Portrait meiner Mutter mit Geistern - Rabea Edel - E-Book

Portrait meiner Mutter mit Geistern E-Book

Rabea Edel

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Beschreibung

Rabea Edels Roman umspannt Jahrzehnte und verknüpft Zeitgeschichte mit persönlichem Schicksal. Im Mittelpunkt: eine unangepasste Frau, flirrend, poetisch und mutig, die isch entscheidet, dem scheinbar Vorherbestimmten etwas Eigenes entgegenzusetzen. Raisa lebt allein mit ihrer Mutter Martha und das schon immer. An ihren Vater hat sie keine Erinnerung. Ihr Name ist das Einzige, was sie von ihm bekommen hat – besser so, sagt Martha. Doch Raisa beginnt, Fragen zu stellen. Als der Nachbarsjunge Mat verschwindet, beginnt Martha zu erzählen. Von der Großmutter Dina. Von Lügen, die schützen, und Lügen, die in Gefahr bringen. Von der Liebe ihres Lebens und ihrem größten Verlust. Rabea Edel zeichnet in ihrem Buch die bewegende Lebensgeschichte ihrer Mutter und das Portrait einer Nachkriegsgeneration, die im Schatten der Gewalt und des Schweigens aufgewachsen ist. Sie erzählt von der Kraft der Liebe und von der Rückeroberung der eigenen Geschichte durch die Sprache. Ein Buch wie ein Kaleidoskop, das vor allem die Frauen in den Blick nimmt – und die weibliche Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Rabea Edel

PORTRAIT MEINER MUTTER MIT GEISTERN

Roman

C.H.BECK

Übersicht

Cover

INHALT

Textbeginn

INHALT

Titel

INHALT

Widmung

Stammbaum

NULL

EINS

Humbug – 1989

Die Wanderjahre – 1982

Die Jahre des Schweigens – 1988

Fünfhundert Steine – 1989

Das Floß – 1993

ZWEI

Die Bärin – Bremerhaven-Lehe, 1951

Das Tier – Bremerhaven-Lehe, 1952

DREI

Clara – 1993

Der Schneckenkönig – 1993

Das alte Tier – 1994

VIER

Jakob – New York City, 2014

FÜNF

Deine Schwester – Bremerhaven-Lehe, 1952

Der Boden über ihnen – Bremerhaven-Lehe, 1955

Der Himmel unter ihnen – Bremerhaven-Lehe, 1955

Unter Wasser atmen – Bremerhaven-Lehe, 1958

SECHS

Der Fersenhalter – Geestemünde, 1921

Metas Kind – Geestemünde, 1921

Niemand – Geestemünde, 1933

SIEBEN

Selma (Buchstabenasche) – Geestemünde, 1933

Schlangen fangen – Geestemünde, 1933

Keine Nacht, kein Morgen – Geestemünde, 1938

Columbus – Wesermünde, 1939

Die Schwester der Hebamme (Der Betrüger) – Wesermünde, 1940

ACHT

Ephraimstochter – Bremerhaven-Lehe, 1960

Das Brot vergiftet – Bremerhaven-Lehe, 1960

NEUN

Mat – 1994

1

Wie viele Wörter zwischen fünfhundert Steine passen – 1994

2

3

4

5

6

7*

8

ZEHN

Die Unendlichkeit wäre lieber ein Augenblick – Bremerhaven-Lehe, 1963

Orangen essen – Bremerhaven-Lehe, 1963

Zeitlupe (Ins Dunkle fallen) – Tergnier, 1964

Tauben – Paris, 1964

ELF

Lieber mutig sein – 1994

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

ZWÖLF

Alles nur ausgedacht, nichts mehr wahr – New York City, 2014

Nameunbekannt – Rheinland, 1942

Hintereingang – New York City, 2014

DREIZEHN

Die falsche Hochzeit – Leherheide, 1966

Die Luft verwaist – Leherheide, 1967

Martha-Dina – Bremerhaven-Lehe, 1970

Dina-Martha – Oldenburg, 1976

Trotzallem – Bremen, 1981

VIERZEHN

Geister sehen – New York City, 2014

Heimweg – Rheinland, 1944

Ein Ort im All – Wesermünde, 1945

Jahrzeittag – Wesermünde, 1945

Auf den Händen laufen – New York City, 2014

FÜNFZEHN

Mütter Töchter Geister – 1995

21

22

23

Die schweigende Straße – Bremerhaven-Lehe, 2022

Ein Name – Berlin, 2022

Quellen

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

Für meine Mutter, in Liebe.

Stammbaum

NULL

Jakob stand im Feld und sah zu Selma hinüber.

Seit mehr als sechzig Jahren.

EINS

Humbug

1989

Es war an einem Morgen im April, als Mat mir mitteilte, dass er bald verschwinden würde. Wir saßen im Pyjama auf dem Dach unseres Hauses und aßen Marshmallows, die wir in Kakao tunkten. Der Zucker schmerzte an den Zähnen. Mat grinste zufrieden, badete die rosafarbene Pampe in der warmen Milch und zeigte mit der freien Hand auf das Meer, das in den Horizont überging, die Umrisse einiger Segelboote, weiter draußen zwei Tanker, die Kurs auf die offene See nahmen. Er werde demnächst verschwinden, weil es das Einfachste sei, was er tun könnte, sagte er, schob sich das nächste Marshmallow in den Mund und kramte die flache Mütze hervor, die er aus einer Kiste in unserem Keller gezogen hatte. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, was wir beide nicht verstanden, und der Keller gehörte zum Haus, wie Mat ihr erklärte, worüber sie nur die Augen verdrehte. Sie wollte auch nicht, dass Mat sie trug, aber er war noch dickköpfiger als meine Mutter, also gab sie irgendwann auf und verbot ihm nur, sie außerhalb unseres Hauses zu tragen.

«Das brauchen wir nicht, diesen Humbug», sagte sie jedes Mal, wenn sie ihn mit der Mütze sah, «und deshalb bleibt das hier, in unseren vier Wänden.»

«Eigentlich sind es mehr als vier –»

«Mat!»

«Hochundheiligesehrenwort.»

«Vergiss nicht, sie wieder abzunehmen, wenn du gehst!»

So oder so ähnlich liefen die Unterhaltungen zwischen ihnen ab.

Mat klippte sie mit einer Mickey-Mouse-Haarspange im Haar fest, weil sie eigentlich keine Mütze war, eher eine Art Deckel oder Kappe, die nur den Hinterkopf bedeckte. Vom Hafen her stank es nach Fisch aus der Konservenfabrik. Mat tunkte das nächste Marshmallow in die Milch und kaute, den Blick auf den Horizont geheftet, seine Kopfbedeckung flatterte im Wind.

«Wir müssen üben, Raisa», sagte er, «wir müssen es üben, bis wir es ohne Probleme können. Dann kann ich dich vielleicht sogar mitnehmen.»

Mat schielte zu mir hinüber. Ich nickte vorsichtshalber. Ich hatte den Mund voller Marshmallows und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich wollte nicht verschwinden. Um nichts in der Welt.

Mat und ich saßen damals an den Wochenenden, an denen wir keinen Samstagsunterricht hatten, oft auf dem Dach und starrten auf das Wasser. Wir beobachteten die Silhouetten der Nachbarn, wie sie hinter durchscheinenden Vorhängen stritten oder auf ausgeblichenen Plastikstühlen saßen und sich anschwiegen. Meist rauchten die Männer, und die Frauen tranken irgendetwas, das Farbe zurück in ihre Gesichter brachte. Manchmal standen sie auch nur in Funktionsjacken im Garten herum und schwiegen sich an, bevor einer von beiden zurück ins Haus ging. Wir nannten das die Schweigegespräche.

Wenn Mat mit mir zusammen war, war er das Gegenteil davon. Meistens plapperte er ohne Pause und erzählte mir eine Geschichte nach der anderen. Wie die von dem unsichtbaren Mädchen, das ihn ab und zu besuchte, ein angeschlagenes, bildschönes Geschöpf mit dunklen Locken, mit dem ich Mitleid haben musste. Mat machte sich lustig über ihre Flugversuche, bei denen sie nur wenige Meter vom Boden abhob, als ob er selbst jeden Morgen in Lichtgeschwindigkeit um die Welt sausen würde. Sie sei auf einem Floß hergekommen, es läge gleich neben dem Anleger des alten Amerikahafens, der jetzt Touristen als Aussichtspunkt diente. Warum er ein unsichtbares Mädchen sehen könnte und warum es ein Floß bräuchte, fragte ich, wenn es doch eigentlich fliegen könnte. Mat sah mich nur verächtlich an und erzählte weiter. Von dem Schiff, das er eines Tages bauen würde, mit einer Bibliothek im Bauch, eine Art Arche Noah, und wenn die Flut käme, dann wären wir alle verloren, nur die Figuren in den Büchern nicht. Ich nickte und fischte ein pinkes Marshmallow aus der Tüte. Das Schweigegespräch der Nachbarn gegenüber dauerte heute besonders lang. Selbst der Hund schwieg. Erst nach einer Stunde gab der Mann auf und zog sich ins Haus zurück, ohne die Gummistiefel auszuziehen.

Mats Mutter hatte eine Ganztagsstelle im Büro des örtlichen Stromanbieters angenommen. Sie war nie zuhause, wenn wir aus der Schule kamen, deswegen kam Mat oft mit zu uns. Mat krempelte immer seine Hosen hoch, zu hoch, so dass sie über den Knöcheln hingen, als hätten wir Hochwasser, dabei war nicht mal Herbst und auch keine Sturmflutwarnung stand an. Manchmal vergaß er die Mickey-Mouse-Haarspange vor dem Einschlafen in seinem Haar, so dass sie am nächsten Morgen noch irgendwo auf dem Hinterkopf klemmte, wenn er im Matheunterricht vor mir saß. Ein halbes Jahr lang trug Mat eine Brille, bei der ein Glas abgeklebt war, weil seine Mutter und der Arzt überzeugt waren, dass er sonst zu schielen beginnen würde wie sein Großvater, von dem es nur ein einziges Foto gibt, auf dem er furchtbar angestrengt in die Kamera schaut und seine eigene Nase den Augen im Weg ist. Mat trug die abgeklebte Brille und war stolz, ein Pirat zu sein, obwohl das lächerlich war, und er wusste das auch. Das war, bevor Mat und seine Mutter in die Siedlung in das Haus neben uns einzogen. Und bevor meine Mutter beschloss, dass wir jetzt ein festes Zuhause bräuchten und hierbleiben würden. Für immer, sagte sie nicht, denn daran glaubte sie nicht. Mat bewahrte die Brille auf wie einen Schatz.

«Aber das brauchen wir ja nicht, diesen Humbug», sagte er und grinste. Durch die Brillengläser sah die Welt, die Mat sah, an den Rändern verbogen aus. Ich probierte sie manchmal auf und jedes Mal wurde mir schwindelig.

Mat war eines der Kinder in der Siedlung, die einen Haustürschlüssel an einem Band um den Hals trugen. Das andere war Özlem, deren Eltern Nachtschichten in der Fischfabrik arbeiteten und meistens tagsüber schliefen, so dass sie leise in die Wohnung schleichen musste und sich Essen in der Mikrowelle zubereiten durfte. Özlems Schlüssel war riesig. Mat war neidisch darauf. Und auf die Mikrowelle.

Mat malte sich mit dem Kugelschreiber Bilder auf den Arm, weil das Foto, das in dem Holzkästchen mit der Mütze gelegen hatte, einen Mann zeigte, der in schlackernden Hosen mit einer Haartolle stolz unter einem Baum stand, auf dem Arm Bilder, die Mat nicht wirklich erkennen konnte, Rosen oder Anker oder nackte Frauen. Er hatte keine Ahnung. Wir hatten beide keine Ahnung, wir wussten nichts. Wir ahnten nur, dass es da irgendetwas gab, was nicht erzählt worden war und nicht erzählt werden würde, von unseren Müttern nicht, von ihren Müttern nicht und von den anderen ringsum nur hinter vorgehaltener Hand. Wir erkannten es in den Blicken, im Wegdrehen des Kopfes, im Flüsterton, den wir als das Fiepsen einer Maus wahrnahmen oder als den Hunger eines kleinen Vogels, der im Nest saß und rief.

Mat und ich waren uns nicht ähnlich, aber wir verstanden dieselben Dinge. Wir kannten beide unsere Väter nicht, wobei Mats Vater ihn einmal im Monat abholte und nach einem langen Wochenende zurückbrachte, was nicht bedeutete, dass er ihn deswegen besser kennen würde, wie Mat bemerkte, nur dass er ihn ab und zu sah. Wir verstanden beide, wie es war, am Morgen aufzuwachen und nicht zu wissen, wo. Unsere beiden Mütter arbeiteten von morgens bis abends, nur dass meine zuhause saß und strickte, während Mats Mutter die Elektrizität der Stadt bewachte, die Funken und die blau glimmenden Ströme, die durch die Häuser flossen. So beschrieb Mat es mir. Manchmal flossen blaue Ströme auch durch meine Mutter hindurch, und ihr Haar stand ab und funkte, wenn sie im Halbdunkeln auf dem Sofa saß. Rings um sie herum lagen die Wollknäule verteilt, Stricknadeln und fertige Teile eines Kleides oder einzelne Ärmel. Später würde sie die Teile zusammennähen und in die Boutique in der Einkaufsstraße bringen, wo ihre Pullover, Röcke und Mützen gegen Provision verkauft wurden. Meist summte sie dabei leise vor sich hin. Wenn ich sie bat, die Lieder lauter zu singen, lachte sie.

«Du weißt doch, dass ich nicht singen kann, mein Schatz.»

Also setzte ich mich auf die Treppe und hörte von dort aus zu, weil sie vielleicht lauter singen würde, wenn sie nicht wusste, dass ich noch da war.

An jenem Morgen, an dem Mat beschloss zu verschwinden, hatte er sich den Arm sehr sauber gewaschen. Seine Haut war rot, er hatte mit dem Topfschwamm die Zeichnungen abgeschrubbt.

«Und? Was gibt’s sonst noch Neues?», fragte ich.

«Nichts», sagte Mat.

«Und wann bist du dann weg?»

«Heute nicht.»

«Es stinkt ganz erbärmlich hier oben», sagte ich und kletterte zurück durch die Dachluke. Als ich zum Kiosk an der Straße ging, um ihm Karamba-Kaugummis zu kaufen, die mit dem extrasauren Brausepulver, das im Mund explodierte, saß Mat immer noch auf dem Dach unseres Hauses, den Kopf auf die Knie gelegt, als würde er schlafen. In meinem Mund schäumte das Brausepulver. Ich presste die Lippen aufeinander.

Es war Mats achter Geburtstag, am Abend stellte ihm seine Mutter einen Kuchen auf den Küchentisch mit zu vielen Kerzen.

«So viele, wie du einmal alt werden wirst», sagte sie lächelnd, «mindestens!»

Mat pustete zwölf von ihnen aus und zuckte mit den Schultern. Später brachte er mir Kuchen vorbei, stellte den Teller vor unserer Haustür ab und klingelte. Dann rannte er davon, als würde er meiner Mutter einen Streich spielen.

«Mat, das ist aber lieb, vielen Dank!», rief sie in Richtung des Gebüsches, in dem er hockte. Ich konnte ihn vom Fenster aus sehen.

«Hallo Martha, Mutter von Raisa, das war nicht Mat, das war der Außerirdische 69–​12 E, er kommt in Frieden», sagte das Gebüsch mit verstellter Stimme und ließ ein paar Zweige rascheln.

«Danke, Außerirdischer 69–​12 E. Guten Heimflug!»

Meine Mutter stellte den Kuchen auf den Tisch.

«Was schaust du so?»

«Nichts. Ich schau nicht.»

«Ich würde den Kuchen nicht anrühren, er ist bestimmt voller grünem Schleim.»

«Netter Versuch.»

«Nein, wirklich! Einem Extraterrestrischen mit Zahlencode würde ich nicht über den Weg trauen.»

«Und warum hast du den Kuchen dann hereingeholt?»

«Damit die Vögel sich nicht daran vergiften. Weil ich höflich bin. Und ich mag Lebewesen, die in friedlicher Absicht kommen.»

Ich wusste, Mat wartete darauf, dass ich ihn hereinrufen würde, aber ich hatte keine Lust. Ich wollte, dass meine Mutter eine ihrer Geschichten erzählte, aber es gelang mir nur, sie zum Reden zu bringen, wenn wir allein waren.

«Wenn ich den Kuchen nicht esse, sondern eine Dose mit Sardinen und einen Apfel, erzählst du mir dann etwas?»

«Heute nicht, mein Schatz. Ich bin müde», sagte sie.

Also ging ich ohne Abendessen ins Bett, weil Mats Kuchen vermutlich wirklich voller grünem Schleim war, der die Zunge bis in alle Ewigkeit einfärben würde, und das wollte ich nicht riskieren.

Die Wanderjahre

1982

Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen. Sie schnallte den Säugling, der ich war, in einem Tuch um ihren Bauch und löste ein Ticket nach dem anderen für uns. Für die Wanderjahre gab sie mir einen neuen Namen. Damit ich nicht trauern würde, sagte sie später. Damit ich nicht den Namen trug, den ein Fremder mir gegeben hatte, sagte sie nicht. Ich heiße Dina. Und Raisa. Raisa Dina. Und vielleicht habe ich noch viele andere Namen, von denen ich keine Ahnung habe und die andere Menschen mir gegeben haben, die ich auch nie getroffen habe. In den Wanderjahren hieß ich nach einem Stück Papier, auf das meine Mutter meinen neuen Namen schrieb und das sie mit Sekundenkleber auf meinen Ausweis klebte. Mein Wanderjahrename.

Ich hatte nie auch nur die leiseste Erinnerung an meinen Vater. Nichts. Gar nichts. Da war nur ein dumpfes Gefühl, wenn ich an ihn dachte, und ich dachte dabei nicht einmal seinen Namen mit oder den Klang seiner Stimme, seinen Geruch oder wie er sich bewegt haben könnte, denn das alles kannte ich nicht. Ich dachte nur daran, dass es ihn irgendwo vermutlich gab, und das reichte aus, um das dumpfe Gefühl hervorzuholen, das mir vom Bauch in den Rücken wanderte und dann dort hängen blieb, zwischen all den Wirbeln, und mir das Atmen erschwerte. Also versuchte ich nicht allzu oft an ihn zu denken, was mir leichter fiel, je älter ich wurde. Ich wusste, dass ich ihn eines Tages vergessen würde, weil es ihn gar nicht gab, und dass es gut sein würde. Bis dahin lernte ich, Panikattacken wegzuatmen, wie meine Mutter es mir vormachte, wenn sie in eine leere Brötchentüte atmete. Die Tüte blähte sich auf und fiel wieder in sich zusammen, auf, zusammen, auf, zusammen, auf, zusammen. Ich atmete selten in die Tüten, und wenn, dann nur, um ihr das Gefühl zu geben, nicht allein damit zu sein. Wir stellten uns nebeneinander in die Küche und hielten uns das weiche braune Papier mit den Aufdrucken von perfekt geformten Brötchen vor das Gesicht. Ich mochte den Geruch. Manchmal hielt ich die aufgepustete Tüte wie einen Ballon fest und ließ sie platzen, und meine Mutter lachte und ließ ihre Brötchentüte noch lauter knallen. Dann fegte sie die Krümel zusammen und kochte Ochsenschwanzsuppe aus Fertigtüten, weil sie die liebte, und gab mir frisch geschälte Mandarinen, weil das mein Lieblingsobst war, und gegen Panik half es immer, wenn es gutes Essen gab oder wenn man viele Schritte an der Luft laufen würde, ohne jemanden zu treffen.

Meine Mutter suchte ein einziges Mal in ihrem Leben einen Psychiater auf. Da war sie Anfang dreißig und mit mir schwanger, worauf sie lange hingearbeitet hatte, wie sie mir gegenüber immer wieder betonte, aber die Hormone in ihrem Körper ließen sie durchdrehen. Jeden Tag saß sie auf ihrem Bett und weinte, saß im Bus und weinte, lief durch den Supermarkt und weinte, bezahlte und ging und weinte.

«Ich kann nicht mehr», sagte meine Mutter und erschrak vor sich selbst, wie einfach es war, das zu sagen, «ich kann nicht mehr.»

Der Psychiater nickte. Überhaupt sagte er nicht viel, und nach zwei Sitzungen, in denen meine Mutter geweint, geredet und noch mehr geweint hatte, sagte er immer noch nichts. Sie war im vierten Monat und ich noch nicht zu sehen unter ihrem Kleid. Sie hatte einfach sehr lange auf mich gewartet. Zu lange. Sie wollte, dass endlich alles gut werden würde, dass ich endlich da wäre und für immer bleiben würde.

«Ich bin über dreißig, das ist typisch für Frauen in meinem Alter», sagte sie und er nickte.

«Ich habe einen Tintenfisch auf meinem Kopf sitzen und seine Arme sind meine Haare und meine Gedanken. Meine Gedanken sind blau und stinken nach vergammeltem Fisch.»

Als er ihr am Ende der Sitzung wortlos die Rechnung mitgab, schüttelte sie den Kopf und die blaue Tinte spritzte in alle Richtungen:

«Was fällt Ihnen ein», sagte sie, «dass Sie mir einfach Ihr beschissenes Schweigen verkaufen wollen, nichts als abgestandene Luft!»

Meine Mutter verließ die Praxis und kaufte Nasenspray, Taschentücher und eine Packung Minzöl, mit dem sie sich die Stirn und Schläfen einrieb, um das letzte Tintenblau zu entfernen. Sie beglich die Rechnung nach der dritten Mahnung. Als ich in der zweiunddreißigsten Woche zur Welt kam, hatte ich die durchscheinende blaue Haut, die neugeborene Frühchen haben, und meine Mutter, aus Angst, mich fallen zu lassen, konnte mich so lange nicht in den Arm nehmen, bis ich weniger durchscheinend war, bis die Tinte unsichtbar in meinen Adern pulsierte. Bis sie mich in ein Tuch wickeln und mit sich herumtragen konnte, Herzschlag an Herzschlag. So nah wie nur möglich. So begannen die Wanderjahre.

Meine Mutter und ich feierten meinen Geburtstag jedes Jahr in einer anderen Stadt. Wir fuhren ein, zwei Tage früher los, hinauf in die Berge, hinab ans Meer, hinaus in die Felder, und meist machte meine Mutter noch am selben Abend die Bekanntschaft einer Frau oder eines Mannes oder eines Paares, mit dem wir dann gemeinsam feierten. In der Nacht, wenn die Besucher gegangen waren, stellte sie sich in Unterwäsche in die Küche, schlug Eier auf, rührte Hefe und warme Milch zusammen, wartete, knetete den Teig, wartete, knetete den Teig, wartete, im Licht des Backofens auf dem Boden sitzend, bis der Kuchen zu duften begann, bis sie ihn mit bloßen Händen aus dem Herd nehmen konnte, bis sie den leichten Schmerz spürte, wenn das Blech ihr die Handinnenflächen verbrannte. Ein Ritual von vielen, auf die ich, je älter ich wurde, verzichten konnte, ohne es ihr zu sagen. Aber meine Mutter war glücklich dabei, summte Lieder für mich und hob mich hoch, um sich mit mir auf dem Arm im Kreis zu drehen, bis uns schwindelig wurde und die Welt ringsum zu leuchten begann.

Jedes Jahr im Sommer wickelte sie sich zwei dünne Mullbinden um die Hände, bis die Brandblasen verschwanden. Waren wir gerade am Meer, blieb sie dem Wasser fern, hob entschuldigend die Hände und schickte mich allein mit Schwimmflügeln in die Wellen. Diese Jahre glichen einander in ihrer Gewissheit, an einem anderen Ort aufzuwachen und nirgends länger zu bleiben als drei oder vier Monate. Kurz vor dem nächsten Geburtstag war es wieder so weit, dass wir packten und Fahrkarten kauften, dass wir in Zügen saßen, auf Autorückbänken, in Bussen oder selten einmal in einem Flugzeug. Diese Jahre waren bunt und frei, ohne dass ich es anders kannte.

Es gab die Wanderjahre. Und es gab die Jahre des Schweigens.

Die Wanderjahre waren leicht und hell. Meine Mutter ließ mich barfuß laufen, wir trugen Kleider und hatten bunt lackierte Fußnägel. Und wenn der Herbst sich ankündigte, mit Regen und Wind, wenn ich eine dicke Jacke tragen musste oder festes Schuhwerk, zogen wir weiter. Dorthin, wo es warm war, dorthin, wo wir keine Worte verstanden, nur Gesten, Bewegungen, die wir lernten zu imitieren. Meine Mutter hatte beschlossen, dass wir nichts brauchten, außer den Dingen, die in einen Koffer passten. Dass sie auch die Sprache nicht sprechen können müsse, hatte sie beschlossen, weil sie dann nichts zu erklären hätte, nichts zu rechtfertigen, sich nicht, mich nicht und vor allem nicht uns. Alle vier oder fünf Monate wohnten wir in neuen Zimmern, in einer neuen Stadt oder einem anderen Dorf.

In den Wanderjahren redete meine Mutter besonders viel mit mir, weil ich zu schnell die Gesten imitierte. Sie scherzte, dass ich vergessen könnte, meinen Mund zum Sprechen zu benutzen, die Zunge, die Stimmbänder, die Zähne. Sie wollte nicht, dass ich nur noch mit den Händen redete oder mit den Augen oder in der Art, wie ich später, als ich älter war, neben ihr herlief, ohne nach ihrer Hand zu greifen. Unsere Sprache war eine Höhle, etwas, das wir um uns herumbauen konnten, etwas, was uns nach außen schützte. Diesen Ort verließen wir nie. Er war wie eine dünne Membran, ein Zelt, das wir in den Zimmern fremder Leute aufschlugen. Wir standen in der Supermarktschlange und meine Mutter zeigte auf die Dinge und gab ihnen Namen und Bedeutungen. Sie putzte die Ferienwohnungen in einer Anlage, in der wir wohnten, nahm mich mit in die leeren Häuser, die die Gäste gerade verlassen hatten, und ich saß in den zerwühlten Betten und fremden Überbleibseln und lauschte ihren märchenhaften Geschichten über die Touristen, die abgereist waren. Einmal saßen wir so lange auf einem frischbezogenen glatten Bett, bis die nächsten Urlauber kamen. Wir saßen dort und sahen zu, wie der Tag verblasste und die Lichterketten im Rhythmus irgendeines Sambaliedes aufleuchteten, ein früher Sommertag, an dem es noch geregnet hatte. Meine Mutter rollte sich zusammen. Ich bemühte mich, keine Falten in die glatte Überdecke zu machen, und bewegte mich nicht.

«Bald», sagte sie und küsste mich, «bald sind wir zuhause, mein Schatz.»

Spät in der Nacht kamen die Gäste und weckten uns.

Die Wanderjahre waren eine Abfolge bunter Tage, auf denen niemand uns begleitete, außer meinem Vater, der als Schatten hinter uns herlief und manchmal schon in einem der Zimmer auf uns wartete. An solchen Tagen konnte es passieren, dass meine Mutter einfach mitten im Satz verstummte. Dann überlegte ich mir ein Ende, das nur mir gehörte, und erzählte es ihr nicht. Es konnte passieren, dass wir nur wenige Tage an einem Ort blieben. Dass die Zeit plötzlich schneller verstrich. Dass meine Mutter Angst bekam, weil ich wuchs und älter wurde und sie unweigerlich mit mir. Dann griff sie nach einer braunen Papiertüte und atmete ein und aus, und ich sah zu, wie das Papier sich aufblähte und wieder zusammenfiel.

Meine Geburtstage waren das einzig Beständige in den Wanderjahren. Ich erinnere mich an keine Namen, nicht von Städten, auch nicht von Menschen. Ich erinnere mich, dass wir manchmal entgegen der unausgesprochenen Regel schon den Ort wechselten, wenn es noch gar nicht an der Zeit war, weil wir gerade erst den Koffer ausgepackt hatten oder weil mein Geburtstag noch mehr als zwei Monate in der Zukunft lag. Aber es gab Tage, an denen meine Mutter jemanden mitnahm und mich zur Aufsicht zu den anderen Zimmermädchen brachte oder in die Küche des Hotels, wo ich Eis essen und Sportsendungen auf einem Fernseher sehen durfte, der an der Wand über dem Tresen angebracht war. Dann versuchte sie sich an den Moment zu erinnern, in dem ich gezeugt worden war, an die Leere danach und an die winzige kurze Traurigkeit darüber, nie wieder alleine zu sein, die von der Angst abgelöst wurde, für immer alleine zu bleiben, und dann von der Gewissheit, dass ab jetzt alles gut werden würde, dass das Glück jetzt beginnen würde, dass sie es verdient hatte und ich sowieso.

Meine Mutter erklärte den Tag, an dem ich gezeugt worden war, zu meinem Geburtstag. Nicht den, der in meinem Ausweis stand. Wir aßen den Kuchen, sie tauschte die Bettwäsche, um den Geruch der fremden Haut zu vertreiben, sie umwickelte sich die Hände mit Mullbinden, und manchmal lächelte sie bis zum Abend, bis wir zusammen im Bett lagen und sie vor mir einschlief. Manchmal stand der Schatten meines Vaters in der Ecke eines Zimmers und sah uns zu.

Wir trafen viele Menschen in den Wanderjahren. Ein paar von ihnen nannte meine Mutter Freunde. Manche von ihnen trafen wir später durch Zufall wieder, die meisten nicht. Im Koffer meiner Mutter hatten viele Dinge Platz. Sie zauberte alles hervor, was wir brauchten, sie tauschte anderes ein, und als ich älter wurde, wurden die Kreise, die wir zogen, kleiner. Immer häufiger kamen wir in die Nähe derselben Stadt, aus der wir damals aufgebrochen waren, mit dem Koffer, in dem noch das Kleid lag, das sie am ersten Tag beim Psychiater getragen hatte. Wir näherten uns der Stadt, in der sie alles besaß, was sie versucht hatte zu ignorieren: eine Steuernummer, ein Bankkonto, ein Postfach, einen Wohnsitz, an dem wir nicht wohnten. Ein Haus, das leer stand und in dessen Keller sich keine Erinnerungen stapelten, weil meine Mutter nie mehr etwas aufbewahrt hatte, weil es nichts mehr aufzubewahren gab aus dem Leben zuvor. Ein Haus in einer Siedlung, die im Außenbezirk lag, in einem Leben, in dem alles von selbst verschwand, diesem schwarzen Loch, das unendlich war und tief. Je öfter der Name auf den Straßenschildern auftauchte, desto stiller wurde meine Mutter.

Einmal noch setzten wir uns in einen Bus, der uns in weniger als acht Stunden in die Stadt bringen sollte, aus der wir aufgebrochen waren und an die ich mich kaum erinnerte.

«Wir sind bald zuhause», sagte meine Mutter immer wieder an diesem Tag, der sich für mich nicht von anderen Tagen unterschied. Sie hielt mich fest im Arm, als könnte auch ich ihr abhandenkommen. Sie trug blaue Plastikohrringe und einen dünnen grünen Mantel, durch den ich, den Kopf an ihre Brust gelehnt, ihren Herzschlag spürte. Nach zwei Stunden Fahrt wurde mir schlecht, nach drei Stunden schlief ich ein, und als wir ankamen, war die Stadt ein grauer Ort voller Einfamilienhäuser an einem windigen Strand, an den ein schaumiges Meer Wellen warf, und meine Mutter sah zum ersten Mal, seit wir wanderten, verzweifelt aus.

Die Jahre des Schweigens

1988

Die ersten Monate lebten wir in einem Provisorium, über das die restlichen Anwohner der Siedlung den Kopf schüttelten. Und wir lebten allein. Mit den tropfenden Wassertrollen, die in den Eimern tanzten, die meine Mutter unter die maroden Stellen im Dachgeschoss stellte. Mit den klappernden Türen und Fensterläden, unter denen der Wind zischte und flüsterte und die sie nach und nach reparieren ließ. Immer dann, wenn das Kindergeld auf dem Konto einging oder wenn am Monatsende noch etwas übrig war, weil wir eine Woche lang nur Dosenravioli oder Fertigcannelloni gegessen hatten oder wenn sie Strickaufträge für die Boutique in der Einkaufsstraße abgeschlossen hatte und in bar bezahlt wurde, rief sie die Handwerker an. Manchmal zog sie auch ein paar Scheine aus dem Kleiderschrank hervor, die sie irgendwann zwischen ihre Sachen gesteckt hatte und die sie dort für den Notfall vergessen hatte. Notfälle waren Tage, an denen wir uns an die Wanderjahre erinnerten und es ohne Pause regnete, so dass wir das Haus nicht verlassen wollten. Ein Notfall war auch mein Geburtstag, den wir ab jetzt zuhause feierten, ohne verbrannte Hände und ohne fremde Gäste. Dann gab es Pizzabrötchen mit Knoblauchsoße vom Lieferservice, süße Limonade mit viel Sprudel, und ich durfte auf dem Sofa unter allen Decken sitzen, die wir im Haus finden konnten, und Filme schauen, bis ich weit nach Mitternacht zum Gemurmel der Stimmen einschlief.

Nach und nach wurde das Klappern und Zischen ersetzt durch die Stille, die besonders schwer in den Räumen lag, wenn die Fenster geschlossen waren. Aber meine Mutter hielt es nie lange aus und riss immer irgendein Fenster auf, um Luft zu bekommen.

Zu Einschulung nähte meine Mutter mir ein Kleid aus ihrem Kleid, das zuunterst im Koffer gelegen hatte. Es war aus indischer Baumwolle, mit blauem Stempeldruck und winzigen silbernen Fäden, die sich durch den Stoff zogen. Alle anderen Kinder trugen Sweatshirts und Jeanshosen, manche hatten Samtschleifen im ordentlich geflochtenen Haar, das ich so kurz trug, dass kein Zopf daraus gebunden werden konnte. Lange Haare waren hinderlich, sie hingen beim Klettern ins Gesicht und beim Malen. Am liebsten wollte ich rotes Haar, wie meine Mutter, aber das erlaubte sie nicht.

An der Schultür stand Mat, der kurz zuvor in das Haus neben uns eingezogen war, und winkte mir zu. Ich ignorierte ihn, aber er setzte sich einfach neben mich an den Tischkreis und schielte von der Seite zu mir. In der ersten Schulwoche mussten alle Kinder Fotos ihrer Eltern mitbringen, einige brachten auch die Bilder ihrer Großeltern oder Geschwister mit. Ich malte Gesichter auf ein Blatt Papier, die meine Mutter und mich in verschiedenen Altersstufen zeigten. Als alte Frauen, als junge Frauen, als Kinder, als gar nichts.

«Das ist schön, Raisa. Sind das deine Tanten und Schwestern? Das da ist bestimmt deine Oma?»

«Hab ich nicht», sagte ich, «sind alle tot. Meine Mutter heißt Martha und sie ist mit einem Ufo hier gelandet. Es steht hinten bei uns im Garten, wir benutzen es als Tisch, weil der Treibstofftank leer ist.»

Die anderen schwiegen betreten, ein Kind lachte. Die Lehrerin strich mir über das Haar und wechselte zur Schülerin neben mir. Mat brachte ein Foto seines Vaters mit, das in der Mitte entzweigerissen und mit Tesafilm wieder zusammengeklebt worden war. Er stieß mich unter dem Tisch mit dem Knie an, bis ich ihn ansah. Dann grinste er stolz. Mein Tritt war zu fest, aber er biss die Zähne zusammen und sagte nichts, was ich ihm hoch anrechnete.

Der Berufe-Tag einige Monate später lief nicht besser. Dass meine Mutter keinen Beruf hatte, sondern von zuhause arbeitete, konnte ich nicht erklären. Es fühlte sich falsch an, sich etwas auszudenken. Trotzdem sagte ich:

«Sie heißt Martha und hat einen Beruf gelernt. Ich weiß nicht mehr was, aber sie arbeitet eh nicht damit. Sie arbeitet zuhause.»

«Sie ist Hausfrau, meinst du?»

«Nein.»

Die Lehrerin nickte und wartete, aber ich beschloss, nichts mehr zu erzählen. Dass sie beim Radio gearbeitet hatte, wusste ich, aber das war lange vor meiner Geburt gewesen, und mehr wusste ich dann auch wieder nicht darüber. Zu wenig also, falls Nachfragen kämen. Dass sie weder besonders gut kochte noch gerne Wäsche wusch oder das Haus putzte, wusste ich, also war sie sicher keine Hausfrau oder das, was die Lehrerin sich darunter vorstellte. Dass sie im Hotel, in Buchhandlungen und am Kiosk gearbeitet hatte, wusste ich, aber ich wollte die Zeit der Wanderjahre mit niemandem teilen, auch mit Mat nicht, deshalb behielt ich auch das für mich. Mat hatte einen aufklappbaren Werbeprospekt des Stromkonzerns dabei. Auf einem der Fotos lächelte seine Mutter in die Kamera. Ihre Zähne waren sehr gerade, sie trug eine weiße Bluse mit dem Emblem des Stromkonzerns auf Herzhöhe.

Die Jahre des Schweigens begannen lange vor meiner Geburt. Sie verwebten sich zu einem Netz, das sich überallhin ausbreitete und in dem sich einzelne Sätze und Namen verfingen. Es reichte bis in die Stadt, knüpfte sich leise in unser Leben, verknotete sich mit unserem Alltag, und meine Mutter konnte in noch so viele Brottüten atmen und noch so viel Suppen kochen, irgendwann waren die Worte aufgebraucht und nur die immer gleichen Sätze hingen rings um uns herum in den Bäumen, unter der Zimmerdecke, zwischen den Vorhängen. Nachts hörte ich die Buchstaben aneinanderstoßen und Wörter bilden, die keinen Sinn ergaben. Namen, die mir fremd waren, die meine Mutter im Schlaf sagte, wenn ich zu ihr ins Bett schlüpfte, oder die sie am Morgen gedankenverloren vor sich hin murmelte, ohne dass sie es selbst bemerkte.

Eines Abends zog meine Mutter den Telefonstecker aus der Wand.

«Ich kann nun mal nicht schlafen, wenn sich nachts jemand verwählt und eigentlich ein Taxi bestellen will», erklärte sie, «ab jetzt machen wir das immer so.»

Der neue Taxidienst hatte tatsächlich eine ähnliche Nummer. Die Autos fuhren mit Werbeaufklebern an den Beifahrertüren durch die Stadt, und der Chef verteilte Sonderangebotsflyer im Supermarkt. In den Nächten zuvor hatte immer zur selben Uhrzeit das Telefon geklingelt. Stundenlang. Vielleicht auch nur für Minuten, die sich im Halbschlaf zu Stunden zogen. Meine Mutter legte anfangs noch ein großes Kissen auf den Telefontisch, aber auch darunter war das Geräusch zu laut, selbst zwei Kissen und eine Decke halfen nicht.

«Warum gehst du nicht einfach ran? Sonst wissen die ja nicht, dass sie sich verwählen.»

«Weil ich das nicht möchte. Wer ruft denn bitte um diese Uhrzeit irgendwo an?»

«Jemand, der ein Taxi bestellen will?»

«Aber ich bin kein Taxiservice.»

«Wer soll denn sonst anrufen?»

«Niemand soll hier anrufen. Niemand.»

Sie zog den Stecker heraus und dabei blieb es.

Als im Herbst die neuen Telefonbücher für das Jahr 1989 gedruckt waren und auf der Post zur kostenlosen Abholung lagen, durchsuchte meine Mutter mit der Lupe, mit der sie sonst die Maschen zählte, alle Seiten, auf denen unser Name und unsere Adresse auftauchen könnten. Sie leckte den Zeigefinger an, schlug das hauchdünne Papier um und legte irgendwann zufrieden das kiloschwere Buch zur Seite, weil sie nichts gefunden hatte, das darauf hindeutete, dass wir hier wohnten. Keine Spur von uns, weit und breit. Wir waren unauffindbar.

«Warum haben wir ein Telefon, wenn wir nicht im Telefonbuch stehen?»

«Damit wir anrufen können, wen wir anrufen möchten, mein Schatz.»

Meine Klassenlehrerin erreichte sie trotzdem, als meine Mutter tagsüber doch einmal den Hörer abnahm. Sie sprachen nicht lange, meine Mutter lächelte gezwungen, was ihre Stimme veränderte. Sie war freundlich, lachte, aber es klang, als würde sie sich selbst synchronisieren.

«Selbstverständlich können wir uns das leisten. Sie fährt mit, vielen Dank für das Angebot, aber das brauchen wir nicht.»

Sie legte auf und schüttelte den Kopf.

«Ihr fahrt nächsten Monat auf Klassenfahrt.»

«Wohin?»

«Ins Schullandheim, in die Wingst.»

«Wo ist das?»

«Nicht weit von hier, in einem Wald.»

Ich schwieg. Ich wollte wissen, ob die Lehrerin sonst noch etwas gesagt hatte über mich, aber meine Mutter erzählte nichts.

«Deine Lehrerin hat nicht viel Fantasie, oder?», sagte sie nur, und damit war das Thema beendet. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, das zu einer Art Atelier geworden war, und sortierte die Wollknäule, Garnrollen und Nadeln. An den Wänden hingen Skizzen. Sie flatterten im Wind, als meine Mutter das Fenster aufriss. Die Brottüte, die sie automatisch aus der Schublade des Küchenschranks genommen hatte, legte sie unbenutzt auf den Tisch und strich sie gedankenverloren mit der Hand glatt.

«Ich geb dir das Geld morgen mit, das gibst du deiner Klassenlehrerin noch vor dem Unterricht.»

«Was für Geld?»

«Für die Klassenfahrt, was sonst?»

Am Abend, als sie beim Stricken auf dem Sofa einschlief, vergaß sie den Stecker. Die Wollknäule hatten sich über das ganze Wohnzimmer ausgebreitet. Wörter baumelten unter der Zimmerdecke, manche hatten sich auch im Haar meiner Mutter verfangen. Niemand, Wir, in Ruhe lassen, kein, ruf mich nicht an – mehr konnte ich nicht entziffern. Ich weckte sie nicht, balancierte über die Fäden und stellte mir vor, es wären Bewegungsmelder, die ich nicht berühren durfte. Ich legte ihr eine Decke über die Beine und dimmte das Licht. Dann setzte ich mich neben das Telefon und legte meine Hand auf den grünen Apparat, bereit, den Hörer von der Gabel zu nehmen, sobald es klingeln würde. Ich wartete bis kurz vor zehn. Niemand bestellte ein Taxi. Mat schickte einen Papierflieger in den Garten, was so viel hieß wie: Mir ist langweilig. Oder: Ich komm jetzt rüber. In diesem Moment klingelte es. Ich nahm ab und presste den Hörer ans Ohr. In den Löchern der Sprechmuschel klebten Lippenstiftreste, es roch vertraut nach Parfum und Schminke. Ich sagte nichts und lauschte. Auch der Anrufer schwieg. Dann klickte es und das Freizeichen ertönte.

Ich faltete Mat einen Papierflieger, der heißen sollte: Ich schlafe schon, kannst du das nicht sehen? Mat warf noch zwei weitere missglückte Modelle in unseren Garten, weil er meinen nicht verstand. Dann gab er auf. Ich hob den Telefonhörer hoch. Das Freizeichen klang wie zuvor. Ich legte auf, wartete noch eine Stunde. Aber es klingelte nicht mehr.

An den nächsten Abenden zog meine Mutter den Stecker heraus und stellte das Telefon auf den Schrank, der zu hoch für mich war. Sie verbot mir, tagsüber ans Telefon zu gehen, wenn sie nicht zuhause war. Sie verbot mir sogar, die Tür zu öffnen, wenn ich die Menschen davor nicht kannte.

«Wenn niemand dran ist, dann legst du sofort auf.»

«Warum?»

«Wenn jemand dran ist, der sagt, dass er Familie sei, legst du auf, denn das wäre eine Lüge.»

«Warum?»

«Weil wir zwei unsere Familie sind. Du und ich. Mehr brauchen wir nicht, und mehr gibt es auch nicht, das ist besser so.»

Sie gab mir einen Kuss und umarmte mich, hielt mich fest, bis ich mich vorsichtig löste, ihr Lächeln zitterte.

«Alles gut?»

«Ja. Was soll denn nicht gut sein?»

Sie nickte.

Dann ging sie mit der großen Küchenschere in den Garten.

«Hilfst du mir?»

Das Efeu, das unsere Hausfront überwucherte, war dabei, die unteren Fenster zu verdecken. Als wir in das Haus eingezogen waren, war nur der untere Teil bewachsen gewesen. Aber die Ranken vermehrten sich schnell. Inzwischen schnitt meine Mutter regelmäßig die Fenster frei, wenn nicht gerade Vögel in den Nestern brüteten. Dann wartete sie, bis die Jungen flügge waren, und setzte die Nester behutsam um. Der Nachbar stand mit seinem Hund an der Straße und schüttelte den Kopf.

«Also, gut ist das nicht.»

«Wie bitte?» Ich versuchte so höflich zu sein, wie ich es gelernt hatte, auch wenn ich keine Lust hatte, mit ihm zu reden.

«Gut ist das nicht. Das Haus fällt zusammen, wenn das mal eines Tages alles abgelöst werden muss. Das frisst sich überall rein, in den Putz. Das ist Unkraut, ganz schlimmes Unkraut! Aber das geht ja seit Jahrzehnten schon so bei diesem Haus.»

«Die Vögel haben ein Zuhause.»

«Efeu ist giftig. Passt bloß auf, dass das nicht zu uns rüberwuchert! Sonst müsst ihr die Kosten tragen. Für die Reparaturen und die Beseitigung der Schädlinge.»

Der Hund hob das Bein und pinkelte auf den Blätterhaufen. Der Nachbar lachte und zog ihn erst zur Seite, als die gelbe Pfütze schon bis zum Straßenrand reichte.

Mat sprang hinter der Hecke hervor und äffte den Nachbarn nach, als er außer Hörweite war.

«Euer Haus bricht in sich zusammen, also das ist ja so was von giftig, blablabla.»

«Lass mich in Ruhe, Mat!»

Mat grinste, krempelte die Jackenärmel hoch, so dass sie genauso kurz wie seine Hosenbeine waren, und nahm den angepinkelten Haufen Blätter in den Arm, trug ihn in den Garten und wischte sich die Hände an der Hose ab.

«Am besten, wir zünden das an. Das gäbe ein schönes Feuer.»

«Das ist noch zu nass.»

Mat überlegte.

«Dann gibt es wenigstens genug Rauch. Damit können wir Hilfe anfordern. Wir könnten mit der Decke darauf schlagen und Rauchzeichen aussenden. So macht man das im Wilden Westen.»

«So ein Quatsch. Was denn für Hilfe?»

«Keine Ahnung.»

In der Nacht klingelte das Telefon, weil meine Mutter doch nicht so konsequent war, wie sie es sich vorgenommen hatte. Ich nahm ab.

«Ja?»

«Wer ist denn da dran?», sagte eine fremde Männerstimme.

«Ich weiß nicht.»

Ich hörte ein Atmen, das beschwert war, als läge ein Elefant auf der Brust oder eine Million Bücher oder Hunderte Steine. Dann schlug der Regen gegen die Scheibe. Ich legte vor Schreck auf und zog den Stecker. Die Anrufe wurden unsichtbar. Sie klingelten lautlos, ihr Schweigen am anderen Ende der Leitungen erreichte uns nicht mehr. Die Menschen, die uns erreichen wollten, aber nicht sollten, erreichten uns nicht mehr.

Für die Klassenfahrt bekam ich neue Gummistiefel, eine regenfeste Winterjacke mit Daunenfüllung und ein Portemonnaie mit zwanzig Mark. Mehr, als erlaubt war. Geld, das meine Mutter zwischen ihren Blusen im obersten Schrankfach hervorzog. Im hinteren Etui steckte eine aufgeladene Telefonkarte, mit der ich meine Mutter von der Telefonzelle anrufen sollte, sobald wir angekommen waren. Aber die Telefonzelle vor dem Schullandheim war kaputt.

In der Wingst sammelten wir Blätter und Stöcke und bauten daraus ein Zelt im Wald. Mat schlich sich nachts in das Doppelstockbett über mir, das leer geblieben war, weil das Mädchenzimmer größer war als das Jungenzimmer. Bevor die anderen wach wurden, verschwand er und war immer der Erste, der am Frühstückstisch in der Kantine saß. Wir blieben nur ein Wochenende weg, aber Mat wollte trotzdem am ersten Abend schon wieder nach Hause. Nur die Nachtwanderung hielt ihn davon ab, in die Stadt zur nächsten Telefonzelle zu laufen und seine Mutter anzurufen. Unsere Lehrerin gab uns Taschenlampen und wir stapften in Zweierreihen durch den Wald. Ständig rutschte eines der Kinder auf den glitschigen Blättern aus. In der Waldhütte gab es warmen Kakao aus Thermoskannen. Der Weg zurück dauerte doppelt so lange, irgendein Kind weinte, ein anderes versuchte uns mit lauten Buhu-Rufen zu erschrecken. Mat nahm meine Hand, und ich ließ ihn, weil ich wusste, dass er noch mehr Angst hatte als ich, auch wenn er das nie zugeben würde.

Meine Mutter begann, während ich im Wald herumlief, die Wörter aufzuschreiben. Sie sammelte sie auf, damit sie verschwinden würden. So wie die Angst, weil ich nicht angerufen hatte, verschwinden sollte.

Kurz vor Weihnachten war das Buch voll. Wir hatten keinen Weihnachtsbaum, weil meine Mutter keine toten Bäume im Haus haben wollte, aber es gab geflochtenes Brot mit viel Butter, Suppe und Süßigkeiten bis zum Abwinken, die meine Mutter das Jahr über für mich gesammelt hatte. Die Gummibärchen waren hart, aber mit viel Spucke im Mund ließen sie sich aufweichen. Am Abend vor dem Weihnachtswochenende zündete sie zwei weitere Kerzen an, hielt die Hände vors Gesicht, als würde sie sich verstecken, und murmelte ein Gebet, das ich nicht kannte. Ich ahmte sie nach.

«Eine Kerze für mich und eine für dich!»

«Ja, so können wir es auch sehen.»

«Was hast du dir gewünscht, Mama?»

«Wie kommst du darauf, dass ich mir etwas gewünscht habe?»

«Weil du so leise gesprochen hast. Damit der Wunsch in Erfüllung geht.»

«Dann darf ich es dir doch gar nicht verraten.»

Sie gab mir ein Geschenk. Die Inlineskates waren schwarz, mit neonpinken Plastikschnallen. Sie sahen anders aus als die der anderen, aber die Räder sirrten schnell und leise, als ich sie mit der Hand in Bewegung setzte.

«Nur mit Helm!»

Ich probierte die Schuhe an und stakste im Flur auf und ab.

«Und nur auf dem Gehweg!»

«Ja, ja, ich weiß.»

Mat und seine Mutter klingelten an der Tür, ich erkannte ihre Umrisse durch die Milchglasscheibe. Mat drückte sein Gesicht an das Glas und klopfte. Meine Mutter zuckte zusammen.

Mat hielt mir eine Schüssel mit Kartoffelsalat entgegen. Seine Mutter lächelte nervös, sie war das erste Mal bei uns. Wir aßen am Wohnzimmertisch bei Kerzenschein, das ganze Zimmer flackerte und schimmerte. Mat und ich malten mit den Würstchen Gesichter aus Ketchup auf die Teller, und unsere Mütter verschwanden in der Küche. Wir hörten sie sprechen und lachen, irgendwann standen sie gemeinsam im Garten und rauchten.

«Sie verstecken sich vor uns», sagte Mat, «das ist ein gutes Zeichen.»



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