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Beschreibung

Die perfekte Lektüre für alle, die mitreden wollen, wenn sich Pop-Nerds unterhalten!

Pop ist überall und so viel mehr als nur Musik. Pop ist bunt und aufregend, einfach und vielschichtig, steht für Spaß und kann doch auch polarisieren. »Rolling Stone«-Redakteur Maik Brüggemeyer bahnt uns einen Weg durch den Dschungel der Vielfalt, erzählt die Geschichte und Geschichten dieses Massenphänomens und beantwortet die ganz großen Fragen: »Wer ist bedeutender – die Beatles oder die Rolling Stones?«, »Kann Bob Dylan eigentlich singen?«, »Warum war die letzte Poprevolution weiblich?« ... und »Wieso sammelt man noch Schallplatten?«.

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MAIK BRÜGGEMEYER, geboren 1976, hat in Münster Geistes- und Sozialwissenschaften studiert. Seit 2001 arbeitet er beim Rolling Stone. Er schreibt über Musik, Literatur und Film und veröffentlichte bisher zwei Romane und ein Sachbuch. Pop. Eine Gebrauchsanweisung ist sein zweites Buch im Penguin Verlag.

I’ve been looking for Frieden in der Presse:

»Über Pop gleichzeitig klug und witzig zu schreiben, hat in Deutschland keine lange Tradition. Maik Brüggemeyer beherrscht diese Kunst. Bitte mehr davon.« tagesspiegel

»Manchmal hilft ein kleiner Perspektivwechsel, um eine schon so oft erzählte Geschichte wie die der Popmusik in Deutschland wieder reizvoll zu machen.« SPIEGEL Online

»Ein ungewöhnliches, aber auch sehr überraschendes Geschichtsbuch. Wer das Buch von Maik Brüggemeyer liest, wird Deutschland ein bisschen anders, ein bisschen besser verstehen.« rbb

»Eine lesenswerte und gut lesbare, teils vergnügliche, immer spannende Tour durch etwa 70 Jahre (Musik-)Geschichte!« neue Musikzeitung

Außerdem von Maik Brüggemeyer lieferbar:

I’ve been looking for Frieden

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Maik Brüggemeyer

Eine Gebrauchsanweisung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Hafen Werbeagentur gsk GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: © IgorKrapar/iStock

Redaktion: Jürgen Teipel, Schondorf

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24357-9V001

www.penguin-verlag.de

Diese sprechenden Maschinen werden die künstlerische Entwicklung der Musik in diesem Land ruinieren. Als ich ein Junge war, fand man an jedem Sommerabend vor jedem Haus junge Leute, die gemeinsam die Lieder des Tages oder alte Lieder sangen. Heute hört man diese höllischen Maschinen Tag und Nacht. Wir werden bald kein Stimmband mehr haben. Das Stimmband wird durch einen Evolutionsprozess eliminiert, ebenso wie der Schwanz des Menschen, als er vom Affen kam. … Die Zeit wird kommen, da niemand mehr bereit ist, sich der edlen Disziplin des Musiklernens zu unterwerfen. Jeder wird seine fertige Musik oder Raubmusik in seinen Schränken haben.

John Philip Sousa, 1906

Inhaltsverzeichnis

Hinweise zum Gebrauch

Pop – was ist das, und warum brauche ich dazu eine Gebrauchsanweisung?

Die Geschichte der Gegenwart

Welche Musik war vor Pop populär, und was muss man über sie wissen?

Basiert der Erfolg der Popmusik auf Diebstahl?

Welches Jahr ist das wichtigste in der Entwicklung der Popmusik und warum?

Was ist noch gleich das beste Album aller Zeiten?

Ist Pop politisch?

Ist das Motto Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll noch zeitgemäß?

Welches Geschlecht hat Pop?

Von Britney Spears zu Billie Eilish: Warum war die letzte Pop-Revolution endlich im Sinn des Feminismus?

Auf welchem Weg kam Hip-Hop zur Weltherrschaft?

Welche Rolle spielt deutsche Musik in der Popwelt?

Was muss man tun, um in Deutschland ein Superstar zu werden?

Lebt Elvis wirklich noch?

Das richtige Leben

Wie hört man Musik am besten – auf Schallplatte, CD oder doch gleich im Stream?

Club oder Stadion – wo sieht man die besseren Konzerte?

Darf man bei Konzerten Fotos und Videos mit dem Telefon machen?

Muss man kiffen, um Reggae zu mögen? Kann man Techno ohne Ecstasy genießen?

Darf man Musik von Rechtspopulisten, Pädophilen und Vergewaltigern hören?

Kann man in der Popmusik alt werden?

Wie findet man den richtigen Bandnamen?

Warum erzählen Lieder von Lieblingskünstlern so oft vom eigenen Leben?

Warum sammelt man(n) eigentlich Schallplatten (und frau nicht)?

Wo kauft man am besten seine Schallplatten?

Wie befreit man einen Tonträger aus der Zellophanfolie?

Der gute Geschmack und die feinen Unterschiede

Was ist guter Geschmack?

Muss Musik schön sein?

Muss Musik aufregend sein?

Sind Gitarrensoli sexistisch?

Was ist der Unterschied zwischen Rock und Rock ’n’ Roll?

Kann Bob Dylan eigentlich singen?

Wer ist bedeutender – die Beatles oder die Rolling Stones?

Wer war für die Beatles wichtiger – John Lennon oder Paul McCartney?

Wann wurde Country cool?

Sollten Popmusiker ins Theater gehen? (Oder: Der Fluch des Robert Wilson)

Warum gibt es R&B gleich zweimal?

Was ist von Comebacks alter Lieblingsbands zu halten?

Das Handwerk

Kann man über Architektur tanzen?

Welche Wörter und Wendungen sollte man vermeiden, wenn man über Popmusik schreibt?

Können nicht eigentlich nur Musiker über Popmusik urteilen?

Wie sollte man die Jahresbestenlisten der Musikkritiker lesen?

Machen Interviews mit Musikern eigentlich Spaß?

Wie schreibt man einen Song?

(Vorerst) Letzte Fragen

Ist die Rockband ein Auslaufmodell?

Wird das Album überleben?

Gibt es keine Genies mehr, oder warum haben Hits heute so viele Autoren?

Was ist ein Mood – und warum wird er das Genre obsolet machen?

Brauchen wir noch Popjournalismus?

Schreibt künstliche Intelligenz die besseren Popsongs?

Wie sieht der Popstar der Zukunft aus?

Wie werde ich Popexperte?

Und zu guter Letzt: Welches Lied soll man für die eigene Beerdigung auswählen?

Auswahlbibliografie

Dank & Diebstahl

Hinweise zum Gebrauch

Pop – was ist das, und warum brauche ich dazu eine Gebrauchsanweisung?

Pop ist überall, und jeder redet über ihn – oder ist es eine Sie? Man spricht von Pop-Art, Popmusik, Popliteratur und sogar Popkultur, und jeder scheint zu wissen, was damit gemeint ist. Dabei denken die einen vielleicht zunächst an Andy Warhol, der die bunte Nachkriegswelt des Konsums in seiner Kunst abbildete und Suppendosen zu Kunstwerken erklärte. Andere eher an die Musik der Beatles oder die Inszenierungen und Verkleidungen von David Bowie, an die Superstars der Achtziger Madonna, Michael Jackson und Prince, an das Glamour-Paar Jay-Z und Beyoncé oder an die schauspielende Sängerin oder singende Schauspielerin Lady Gaga. Wieder andere rümpfen die Nase, assoziieren mit dem Wort vor allem das Triviale und Oberflächliche der heutigen Kultur, die für das pure Amüsement und die Zerstreuung der Massen produzierten Produkte der Unterhaltungsindustrie – und vergessen dabei, dass auch die subkulturellen Ursprünge von Punk, Reggae oder Hip-Hop nichts anderes sind als Pop.

Für ein Buch, das behauptet, eine Gebrauchsanweisung zu sein, scheint es mir jedoch zunächst sinnvoll, sich diesem allgegenwärtigen Phänomen nicht über Kunst, Künstler oder Kulturtheorie zu nähern, sondern über etwas, das wir alle immer griffbereit haben. Pop findet man beispielsweise oft in Hosen-, Mantel- oder Umhängetaschen. Es wäre jetzt an der Zeit, mal nachzuschauen. Nichts gefunden? Nur einen Schlüsselbund, ein etwas zerfasertes und verkrumpeltes Taschentuch, ein Mobiltelefon und zwei Pfandmarken von irgendeinem Konzert, die nicht eingelöst wurden, weil es schon spät und die Schlange vor der Theke zu lang war? Ist auf dem Telefon eine App zum Abspielen von Musik und eine zum Abspielen von Videos? Und ein Internetbrowser, mit ein paar Lesezeichen zu irgendwelchen bevorzugten Zeitungen und Magazinen, deren Lektüre in der U-Bahn oder beim Arzt die Zeit verkürzen, und sind da vielleicht auch noch ein paar Bookmarks zu Seiten von Online-Versandhäusern für Kleidung, Bücher, Inneneinrichtung? Sicher findet sich auch ein E-Mail-Programm, und im Posteingang sind einige Nachrichten von Freunden, die von den neuesten Songs, Serien oder Büchern schwärmen oder nach einer Begleitung fürs Kino oder ein Konzert in der nächsten Woche suchen.

Pop ist all das, besteht aus Klängen, Bildern, Texten, Kleidung, Artefakten und Gesprächen, die sich in unserer Massenkultur verbreiten. Pop ist ein Bedeutungszusammenhang, der sich um ein Produkt der Musikindustrie herum entfaltet. So haben die meisten Texte in diesem Buch ihren Ausgangspunkt zwar in der Musik, doch die anderen oben genannten Elemente schwingen immer mit. Die Musik an sich ist erst mal ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, doch indem wir uns damit beschäftigen, sie teilen und uns darüber austauschen, wird daraus das, was wir Pop nennen. Ein Song wird für uns erst relevant und aufregend, wenn er auf unser Leben trifft.

Als ich im Oberstufenraum des Johannes-Kepler-Gymnasiums im westfälischen Ibbenbüren zum ersten Mal die amerikanische Band Pavement hörte, die ein älterer, mir nicht bekannter Schüler in den Schulkassettenrekorder gelegt hatte, änderte das alles. Ich glaube, es war der Song »Here«, in dem der Sänger Stephen Malkmus anfangs äußerst gelangweilt quengelt: »I was dressed for success / But success it never comes / And I’m the only one who laughs / At your jokes when they are so bad / And your jokes are always bad / But they’re not as bad as this …«

Wenige Wochen später hatte ich dank der Informationen, die ich mir mühsam aus dem Musikfernsehen und britischen Musikmagazinen geholt hatte, nicht nur einige Freunde von der weltbewegenden Wichtigkeit dieser Band überzeugt. Manche trugen, so wie ich, bald auch ähnliche Frisuren wie Malkmus, hatten sich ein seinem Stil würdiges Hemd gekauft und trugen die gleichen Retro-Turnschuhe. Seine hängerisch-kraftlose Haltung und die ungelenk-schlaksigen Bewegungen musste ich nicht extra einstudieren, die hatte ich von Haus aus drauf. Und seine Verweigerungshaltung gegenüber jeder Art von falscher Pose und kommerzieller Vereinnahmung war mir sofort sympathisch.

Popmusik scheint also mehr zu sein als ein paar Akkorde und ein bisschen Gesang – nämlich ein komplexer Zusammenhang aus kulturellen Zeichen und versteckten Codes, Praktiken und Strategien, Outfits, Haltungen und Geschichten. Pop ist Teil des kapitalistischen Systems und stellt sich zugleich manchmal dagegen. Und so, wie ich den Begriff in diesem Buch verstehe, war sein Nährboden der nach Ende des Krieges durch zunehmenden Wohlstand größer werdende Markt junger Menschen mit ausreichender Kaufkraft. Immer mehr Haushalte hatten mit dem Fernseher ein Fenster in die aufregende bunte weite Welt (auch wenn die zunächst noch in Schwarz-Weiß erschien), und immer mehr Jugendliche hatten Geld, das sie hauptsächlich dafür ausgeben wollten, an dieser Welt teilzuhaben. Sie wollten die engen Grenzen ihres Elternhauses sprengen, sie wollten nicht länger still in Kinosesseln sitzen und die Sehnsüchte anderer nachempfinden, sie wollten sich bewegen, sie wollten ausbrechen, sie wollten Spaß haben. Sie sahen und hörten Sänger, die genau davon erzählten und dazu zuckten, als würden sie sich wie der große Entfesselungskünstler Harry Houdini aus den Ketten befreien, die die Gesellschaft ihnen angelegt hatte: Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis, Elvis Presley, Buddy Holly.

Vor allem diese fünf zettelten eine Revolution an, verdrehten einer Generation den Kopf – und auch die Jugendlichen nachfolgender Generationen liefen daraufhin mit verdrehten Köpfen herum und unterhielten sich in dieser Sprache, die jeder von ihnen verstand und durch die jeder von ihnen Individualität ausdrücken konnte. Denn obwohl die Popmusik ein Massenphänomen war, konnte man sich über die kleinen Unterschiede und Abweichungen als Individuum definieren: durch die Bands, die man hörte, und noch mehr durch die, die man nicht hörte, durch die Zeichen, die man mit seiner Kleidung und seiner Frisur vermittelte, über die Art, wie man sprach und wie man tanzte, und die Magazine, die man las. Die feinen Unterschiede waren mindestens genauso wichtig wie das Verbindende.

Doch das hat sich mittlerweile geändert. In einer Zeit, in der jede Form von Musik jederzeit verfügbar ist, muss man sich nicht mehr entscheiden, was man für seine begrenzten Ressourcen kaufen und hören will, und somit: wer man sein will. Man bezahlt höchstens ein Abo für einen Streamingdienst und hört einfach alles. Am Morgen ist man ein Mönch in seiner Klause und lauscht Johann Sebastian Bach, mittags ist man Achtzigerjahre-Popper und wippt den Kopf zu den Pet Shop Boys, nachmittags fühlt man sich als Mod, genießt den Soul der Impressions und peitscht sich mit The Who auf, wird mit den Get Up Kids zum Emo, mit den Buzzcocks zum Punk, zerstört diese Identität mit ein bisschen Pink Floyd, um dann mit dem Rapper und Pulitzerpreisträger Kendrick Lamar und der Neo-Soul-Sängerin Erykah Badu den Tag zu beschließen.

Jeden Moment jemand anders sein zu können – auch das ist eine Freiheit, wie sie nur die Popmusik bieten kann. Andererseits ist in dieser neuen Form der Nutzung von Musik auch eine gewisse Beliebigkeit und Unverbindlichkeit angelegt. Der Bedeutungszusammenhang löst sich auf. Es gibt keine ausgeprägten Haltungen mehr, keine Outfits, keine Szenen. Und auch die Texte, die einem kulturelle und soziale Zusammenhänge zur Musik aufschlüsseln und Geschichten darüber erzählen können, werden immer seltener gelesen. Heute lässt man sich von Algorithmen leiten, die einem zeigen, was man hören soll. Warum man das tun soll, erklären sie allerdings nicht. So bleibt man als Hörer in der gated community seines einmal anhand von Eckdaten festgelegten Geschmacks gefangen, jede Form von Reibung und Irritation wird vermieden, der Dissens und die Distinktion, die einst entscheidend waren für die identitätsstiftende Kraft der Popmusik, gehen damit verloren. Das Wissen über die feinen Unterschiede und die großen Fragen verliert allmählich an Bedeutung. Das merken vor allem die Musikmagazine und -kritiker, deren Vermittlerfunktion und Einordnungen nicht mehr so gefragt sind wie früher. Die Künstler kommunizieren über soziale Medien direkt mit ihren Fans, anstatt Journalisten, wie etwa dem Autor dieses Buches, Interviews zu geben. Jede ihrer Äußerungen ist mehrfach vom Management gecheckt, die Instagram-Story hat den Artikel ersetzt und das Marketing den Mythos. Musik wird in Playlists eingeordnet und nicht mehr in ein subtiles persönliches Raster, das man aus Plattenkritiken oder Abhandlungen über Stile, Szenen oder Künstler entwickelt hat.

Es ist sicher kein Zufall, dass in der ersten Hälfte der Zehnerjahre dieses Jahrhunderts gleich vier gewichtige Werke erschienen sind, die sich mit der Geschichte der Popmusik beschäftigten und ein bisschen wirkten, als seien es eigentlich vorweggenommene Nachrufe auf eine alte Industrie und ein tradiertes Popverständnis. Der britische Musikjournalist Simon Reynolds (Jahrgang 1963) beleuchtete 2012 in seinem Buch Retromania die Sucht der Popmusik nach ihrer eigenen Vergangenheit – schrieb über die vielen Wiederveröffentlichungen alter Platten und über Reunions ehemals großer oder auch nicht so großer Bands, die das kriselnde Musikgeschäft am Laufen halten und einem den Eindruck vermitteln, Popmusik musealisiere sich zunehmend selbst.

Im Jahr darauf lieferte der britische Musiker und Autor Bob Stanley (Jahrgang 1964) mit Yeah Yeah Yeah – The Story of Modern Pop gewissermaßen den (übrigens sehr unterhaltsamen und kenntnisreichen) Ausstellungskatalog zu diesem Pop-Museum. Deutschlands führender Theoretiker in Sachen populärer Musik, Diedrich Diederichsen (Jahrgang 1957), legte 2014 unter dem Titel Über Pop-Musik ein von seinem Verlag als »Opus Magnum« angepriesenes fünfhundertseitiges Werk vor, in dem er sich daranmacht, diesen schillernden und flatterhaften Gegenstand namens Pop theoretisch aufzuspießen und in einen Schmetterlingskasten einzusortieren.

Sein Kollege Karl Bruckmaier (ebenfalls Jahrgang 1957) tat es ihm in seiner auch sehr lesenswerten und überaus originellen Story of Pop ein Jahr später mit eher erzählerischen Mitteln gleich.

Als Redakteur der deutschen Ausgabe des Rolling Stone, der in den vergangenen Jahren vermehrt sogenannte alte Helden auf seinen Titelblättern präsentierte, bin ich (Jahrgang 1976) selbst ein Teil der Pop-Musealisierungsmaschine und gehöre zu den Vermittlern, Zwischengängern und Einordnern, die durch soziale Medien und Algorithmen vom Aussterben bedroht sind. Ich habe mich schon in jungen Jahren vor allem in die Vergangenheit des Pop verliebt – in klassische Songs mit herrlichen Melodien und Harmonien, die man mitsingen kann, in Gitarrenbands und Diven, in Mythen und Legenden, Plattenspieler und Tonbandgeräte. Ob sich diese Vorliebe in diesem Buch niederschlägt? Natürlich tut sie das! Wenn man von der Faszination eines Gegenstands erzählt, sollte man bei sich selbst anfangen. Gerade wenn es um Popmusik geht, diese in Warenform gekleidete Form des Individualismus. Und, ja, vieles lässt sich anhand der Beatles und Bob Dylans erklären, Künstlern, die uns allen mehr oder weniger vertraut sind, die Grundlagen für die Popmusik gelegt haben, wie wir sie heute kennen, und deren Werk ich liebe, seit ich in jungen Jahren zum ersten Mal einen Ton von ihnen gehört habe.

Diese Art der Beschäftigung mit Musik ist vielleicht dem Umstand geschuldet, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin. Von der Aufregung über die neueste Musik und die neuesten Moden bekam ich direkt kaum etwas mit. Ich las darüber, aber konnte diese schöne, immer wieder neue Welt – bis ich in den Besitz eines Führerscheins kam – nicht leibhaftig erleben. Ich machte Secondhand-Erfahrungen (etwa wie die Geschichtsstunden aus Büchern). Aber an denen hänge ich immer noch. Sie haben mein Bild von Popmusik entscheidend geprägt. Und ich glaube, dass sie für ein tieferes Interesse an dieser Kunstform, die über den Moment und kurzen Kick hinausweist, grundlegend sind – gerade in einer Zeit, in der Alt und Neu im großen Archiv des Internets gleichberechtigt nebeneinanderstehen und man jederzeit Neues entdecken kann, das eigentlich schon uralt ist.

»Die Vergangenheit ist niemals wirklich vergangen, sie fließt immer weiter durch alles hindurch, was uns umgibt«, erzählte mir im Januar 2019 der kalifornische Rhythm-and-Blues-Musiker Nick Waterhouse (Jahrgang 1986). Er nimmt seine klassischen, nach alten Zeiten klingenden Lieder immer noch mit analogem Equipment auf und hält die digitale Welt für Teufelszeug. Aber das, was da durch die Gegenwart fließt, kann eben auch ein Stream sein. Hätte ich Waterhouse, der durchaus ein Mann unserer Zeit ist und keineswegs ein Ewiggestriger, ein paar Jahre früher getroffen, hätte ich mir seine Antwort borgen können, als mich ein Freund mit der Frage aufzog, worüber ich denn schreiben würde, wenn Paul McCartney, Bob Dylan, die Rolling Stones und Neil Young mal tot seien. Ich sagte damals ein bisschen übermütig: »Ach, ich werde dann einfach der Joachim Kaiser der Popmusik. Der schreibt auch über hundert Jahre nach dem Tod von Richard Wagner noch immer über den.« War natürlich nicht ganz ernst gemeint. Denn erstens schreibe ich selbstverständlich oft über neue aufregende Musik, und zweitens unterscheidet sich die klassische Musik von der Popmusik ja in Aufführungspraxis und Rezeption beträchtlich.

Aber Kaiser veröffentlichte 2012 unter dem Titel Sprechen wir über Musik ein unterhaltsames und lehrreiches Buch, in dem er Fragen seiner Leser zur klassischen Musik beantwortete, die in der Zusammenschau so etwas wie eine kleine Klassikkunde ergaben. Nun bin ich ebenso wenig mit dem 2017 verstorbenen Klassikpapst zu vergleichen wie die sogenannte Unterhaltungsmusik mit der ernsten Musik, doch die Idee seines schmalen Bandes gefiel mir – das Dialogische und Offene, Unakademische und Anekdotische daran. Denn auf diese Art kommuniziert man ja in der Regel auch über Popmusik. Also sammelte ich Fragen, die mir in Mails und auf Podien gestellt wurden, über die ich mit Freunden, Bekannten und Unbekannten in Kneipen und bei Konzerten diskutierte.

Daraus ist nun Pop.Eine Gebrauchsanweisung entstanden, ein Buch, das der Musik, die ich liebe, die Bedeutung zugesteht, die sie verdient, und dabei im Gegensatz zu den oben genannten Standardwerken nicht den Anspruch hat, etwas ein für alle Mal zu fixieren. Es ähnelt eher einer Karte, die man liest, dann aber wegwirft, um sich gezielt zu verirren. Denn nur wenn Regeln missachtet, Dinge missverstanden, infrage gestellt, umgedeutet und gegen ihren eigentlich intendierten Zweck verwendet werden, wird das prächtige Spiel namens Pop spannend bleiben und weitergehen. Und das tut es glücklicherweise Tag für Tag.

Die Geschichte der Gegenwart

Welche Musik war vor Pop populär, und was muss man über sie wissen?

Emil Berliner, ein 1870 vor der Einberufung des preußischen Militärs in die USA ausgewanderter Niedersachse, meldete 1887 ein Patent für eine Scheibe aus Hartgummi an, in die von außen nach innen eine schneckenförmige Rille eingeritzt war. In dieser Rille steckte Musik. Man musste sie nur von der Nadel des ebenfalls von ihm erfunden Grammofons abtasten lassen. Der Brite Thomas Alva Edison hatte zwar auch schon ein Tonabspielgerät entwickelt, aber dafür brauchte man einzeln bespielbare und somit sündhaft teure zylinderförmige Tonträger. Berliners Schallplatte ließ sich mühelos reproduzieren und war nach angepasster Rezeptur – statt Hartgummi nahm man Baumwollflocken, Schieferpulver, Ruß und Schellack – äußerst günstig und klang zudem besser. So war der Weg für die Verbreitung von Musikaufnahmen geebnet.

Bereits 1906 hatte diese neue Massenkultur einen eloquenten Kritiker gefunden. »Diese sprechenden Maschinen werden die künstlerische Entwicklung der Musik in diesem Land ruinieren«, erklärte der amerikanische Komponist und Dirigent John Philip Sousa. »Als ich ein Junge war, fand man an jedem Sommerabend vor jedem Haus junge Leute, die gemeinsam die Lieder des Tages oder alte Lieder sangen. Heute hört man diese höllischen Maschinen Tag und Nacht. Wir werden bald kein Stimmband mehr haben. Das Stimmband wird durch einen Evolutionsprozess eliminiert, ebenso wie der Schwanz des Menschen, als er vom Affen kam.«

Über Stimmbänder verfügen wir noch, aber die Prognose des Mannes, der seinerzeit als König der Marschmusik galt, war durchaus hellsichtig. »Die Zeit wird kommen, da niemand mehr bereit ist, sich der edlen Disziplin des Musiklernens zu unterwerfen«, fuhr er fort. »Jeder wird seine fertige Musik oder Raubmusik in seinen Schränken haben.«

Der Schrank ist heute eine Cloud, die irgendwo auf einem Server liegt. Doch zunächst kam die fertige Musik aus dem Radio. Anfang der Zwanzigerjahre nahm der erste kommerzielle Sender in den USA seinen Betrieb auf, ab 1926 gab es mit der National Broadcasting Company (NBC) das erste landesweite Radionetzwerk. Einen massenhaft reproduzierbaren Tonträger und ein Massenmedium zur Verbreitung von Musik gab es also schon weit vor der Rock-’n’-Roll-Revolution.

Die Musik, die in dieser Zeit populär war, hat ihren Ursprung ganz zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Storyville, dem Vergnügungsbezirk von New Orleans. Dort gab es seinerzeit zweitausend Prostituierte, siebzig professionelle Spieler und dreißig Pianisten – jedenfalls wenn man Coming Through Slaughter,dem Debütroman des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje glauben darf. Einer, der das bunte Treiben übertönte, der alle aus den Bars und Spielhöllen, Bordells und Honky-Tonks auf die Straße lockte, war Ondaatjes Protagonist: der real existierende Kornettist Buddy Bolden – Friseur, Trinker, Frauenheld und Bandleader. Er konnte keine Noten lesen und spielte nach Gehör alles, was er aufschnappte: Ragtime, Trauermärsche, Blues und Gospel. Die Herkunft dieser Musik war egal, entscheidend war, was er daraus machte: Bald nannte man es Jazz, abgeleitet vom englischen jism, das sowohl die geistige Energie als auch den männlichen Samen bezeichnete. Das Rotlichtmilieu, aus dem die neue Musik entsprang, war also in ihren Namen eingeschrieben.

Wenn der Blues von der tragischen Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung, von Sklaverei und Rassismus, Armut und Krankheit Zeugnis ablegte, war Jazz die Utopie der Befreiung. »Die besten Erklärungen, die Schwarze über ihre Seele abgegeben haben, haben sie auf dem Tenorsaxofon abgegeben«, sagte der Saxofonist Ornette Coleman; »triumphale Musik« nannte Martin Luther King den Jazz in seinem Geleitwort zum Berliner Jazzfestival 1964 und verwies auf die Parallelen zwischen dem Überlebenskampf der Afroamerikaner und dem Existenzkampf des modernen Menschen. »Jeder hat den Blues. Jeder sehnt sich nach Sinn. Jeder hat das Bedürfnis, in die Hände zu klatschen und glücklich zu sein. Jeder sehnt sich nach Glauben. Musik – und ganz besonders die weite Kategorie des Jazz – ist ein Sprungbrett in diese Richtung.«

Buddy Bolden landete 1907 vom Alkohol niedergerungen im Irrenhaus, wo er vierundzwanzig Jahre später, mit Mitte fünfzig, starb. Auch das ist Jazz: die Drogen, der Wahnsinn und der zu frühe Tod. Die psychiatrische Anstalt Bellevue in Kips Bay, Manhattan, soll besonders viele Jazzmusiker beherbergt haben. Der offene Rassismus am Tag auf den Straßen und die Bewunderung am Abend in den Clubs, wo sie tagein, tagaus bis zur völligen Verausgabung spielten, forderten ihren Tribut.

Über Buddy Bolden gibt es jede Menge Geschichten, Tondokumente gibt es keine. Die erste Jazzplatte erschien 1917 bei der Victor Machine Company: Die Original Dixieland Jass Band spielte »Livery Stable Blues« und »Dixie Jass Band One-Step«. Die große Stunde der neuen Musik schlug in den Zwanzigern während der Prohibition. Der Verkauf alkoholischer Getränke war verboten, und die Vergnügungssüchtigen trafen sich in illegalen Flüsterkneipen, den Speakeasies, um Bier und Hochprozentiges zu trinken und zu Jazz zu tanzen. Der Absatz der Platten stieg stark an. Die Bluessängerin Bessie Smith verkaufte von ihrem »Crazy Blues« über einhunderttausend Exemplare und wurde zum ersten Star des Jazz.

Auch weiße Musiker begannen, die erfolgreiche Form zu adaptieren – vor allem der Dirigent Paul Whiteman, in dessen Orchester unter anderem der Kornettist Bix Beiderbecke und der Klarinettist und Saxofonist Tommy Dorsey spielten. Man nannte Whiteman bald den »King of Jazz«, ein Titel, der eher prägenden Musikern wie dem Pianisten Jelly Roll Morton oder dem Trompeter Louis Armstrong zugestanden hätte, doch die kamen in Zeiten der Rassentrennung, in denen schwarze Musiker ihre Stücke auf für den afroamerikanischen Markt gedachten race records veröffentlichten, für einen solchen Titel nicht infrage.

Whiteman machte mit seinem Orchester Musik für die weiße Bevölkerung und war daher darum bemüht, dem Jazz ein nobleres Image zu geben. (Diese Form der Domestizierung der afroamerikanischen Musik, die dazu dient, sie für eine kaufkräftige weiße Mittelschicht zuzubereiten, ist eine Strategie, die auch in späteren Jahren in der Pop- und Rockmusik eine Rolle spielte, wie im weiteren Verlauf dieses Buches zu sehen sein wird.) Dafür brauchte er die Hilfe des Komponisten George Gershwin, der in seinem Auftrag ein Stück schrieb, in dem er Jazzelemente in eine sinfonische Struktur wob.

Die erste Aufführung dieser »Rhapsody In Blue« fand am 24. Februar 1924 in der New Yorker Aeolian Hall statt. Der Abend stand unter dem Motto »An Experiment in Modern Music«, und berühmte »ernste« Musiker wie Igor Strawinski, Sergej Rachmaninow und Fritz Kreisler saßen im Publikum. Whiteman und sein Palais Royal Orchestra mit Gershwin am Klavier waren als Vorletzte dran – da waren die Zuhörer schon kaum mehr aufnahmefähig, zudem war die Lüftungsanlage ausgefallen. Die Begeisterung der Kritiker hielt sich vielleicht auch deshalb in Grenzen. Aber die zwei Aufnahmen des Stücks, die Whitemans Orchester in den folgenden Jahren einspielte, verkauften sich millionenfach und bereiteten den Weg für die großen Jazz Big Bands der Swing-Ära.

Zu den prägenden Bandleadern und Arrangeuren gehörten hier neben Whiteman, Glenn Miller, Artie Shaw und Bennie Goodman auch afroamerikanische Künstler wie Lionel Hampton, Earl Hines, Count Basie und Fletcher Henderson. Der größte unter ihnen war ein Musikersohn aus Washington, D. C., der in den folgenden Jahrzehnten zum wohl einflussreichsten und größten Komponisten des Landes werden sollte: Edward Kennedy Ellington, den alle wegen seines eleganten Auftretens den »Duke« nannten.

Die Swing-Ära ging ihrem Ende entgegen, als es durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg unmöglich wurde, große Big Bands zu unterhalten. Die Ensembles wurden kleiner. Vor allem in New York begannen zudem Musiker wie der Saxofonist Charlie Parker, der Trompeter Dizzy Gillespie und der Pianist Thelonious Monk, den Jazz als eine Kunstform jenseits des Tanzvergnügens zu begreifen. Die Stücke wurden schneller, die Rhythmen komplexer, die Soli aggressiver. Bebop nannte sich diese neue Spielart, die aus der einstigen Popmusik etwas für Kenner machte.

Ende der Vierziger entwickelte sich in New York um den Trompeter Miles Davis und den Arrangeur Gil Evans ein gegenläufiger, sanfterer und melodischerer Stil: der Cool Jazz, der schließlich an der Westküste etwa durch den Trompeter Chet Baker und den Saxofonisten Gerry Mulligan zelebriert wurde. Doch mit der steigenden Popularität von Rhythm and Blues und Rock ’n’ Roll wurde im sogenannten Hard Bop das Tempo wieder angezogen. Musiker wie die Saxofonisten Dexter Gordon, Sonny Rollins und Cannonball Adderley, der Schlagzeuger Art Blakey und auch Miles Davis mit seinem Quintett, zu dem bald ein junger Saxofonist mit dem Namen John Coltrane gehörte, begannen ihre Stücke meist mit einem Motiv, das die Akkorde für die anschließenden Soli der Ensemblemitglieder vorgab, sodass sich die Akkorde in immer neuen improvisierten Kombinationen wiederholten.

Gegen Ende des Jahrzehnts begannen Davis, Coltrane und der Pianist Bill Evans sich im modalen Jazz von diesem recht starren System zu lösen, improvisierten nicht mehr nach Vorgabe herkömmlicher harmonischer Akkordfolgen, sondern nutzten neben konventionellen Tonleitern auch mittelalterliche Kirchentonarten, indische, arabische und afrikanische Musiken. Der Meilenstein Kind Of Blue von Miles Davis ist wohl das bekannteste Beispiel des Modal Jazz.

Der Drang nach Freiheit, den der Jazz verkörperte, war damit noch nicht gestillt, wie schon die Titel der Alben des Alt-Saxofonisten und radikalen Neuerers Ornette Coleman Ende der Fünfziger/Anfang der Sechziger zeigten: Something Else!!!!, Tomorrow Is The Question!, The Shape Of Jazz To Come, Change Of The Century und schließlich Free Jazz. Letztgenannter Titel wurde zur Bezeichnung eines neuen Stils: Die Rhythmen wurden frei, die harmonische Tonalität wurde aufgegeben, der Unterschied zwischen Solo und Begleitung, Klang und Geräusch aufgehoben. Mit der Beschleunigung des urbanen Lebens beschleunigte sich auch die Entwicklung des Jazz. »Ich habe mehr gelebt, als ich in den Begriffen des Bebop ausdrücken kann«, erklärte der Saxofonist Albert Ayler Ende der Sechziger. Die Musik wurde freier, expressiver und zugleich spiritueller – Alben trugen Titel wie Ascension, Karma oder Music Is The Healing Force Of The Universe.

Doch die enorme Geschwindigkeit, mit der sich Jazz entwickelte, forderte ihren Tribut. Spätestens Anfang der Siebziger schien Fortschritt nicht mehr möglich, war die Freiheit des Free Jazz selbst zu einer Formel geworden, und es gab nur noch zwei Richtungen – zur Seite oder zurück. Der Seitfallschritt führte zu Vermählungen des Jazz mit Rock, Soul, Funk, Elektronik und vor allem Weltmusik – »Fusion« nannte man das, und wieder war Miles Davis mit Alben wie Filles De Kilimanjaro, In A Silent Way, Bitches Brew und On The Corner eine der prägenden Figuren. Doch als er sich 1975, kreativ ausgebrannt und entkräftet von langen Tourneen, zurückzog und Gelenkschmerzen, Magengeschwüre und Depressionen mit Alkohol, Pillen und Kokain bekämpfte, schien auch der Jazz am Ende.

Musiker wie der Trompeter Wynton Marsalis wollten ab den Achtzigern dann wieder zurück zur reinen Lehre, sich um die Bereiche des Jazz kümmern, die dieser in den Fünfzigern und Sechzigern hastig hinter sich gelassen hatte. Im Grunde war Jazz selbst hier eine Avantgarde, denn dieselbe Retromanie konnte man kurz darauf auch im Pop beobachten. Der Essayist Geoff Dyer hat den Jazz mal mit einem Hai verglichen – er lebt nur, solange er sich immer weiterbewegt, immer vorwärts. Haben wir es also mittlerweile mit einem toten Hai zu tun? Oder riecht er nur komisch – nach Fisch vermutlich –, wie Frank Zappa schon 1974 behauptet hat?

Der afroamerikanische Philosoph Cornel West schreibt in seiner Autobiografie, er sei ein blues man im Geiste und ein jazz man in der Welt der Ideen. Er gehe von der Katastrophe aus, glaube aber an ihre Überwindung. Wo immer sich dieser Glaube findet, lebt der Geist des Jazz weiter. Und es ist kein Zufall, dass seine befreiende und visionäre Kraft vor allem im Hip-Hop, der Musik also, in der sich die afroamerikanische Befindlichkeit und der Kampf für Freiheit und gegen Rassismus seit Mitte der Achtziger vor allem spiegeln, immer wieder genutzt und adaptiert wurde – von A Tribe Called Quests sozialkritischem Meisterwerk The Low End Theory bis hin zum Rapper Kendrick Lamar, der mit seinem Werk To Pimp A Butterfly die Spannungen und Konflikte des gegenwärtigen Amerika sezierte – und die Karriere des Saxofonisten Kamasi Washington anschob, dessen Triple-Album The Epic im selben Jahr einen regelrechten Jazzboom auslöste.

Während sich früher im Hip-Hop viele Künstler an den Grooves der Jazz-Samples orientierten, die sie einsetzten, halten mittlerweile im Jazz – etwa auf den brillanten Alben des Schlagzeugers Makaya McCraven – Techniken des Hip-Hop Einzug, Beats werden gesampelt und geloopt und geben den Stücken ab und an eine Tanzbarkeit, wie der Jazz sie zu seinen Anfängen hatte. Eine neue Generation entdeckt die Geschichte einer Musik, die einst im Storyville von New Orleans ihren Anfang genommen hatte, und Jazz ist wieder Pop.

Basiert der Erfolg der Popmusik auf Diebstahl?

Sam Phillips liebte die schwarze Musik. Er war als jüngstes von acht Kindern auf einer Farm nahe Florence/Alabama aufgewachsen, die seine Eltern gepachtet hatten und bewirtschafteten. Arme Leute, die gemeinsam mit schwarzen Leiharbeitern auf den Feldern standen und Baumwolle pflückten. Die Afroamerikaner sangen oft bei der Arbeit – spirituelle Lieder, Arbeitslieder, Blues. Auch der kleine Sam half mit auf dem Feld, und so gingen ihm die Lieder in Fleisch und Blut über. Als er Ende der Dreißigerjahre mit sechzehn das erste Mal nach Memphis kam, schlich er sich zur Beale Street, wo sich viele Blues- und Jazzclubs befanden. Es war, als hätte er das Paradies entdeckt. Irgendwann, möglichst bald, wollte er hierhin zurückkehren.

Nachdem sein Vater pleitegegangen und kurz danach gestorben war, musste er die Familie durchbringen, arbeitete in einem Lebensmittelladen und für einen Bestattungsunternehmer, wurde schließlich Radiomoderator. Und irgendwann führte ihn sein Weg tatsächlich wieder nach Memphis, wo er eine kleine Plattenfirma gründete und ein Studio einrichtete, in dem die ersten Aufnahmen mit damals völlig unbekannten afroamerikanischen Musikern wie B. B. King, Junior Parker und Howlin’ Wolf entstanden. Mit der jungen schwarzen Band Jackie Brenston and his Delta Cats, die in Wahrheit die Band von Ike Turner war, Tina Turners späterem Mann (Jackie Brenston war nur der Saxofonist), produzierte Phillips die Single »Rocket 88«, die für viele Historiker heute als die Geburtsstunde des Rock ’n’ Roll gilt.

Phillips liebte seine Arbeit, und er liebte die Musik, aber Geld konnte er damit nicht verdienen. »Wenn ich einen weißen Mann mit schwarzem Sound und schwarzem Gefühl finden könnte«, erklärte er seiner Assistentin Marion Keisker, »könnte ich eine Milliarde Dollar machen.« Was er nicht wusste: Er kannte diesen Mann bereits. Ein Teenager aus Tupelo, der irgendwann im Sommer 1953 ins Studio gekommen war und knapp vier Dollar bezahlt hatte, um zwei Lieder für seine Mutter aufzunehmen. Im Januar 1954 war er noch mal wiedergekommen und hatte zwei weitere Lieder aufgenommen. Ein guter Balladensänger. Als Phillips ihn einbestellte, um einen Schmachtfetzen mit dem Titel »Without You« einzusingen, kriegte der Junge, der mittlerweile als Lastwagenfahrer arbeitete, das aber nicht so richtig hin. Gitarrist Scotty Moore und Bassist Bill Black wollten schon ihre Instrumente einpacken, doch da schnappte der Sänger sich seine Gitarre, verfiel in wilde Zuckungen und sang den alten Bluessong »That’s All Right« von Arthur Crudup. Moore und Black stiegen ein, Phillips schaltete schnell und schnitt alles mit. Das war genau das, was er suchte. Der von einem Weißen gesungene afroamerikanische Song wurde in Memphis ein Radiohit.

Besonders schwarz klang der junge Elvis Presley allerdings nicht, eher wie ein Hillbilly. Er durfte dann auch tatsächlich in der damals unglaublich populären Countryshow Grand Ole Opry in Nashville auftreten.

Der in einem heute zu Weißrussland gehörenden Dorf geborene Leonard Chess, der mit seinem Bruder Phil in Chicago das Blueslabel Chess gegründet hatte, kam ein paar Monate nach Phillips auf die umgekehrte Idee: Er ließ einen afroamerikanischen Sänger einen Hillbilly-Song singen. Der Mann hieß Chuck Berry und hatte Chess auf Vermittlung des Bluessängers Muddy Waters kontaktiert. Berry spielte Chess zwei Lieder vor: das Bluesstück »Wee Wee Hours«, das auf einem Song von Big Joe Turner basierte, und den Western Swing »Ida Red« des texanischen Sängers Bob Wills, den er in »Ida May« umbenannt hatte. Chess sah im Studio eine Tube Wimperntusche des Herstellers Maybelline rumliegen und schlug vor, dem Stück den Titel »Maybellene« zu geben (es also aus rechtlichen Gründen noch mal anders zu buchstabieren) und statt über die angebetete Salondame aus dem Wills-Song lieber über junge Mädchen und schnelle Autos zu singen und den Rhythmus durch Bass und Maracas zu betonen. Damit war die Zauberformel des Rock ’n’ Roll gefunden. Die Single wurde landesweit ein Riesenhit, und allein 1955 wurden davon über eine Million Exemplare verkauft.

So viel setzte Elvis von seinen Singles bei Sun Records nicht um. Aber bald nahm ihn der Manager Colonel Parker unter seine Fittiche und besorgte ihm mit RCA eine größere Plattenfirma. Dort erschien sein erstes Album, eine Sammlung von Country- und Popsongs weißer Songwriter, seiner Version von Carl Perkins’ Rockabilly-Nummer »Blue Suede Shoes« und drei Rhythm-and-Blues-Nummern, die auch im Repertoire schwarzer Künstler wie Little Richard oder Ray Charles waren. Doch in Presleys Interpretationen klangen sie vollkommen anders. Das lag an Scotty Moores hervorgehobener Gitarre und dem eigenwilligen Gesang, der zugleich sanft und doch aufmüpfig klingen konnte. Geradezu revolutionär wirkte es, wenn man dem Sänger dabei zusah, wie er bei seinen ersten TV-Auftritten provokativ das Becken kreisen ließ, sodass die Kameramänner auf Weisung der Sender näher heranrücken und aus ihm einen »Mann ohne Unterleib« machen mussten.

Elvis war die neue große Sensation im Showgeschäft. Bald nannte man ihn den »King of Rock ’n’ Roll«. War das gerecht? Oder hatte er jene schwarzen Musiker, die diese Musik erfunden hatten, beraubt? War er also ungefähr so der König des Rock ’n’ Roll wie Paul Whiteman in den Zwanzigern der König des Jazz? Kulturelle Aneignung nennt man es, wenn Angehörige einer herrschenden Schicht die Strategien und Kunstformen einer unterdrückten Schicht vereinnahmen, um daraus Profit zu schlagen.

Dazu passt eine Anekdote, die Keith Richards über den ersten Besuch seiner Rolling Stones im Chess-Studio erzählte: »Da war dieser Typ im schwarzen Overall, der die Decke strich. Und es war Muddy Waters, dem weiße Farbe übers Gesicht lief, und er stand auf dieser Leiter.« Ob es wirklich genau so war, ist mittlerweile umstritten, aber es ist eine ikonische Szene der Rockmythologie geworden, die viel über das Machtverhältnis von schwarzen und weißen Musikern aussagt.

Die Stones begannen ihre Karriere mit Coverversionen schwarzer Blues- und Rhythm-and-Blues-Songs, und da sie jung waren und britisch, adaptierten sie diese Stücke nach den Moden des langsam ins Swingen geratenden London jener Jahre. Man könnte sagen, sie weißelten die Lieder, so wie Muddy Waters, den sie verehrten und nachahmten, in Chicago die Studiodecke weißeln musste, weil er eben mit der Musik nicht so viel Geld verdiente wie sie.

Auch in späteren Jahrzehnten gab es ständig weiße Künstler, die sich der Musik fremder, nicht selten unterdrückter Kulturen bedienten: Die Talking Heads kopierten die Polyrhythmen des Afrobeat, und ihr Sänger David Byrne sampelte gemeinsam mit Brian Eno libanesische Sänger und arabische Gesänge aus dem Koran. Paul Simon ging für sein Hitalbum Graceland nach Südafrika und ließ sich in einer Schaffenskrise vom »Township Jive« inspirieren. Die erste Hip-Hop-Single, die es auf Platz eins der Charts schaffte, stammte von einem weißen Musiker! Er hieß Robert Matthew Van Winkle und nannte sich Vanilla Ice. Heute kommt kaum ein Hit eines weißen Musikers ohne einen Rap-Teil aus, egal ob von Justin Timberlake oder der ehemaligen Countrysängerin Taylor Swift.

Nicht zu vergessen: der seit Anfang der Neunzigerjahre erfolgreiche deutsche Hip-Hop. Die Fantastischen Vier haben den Import der Musik afroamerikanischen Ursprungs auf ihrem Erfolgsalbum 4 gewinnt in dem Track »Hip Hop Musik« differenziert beleuchtet:

Es ist wahr, Hip-Hop aus Europa kommt aus der Retorte.

Das wird auch so bleiben, benutzen wir nur fremde Worte.

Denk nicht so verdreht, werde Sprechgesangspoet, ein silbensprudelnder Interpret, dessen Reime jeder sofort versteht.

Nur in der Muttersprache kann der Spaß am Wortspiel funktionieren.

Nur so kannst du den Sinn der Worte gut akzentuieren.

Sprachliches Selbstbewusstsein, das ist das Prinzip.

Mach dich frei von Vorurteilen und genieße diese Hip-Hop-Musik.

Die Frage, ob es sich um bloße kulturelle Aneignung oder eine originelle künstlerische Verarbeitung von schwarzen Einflüssen handelt, lässt sich im Einzelfall nur schwer klären und scheint oft genug Geschmackssache des jeweiligen Kritikers, der sich gerade damit beschäftigt und einen Künstler der kulturellen Aneignung entweder bezichtigt oder ihn dagegen verteidigt.

Was wir heute Popmusik nennen, ist wesentlich in den USA entstanden und lebte, wie man an den Beispielen von Elvis Presley und Chuck Berry sehen kann, von der Vermischung von afroamerikanischen und ursprünglich europäischen Stilen. So schrieb auch der amerikanische Autor und Musikjournalist Nick Tosches in seinem Buch Where Dead Voices Gather treffend von »einer Geschichte der Schwarzen, die von Schwarzen stehlen, der Weißen, die von Weißen stehlen, und der eine stiehlt vom anderen«.

Die Entstehung einer eigenständig amerikanischen Musik und die Herausbildung einer amerikanischen Identität sind eng miteinander verknüpft. Denn ein Großteil der Geschichten, denen diese Identität zugrunde liegt, wird in Songs erzählt. Natürlich ist jede Form von Identität eine Konstruktion. Doch während andere Länder sich auf eine mehr oder weniger gemeinsame Geschichte berufen können, sind die USA eine vergleichsweise junge Kulturnation, deren Angehörige aus den unterschiedlichsten Kulturen stammen. »Amerikaner zu sein«, schrieb der Kulturwissenschaftler Leslie A. Fiedler, »heißt genau genommen, sich ein Schicksal vorzustellen, anstatt eines zu erben. Denn wir sind immer, sofern wir überhaupt Amerikaner sind, eher die Bewohner des Mythos denn der Geschichte gewesen.«

Zu Beginn ihrer Geschichte bestanden die Vereinigten Staaten aus verschiedenen regionalen Kulturen – mitgebracht aus den verschiedenen Ländern der Einwanderer oder herübergerettet von den schwarzen Sklaven. Erst mit dem Sezessionskrieg und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begannen diese Kulturen sich gegenseitig zu beeinflussen. Die erste eigenständig amerikanische Form der Massenkultur hatte ihren Ursprung im urbanen Norden der USA. In den sogenannten Minstrel Shows parodierten zunächst ausschließlich weiße Künstler mit schwarz geschminkten Gesichtern auf burleske Art und Weise die afroamerikanische Kultur. In den für diese Shows komponierten Songs verschmolzen Arbeiterlieder, Spirituals, schwarze Redewendungen und Dialekte mit Folksongs und Balladen. So sorgten die Minstrel Shows nicht nur für eine Vermischung afroamerikanischer und europäischer Musiken, sondern auch für die Entstehung eines neuen Berufsbildes: des Songwriters. Stephen Foster, Verfasser von auch heute noch populären Liedern wie »My Old Kentucky Home«, war der erste Amerikaner, der das Schreiben von Liedern zu seinem Beruf machte.