt viele bei uns. Selbst die Alten, die kein Wort Englisch verstehen.«
Ruhig sitzt er mir an dem kleinen Tisch im Besucherzimmer gegenüber. Ohne sichtbare Emotionen mustert er mich. »Kein Wunder, dass du auf Karneval stehst«, sagt er trocken, weil er weiß, dass ich gerade aus Köln komme.
»Wieso?«
»Na, so wie du aussiehst. Der rote Pullover und der rote Mund.«
»So viel Farbe sieht man hier wohl nicht so oft.«
»Nein«, sagt er und wird ernst. »Ich lebe in einem permanenten Farbentzug.«
Seine Haut ist blass, fast weiß. Vor zehn Jahren hat man ihm eine Niere entfernen müssen. Eine maximale Lebenserwartung von fünf Jahren wurde ihm von den Ärzten prognostiziert. Statistisch gesehen müsste er also längst tot sein. Heinrich glaubt, dass er immer noch lebt, weil Gott noch etwas mit ihm vorhat.
Auf dem Tisch liegt ein großer Briefumschlag, den er mitgebracht hat. Heinrich setzt die Brille auf und zieht einen Zeitungsartikel heraus. Er zeigt auf das große Foto, auf dem eine alte, runzelige Frau mit einem Säugling im Arm zu sehen ist.
»So eine habe ich hier schon mal geküsst«, sagt er und lächelt.
Der junge Beamte, der neben der Tür sitzt, rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Die kam mit meinem Seelsorger Arnold hier rein, den du ja auch schon schätzen gelernt hast«, sagt Heinrich leise und schaut wieder auf das Gesicht der alten Frau. »Ich mag ältere Frauen, mit vielen Falten. Du brauchst also keine Angst vor mir zu haben.«
Wieso sollte ich Angst vor ihm haben?, denke ich leicht alarmiert. Vielleicht hat er mein kurzes Schaudern bemerkt, als sein Blick für Sekunden wie zufällig meinen Hals streifte.
»Wenn ich eine Frau gekannt habe, konnte ich ihr nichts antun.«
»Aber die Friseuse aus Hornberg, die hast du doch auch gekannt. Du warst doch Kunde im Salon, in dem sie gearbeitet hat.«
Heinrichs Stimmung schlägt um. Er wirkt plötzlich ungehalten und gereizt.
»Die habe ich nur gekannt, wie man eben jemanden kennt, dem man guten Tag sagt.«
»Du bist sogar zu ihrer Beerdigung gegangen.«
»Das haben doch alle gemacht.«
»Und die Frau aus Durlach, die in deiner Nachbarschaft gewohnt hat? Sie hat dich an deine Mutter erinnert.«
»Nur ihre Frisur. Aber das haben die anderen behauptet.«
»Du meinst die Presse.«
»Glaubst du, die waren damals seriöser als heute?«
»Aber es stimmt doch trotzdem, was sie über dich geschrieben haben?«
»Nicht alles.«
»Was stimmt denn nicht?«
»Zum Beispiel die Bedeutung der Wörter. Obwohl ich ein großer Rätselfreund bin, hat man mich reingelegt, Billie.«
»Was meinst du damit?«
»Seit Babylon haben wir die Sprachverwirrung. Weißt du das nicht?«
»Aber die Fakten …«
»Zahlen und Daten.«
»Was soll das heißen, Zahlen und Daten? Du hast doch alles gestanden.«
Er wechselt das Thema und erklärt lieber seinen Namen. Namen haben eine große Bedeutung für ihn. In jedem Namen, meint er, liege das Schicksal des Trägers verborgen. Buchstabe für Buchstabe.
»›Pomme‹, das heißt auf Französisch Apfel, und ›renke‹, das ist wie beim Arzt, wenn der zum Beispiel ein Bein wieder einrenkt«, erklärt er wie jemand, der schwerwiegende Erkenntnisse mitzuteilen hat. Bei einem Gespräch mit einem Mormonen, fügt er hinzu, hätte er in Erfahrung gebracht, dass sein Name unter anderem »der Fremde«, »der Unbekannte« und »der Eintretende« bedeute. Seinen Ausführungen zu folgen fällt nicht leicht.
»Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Weißt du, wer das gesagt hat?«
»Wahrscheinlich der Teufel.«
»Zu wem?«
»Wahrscheinlich zu Jesus.«
»Und was hat Jesus gesagt?«
»Keine Ahnung«, sage ich und denke genervt: Wahrscheinlich Verpiss dich.«
»Hebe dich weg von mir, Satan.«
Ich nicke beeindruckt. Seine Stimme klingt gut. Man nimmt ihm den Prediger ab.
»Weißt du eigentlich, dass Kain der erste Gesetzgeber war?«, fragt er, ohne sich zu erklären.
Während ich noch über Kain als Gesetzgeber nachdenke, spricht Heinrich schon über einen Western, den es gestern Nachmittag zu sehen gab.
»Die Handlung mit Pferdekutschen und Raubüberfällen hat mich an früher erinnert. Alles kühn und mit vielen Masken, Billie. Man hat sogar Feste gefeiert, und die Wegelagerin Rebecca sah ein wenig aus wie du. Aber die Spitzel und Schergen haben verloren, auch sie waren nicht gerecht. Am Ende wurden sie im Namen Jehovas gehenkt, das ist eine noch viel größere Sünde …«
Du hast doch auch im Namen Gottes gemordet, denke ich unbehaglich.
Obwohl er langsam und bedächtig spricht, hinke ich seinem thematischen Zickzackkurs gedanklich immer einen Schritt hinterher.
Er erzählt mittlerweile vom Antichrist und erwähnt nebenbei, dass sein Seelsorger Arnold, trotz all seiner menschlichen Qualitäten, nicht fromm genug sei. Als er beschreibt, wie man ihm die Metastasen entfernt hat, fängt er heftig an zu gestikulieren, zeigt genau, wie der Chirurg das Skalpell zum Schnitt angesetzt hat, um seine Bauchdecke zu öffnen. Er starrt fasziniert auf seine Fingernägel. Dann beklagt er sich, dass das Mineralwasser im Gefängnis so teuer sei und die Ärzte ihm vier bis sieben Liter Wasser verordnet hätten, die er sich selber besorgen muss. Aber sich nicht leisten kann.
Immer wieder wischt er sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Dieser zahnlose, korpulente Mann, dem ich schwitzend gegenübersitze, lebt schon weit länger hinter diesen Mauern, als ich auf der Welt bin … und so wie es aussieht, wird er hinter diesen Mauern auch sterben.
Billie war sich nicht sicher. Man konnte das Buch aus der Perspektive der Opfer, des Mörders oder eines neutralen Beobachters schreiben. Als Tatsachenroman à la Capote oder sich konsequent an die Fakten halten. Hinter der Maske des Pseudonyms und pseudofiktiver Geschehnisse hätte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Sie hätte sich ihre künstlerische Freiheit bewahrt und keine rechtlichen Konsequenzen riskiert. Autorisierte Biografien waren meistens eitle, langweilige Schmöker. Aber ohne Autorisierung hätte niemand ihr Buch gedruckt. Sie hatte nichts vorzuweisen, mit dem sie sich bei den Verlagen empfehlen konnte. Sie hätte sich als Co-Autorin hinter Branco verstecken können, aber Tatsache war, dass Branco nicht schreiben konnte und nur halbherzig bei der Sache war. Er musste sich darauf konzentrieren, mit dem, was er konnte, Geld zu verdienen. Er war ein guter Kameramann. Sie wusste nicht, ob sie eine gute Schriftstellerin war, aber sie war bereit, es herauszufinden. Entschlossen, nicht aufzugeben, sich in die schlimmste Hölle zu wagen. Auch Höllen ließen sich aushalten, wenn man ihre Bedingungen modifizieren konnte.
In der Nacht erwachte Billie schweißgebadet neben dem Bett. Sie erinnerte sich an ihren Albtraum wie an ein Stück Wirklichkeit. Sie hatte nackt unter Branco auf dem Rücken einer schaukelnden Gondel gelegen und in das mitleidlose, harte Gesicht eines großen alten Gondoliere mit langen Haaren und Bart geschaut. Sie liebten sich zwischen seinen langen, gichtkranken Beinen, während er brutal mit dem Ruder auf den nackten Rücken von Branco einschlug. Obwohl sie Branco aus ihrem Schoß stoßen wollte, ließ der nicht von ihr ab. Während er immer wilder zum Höhepunkt ritt, schlug ihm Heinrich mit dem Ruder den Schädel ein. Sie lag bereits in einer riesigen Blutlache, als Branco immer noch wie ein geköpftes Huhn in ihrem Unterleib zuckte.
»Ich musste es tun.«
»Warum? Wir haben uns doch so geliebt.«
»Er wollte dich schwängern, und du hättest wieder abtreiben müssen.«
»Nein, du lügst, ich werde nie wieder abtreiben, ich nehme die Pille.«
»Das ist nicht Gottes Wille.«
»Hast du immer Gottes Willen befolgt?«
»Nicht, als ich Saulus war.«
»Du bist immer noch Saulus. Ich nehme dir den Paulus nicht ab.«
Billie brauchte mehrere Minuten, bis sie sich aus ihrem Traum befreit hatte. Das war es wahrscheinlich, was Branco meinte, als er sagte, sie solle sich nicht übernehmen. Heinrich war ein sympathisches Ungeheuer, anmaßend wie der Teufel und gleichzeitig so bedauernswert naiv und durchschaubar in seinen grobschnittigen Versuchen, seinen Verbrechen biblische Dimensionen zu verleihen. Gott habe ihn dazu auserwählt, noch mehr sinnloses Leid in die Welt zu streuen. Er habe ihn zu seinem willigen Werkzeug gemacht. Je schlimmer der Sünder, umso mehr habe Gott mit ihm vor. Hätte er sonst seinen eigenen Sohn zwischen einem Dieb und einem Mörder kreuzigen lassen? Wer von Heinrich die Gründe für seine Verbrechen erfahren wollte, wurde an Gott verwiesen. Nur wer an Sühne und Vergebung glaubte, durfte von Heinrich eine wohlwollende Audienz erwarten, bei der der Besucher immer wie auf einem Beichtstuhl saß.
Nachdem sie eine Weile ziellos durch das Loft gestreift war, vernahm sie am Hinterausgang neben der Küche ein Schaben und Kratzen. Für einen Augenblick erschrak sie und dachte an Ratten. Dann fiel ihr Toni ein. Sie stürzte zur Tür. Er ging breitbeinig an ihr vorbei, beleidigt, weil er zu lange an der Tür hatte kratzen müssen. Er ließ sich trotzdem am Schwanz packen und drehte sich nachgiebig um. Toni drückte seinen großen, zerkratzten Katerkopf an ihr Schienbein, schlich schmeichelnd einmal um ihre Waden herum und eilte dann, ohne weitere Schmusereien zuzulassen, direkt in die Küche. Nachdem er einen ganzen Teller Milch ausgeschlabbert und eine Dose Thunfisch verschlungen hatte, tollte er noch eine Zeitlang mit ihr auf dem Parkettboden herum und legte sich nach einer mäßigen Katzenwäsche, von seinem abenteuerlichen Ausflug erschöpft, zwischen die Kissen ins Bett.
Billie hatte eine gewisse Scheu davor, wieder einzuschlafen, aber sie kuschelte sich trotzdem an Toni. Sein Schnurren war wie ein Schlaflied. Ihre Augenlieder wurden so schwer, dass sie dem grinsenden Halbmond vorm Fenster den Rücken zudrehte und ihren Kopf hinter dem Kater versteckte. Toni war so herrlich beruhigend, trotz seines staubigen Fells. Während sie krampfhaft das immer gleiche Einschlafmantra beschwor, hoffte sie inständig, ihr Schlafbedürfnis würde stärker sein als die Angst.
Sie hatte lange geschlafen und mehr geträumt, als ihr lieb war. In ihren Träumen hatte es eine Menge unerfreulicher Geschehnisse gegeben, die so wirklichkeitsnah schienen und dennoch im Nachhinein nicht mehr greifbar waren. Billie hätte die Erinnerungsfetzen mühsam zusammenstückeln und rekonstruieren müssen, aber dazu fehlte ihr jeglicher Antrieb. Sie war es nicht gewohnt, so viel zu träumen, und sie analysierte nie ihre Träume. Je schneller man sie vergaß, umso besser.
Sie schob eine CD von Johnny Cash in den Player, aber seine traurigen Altmännerballaden halfen ihr auch nicht, besser in den aschfahlen Tag einzusteigen. Nach einem halben Billie-Holiday-Song fand sie im Ersten Klavierkonzert von Beethoven die adäquate Einstiegsmusik. Bis zu den letzten zaghaften Solopianoklängen hatte sie genügend Aufbruchstimmung getankt, um die ersten deprimierenden Zwischentöne gut gelaunt leiser zu stellen und sich besser konzentrieren zu können. Aber Toni flitzte wie ein Berserker im Loft herum. Nachdem Billie ihn mit Trockenfutter ruhiggestellt hatte, kochte sie Kaffee. Dann ging sie, ohne selbst einen Bissen zu essen, an den Schreibtisch zurück und begann weiterzulesen.
Als junger Mann hielt sich Heinrich in seiner Freizeit gern in seinem Zimmer auf und las viel. Er hatte einen Lieblingstraum. In diesem Traum strandete er als Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel in der Südsee. Dort lebten nur Frauen. Und er sorgte als einziger Mann konkurrenzlos für Nachwuchs. Alle Kinder auf der Insel waren blond und blauäugig, sahen aus wie er selbst. Unter Palmen streichelte er seinen vielen schwangeren Frauen über die dicken Bäuche und flüsterte ihnen einen Willkommensgruß für die ungeborenen Wesen ins Ohr.
Billie wurde beinahe übel bei dem Gedanken an eine ganze Kolonie voller kleiner blauäugiger Heinis. Was hätte er mit dem dunkeläugigen Nachwuchs gemacht? Alle erwürgt, verstümmelt oder erschlagen? Wenn es ihm nur um Sex und Nachwuchs ging, wieso hatte er dann die anderen Frauen so bestialisch ermordet?
Wenn er frei wäre, würde er gern als Wanderprediger durchs Land ziehen oder auf einem großen Bauernhof leben, zusammen mit vielen Tieren. Vielleicht mit einer gleichaltrigen Frau, die auch ruhig pflegebedürftig sein dürfte. Natürlich wäre es gut, wenn es doch mit einem Lottogewinn klappen würde. Einen Teil davon würde er dann an seinen Zellennachbarn abgeben. Der hat, wie Heinrich sich ausdrückt, »so ein ähnliches Problem wie Jürgen Bartsch«. Kein schlechter Mensch, obwohl er auch bei ihm so etwas wie menschliche Wärme vermissen würde.
Die »Bergpredigt«, aus der er gern zitiert, kennt er in- und auswendig. Sonntags schmettert er Lieder im Kirchenchor und hilft gelegentlich dem Anstaltspfarrer bei den Vorbereitungen für den Gottesdienst.
»Ich bin nicht rein, aber gewandelt«, sagt Heinrich.
»Ich bleibe dabei, dass es gefährlich ist, ihn rauszulassen«, sagt sein Gutachter.
Billie ging mit der leeren Tasse zur Kaffeekanne und schenkte sich nach. Sie war davon überzeugt, dass Heinrich nicht geheilt werden konnte, wenn er denn überhaupt krank sein sollte. Sie nahm ihm sogar ab, dass er zum Glauben gefunden hatte, aber das bewies überhaupt nichts. Die Kirche war ein willkommener Zufluchtsort für alle Sünder, denen sonst keiner vergeben wollte. Sie hätte für ihn garantiert nicht die Hand ins Feuer gelegt. Aber Paranoia und Angst waren keine Argumente, einem Verbrecher keine zweite Chance zu geben.
In tiefe Gedanken versunken begann sie sich im Loft umzusehen. Sie musste noch Vorhänge, Stehlampen und Bettwäsche kaufen. Außerdem fehlten ein Bücherregal, zwei Sessel und Rahmen für allerlei Bilder, die sie aufhängen wollte. Sie dachte an den Citroën, den sie zurückgelassen hatte, und fragte sich, ob Branco darüber verärgert sein würde. Sie hatte einfach nicht die Nerven gehabt, in einer fremden Stadt auf die Reparatur zu warten und allein zurückzufahren. Dafür würde sie ohne Brancos Hilfe die überflüssigen Möbel des Vormieters aus dem Loft räumen. Sie hatten etwas Erdrückendes an sich, das sie nicht erklären konnte.
Billie begann sofort mit der Arbeit. Nach anderthalb Stunden Schufterei hatte sie alle Möbel bis auf eine sperrige Kommode durch den Hinterausgang geräumt. Von der Schlepperei erschöpft, ließ sie sich in einen Schaukelstuhl sinken. Zum ersten Mal bemerkte sie das hintere Treppenhaus. Sie wunderte sich über den staubigen und verwahrlosten Zustand. Die Tür gegenüber führte zu einem einsturzgefährdeten Gebäude und war provisorisch von außen verriegelt. Der Putz löste sich von den Wänden. Es roch nach Moder und Schimmel. Sie hatte das verlassene Haus nicht so nahe an ihrer Wohnung vermutet. Von außen betrachtet war es eigentlich offensichtlich, aber Billie hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht.
Von unten klang das Klirren von Flaschen. Billie wurde mit einem Mal klar, dass das Abbruchhaus vielleicht doch nicht ganz unbewohnt war. Sie wollte gerade wieder zurück, als Toni zur Tür hinaus flitzte. Bevor sie ihn aufhalten konnte, war er bereits auf der untersten sichtbaren Treppenstufe. Sie sah gerade noch, wie er fast aus der Kurve schlitternd verschwand. Billie stürzte ihm nach, bis sie ein Stockwerk tiefer entschied, dass sie ihn nicht weiter verfolgen würde. Aus der Tiefe des Nachbargebäudes drangen Stimmen, die nicht einladend klangen. Jemand lachte hämisch, und ein anderer weinte, während sich eine Frau über beide so sehr aufregte, dass Billie eine Gänsehaut von dem hysterischen Gekreische bekam. Sie wollte so schnell wie möglich zurück, aber ihr Blick fiel auf eine aufgebrochene Tür. Schaudernd erkannte sie einen tiefen, grässlichen Raum mit Matratzen, Flaschen, Fäkalien und an die Wände gesprühten Hass-Graffiti. Das war also ihre unmittelbare Nachbarschaft, deswegen war die Miete so erschwinglich gewesen. Sie versuchte, in dem riesigen Raum, der nur von der Treppenbeleuchtung seine unterscheidbaren Konturen erhielt, etwas zu erkennen. Sie sah in funkelnde Augenpaare, die nicht zu Toni gehörten, und konnte sich einen Moment lang nicht bewegen: Rattenaugen stierten sie an. Dann riss sie sich aus ihrer Trance und stürmte in die Wohnung zurück. Sie verriegelte sämtliche Schlösser und lehnte sich gegen die Tür. Es war eine Schande, in so einer Nachbarschaft leben zu müssen. Zutiefst angeekelt und wütend ging sie zum Telefon und wählte die Nummer der Hausverwaltung.
Der Zustand des hinteren Treppenhauses sei skandalös, schnaufte Billie außer Atem. Sie zählte alle Mängel und Schrecken auf und drohte sogar mit dem Ordnungsamt. Aber die Sekretärin teilte ihr desinteressiert mit, dass sie für das Nachbargebäude nicht zuständig seien. Eigentlich müsste der Hinterausgang zugemauert oder versperrt sein. Billie erzählte von Toni, und die Sekretärin gab ihr den Rat, dass sie ihn mit Katzenfutter wieder zurücklocken sollte. Ihre Katzen würden alle auf Thunfisch stehen. Abgesehen von ihrem Siamkater … Als die Sekretärin um einen Termin für einen Besuch des Hauswarts bat, um das Schloss auszuwechseln, legte Billie den Hörer auf.
Sollte sie wirklich noch einmal zurückgehen, um Katzenfutter für Toni auszulegen? Dann würde Toni vielleicht überhaupt keinen Grund mehr haben, in die Wohnung zu kommen. Oder die Ratten würden es fressen, drei Meter neben ihrer eigenen Küche. Sie würden den Lebensmittelvorrat riechen, das Loft belagern und beginnen, sich einen Weg in ihre Wohnung zu nagen. Billie wurde es schwindelig, sie konnte sich kaum noch gerade halten, dann überzeugte sie sich, dass weder in der Küche noch sonst wo im Loft Löcher waren.
Nachdem sie ausgiebig geduscht hatte, zog sie frische Unterwäsche und ihre Kleider vom Vortag an, schnappte sich das Manuskript und ging ungeschminkt nach draußen. Auf einer Parkbank, im Schatten einer Blätter regnenden Eiche, beschäftigte sie sich wieder mit Heinrich. Sie schaukelte unruhig hin und her und konnte sich kaum konzentrieren. Als sie merkte, dass sie ganze Passagen ungelesen überflogen hatte, rollte sie sich einen Joint, nahm ein paar Züge und begann noch einmal von vorne.
Seine Familie hat sich schon lange von ihm losgesagt. Seine Mutter besuchte ihn nie im Gefängnis. Seine Schwester stellte die Besuche und den Briefkontakt nach ihrer zweiten Hochzeit vor über dreißig Jahren ein. Vom Tod seiner Mutter erfuhr Heinrich nur durch ein notarielles Schreiben, in dem er aufgefordert wurde, einen Erbschaftsverzicht zu unterschreiben.
Die Einsamkeit und die Verzweiflung haben Heinrich oft genug an den Rand des Wahnsinns gebracht.
»Man sollte unsere Zellen in einer japanischen Leichtbauweise errichten.«
Er weiß, wovon er spricht. Immer wieder hat er Tobsuchtsanfälle bekommen und das ganze Inventar zerschlagen, ist rasend gewesen vor Wut und Ohnmacht. Wegen seiner Wutanfälle hat man ihn des Öfteren in das Justizvollzugskrankenhaus auf den Hohenasperg gebracht, in eine der Einzelzellen der psychiatrischen Abteilung. Die kasernenartige Festung dient dem Land Baden-Württemberg seit Anfang der Fünfzigerjahre als einziges Gefängniskrankenhaus. Dorthin werden die behandlungsbedürftigen Häftlinge gebracht, die in den Gefängnissen nicht ausreichend versorgt werden können.
Die psychiatrische Abteilung war zur Hälfte belegt mit den »Eisenfressern«, die Nägel, Schrauben, Besteck oder Ähnliches verschluckten, den »Schnipflern« mit Todessehnsucht und blutenden Unterarmen, den Tobsüchtigen, die alles zerschlugen, was in Reichweite kam. Die andere Hälfte stellten die Suchtkranken auf Entzug, chronisch Geisteskranke, leicht Schwachsinnige oder psychotische und neurotische Persönlichkeiten. Alles in allem war die »Psyche« kein Ort der Genesung.
Seit Ende der Fünfzigerjahre waren die bis dahin benutzten Zwangsjacken, Fesseln und Elektroschocks fast überflüssig geworden. Man setzte stattdessen das Medikament Haloperidol ein, und Ruhe war auf der Station eingekehrt. Das Mittel gegen psychotische Erregungszustände war ein Abkömmling des Wirkstoffs Chlorpromazin und hob die Wirkung des Neurotransmitters Dopamin auf, indem es die Rezeptoren der Nervenzellen blockierte.
Wer für sich oder andere keine Gefahr mehr darstellte, wurde zurück in die Haftanstalt überwiesen und galt als vorerst geheilt. Der Ausnahmezustand konnte mit Haloperidol ausgeblendet werden. Die Raserei wich tauber Resignation. Der Aufschrei verstummte. Jeder Wunsch, jedes Ziel, jedes Begehren wurde gelähmt. Das Resultat waren dumpfe Apathie und die Unfähigkeit, zu empfinden.
»Ich werde aus meinem Bewusstsein gerissen und kann nicht erkennen, ob ich bin«, sagt Heinrich. »Wer mich an meinem Sein zweifeln lässt, der tötet mich in Wahrheit.«
Heinrich vereinnahmt gern. Er macht keinen Unterschied zwischen den Methoden seiner Peiniger und seinen eigenen Mordmotiven. Er geht immer vom endgültigen Tatbestand aus und sieht sich in einer langen Reihe von Sündern – mit dem Unterschied, dass er sich seiner Vergehen bewusst ist und dafür büßt.
Die Vorstellung, dass Heinrich Pommerenke irgendwann einmal entlassen werden könnte, versetzt die Angehörigen und Freunde seiner Opfer in laute Empörung und tiefes Entsetzen.
»Dieser Mann darf nie freikommen, ich bin ganz entschieden dagegen!«, sagen sie, und: »Wenn der Pommerenke rauskommt, gehe ich nicht mehr auf die Straße«, oder: »Dass er krebskrank hinter Gittern sitzt, ist noch zu wenig.«
Wieder muss ich meinen Personalausweis zeigen. Diesmal nicht im Gefängnis, sondern in einem kleinen, spießigen Reihenhaus irgendwo in Süddeutschland. Der Ehemann von Giesela P. notiert sich sorgfältig die Angaben. Sein Nachbar sei Kriminalbeamter, sagt er, und von dem werde er alles überprüfen lassen.
»Man kann ja nie wissen … nachher habe ich hier eine Bombe drin. Der 11. September hat es ja bewiesen. Denen hat man ja auch getraut, da oben in Hamburg.«
Seine Frau fröstelt und zupft sich die rot gefärbten Haare zurecht. Sie trägt schwarze Leggings und einen engen Pullover. Dass sie schon über sechzig ist, sieht man ihr nicht an. Ihre beiden Töchter sind längst aus dem Haus. Noch heute leidet Giesela P. unter Verfolgungsangst. Nach Einbruch der Dunkelheit fühlt sie sich nur hinter verschlossenen Türen sicher. Wenn es klingelt, schreckt sie immer noch zusammen. Es könnte ja schließlich Pommerenke sein. Seit sie in der Zeitung von seiner möglichen Haftentlassung gelesen hat, ist sie außer sich vor Angst, weil sie glaubt, dass Heinrich sie aufspüren und töten wird. Bis vor einiger Zeit hat sie vier Stunden am Tag als Sekretärin gearbeitet. Wenn sie um zwanzig Uhr Feierabend hatte und in der Dunkelheit zu ihrem Auto laufen musste, wurde sie immer wieder von der gleichen panischen Furcht gepackt, die sie erst wieder verließ, wenn sie hinter der verriegelten Autotür saß.
Sie räuspert sich und fasst sich an den Hals. Alles in ihr sträubt sich dagegen, über die furchtbare Nacht zu sprechen, in der sie von Pommerenke in ihrem Schlafzimmer der elterlichen Wohnung in Singen überfallen und fast zu Tode gewürgt wurde. Wütend beschwert sie sich über ihren Bruder, der ihre Adresse an mich weitergegeben hat. Nicht umsonst hat sie eine Namenssperre bei der Telefonauskunft verhängen lassen. Journalisten hat sie bis jetzt immer abgewiesen. Von der Möglichkeit, die Hilfe eines Psychologen in Anspruch zu nehmen, hält sie wenig. »Niemand kann das, was ich erlebt habe, nachempfinden, deshalb kann mir auch niemand helfen«, sagte sie in sturer Verzweiflung und fasst sich wieder an den Hals, als würde sie noch immer den eisernen Druck auf ihrem Kehlkopf spüren. »So einen kann man nicht therapieren«, meint Giesela und schüttelt sich voller Abscheu. Dass sich ein Gutachter finden könnte, der die Freilassung befürwortet, wäre für sie und ihren Mann das Schlimmste, was passieren könnte. Es gibt eine doppelte Tragik in ihrem Fall. Der Vater von Giesela hielt bis zu seinem Tod an den Vorwürfen fest, dass seine Tochter den Überfall selbst provoziert hätte. Der Schock von damals sitzt immer noch tief. Auch die Zeit danach, als sie mehrmals von Polizeibeamten abgeholt wurde, um mögliche Tatverdächtige zu identifizieren, hat ihr Wunden geschlagen. Nachts wacht sie oft schweißgebadet auf.
»Neulich habe ich wieder einen Albtraum gehabt«, erzählt sie, »da haben mich zwei Männer aus dem Haus gezerrt, und ich musste mit ihnen in einen Wagen steigen. Ich dachte, sie wollten mich zum Polizeipräsidium bringen, aber sie fuhren mich zu einem Baggersee. Ich sollte eine Wasserleiche identifizieren, die von Pommerenke erwürgt worden sei, bevor er sie in den See geworfen hat.«
Wieder der Griff an den Hals.
»Einmal bin ich im Auto die Straße hoch zu unserem Haus gekommen«, fährt Giesela fort, ihre Angstzustände zu beschreiben. »Ich sehe Licht in einem der Fenster, obwohl niemand zu Hause sein konnte. Ich erschrecke zu Tode und muss erst einmal eine halbe Flasche Wein trinken, bis ich mich ins Haus traue. Später bin ich darauf gekommen, dass sich nur die Autoscheinwerfer im Fenster gespiegelt haben …«
Mit zitternden Händen blättert sie in dem Ordner herum, in dem sie alte Zeitungsartikel über den Fall aufbewahrt. Dazwischen liegen Blätter mit Zeichnungen von Filmstars der Fünfzigerjahre, die sie skizziert hatte, als sie noch davon träumte, an einer Modeschule angenommen zu werden. Ihr Blick fällt auf ein Bild Pommerenkes. Ein verstörter Jüngling in Handschellen.
»Wenn man den hier so sieht, könnte man fast Mitleid mit ihm haben«, sagt sie leise.
»Den hätte man gleich einen Kopf kürzer machen sollen«, sagt ihr Mann und schüttelt verständnislos den Kopf.
Billie fühlte sich mit einem Mal so erschöpft, dass sie sich fast auf der Parkbank ausgestreckt hätte. Es war kurz vor zwei, und Brancos Handy war ausgeschaltet. Alles in ihr sträubte sich, weiter an Heinrich zu denken. Wer war auf den blöden Gedanken gekommen, ein Buch über einen Mörder zu schreiben? Sie oder Branco? Wahrscheinlich ich, dachte Billie. Es war trotzdem nicht ihre Schuld, dass sie die Flitterwochen mit diesem Ungeheuer verbrachte. Alles was mit ihm zu tun hatte, deprimierte sie. Sie konnte die Fünfzigerjahre nur noch durch Heinrichs Verbrechen hindurch betrachten und spürte, dass ihr eigenes Leben immer mehr aus der Gegenwart in die Vergangenheit glitt. In eine Zeit, in der sie nicht leben wollte, aber in die sie von ihrem Protagonisten hineingezwungen wurde. Während sie sich unbehaglich im Park umsah, fiel ihr auf, wie sehr sie sich von ihrer Umgebung abgeschottet hatte. Sie hatte weder die spielenden Kinder noch die Frauen mit ihren Kinderwagen bemerkt. Es ging auf die graue, ungemütliche Phase der letzten Herbsttage zu. Bald würden die meisten Bäume entblättert sein, und der verblassende Zauber der Natur schien schon jetzt von einer finsteren Todesahnung erschüttert. Sie dachte an Brancos Versprechen, ihren Honeymoon nachzuholen, und fühlte sich gleich etwas wohler. Vielleicht fliegen wir auf die Bahamas oder nach Thailand, dachte sie, ohne daran zu denken, was das kosten würde.
Während sie aufbrach, verblassten alle Gedanken an Heinrich. Sie ließ sich einfach nur treiben und versuchte, sich hinter dem wolkenverhangenen Himmel eine herrliche Sommersonne vorzustellen, die man unweigerlich einholen würde, wenn man ihr nur lange genug hinterhereilte. Spätestens in Indien, in den kotverklebten Straßen von Bombay, hätte sie sich unter ihren sengenden Strahlen wieder nach Hause gesehnt. Alles war relativ. In wenigen Tagen würde Branco wieder zurück sein, und sie konnten sich auch in Berlin amüsieren und lieben, ohne dafür auf die Bahamas oder nach Thailand fliegen zu müssen.
Als sie am Ausgang des Parks auf eine Buchhandlung stieß, blieb sie stehen und sah sich die Auslagen an. Viel Frauenliteratur, jede Menge Kriminalschmöker, amerikanische Bestseller aus der verlogenen Welt der prassenden Bourgeoisie und Promi-Bios. Billie war, als müsste man sich erst in die Medien drängen, um überhaupt gelesen zu werden.
Sie riss sich von der Auslage los und ging weiter. Nachdem sie eine Weile ziellos durch die Straßen gestreunt war, begann es zu regnen, und sie stellte sich an einer Bushaltestelle unter. Hinter ihr plärrten die Ansagen des Bahnhof Zoo – »Schiphol«, »Frankfurt-Oder«, »Warschau«. Wie war sie hierhergekommen? Und alles zu Fuß. Sie hatte kein Gepäck dabei, sonst hätte sie sich vielleicht in einen Zug gesetzt, die Schuhe abgestreift, wäre irgendwann eingeschlummert und an einem unbekannten Ort wieder aufgewacht. Sie erinnerte sich an die lange Zugfahrt nach Bruchsal und wünschte, sie hätte den nächsten Gefängnisbesuch bereits hinter sich. Vielleicht hatte Branco recht und sie brauchte gar keine Interviews mehr. Heinrich würde ihren Fragen nur wieder ausweichen, Gegenfragen stellen, kryptische Anspielungen auf ihre Abtreibung machen und das Neue Testament zitieren, als hätte Matthäus eigens für ihn die »Bergpredigt« erfunden.
»Das ist mein lieber Sohn Heinrich, an dem ich Wohlgefallen habe.«
Billie dachte an eine andere Stelle, die besser auf Heinrich passte.
»Seht euch vor den falschen Propheten vor, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.«
Das passte auf viele, aber die wenigsten saßen hinter verschlossenen Türen. Wenn sie jetzt noch mit der Bibel herumexperimentierte, konnte sie sich gleich in die Klapsmühle einweisen lassen. Es gab kein verrückteres Buch als diese hybride Anhäufung von Märchen, Lügen, Geschichtsfälschungen, Widersprüchen, Heucheleien und poetischen Ausschweifungen …
Das Erste, was Billie von der jungen Frau wahrnahm, war das Tapsen eines weißen Stocks, der leicht ihre Zehen berührte.
»Oh, verzeihen Sie, bitte.«
»Kein Problem«, sagte Billie.
Es war eine ruhige, melancholische Frauenstimme, die mit einem osteuropäischen Akzent sprach.
Sie ist blind, dachte Billie.
Als sie sich nach ihr umwandte, erschrak sie vor den unterschiedlich großen Pupillen und den durch Narben entstellten Augen. Sie senkte unbehaglich den Blick. An dem nervösen Tapsen des Blindenstocks merkte sie, dass sich die Frau ihrer Sache nicht sicher war.
»Warten Sie auf einen Bus?«, fragte Billie, ohne sie anzusehen.
»Ich glaube, ich bin zu spät ausgestiegen«, sagte die Frau. »Ich bin mit dem Zug angekommen.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Zum Frankfurter Tor.«
»Dann hätten Sie am Ostbahnhof aussteigen müssen.«
»Ich war für kurze Zeit eingenickt«, sagte die Frau. »Ich komme aus Warschau.«
»Sie sind allein von Warschau nach Berlin gereist?« Billie war beeindruckt.
»Ich reise immer allein. Aber ich war noch nie in Berlin«, sagte die Frau.
»Zum Frankfurter Tor nehmen Sie besser ein Taxi.«
»Dann muss ich wohl zum Taxistand.«
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«
»Gern.«
Billie stellte sich neben sie und schätzte den Weg ab. Er war etwas holprig und voller Menschen, aber sie würden ihnen schon ausweichen.
»Darf ich mich bei Ihnen einhängen?«
»Klar«, sagte Billie.
Als sie neben ihr herging, merkte Billie an ihrem geschmeidigen Gang, dass sie gut miteinander harmonierten. Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass die Frau blonde Haare, eine Stupsnase und Sommersprossen hatte. Bis auf das grelle, zerfurchte Weiß ihrer Augen, sah ihr Profil beinahe niedlich aus.
»Besuchen Sie jemanden?«
Billie fühlte bereits eine emotionale Nähe zu der jungen Polin, was ihre indiskrete Frage zu rechtfertigen schien.
»Ja, aber er kann mich nicht abholen«, sagte sie etwas verlegen.
»Wenn Sie wollen, begleite ich Sie«, bot Billie an.
»Oh, das würden Sie tun?«
Im Taxi bemerkte Billie, wie der Fahrer ungeniert durch den Rückspiegel die Augen der anderen Frau anstierte. Eine Blinde war das optimale Objekt eines jeden Voyeurs. Aber solange er nur ihre Augen fixierte, war dagegen nichts einzuwenden. Sie hätte eine Brille tragen können.
Die junge Touristin konzentrierte sich ganz auf die Vibrationen der Stadt. Es war, als würde sie alle neuen Eindrücke in sich einsaugen wollen.
»Können Sie Schemen erkennen?«, fragte Billie nach einer Weile.
»Nein, ich sehe gar nichts«, sagte die Frau.
»Schon immer?«
»Ich habe Diabetes. Als ich zwanzig war, ließ meine Sehkraft extrem nach. Man hat so lange an meinen Augen herumoperiert, bis ich überhaupt nichts mehr sehen konnte.«
Sie sprach von der Hoffnung, eines Tages geheilt zu werden. Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben. So wie die Wissenschaft und die Medizin immer rasantere Fortschritte machten, war nichts auszuschließen. Billie hatte in ihrem ganzen Leben noch niemals jemanden so traurig eine Hoffnung aussprechen hören wie diese Frau. Und doch schien ihr ganzes Wesen so offen für jeden Impuls von außen, als hätte sie ihre trostlose Finsternis pausenlos mit allen Sensationen des Lebens ausfüllen wollen. Wahrscheinlich sah sie in jedem Lufthauch, in jedem vorbeiratternden Auto und in jedem Atemzug ihrer Nächsten so viele Bilder, dass sie vielleicht sogar manchmal vergaß, dass sie blind war.
Am Frankfurter Tor zahlte Billie das Taxi und begleitete die Frau durch ein Labyrinth von Durchgängen und Hinterhöfen bis vor die Haustür. Der riesige Plattenbau lag in einer grünen Oase mit einem Bolz- und einem Spielplatz. Die Frau erkundigte sich nach den Geräuschen, und Billie erklärte ihr, so gut sie konnte, ihre unmittelbare Umgebung.
»Kommt er Ihnen entgegen?«
»Ja, ich habe ihm ein Signal geschickt.«