Possessions - Sara Flannery Murphy - E-Book

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Sara Flannery Murphy

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Beschreibung

Die 'Elysische Gesellschaft' bietet ihren Kunden an, mit verstorbenen Angehörigen in Kontakt zu treten. Die Angestellten werden Körper genannt, so auch Eurydice, längste und zuverlässigste Mitarbeiterin der Firma. Ihr Erfolgsgeheimnis: Sie findet Zuflucht in der betäubenden Wirkung der Lotusse – Pillen, die den Kontakt zur Welt der Toten ermöglichen. Als Eurydice die Verbindung zur Frau von Patrick, einem rätselhaften Witwer, herstellt, wird sie besessen von dem glamourösen Paar. Sie bricht ihre eigenen Regeln, verliebt sich und dringt immer tiefer ein in Patricks Leben und das Rätsel hinter Sylvias mysteriösem Tod. Eurydice muss ihr eigenes Dasein entwirren und sich ihren längst begraben geglaubten Geheimnissen stellen.

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Sara Flannery Murphy

POSSESSIONS

Liebe bis ins Jenseits

Roman

 

 

 

Für Ryan, der mich sieht

 

 

 

Gewiss spüre ich den Kuss auf meinen Lippen …

Doch wie kann das sein? Entsetzlich, das Gefühl

Dass einem die Identität entgleitet. Das Sehnen

Die hilflos daliegenden Hände auszustrecken und jemanden zu berühren

Um zu wissen, ob ich wirklich bin oder nur ein Traum.

Elizabeth d’Espérance, Shadow Land

EINS

Als ich Patrick Braddock zum ersten Mal sehe, trage ich den Lippenstift seiner Frau. Die Farbe steht mir überhaupt nicht. Es ist ein sattes, dunkles Rotviolett, dieser strenge Ton, den schöne Frauen tragen, um zu beweisen, dass sie sich einfach alles erlauben können. Auf meinem unscheinbaren Gesicht sieht er aus wie ein Blutfleck. Ich fühle mich wie ein ungezogenes Kind, das mit dem Make-up seiner Mutter spielt.

Auf den Fotos von Sylvia Braddock, die auf meinem Schlafzimmerboden ausgebreitet liegen, ist der Lippenstift einfach perfekt.

Die meisten Klienten schicken mir nur eine Handvoll Bilder: Jahrbuchporträts und Studioaufnahmen vor formlosen Stoffhintergründen. Mir sind die ungestellten Aufnahmen lieber, die oft nachträglich eingereicht werden. Alltägliche Bilder in zarten Farben, oft ein wenig schief, mit roten Augen und schlechtem Licht. Solche Bilder bieten weniger Möglichkeiten, sich zu verstecken; ich sehe die Unordnung auf dem Wohnzimmerboden, die knisternde Distanz zwischen einem Mann und seiner Frau, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, und schon weiß ich über das Leben dieser Fremden alles, was ich wissen muss.

Mr Braddock hat mir Dutzende Fotos geschickt, die ganze Geschichte seiner sechsjährigen Ehe mit Sylvia. Ihre Hochzeit, lichtüberflutete Strände, Wahrzeichen von sämtlichen Kontinenten, zurückhaltendes Lächeln bei Firmenveranstaltungen, Partys mit verwackeltem Gelächter. In dieser Chronologie von Sylvias Leben ist niemand so präsent wie ihr Mann. Für meine Arbeit teile ich mir die Welt mit der gleichgültigen Effizienz einer Maschine in Muster ein, und bei den Braddocks ist es ein einfaches Muster: Sie lieben sich. Es ist eine auffällige Liebe, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, auch wenn es vielleicht gar keine Absicht ist.

Diesen Lippenstift trägt Sylvia nur auf einem einzigen Foto. Ich habe mehrmals nachgesehen, weil mir sein Fehlen aufgefallen war. Auf dem Foto ist sie nackt, sie liegt auf einem Bett, auf die Ellbogen gestützt und lächelt nicht. Vor dem dunklen Pflaumenblau der Bettwäsche wirkt ihre Haut so hell, als wäre sie von innen beleuchtet. Die Details zeichnen sich erstaunlich deutlich ab, ihre Areolen sind so klar umrissen wie das aufgemalte Wangenrot einer Puppe, die Hüftknochen gleichen Flügeln aus gefaltetem Papier. Und dann die Farbe ihrer Lippen.

Am Tag unseres Termins komme ich etwas früher zur Arbeit, den Lippenstift halte ich warm und fest in der Hand. Mr Braddock ist heute mein erster Klient, er hat seine Begegnung auf einen Donnerstag gelegt. Es ist Mitte März, eine erfahrungsgemäß eher ruhige Zeit in der Elysischen Gesellschaft. Keine sentimentalen Feiertage, keine frisch erblühenden Blumen, kein erster Schnee, nichts, was die Schuldgefühle sprießen lassen würde. Nur der ungebrochene Stillstand des Spätwinters.

Ich öffne die Tür und sehe mich mit routiniertem Blick in Zimmer 12 um. Die Räume der Elysischen Gesellschaft suggerieren eine gewisse Vertrautheit, ohne jedoch wie ein echter Wohnraum auszusehen. Dunkle Holzböden, ein gerahmtes Gemälde mit Seerosen, die auf diamanthellem Wasser treiben, und direkt in der Mitte des Raums stehen sich zwei niedrige Sessel ohne Armlehnen gegenüber.

Alles, was diesen Eindruck stören könnte, ist für jedermann auf den ersten Blick ersichtlich. Das ist zum Beispiel der Pappbecher mit der kleinen weißen Tablette darin, der neben einem größeren Becher mit lauwarmem Wasser auf einem Beistelltisch steht. Sie kennzeichnen den Sessel, auf dem ich sitzen werde.

Draußen krallt sich der letzte Schnee des Winters als abgasglitzernde Kruste an den Bordsteinen fest. In der Elysischen Gesellschaft sind es um die achtzehn Grad. Ich bin barfuß, und meine Arbeitsuniform ist ein weißes Kleid aus so hauchdünnem Stoff, dass ich ihn kaum auf der Haut spüre. Ich halte mich aufrecht und unterdrücke das Zittern.

Die Tür schwingt auf, bevor ich reagieren kann. Ich nehme an, dass es bereits Mr Braddock ist, und drehe mich um. Nachdem ich mir sein Gesicht von den Fotos eingeprägt habe, bin ich neugierig, wie er in Wirklichkeit aussieht.

In der Tür steht Jane. »Alles okay bei dir, Eurydice?«

»Sicher«, sage ich. »Komm ruhig rein.«

Als Betreuerin genießt Jane den Luxus, sich wärmer anziehen zu dürfen als die Körper. In ihrer flusigen Strickjacke wirkt sie störend alltäglich wie ein Eindringling in einem Traum. »Dein Lippenstift«, sagt sie und fährt andeutungsweise die Konturen ihres eigenen Mundes nach. »Er ist ein bisschen ungleichmäßig.«

»Oh, danke.« Nach kurzem Zögern reiche ich ihr die Hülse. »Könntest du vielleicht?«

Ich spüre den weichen, intimen Druck auf meinen Lippen. Die Spitze ist vom Gebrauch stumpf, und unter der klinischen Süße liegt ein kaum wahrnehmbarer Geschmack – säuerlich, menschlich. Ich muss an Speichel und Hautpartikel denken, die bestimmt an der Oberfläche haften.

Vor Übelkeit verkrampft sich mein Kiefer.

»Hast du mit diesem Klienten schon gearbeitet?«, fragt Jane.

»Erstes Mal«, presse ich hervor. Die Übelkeit vergeht so schnell, wie sie gekommen ist. »Den Lippenstift hat er vorab geschickt.«

Jane schweigt. Wir wissen beide, dass das gegen die Routine verstößt. Die meisten Klienten bringen die persönlichen Gegenstände ihrer Lieben selbst mit und überlassen sie mir nur leihweise für die Zeit, die wir miteinander verbringen. Dass Mr Braddock den Lippenstift seiner Frau einer vollkommen Fremden gegeben hat, ist ein Zeichen ungewöhnlichen Vertrauens – oder ungewöhnlicher Gleichgültigkeit.

»Meine Güte, was für eine Farbe.« Jane steckt die Kappe auf den Lippenstift. »Freundin? Geliebte?«

»Ehefrau«, sage ich.

»Zweite oder dritte?«

»Erste. Sie waren sechs Jahre verheiratet.«

»Sieh mal einer an.« Janes Stimme klingt eine Spur missbilligend, als hätte sie den Verdacht, ich würde lügen. »Auf erste Frau hätte ich nie getippt. Wenn das kein Midlife-Crisis-Lippenstift ist, weiß ich’s auch nicht.«

Ich antworte nicht.

»So sieht es jedenfalls viel besser aus«, sagt Jane. »Ich schick ihn dir rein.«

Sie schließt die Tür, und sofort bin ich vollkommen leer. Seit ich bei der Elysischen Gesellschaft arbeite, haben meine Gefühle eine Entwicklung gemacht. Von widerspenstig zu ausgesprochen angepasst. Stets bereit, ins Nichts zu verschwinden. Was früher jedes Mal ein Kampf war, ist jetzt ein einfacher Reflex.

Zuerst ist das Klopfen schüchtern, so leise, dass ich es fast nicht höre. Ich gehe zur Tür. Beim zweiten Mal ist es fester und sicherer. Ich öffne.

Die meisten meiner Klienten sehen auf den Fotos anders aus als in Wirklichkeit, was in die eine oder andere Richtung immer eine Enttäuschung ist. Unterbewusst hatte ich damit gerechnet, dass auch Mr Braddock in Fleisch und Blut anders aussehen würde. Auf den Bildern war er so attraktiv wie ein Filmstar oder ein junger Politiker, sein Charisma so strahlend, dass es außerhalb einer statischen Fotografie eigentlich nicht existieren konnte.

Doch er sieht haargenau so aus. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. Der einzige Unterschied ist, dass Mr Braddock irgendwie kleiner wirkt, als er vor mir steht. Vielleicht liegt das an der Müdigkeit, die sich in blassvioletten Schatten unter seinen Augen abzeichnet, oder daran, wie erbärmlich schlecht er rasiert ist. Auf seiner Wange leuchtet eine Schnittwunde tiefrot wie ein Kussabdruck. Vielleicht lässt ihn auch der Umstand schrumpfen, dass Sylvia nicht an seiner Seite ist und deshalb ein wichtiger Teil von ihm fehlt.

»Bin ich hier richtig?«, fragt er. »Zimmer 12? Die Frau sagte, Sie würden mich erwarten.«

»Sie sind hier richtig, Mr Braddock«, sage ich.

Ich schließe die Tür hinter ihm. Als ich mich umdrehe, steht er mitten im Zimmer und hat die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. In seiner Haltung liegt eine bedächtige Achtsamkeit, als wäre er in einem Museum.

Ich halte mich im Hintergrund und gebe meinem Klienten noch ein paar letzte Sekunden der Normalität, ehe sich seine Welt verändern wird. Die erste Begegnung ist immer heikel, ein komplizierter Tanz, dem man genau diese Kompliziertheit nicht anmerken darf. Meine Aufgabe ist es, die Stimmung des Klienten zu erspüren, ohne dass er etwas davon mitbekommt. Manche tun so, als wäre alles nur Spaß, andere sind skeptisch, abweisend oder warten darauf, dass die Gestalt hinter dem Vorhang hervortritt. Manche sind furchtbar ernst und wollen unbedingt, dass alles glattläuft. Aber eins haben sie am Anfang alle: Angst.

Mr Braddock deutet auf das Gemälde. »Ein Monet?«

»Ein unbekannter Künstler, glaube ich.« Ich zeige auf den Sessel. »Bitte.«

Nachdem wir uns gesetzt haben, wandert Mr Braddocks Blick zu meinem Mund, der den dunklen Lippenstift seiner Frau trägt.

»Würden Sie mir sagen, wen Sie heute kontaktieren möchten, Mr Braddock?«

Die Uhr läuft bereits. Er hat die Standardzeit gebucht, eine halbe Stunde. Präzise und sparsam dosiert wie ein Medikament.

»Meine Frau.« Er lehnt sich zurück. »Meine Frau«, wiederholt er, beinahe erstaunt. Er blickt starr geradeaus, als hinge sie zwischen uns in der Luft.

»Möchten Sie Ihrer Frau etwas Bestimmtes mitteilen?«

»Ich weiß nicht.« Er rückt näher an die Sesselkante. »Sollte ich?«

»Manche Klienten sind mit dem Erlebnis zufriedener, wenn sie sich eine Botschaft zurechtgelegt haben«, sage ich. »Aber die Entscheidung liegt allein bei Ihnen.«

»Ich möchte noch einmal mit ihr sprechen«, sagt er. »So wie früher, bevor sie …«

Ich lasse dem unausgesprochenen Teil des Satzes Raum, sich zu entfalten, bevor ich fortfahre: »Ich möchte Sie bitten, mir von einer Erinnerung an Sylvia zu erzählen.« Beim Klang ihres Namens zuckt er zusammen, als hätte ich geflucht. »Am besten wäre eine Erinnerung, die möglichst frisch ist. Ich weiß, das kann schmerzhaft sein«, füge ich hinzu, weil Mr Braddock das Gesicht hinter den Händen verbirgt.

Doch als er aufsieht, sind seine Augen trocken und klar wie Glasscherben.

»Wir waren am See«, sagt er. »Am Lake Madeleine, ein Stück außerhalb der Stadt. Wir sind zum ersten Mal dort gewesen, Sylvia hatte den Ort vorgeschlagen. Die Ferienhütten dort haben diese riesigen Fenster im Wohnzimmer, hinter denen ich mir wie ein Goldfisch im Glas vorkam, der die Welt da draußen beobachtet. Oder von der Welt beobachtet wird. Uns.« Er macht eine Pause. »Ist das zu viel?«

»Überhaupt nicht, Mr Braddock«, sage ich. »Details sind hilfreich.«

Ich höre ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Die meisten meiner Klienten sprechen hastig und stockend, berichten ihre Erlebnisse mit der unbeholfenen Offenheit eines Kindes, das sich einen Traum ins Gedächtnis ruft. Doch Mr Braddock erzählt vom letzten gemeinsamen Wochenende mit seiner Frau, als liefe es direkt vor ihm auf einem Fernsehschirm ab.

Als er geendet hat, breitet sich die Stille wie Nebel aus. Ich nehme die Tablette in die Hand. Wir Körper nennen diese Pillen »Lotos«, ein Name, der schon vor meiner Zeit hier geprägt wurde. Einen offiziellen Namen haben sie nicht, es gibt keine Prägung oder sonstige Kennzeichnung auf der pudrigen Oberfläche, und so ist »Lotos« genauso gut wie jeder andere Name.

Mit der freien Hand nehme ich den Wasserbecher. »Sollen wir anfangen, Mr Braddock?«

»Moment noch.«

Ich halte in der Bewegung inne, an meinen Lippen die wächserne Kühle des Pappbechers.

»Das, was wir jetzt machen … es tut doch nicht weh, oder?«

Das hat mich noch nie ein Klient gefragt.

»Der Vorgang ist absolut ungefährlich, Mr Braddock.«

»Okay.« Er macht mit der flachen Hand eine auffordernde Geste. »Ich wollte nur sichergehen. Bitte, fahren Sie fort.«

Ich nehme den Lotos zwischen die Lippen und schlucke. Inzwischen ist das Gefühl für mich nicht überraschender, als Atem zu holen oder einzuschlafen. Taubheit breitet sich in meinen Gliedern aus, mein Blut wird träge, die Augenlider schwer. Mein Körper richtet sich darauf ein, Platz freizugeben. Mein Bewusstsein fliegt auf und zerstreut sich wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel, die eine unbekannte Präsenz spüren.

Mr Braddock rückt näher zu mir, bis sich sein Knie fest an meines drückt. Offenbar bemerkt er seinen Fehler, denn kaum dass ich den Kontakt spüre, zieht er das Bein wieder weg. Doch in dem kurzen Moment spüre ich seine harte, runde Kniescheibe unter dem Stoff seiner Hose, und eine aufregende Wärme durchzuckt mich. Ich werde in meinen Körper zurückgezogen, alle Arbeit, die ich geleistet habe, um jemand anders zu werden, fällt in sich zusammen.

Er entgleitet meinem Blickfeld und rückt so schnell in die Ferne, dass ich ihn nicht mehr erreichen kann. Ich will ihn warnen, doch es ist zu spät.

Ich bin nicht mehr da.

*

Als ich die Augen öffne, gibt es einen unsicheren Moment, in dem meine Glieder nicht an der richtigen Stelle sind. Dann falle ich in meinen Körper zurück wie aufgewirbelter Staub auf eine Oberfläche. Meine Handflächen und Fußsohlen brennen. Voller Staunen betrachte ich Zimmer 12, als sähe ich es zum ersten Mal: das glitzernde Wasser auf dem Gemälde, die zwei leeren Pappbecher.

Von einem bangen Gefühl ergriffen, richte ich den Blick auf den Sessel vor mir. Patrick sitzt nach vorn gebeugt, als ob er gerade aufstehen wollte. Er hält die Hände zwischen den Knien umfasst, seine Kiefermuskeln sind verhärtet, sein ganzer Körper steht unter Spannung. Als sich unsere Blicke treffen, wird seine Miene von einem hoffnungsvollen Ausdruck aufgehellt, der aber gleich darauf wieder verblasst.

»Mr Braddock«, sage ich.

Patrick atmet scharf aus und lehnt sich im Sessel zurück, seine Haltung entspannt sich ein wenig. Er nickt einmal, als hätten wir etwas geklärt, und steht dann auf. Ich lege den Kopf schräg, um ihn zu betrachten: seine Größe und die Art, wie seine Augen unter den gesenkten Wimpern glänzen.

»Vielen Dank.« Er klingt kühl. Höflich.

Ich sollte ihm jetzt einige Fragen stellen. Es gibt ein Skript, an das ich mich halten muss, um den Übergang von einer Identität zur anderen zu erleichtern und Patrick deutlich zu machen, dass ich wieder eine Fremde bin. Aber etwas hält mich davon ab. Ohne ein Wort zu sagen, stehe ich auf, öffne die Tür und lasse ihn vorbeigehen. Als er auf den Flur hinaustritt, streift er meinen Blick. Seine Miene ist undurchdringlich, er verschließt sich vor mir. Ich unterdrücke den Impuls, ihm hinterherzulaufen.

ZWEI

Sylvia Braddock ist seit anderthalb Jahren tot.

Ihren letzten Atemzug tat sie irgendwann zwischen dem letzten August und dem ersten September. Der Urlaub am See war ihre Idee gewesen, eine kleine Auszeit, bevor der Sommer zu Ende ging. Lake Madeleine liegt eine Stunde außerhalb der Stadt, der See erstreckt sich über dreihundertsechzig Hektar und ist von dichtem, rauschendem, überwuchertem Wald umgeben. Entlang der gewundenen Uferlinie hat ein geschäftstüchtiger Geist im Laufe der Jahrzehnte kleine Nischen der Zivilisation geschaffen. Die Ferienanlage ist bewusst rustikal gestaltet und weckt nostalgische Bilder von Ferienlagern und knarrenden Blockhütten, die von einer Generation an die nächste vererbt werden, das alles aber in der Luxusausführung.

Das Ergebnis ist eine Anlage, die zu bieder ist, um wirklich gehobenes Publikum anzulocken, und zu teuer für die sonnencremeverschmierten Touristen. Sylvia hatte gehört, Städter würden diesen Ort gern nutzen, um mal rauszukommen, ohne allzu weit fahren zu müssen: pflichtschuldig eine Prise frische Luft schnappen, das Gefühl der Wildnis erkunden und dann wieder in den Alltag zurückkehren.

Bald nach ihrer Ankunft am Lake Madeleine stellten die Braddocks fest, dass sie das Paar im Nachbarhaus kannten: Patricks Kollege und seine Frau, eine gemeinsame Freundin der Braddocks. Einer von Sylvias vielen kleinen Verkupplungserfolgen in ihrem Bekanntenkreis. Sofort schlug sie vor, zu viert etwas zu unternehmen, und bezog das andere Ehepaar so selbstverständlich in ihre Pläne mit ein, als hätte sie erwartet, die beiden dort anzutreffen. Patrick konnte nichts dagegen einwenden, ohne unhöflich zu wirken, obwohl er wusste, dass Sylvia sofort in die Rolle der herzlichen, strahlenden Gastgeberin schlüpfen würde und nicht mehr in die kleinere, intimere Welt zurückfinden würde, in der sie seine Ehefrau war.

Am Samstagabend war Patrick völlig ausgelaugt: erschöpft vom Small Talk, der brütenden Hitze und dem Alkohol, den sie am Vorabend, eingehüllt in den beißenden Schleier der Citronella-Kerzen, genossen hatten. Als Sylvia mit den beiden Freunden in die nächste Stadt fahren wollte, entschuldigte er sich und blieb zu Hause.

Sie kam später zurück, als er erwartet hatte, und ihr Atem roch nach Wein. Er wollte sie überreden, zu ihm ins Bett zu kommen, doch der Alkohol hatte sie reizbar gemacht. Als Patrick seine Frau zum letzten Mal sah, saß sie mit gesenktem Kopf auf der Bettkante und zog sich die Schuhe aus. Die dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht und gaben den Blick auf ihren eleganten Hals frei.

Am nächsten Morgen war sie weg. Patrick wartete. Ihre Schuhe – Sandalen mit nadelspitzen Absätzen – standen ordentlich nebeneinander vor der Schlafzimmertür, als würde sie jeden Moment hineinschlüpfen. Auf dem Boden lag ein nasses Handtuch von der Dusche am Abend: eine zerknautschte, nach Shampoo duftende Blüte. Patrick rief seine Frau auf dem Handy an, das auf der Fensterbank heftig vibrierte.

Bis sich die anfängliche Sorge und Ungeduld zu Angst verdichteten, war es nach Mittag. Am Morgen zuvor war Sylvia vor Sonnenaufgang aufgestanden, um im flachen Wasser in Ufernähe eine kleine Runde zu schwimmen. Sie war rechtzeitig zum Frühstück wieder da gewesen.

Am Nachmittag lief Patrick das Seeufer ab. Als er eine Stunde später auf der anderen Seite ankam, die nackten Hautstellen mit Moskitostichen und langen, frischen Kratzern übersät, warteten seine Freunde auf ihn. Sie wichen seinem Blick aus, während sie besprachen, was als Nächstes zu tun sei. Ohne den Blickkontakt fühlte Patrick sich verloren und begann zu begreifen, dass alles zwecklos war. Es war nur ein kurzer Aufschub zwischen Nichtwissen und Wissen.

Ein halber Tag verging, ehe Sylvias Leiche geborgen wurde. In dieser Zeit wurde Patrick zu einem Mann, der beschützt und abgelenkt werden musste, und der örtliche Hilfssheriff nahm ihn mit zu sich nach Hause. Der Hilfssheriff und seine Frau waren Fans einer Fernsehserie, und so erklärte er Patrick geduldig die labyrinthartigen Handlungsstränge der letzten Episode: Eine Frau, die mit ihrem Leben unzufrieden war, nötigte ihre eineiige Zwillingsschwester dazu, mit ihr die Rollen zu tauschen, nur um der Schwester hinterher das unerwartete Glück zu missgönnen.

»So ist das mit dem Gras auf der anderen Seite«, sagte der Hilfssheriff, und Patrick nickte und nickte, während er sich vorstellte, wie man seine Frau wie eine weiße Flagge aus den Tiefen des Sees zog.

*

Ich werde aus dem Schlaf gerissen wie ein gefangener Fisch aus dem Wasser. Ich muss tief und traumlos geschlafen haben. Mir tut der Hals weh, meine Haare sind verschwitzt und klebrig.

Während ich im Bett liege, kommt der gestrige Tag Stück für Stück zurück. Die Klienten, die nach Patrick bei mir waren, jeder mit seinen Spleens und Eigenarten. Ms Sawyer, die sich geziert mit dem Taschentuch die Augen tupft, Mr Kent, der die Hände in einer seltsam andächtigen Pose gefaltet im Schoß hält.

Ich habe die Elysische Gesellschaft erst spät verlassen, wie üblich bin ich als Letzte gegangen. Am Horizont schmolz die untergehende Sonne zu einem glühenden Band. Auf der Fahrt zu meiner Wohnung hakte ich die bekannten Orientierungspunkte ab: der kleine Supermarkt an der Ecke, der immer ein feucht fluoreszierendes Leuchten verbreitet wie ein Gewächshaus. Eine Reklametafel, auf der unter dem aktuellen Plakat, das sich allmählich abschält, ein künstlich weißes Lächeln zum Vorschein kommt. Unterwegs berichtete ein Radiomoderator mit einer einstudierten Mischung aus Spannung und Betroffenheit über eine Leiche, die in der Nähe einer Neubausiedlung am anderen Ende der Stadt gefunden worden war. Die Einzelheiten geben mir Halt, in ihrer unauffälligen Abscheulichkeit sind sie irgendwie tröstlich. Keine Anzeichen für einen Kampf. Stumpfe Gewalteinwirkung. Wer Hinweise geben kann, wendet sich bitte an …

Nachdem ich in meiner Wohnung angekommen bin, verschwimmt meine Erinnerung. Ich weiß noch, dass ich früher als sonst ins Bett gegangen bin, gegen sechs oder noch früher, und offenbar bin ich eingeschlafen. Jetzt sagt mir der Blick auf die Uhr, dass ich ganze vierzehn Stunden wie ein Stein geschlafen habe.

Widerwillig stehe ich auf und gehe ins Bad. Ich fühle mich steif und zerschlagen, jeder Zentimeter meiner Haut ist empfindlich, als hätte ich lange einen Verband gefragen. Ein paar Türen weiter hört ein Nachbar Musik. Die dumpfen Bässe klingen wie das Pochen eines riesigen Herzens. In diesem Apartment bin ich von den Lastern anderer Menschen umringt: theatralisches Bettgestöhne, Zigarettenrauch, erbitterte Streits, lautstarkes Dröhnen aus dem Fernseher. Tag und Nacht sickern sie durch die Wände.

Im Bad drehe ich das Wasser auf. Der Duschkopf zuckt einmal, bevor er einen ungleichmäßigen Strahl ausspuckt. In meinen Mundwinkeln macht sich ein Geschmack bemerkbar: Seewasser. Abgestanden und schlammig wie die Luft an einem heißen Tag, kurz bevor es anfängt zu regnen.

Ich trete vom Wannenrand zurück. Im Spiegel über dem Waschbecken sehe ich mein Gesicht vor dem schmucklosen Hintergrund meines Badezimmers. Irgendetwas stimmt damit nicht. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, was es ist. Meine Lippen sind mit Sylvias Lippenstift geschminkt, was sie schmaler und gleichzeitig auffälliger wirken lässt.

Ich fahre mir mit dem Handrücken über den Mund. Der Lippenstift hält. Ich versuche es noch einmal, etwas fester. Während hinter mir die Dusche faucht, reiße ich ein Blatt Toilettenpapier ab und rubble an meinen Lippen, bis sich die Haut wie eine frische Schürfwunde anfühlt. Ich erschrecke, als ich den Streifen schimmernder Farbe auf dem Papier sehe.

Ich werfe das verschmierte Tuch in die Toilette, wo es sich langsam wie eine Blüte entfaltet, und drücke die Spülung.

*

Die Braddocks sind in meinem Schlafzimmer. Sylvias Gesicht liegt in vielen Versionen ausgebreitet auf den Bodendielen. Auf der Bettkante sitzend, sehe ich die Fotos durch, langsamer diesmal, mit System. Ich möchte jedes einzelne Bild sehen und verstehen. Auf eine perverse Weise hoffe ich, die Braddocks hätten sich verändert. Ich wünsche mir, sie wären normal und unter ihrem Glanz würden Menschen zum Vorschein kommen, die nicht bemerkenswerter sind als meine anderen Klienten.

Doch es zeichnet sich wieder das gleiche frustrierend unerbittliche Muster ab: Die beiden lieben sich und sind ganz verzaubert von ihrem Leben. Bei ihrem Hochzeitsfoto halte ich inne. Sylvia sieht direkt in die Kamera, der Schleier wird in einer hauchzarten Wolke zurückgeweht, ihr spitzer Haaransatz betont das herzförmige Gesicht. Patrick sieht seine Braut von der Seite an, und die feierliche Pose unterstreicht seinen zärtlich suchenden Blick, als könne er der Anziehungskraft ihrer Schönheit nicht widerstehen und müsse sich immer wieder vergewissern, dass sie auch wirklich da ist.

Vor dem letzten Foto im Stapel zögere ich. Es ist das Bild auf dem Bett. Während die anderen Bilder haargenau zusammenpassen – alle rechteckig und im gleichen Format –, hat dieses einen besonderen Stellenwert. Es ist quadratisch, ein Polaroid, und der weiße Rand verleiht ihm etwas von einer Reliquie: vergänglich und zugleich feierlich.

Der Unterschied betrifft auch das Bild selbst. Die Diskrepanz zwischen der strahlenden Braut und dieser nackten Frau ist verblüffend. Sylvia scheint im Verlauf der Bilder kaum gealtert zu sein, die schwarzen Haare fallen ihr immer bis knapp über die Schulterblätter, auch ihr eleganter Stil hat sich nicht verändert. Aber die Frau auf dem Polaroid wirkt auf eine Art nackt und entblößt, die nichts mit ihrem Körper zu tun hat. Es liegt an ihrem Blick. Da ist eine gewisse Direktheit, eine Wildheit.

Eine alte medizinische Illustration drängt sich in meine Gedanken: die Haut zurückgeklappt, um das Innenleben bloßzulegen. Pralle rosarote Organe und angespannte Muskeln. Darüber ihr ungerührtes Lächeln und ein Blick, der mich auffordert, sie anzusehen.

Nacktheit ist in der Elysischen Gesellschaft verboten. Im Laufe der Jahre sind mir ein paar solcher Fotografien begegnet, und in den meisten Fällen halte ich sie für harmlos. Von Venen gemaserte Schenkel und fleischige Brüste, so alltäglich wie Haushaltsgegenstände. Bisher allerdings habe ich solche Fotos immer gemeldet und die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Klienten abgelehnt. In der Elysischen Gesellschaft passiert es schnell, dass Kunden Grenzen ausloten wollen und nach Schwachstellen und Schlupflöchern suchen. Jeder Verstoß in der Anfangsphase stellt ein Risiko dar. Das weiß ich.

Ich erinnere mich an Patricks Knie, das sich an meins drückt, an die schockierende Unmittelbarkeit seiner körperlichen Nähe. Mir läuft es heiß über den Rücken.

Ich stehe vom Bett auf. In einem Schwung rutschen die Fotos auf den Boden, und als ich durchs Zimmer gehe, um mich für die Arbeit fertig zu machen, landet meine Ferse auf Sylvias Hochzeitslächeln.

*

Das Viertel, in dem sich die Elysische Gesellschaft befindet, gleicht einer Art Limbus. Der Gegend haftet etwas unterschwellig Bedrohliches an, was sich eher andeutet als offen zeigt. Die Straßen sind von verlassenen und abbruchreifen Häusern gesäumt. Die vernagelten Fenster sind in der gleichen Farbe gestrichen wie das Mauerwerk und sehen aus wie leere Gesichter. Diese Umgebung verschafft der Elysischen Gesellschaft automatisch Diskretion. Hier ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass unsere Klienten zufällig auf Bekannte treffen.

Das Gebäude selbst muss vor vielen Jahrzehnten einer wohlhabenden Familie gehört haben. Mit seinen kühlen weißen Backsteinmauern und den fest verschlossenen Fensterläden erweckt es von außen exakt den Eindruck, den unsere Klienten suchen, wenn sie an einen Ort wie diesen kommen: elegant, aber nicht zu trübselig, alt und etabliert, doch ohne jede Verbindung zu Skandalen oder Hexerei. Wenn man nicht genau hinsieht, könnte es eine Kirche oder ein Museum sein.

Die Termine werden sorgfältig zeitversetzt vergeben und die Klienten gleich nach der Ankunft in eines der Zimmer begleitet. Jeder Gast soll sich wie in einer vollkommen privaten Umgebung fühlen. Der Warteraum der Elysischen Gesellschaft ist nicht für Klienten gedacht; es ist der Ort, an dem sich die Körper zwischen den Begegnungen aufhalten. Im Gegensatz zu den Begegnungszimmern sind dem Warteraum die vielfältigen Zeichen des Alters anzusehen. Sepiabraune Wasserflecken zieren die Decke, und der mit Dellen übersäte Teppich löst sich von den alten Bodendielen. Einige Sofas sind vor einem Fernseher gruppiert, auf dem körnige Videofilme laufen: wechselnde Landschaften, unterlegt mit beruhigender Instrumentalmusik. Angenehme, wortlose Zerstreuung.

An diesem Freitagmorgen bin ich so früh da, dass der Warteraum noch beinahe leer ist. Ein rothaariger Körper schaut desinteressiert in den Fernseher. Ein Junge mit kräftigen Wangenknochen gähnt hinter vorgehaltener Faust, die Augen noch glasig wie bei einer Puppe – die Nachwirkungen eines Lotos. Auch ein älterer weiblicher Körper ist da. Sie hat graumeliertes Haar, und ihr Gesicht ist von weichen Falten überzogen, als wäre ihre Haut einmal zusammengeknüllt und wieder glatt gestrichen worden.

»Edie.«

Ich drehe mich um und sehe Leander, der lächelnd auf mich zukommt. Manche Körper tragen die Uniform der Elysischen Gesellschaft mit einer Steifheit oder einer entschuldigend geduckten Haltung, die das Ungewohnte dieser Kleidung noch mehr hervorhebt, bis es das Einzige ist, was auffällt. Körper wie Lee hingegen verstärken die Schlichtheit der Uniform: seine weit auseinanderstehenden, grünen Augen, das glatt rasierte Kinn, die weiße Hose und das luftig dünne Hemd, sogar seine nackten milchweißen Füße – alles wirkt, als wäre es ein natürlicher Teil seiner jugendlichen Attraktivität.

»Dein Typ wird verlangt«, sagt Lee.

Ich schüttle leicht den Kopf. Lee arbeitet hier seit zwei Jahren als Körper, ein Rekord, der sich meinem langsam annähert. Dass wir einen freundschaftlichen Umgang entwickelt haben, ist hauptsächlich seiner Geduld zu verdanken. Als ich zum ersten Mal automatisch sein Lächeln erwiderte, als ich zum ersten Mal froh war, im Warteraum ein bekanntes Gesicht zu sehen, da hatte ich fast das Gefühl, er hätte mich reingelegt.

»Mrs Renard will dich sprechen«, erklärt er. »Wann es dir recht ist.«

»Weißt du, worum es geht?«, frage ich.

»Ich bin nur der Bote.« Aber er wirkt irritiert, sein Blick gleitet über mein Gesicht. »Irgendwas ist heute anders an dir«, sagt er. »Hast du die Haare kürzer?«

Ich fasse mir in die Haare. Blond, spröde und zu Trockenheit neigend. Im Nacken zu einem schlichten Knoten zusammengebunden. Ich schneide sie selbst, einmal im Jahr, schnurgerade auf Schulterlänge. Im Moment haben sie fast ihre maximale Länge erreicht.

Meine Gedanken schweifen zu Sylvias Haaren auf den Fotos ab. Blauschwarz wie Rabenflügel und schimmernd wie Öl auf Asphalt. Ich stelle mir vor, wie sie sich anfühlen. Glatt und geschmeidig wie Seide.

»Vielleicht sehe ich einfach müde aus.« Schnell lasse ich die Hand sinken. »Ich habe schlecht geschlafen.«

»Nein, nein, du siehst gut aus«, sagt Lee. »War wohl nur Einbildung, entschuldige.«

»Wahrscheinlich das Licht«, vermute ich.

Lee lächelt. »Was es auch ist, es ist nicht schlecht.«

In seiner Stimme schwingt ein schmeichelnder Ton mit. Ich erwidere sein Lächeln. »Dann sehe ich jetzt besser mal nach, was sie von mir will«, sage ich.

In dem niedrigen Flur, der zu den Büros führt, versuche ich das Bedauern abzuschütteln, das ich empfinde, wenn ich Lees Herzlichkeit nicht erwidern kann. Bei ihm wirkt es immer so einfach. Er gibt ein kleines Detail aus seinem Leben preis, und dann folgt Schweigen. In diesen Momenten bin ich dankbar für die Ausreden, die mir die Elysische Gesellschaft liefert. Hier wird meine Zurückhaltung zum Vorteil.

Die Tür zu Mrs Renards Büro ist angelehnt, ein schmaler Lichtstreifen fällt auf das Eichenpaneel. Ich klopfe. »Herein«, ruft sie.

Sie sitzt mit gefalteten Händen und aufgestützten Ellbogen an ihrem Schreibtisch. Am Rand des Tischs steht eine Reihe von Taschentuchspendern, aus denen einzelne Tücher wie aufsteigender Rauch herausragen. Die Wände sind mit Büchern gesäumt, manche davon so alt, dass sie keine Beschriftung mehr haben und wie Schlangen ihre Haut abstreifen. Diese Bücher, genau wie der mit schimmernden Perlen besetzte Lampenschirm, wurden dort für unsere eher abergläubischen Klienten platziert. Ein Zinnkreuz an der Wand soll jene trösten, die direkt nach dem Gottesdienst oder nach der Beichte zu uns kommen. Davon abgesehen könnte das Büro auch einem ziemlich teuren Therapeuten gehören.

»Eurydice«, sagt Mrs Renard. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

Ich bleibe bei der Tür stehen, weil ich spüre, dass noch eine dritte Person im Raum ist. Zuerst glaube ich, es wäre eine Klientin, doch die Frau trägt das gleiche weiße Kleid wie ich.

»Das ist Pandora«, sagt Mrs Renard, die meinem Blick gefolgt ist. »Sie fängt gerade bei uns an. Ich habe ihr erklärt, dass ein Klient daran interessiert ist, mit ihr zu arbeiten. Sie werden Mr Womack mögen«, fährt sie an Pandora gewandt fort. »Er hat seine Frau vor fünf Jahren verloren, nachdem sie einige Jahre verheiratet waren. Sie war erst in ihren Dreißigern. Ein schrecklicher Verlust. So unerwartet.«

»Selbstmord?«, fragt Pandora.

»Ein Schlaganfall«, sagt Mrs Renard. »Mit Selbstmördern arbeiten wir in der Elysischen Gesellschaft nicht.«

»Sie wollten mich sprechen, Mrs Renard?«, frage ich.

»Richtig«, sagt sie. »Entschuldigen Sie, Pandora, aber ich muss Sie bitten, uns allein zu lassen.«

Als Pandora an mir vorbeigeht, streift ihr Blick mich und sie lächelt mich an. Eine Sekunde zu spät lächle ich zurück; der Reflex überrascht mich.

Als wir wieder allein sind, seufzt Mrs Renard. »Nun, Eurydice. Ist schon eine Weile her, dass wir uns zuletzt in Ruhe unterhalten haben, nicht?« Erstaunen mischt sich in ihre Stimme. »Sie sehen richtig gut aus.«

»Sie auch.« Es ist nicht zu übersehen, dass sie sich verändert hat. Das Grau am Ansatz ihrer burgunderrot gefärbten Haare wirkt wie Staub, der sich auf einem hellen Tischtuch sammelt. Die Fältchen in den Augenwinkeln sind tiefer geworden. Sie sieht aus wie jemand, der sich von einer langen Krankheit erholt.

»Ich will gleich zur Sache kommen, Eurydice«, sagt sie, und ich hebe das Kinn, um aufmerksam zu wirken. »Sie haben einen wichtigen Meilenstein erreicht. Das möchte ich entsprechend würdigen.« Ein gutmütiges Lächeln.

Das Fenster hinter Mrs Renards Schreibtisch ist eines der wenigen im ganzen Haus, die nicht hinter mehreren Lagen schwerer Vorhänge versteckt sind. Hier in diesen Räumen wirkt das Sonnenlicht viel exklusiver als draußen unter freiem Himmel. Strahlend, klar und mit Staubkörnchen durchsetzt fällt es durch die nackten Fensterscheiben herein.

Mrs Renard lehnt sich zurück. »Es ist jetzt fünf Jahre her. Vor fünf Jahren standen Sie vor mir und wollten als Körper arbeiten.«

Als sie es sagt, fällt es mir auch wieder ein. Seit Monaten schon kreiste der Gedanke an dieses Jubiläum am Rande meines Bewusstseins, aber ich hatte ihn verdrängt.

»Ich erinnere mich noch deutlich an diesen Tag«, fährt sie fort. »Sie waren damals ein ganz anderer Mensch. Fast noch ein Kind.«

Ich falte die Hände vor dem Bauch. Ein leichtes Zittern erfasst meine Muskeln, und ich drücke die Finger fester aneinander, als könnte ich diese Reaktion mit Gewalt unterdrücken.

»Allein in dieser Woche hatte ich Vorstellungsgespräche mit einer Handvoll Mädchen, die in dasselbe Schema passen. Gerade erst in die Stadt gezogen und auf der Suche nach einem Neuanfang. Das Außergewöhnliche bei Ihnen war, dass Sie in diesen Mauern nicht nur einen Job gefunden haben, sondern ein ganzes Leben.«

Mein früheres Ich drückt sich in der Zimmerecke herum und beobachtet mich, misst mich mit den Blicken, um zu berechnen, welche Teile gewachsen und welche gleich geblieben sind.

Mrs Renard bemerkt mein Unbehagen, geht aber nicht darauf ein. »Wie viele Ihrer Kollegen können das von sich sagen?«, fragt sie. »Sie, Eurydice, erkennen das wahre Potenzial darin, ein Körper zu sein. Sie wissen etwas, das andere nie begreifen werden: dass es eine Begabung ist. Eine Fähigkeit.«

Meine Muskeln entspannen sich, die Erinnerung fällt in sich zusammen und zerstreut sich. Diesmal ist mein Lächeln echt. »Danke, Mrs Renard.«

»Natürlich wäre es mir lieb, wenn Sie mehr Zeit mit den anderen verbringen würden«, sagt sie. »Die anderen Körper könnten das eine oder andere von Ihnen lernen.«

Schuldgefühle machen sich in mir breit und ziehen eine dunkle Spur hinter sich her. Vor meinem geistigen Auge blitzt erst Patricks Gesicht auf, dann Sylvias, der Lippenstift, Patricks Knie, das gegen meines drückt. »Ich fühle mich geehrt, dass Sie so viel Vertrauen in mich haben«, sage ich.

Sie steht auf und kommt auf mich zu. Weil ich so daran gewöhnt bin, sie hinter ihrem Schreibtisch sitzend zu sehen, überrascht es mich, wie klein sie ist: einen Kopf kleiner als ich. An ihren Fingern schimmern zahlreiche Ringe, und sie trägt einen aufwändig gearbeiteten Kaftan aus mehreren Lagen Stoff. Kurz fällt mir ein kleiner Bluterguss auf, der halb unter ihrem Halsausschnitt verschwindet: eine dunkel geäderte Stelle auf der sonnengegerbten Haut. Dann umarmt sie mich.

Überwältigt von der Solidität ihres Körpers und ihrem süßen, fleischigen Geruch, versuche ich, mich nicht zu versteifen. Schon lange hat mich niemand mehr berührt. Es ist eine kräftige, Halt gebende Umarmung, und als Mrs Renard zurücktritt, habe ich für einen Moment das Gefühl, davonzutreiben.

»Ich bin stolz auf Sie, Eurydice.« Sie zupft sich den Ausschnitt zurecht, und der Rand des Blutergusses verschwindet. »Sie sollen wissen, dass Sie sich immer an mich wenden können. Egal womit.«

Nach dem gleißenden Licht im Büro ist es im Flur zu dunkel. Ich blinzle kräftig, um wieder klare Sicht zu bekommen, und laufe eilig mit vor der Brust verschränkten Armen zu Zimmer 12.

Ich bin ein Sonderfall in der Elysischen Gesellschaft. Die meisten Körper halten kaum das erste Jahr durch. Der Großteil hört nach etwa einem Monat wieder auf. Manche verschwinden nach einer Woche oder schon nach einem Tag. Immer ohne Ankündigung. In meinen ersten Wochen hier habe ich kaum mit den anderen gesprochen. Ich bewegte mich unbemerkt zwischen ihnen und eignete mir die Abläufe der Organisation an wie jemand, der ins Wasser geworfen wird und gezwungen ist, schwimmen zu lernen.

Nach einem Monat war mein Terminplan voll. Ich bekam Routine darin, ihnen ein beruhigendes Gefühl zu vermitteln und die richtigen Fragen zu stellen. Damals beruhte mein Erfolg nicht auf einer handfesten Arbeitsethik oder einem neu entdeckten Talent. Ich ging einfach ganz in der Erleichterung auf, die diese Arbeit für mich bedeutete: eine Möglichkeit, mir selbst zu entkommen.

Eines Morgens fing mich einer der anderen Körper im Warteraum ab und verlangte eine Erklärung. Es war eine Frau mittleren Alters mit Aknenarben auf den Wangen. Sie war mir schon vorher aufgefallen, weil sie laut war und ständig redete. In ihrem Atem lag eine beißende Mischung aus Zigaretten und Pfefferminz, was hier beides verboten ist.

»Was ist dein Geheimnis?« So hat sie es formuliert, und mein Herzschlag setzte ein paar Takte aus, bis mir klar wurde, dass sie es unmöglich wissen konnte. Sie bohrte weiter. »Du hast das richtige Aussehen, ein Allerweltsgesicht. Die Leute verwechseln dich ständig mit jemandem, den sie kennen, stimmt’s?«

»Eigentlich nicht«, log ich.

Eine Woche später war die Frau verschwunden. Damals kam es mir irgendwie verdächtig vor, aber nach und nach bekam ich mit, wie oft neue Mitarbeiter eingestellt wurden und wie beiläufig sie wieder verschwanden. Nach einem Jahr in der Elysischen Gesellschaft war nur knapp ein Drittel meiner ursprünglichen Kollegen noch dabei.

Mrs Renards Aufforderung, mehr Zeit mit den anderen Körpern zu verbringen, ärgert mich. Sie hat einen wesentlichen Teil dessen übersehen, was mich ausmacht – oder ihn absichtlich ignoriert. Mein Erfolg beruht darauf, dass ich Distanz wahre, dass ich meine Wartezeit schweigend und ohne Ablenkung verbringe. Ich beobachte die anderen dabei, wie sie sich unterhalten, tratschen und flirten, wie sie ihre eigene Identität an die Oberfläche zerren, was es so viel schwerer macht, den Lotos zu schlucken und einen Fremden in ihren Körper zu lassen.

Auf meine Art ist es leichter. Solange ich mich in den Räumen der Elysischen Gesellschaft aufhalte, ignoriere ich meine Persönlichkeit und verliere mich ganz in der Monotonie der Wiederholung. Über Jahre hinweg haben mich diese Regeln geerdet und mir Halt gegeben, wenn sich das, was ich hier tue, wie gähnende, bodenlose Dunkelheit unter meinen Füßen auftat.

Jetzt aber bin ich ein winziges Stück in diese Dunkelheit hineingerutscht.

DREI

Zum vierjährigen Jubiläum bekam ich von Mrs Renard eine Sondergenehmigung. Jahrelang hatte ich die Räume gewechselt wie alle anderen Körper auch, mal Zimmer 3, mal Zimmer 15. Nach vier Jahren Arbeit wurden alle meine Sitzungen in Zimmer 12 verlegt. Direkt angesprochen hat Mrs Renard das mir gegenüber nie, und ich habe mich nie bei ihr bedankt, aber seitdem empfinde ich eine Art Zugehörigkeit, wann immer ich Zimmer 12 betrete. Ein kleiner, feiner Ort ganz für mich allein.

Heute allerdings ist irgendetwas anders. Die ganze Zeit über komme ich mir vor wie ein Mörder, der sich zum Ort des Verbrechens zurückschleicht. Das Zimmer sieht aus wie immer, doch allem haftet ein zarter, dunkler Schleier von Erinnerungen an, der die Atmosphäre durchdringt und sie verändert.

Nach einem kurzen Moment erkenne ich, was es ist. Es zieht meinen Blick förmlich an: Sylvias Lippenstift. Die kegelförmige Hülse steht auf dem Beistelltisch. Ich habe sie Patrick nach der Begegnung nicht zurückgegeben.

Ich nehme den Lippenstift vom Tisch und wiege das zarte Gewicht in meiner Hand. Von den Körpern wird erwartet, dass sie für die Begegnungen persönliche Gegenstände der geliebten Personen benutzen, seien es abgetragene, fadenscheinige Pullover oder angelaufene Halsketten. Die Idee dahinter ist laut Mrs Renard, dass die Toten von Gegenständen, an denen sie im Leben gehangen haben, angezogen und getröstet werden. Wie Hunde, die einem vertrauten Geruch folgen, um den Weg nach Hause zu finden.

Mich erinnert das immer an eine Geschichte, die ich als Kind gelesen habe: die gierige Frau, die einen Knochen vom Friedhof stiehlt, ihn mit in ihre Küche nimmt und in dieser Nacht von einem klagenden Geist heimgesucht wird: Gib mir meinen Knochen zurück. Schon als Kind fand ich die Geschichte nicht nur beängstigend, sondern auch traurig: diese Vorstellung, dass die Toten in der materiellen Welt der Lebenden gefangen bleiben.

Ich schließe die Hand um den Lippenstift.

Für eine bizarre Sekunde ist Sylvia bei mir im Zimmer. Ein ertrunkenes Phantom, dessen weiße Haut sich wie die Schale einer Frucht ablöst und dessen Augenlider von Fischen zu einem filigranen Netz zerfressen sind.

Dann kippt das Bild zur Seite weg, und ich selbst bin die ertrunkene Frau. Die triefende, mit Wasser vollgesogene Haut hängt mir in Fetzen vom Körper.

Es klopft. Ich lasse den Lippenstift fallen, als hätte ich mich daran verbrannt. Er rollt unter den Beistelltisch und wird von den Schatten verschluckt.

Ich öffne die Tür. »Ms Mendoza«, sage ich und bin erleichtert, dass meine Stimme kräftig und ruhig klingt. »Setzen Sie sich doch bitte.«

Diese Klientin kommt seit drei Jahren zu mir. Heute trägt sie eine Perlenkette, und ihre grau gesträhnten Haare sind ordentlich geflochten. Die meisten Klienten machen sich für die Begegnungen besonders zurecht. Ihre Lieben sollen sie nicht in schäbiger oder verwahrloster Verfassung sehen.

Ich nehme das Parfumfläschchen, das Ms Mendoza mir reicht, und verreibe schnell und geschäftsmäßig einige Tropfen auf meinen Handgelenken. Rosenduft erfüllt den Raum.

Ms Mendoza atmet tief ein. »Ach, ich habe mich so auf diesen Besuch gefreut.«

»Es ist eine Weile her, seit Sie zuletzt hier waren«, sage ich. Ms Mendoza ist ein Mensch, der vor den Begegnungen persönlichen Kontakt braucht, und ich erlaube mir, ihre schlichte Herzlichkeit zu genießen.

»In letzter Zeit habe ich kaum Zeit gefunden, um herzukommen und Veronika zu besuchen«, sagt sie. »Persönliche Angelegenheiten. Ich hoffe, sie versteht das.«

»Da bin ich sicher.«

Dann verstummt sie, faltet die Hände im Schoß und sieht mich abwartend an. Ich lege mir die Tablette auf die Handfläche, zögere dann aber. Plötzlich bin ich verwirrt, eine plötzliche Panik lässt mir das Herz bis zum Hals schlagen. »Geben Sie mir bitte einen Moment?«, frage ich.

»Aber natürlich, meine Liebe«, sagt Ms Mendoza, obwohl ich die Ungeduld auf ihren Zügen sehe.

Ich schließe die Augen, atme tief durch und zwinge mein starrsinniges Gehirn, leer zu werden. Es dauert eine Sekunde, aber dann kommt es: Der Herzschlag verlangsamt sich, mein Körper wird schwer. Die Angst schwindet aus meinen Gedanken wie ein letzter Rest Wasser, der kreiselnd durch den Abfluss fließt.

Ich öffne die Augen, setze den Becher an und schlucke den Lotos hinunter. Im nächsten Moment bin ich weg.

*

Ich öffne die Augen. Wirre Klang- und Lichtfetzen treiben durch meinen Kopf. Eine leise Frauenstimme an meinem Ohr. Kalte Lichtquader, die einer nach dem anderen vorbeiziehen, während ich auf dem Rücken liegend durch einen Korridor geschoben werde.

Ms Mendoza kramt geschäftig in ihrer Handtasche. Ihre Augen haben diesen verletzlichen, kaninchenhaften Ausdruck frisch vergossener Tränen. »Das war wundervoll«, sagt sie. »So schön, sie wiederzusehen.«

Ms Mendozas Zwillingsschwester starb vor drei Jahren. Es war ein langsamer Tod. Leukämie. In die anfängliche Hoffnung drangen schlechte Nachrichten ein, eine Lumbalpunktion verriet, dass der Krebs gestreut hatte. Kurz vor dem Ende, berichtete Ms Mendoza, war es dann umgekehrt: Das Voranschreiten des Todes wurde von kleinen Momenten der Hoffnung verlangsamt. Experimentelle Behandlungsmethoden zögerten das Unausweichliche nur auf grausame Art hinaus. Eine Foltermethode. Dennoch ließ Ms Mendoza keine Woche verstreichen, bis sie die Elysische Gesellschaft aufsuchte.

Das ist nicht ungewöhnlich. Ich habe schon Klienten erlebt, die überhaupt keine Zeit verschwendet haben, die gleich nach der Beerdigung, mit noch verweinten Augen, in Zimmer 12 saßen. Für manche Klienten ist die Arbeit mit mir, als würden sie ein Gespräch nach einer kurzen Unterbrechung fortsetzen und kaum merken, dass sich etwas verändert hat. Ein Satz, der im Mund einer anderen Frau angefangen hat, wird mit meinem zu Ende gebracht.

Aber ich habe auch erlebt, dass Menschen jahrzehntelang warten und alle glauben lassen, sie wären darüber hinweg. Sie schließen pflichtgemäß die Phasen der Trauer ab und bauen sich in dem Raum, der zurückbleibt, ein neues Leben auf. Und dann wachen sie eines Tages mit dem schlichten, nicht zu ignorierenden Wunsch auf, mit ihrer Frau, ihrer besten Freundin oder Tochter zu reden. Wenn das der Fall ist, ist die Elysische Gesellschaft für sie da. Sie bietet ihnen Körper, die perfekt im Zeitraffer gealtert sind – das Mädchen, das mit achtzehn starb, erfährt endlich die Gnade, Falten und graue Haare zu haben –, oder aber Körper, die so jung und unberührt sind wie eine lieb gewonnene Erinnerung.

Ich beobachte Ms Mendoza, wie sie sich mit fahrigen Bewegungen die Nase abtupft, wie sie das Taschentuch zu einem ausgebeulten Quadrat faltet, und empfinde nichts für sie. Weder Neugier noch Vertrautheit. Sie ist nur irgendeine Frau. Eine zahlende Kundin.

*

Bevor ich die Elysische Gesellschaft verlasse, sehe ich auf den Terminplan, den Jane für mich aufgestellt hat. Eine Abfolge bekannter Namen (Park, Brown, Loudermilk). Und da ist er: Braddock, Patrick. Nächsten Donnerstag kommt er zu mir.

Das ist früh für eine zweite Sitzung. Bei den meisten Klienten dauert es mehrere Wochen, bis der Schmerz der Sehnsucht wieder an Schärfe gewinnt. Ich lege den Finger auf seinen Namen. Tief in mir rührt sich etwas. Leicht und flüchtig.

Als ich gehe, hat die Dämmerung eingesetzt. Kalte Luft vertreibt die Wolken vom Abendhimmel. Am Fuß der Treppe stolpere ich fast über eine Gestalt, die auf den Stufen hockt. Sie dreht sich um und sieht mich so überrascht an, als wäre ich diejenige, die hier fehl am Platze ist.

»Pandora«, sage ich, als mir endlich ihr Name einfällt. »Was machst du hier?«

Sie sitzt zusammengekauert da, ihre Wangen glänzen rosig vor Kälte. Ihr Knie zittert. »Hey«, sagt sie. »Du wieder.«

»Die Bushaltestelle ist ein paar Straßen weiter«, sage ich.

Sie trägt eine dünne Kunstlederjacke über dem Kleid und dazu dick wattierte Stiefel, die ihre Beine spindeldürr aussehen lassen. »Ich hatte gehofft, jemand könnte mich mitnehmen«, sagt sie.

»Ich fürchte, ich bin heute die Letzte.«

Pandora nickt nur und schlingt die Arme enger um sich.

»Soll ich dich irgendwo absetzen?«, frage ich widerwillig, und Pandora ist schon aufgestanden, bevor ich den Satz beendet habe.

Ich fahre auf die Hauptstraße. »Wohin soll’s denn gehen?« Mein Wagen ist sauber, aber schäbig, ein älteres Modell. Die Heizung bläst mir heiße Luft auf Hände und Knie, während der Rest von mir viel zu kalt bleibt.

»Sycamore«, sagt Pandora. »Ich lotse dich, wenn wir dort sind.«

»Sycamore?« Automatisch fasse ich das Lenkrad fester und blicke starr geradeaus in die schwachen Scheinwerferkreise des Gegenverkehrs. »Doch nicht 801 Sycamore?«

Sie dreht sich in ihrem Sitz, um mich besser ansehen zu können.

»Da habe ich auch mal gewohnt«, erkläre ich.

Fast kann ich ihre Neugier knistern hören, während sie hin und her überlegt, ob sie nachfragen soll. »Hat Renard dir auch aus der Klemme geholfen?«, fragt sie schließlich.

»Ja.« Wir kommen an der Ruine eines Restaurants vorbei, das letzten Monat abgebrannt ist. Imposant aufragende schwarze Gipfel und zerklüftete Bergrücken. Nachts erinnern die Umrisse an Baumkronen in einem Wald. »Ist Jahre her.«

»Wie viele?«

»Ein paar«, sage ich schroff. »Ich war neu in der Stadt.«

»Oh, ich bin auch neu hier«, sagt Pandora, als wären wir auf eine verblüffende Gemeinsamkeit gestoßen. »Woher kommst du?«

Mir wird eng um die Brust. »Kennst du bestimmt nicht«, sage ich.

Die plötzliche Kälte in meiner Stimme scheint ihr nicht aufzufallen. »Oh, weil die Stadt so klein ist, meinst du?«, fragt sie. »Weil …«

»Ich möchte ehrlich gesagt nicht darüber reden«, unterbreche ich sie. »Das ist lange her.«

»Hey, tut mir leid. Ich wollte nur sagen, dass ich auch aus einer Kleinstadt komme.«

Ein paar Minuten sagt keine von uns etwas, und ich mache mich darauf gefasst, Sycamore wiederzusehen. Schon während der Fahrt auf meiner früheren Buslinie begleitet mich das unheimliche Gefühl eines Déjà-vu. Nach einiger Zeit schaltet Pandora das Radio an. Rauschend und knackend dringt die Stimme des Nachrichtensprechers in den Wagen, Worte irren über die Mittelkonsole.

… von einem Verbrechen auszugehen ist, sind die Eigentümer der anliegenden Häuser um ihre Sicherheit besorgt. Die Behörden versuchen zurzeit noch, das Opfer zu identifizieren. Hopeful Doe, wie die junge Frau genannt wird, ist schätzungsweise zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt und …

Ich habe genug gehört und schalte das Radio aus. Zurück bleibt eine hallende Stille.

»Hopeful Doe«, wiederholt Pandora. »Im Ernst? Wo haben sie das denn her?«

»Von Jane Doe«, sage ich. »Die Namenlose. Wahrscheinlich soll sie dadurch menschlicher wirken.«

Sie schnaubt. »Da muss es doch einen weniger kitschigen Weg geben.«

Wir nähern uns dem Ziel. Ich erkenne die Kirche an der Kreuzung und den mit Brettern vernagelten Schnapsladen auf der anderen Straßenseite, den jemand mit einem hübschen Blumengraffito verziert hat.

»Wo wir gerade dabei sind«, sagt Pandora, »hast du eigentlich einen Spitznamen? Hier scheint jeder einen zu haben. Bei mir ist es Dora.«

»Die meisten nennen mich Edie«, lenke ich ein.

»Das ist hübsch. Hübscher als Eurydice.« Sie verstummt wieder, doch ich spüre, dass sie mich beobachtet. Jedes Mal, wenn Dora etwas sagt, wirkt sie eine Spur zu eifrig, als hätten sich die Worte in ihr angestaut und sie müsse sich beim Sprechen bremsen. Ein klares Zeichen von Einsamkeit; ich habe lange gebraucht, um es loszuwerden.

»Das ist so traurig«, wagt Dora einen neuen Anlauf. »Mit diesem Mädchen, das sie gefunden haben.« Sie macht eine Pause. »Kannst du mir etwas erklären?«

Der Apartmentkomplex liegt direkt vor uns. Ein gedrungener Backsteinbau mit Treppenaufgängen aus Metall, die mich an Stacheldrahtrollen erinnern. Hinter einem Fenster fällt das flackernde Blau eines Fernsehbildschirms wie ein Morsecode auf die Jalousien. »Ich werd’s versuchen«, sage ich.

»Warum dürfen wir keinen Kontakt zu Selbstmördern aufnehmen?«, fragt Dora. Die Offenheit ihrer Frage und ihre kindliche Unbefangenheit überraschen mich. »Heute Morgen im Büro«, sagt sie. »Weißt du noch? Ich habe gefragt, ob jemand Selbstmord begangen hätte, und Mrs Renard …«

»Ja, ich weiß es noch.« Wie in einem wiederkehrenden Traum, den ich gehorsam durchlebe, lenke ich den Wagen auf den Parkplatz und stelle den Motor ab. »So etwas bieten wir bei der Elysischen Gesellschaft nicht an«, sage ich. »Haben wir noch nie gemacht.«

»Ja, aber die Leute kommen doch, um Antworten zu finden«, sagt sie. »Und nach einem Selbstmord braucht man diese Antworten am dringendsten, weißt du.« Die steifen, glänzenden Jackenfalten über ihren herabhängenden Schultern erinnern mich an die nassen, zerzausten Flügel eines Vogelbabys.

»Möglich«, sage ich. »Aber es ist ein Risiko. Es ist gefährlich.«

Dora zieht die Stirn kraus wie ein Kind, das versucht, eine verworrene Parabel oder eine langweilige Predigt zu begreifen. »Ich dachte, dieser Ort wäre anders als die anderen«, sagt sie. »Sicherer.«

In ihrer Stimme liegt etwas vorsichtig Herausforderndes. Ich weiß, dass sie von den kleinen Privatanbietern spricht, die in Vorortkellern und Großmutters Wohnzimmern wie Giftpilze aus dem Boden schießen. Amateurmedien und unerfahrene Körper schlucken Präparate, so schwach wie Kinderaspirin, oder so stark, dass ihnen davon Augen und Lippen aus dem Kopf quellen. Aus der Stadt und den nahe gelegenen Vororten hat die Elysische Gesellschaft diese Kleinanbieter vertrieben, aber weiter außerhalb gibt es immer noch Nischen, in denen sie florieren.

»Die Elysische Gesellschaft ist auch sicherer«, sage ich. »Aber das ist sie wegen der Regeln. Wegen dem, was wir nicht anbieten. Die Risiken gibt es trotzdem, und die Konsequenzen sind noch genauso gefährlich.«

»Inwiefern gefährlich?«

Seit die Heizung aus ist, breitet sich die Kälte so schnell im Wagen aus, wie Wasser in einem Spalt verschwindet. Fast hätte ich es ihr erzählt. Fast hätte ich erzählt, was in Zimmer 7 passiert ist, warum wir auf keinen Fall Gläser, sondern Pappbecher für das Wasser benutzen. Aber ich selbst habe das alles nur aus Gerüchten erfahren, die ich mir nach und nach zu einem unheilvollen Ganzen zusammengesetzt habe. Für mich haben solche Geschichten die größte Macht, wenn sie einen nur flüchtig im Dunkeln streifen.

Stattdessen sage ich: »Du, ich muss morgen früh raus.«

Daraufhin kommt Dora schlagartig in Bewegung, sie öffnet die Wagentür und schlüpft hinaus in die Nacht. »Danke fürs Mitnehmen«, ruft sie; ihre Stimme weht in den Wagen, bevor sich die Tür hinter ihr schließt.

Nachdem Dora weg ist, verdichten sich die Erinnerungen mehr und mehr. Als ich in der Elysischen Gesellschaft anfing, lebte ich in einem Motelzimmer. Mrs Renard besaß ein möbliertes Apartment und ließ mich dort wohnen – es lag ganz in der Nähe der Arbeit und war als Übergangswohnung einfach perfekt. Dafür behielt sie jeden Monat einen bescheidenen Betrag von meinem Verdienst ein. Ein mehr als fairer Tausch gegen eine Unterkunft, in der ich nicht mit meinem echten Namen zu unterschreiben brauchte und mir keine Sorgen um das Allernotwendigste machen musste. Es war ein einfacher Lebensentwurf, der da auf mich wartete.

Doch obwohl ich Mrs Renards Großzügigkeit zu schätzen wusste, fing ich an, diesen Ort zu hassen. Alles, was ich während des Arbeitstags unterdrückte, was verschwand, sobald ich die Lotos-Pille schluckte, sammelte sich in den Ritzen und Nischen meines Bewusstseins wie Kondenswasser an. Erst wenn ich wieder in Sycamore war, kamen die Erinnerungen zurück. Ich verbrachte die meiste Zeit im Bett. Auf der verzweifelten Suche nach Ablenkung starrte ich aus dem Fenster auf die Straße; die Scheinwerfer der Autos zogen vorbei, und ich stellte mir vor, in den unterschiedlichen Wagen zu sitzen. Jeder würde mich in eine andere Richtung fahren, in jedem steckten andere Möglichkeiten. In dieser katzenhaft eleganten Luxuslimousine wäre ich eine völlig andere Person als in dem rostfleckigen Pick-up dort.

Als ich jetzt wieder auf die Straße fahre, werfe ich nur einen einzigen Blick zurück zum Haus. Automatisch lande ich im obersten Stock beim dritten Fenster von links. Mein Schlafzimmerfenster. Jetzt ist es dunkel. Keine Spur von Leben.

*

Während ich zu Hause auf den Schlaf warte, versuche ich, mehr Informationen über das tote Mädchen zu bekommen. Da sich keine Angehörigen von Hopeful Doe gemeldet haben, gibt es keine Fotos aus ihrem Leben. Keine Schulfotos, keine Aufnahmen von Geburtstagspartys mit unkenntlich gemachten Gesichtern von Freunden. Stattdessen benutzen Websites und Fernsehsender ein sehnsüchtig blickendes Phantombild der Polizei. Es fällt leicht, sich das mit Bleistift gezeichnete Gesicht im fluoreszierenden Licht eines Schulkorridors vorzustellen. Es hat etwas Vertrautes. Wie das ernsthafte Selbstporträt einer zukünftigen Jahrgangsbesten.

Hopeful Doe wurde am Rand einer gerade entstehenden Neubausiedlung gefunden. Erst wenige Familien waren dort eingezogen und lebten in weitgehend leeren Häusern, die in ihren unterschiedlichen Fertigstellungsphasen an stolze Skelette erinnern. Das Haus, in dem man sie fand, war ein Jahrzehnte früher erbautes Relikt. Es war seit Jahren nicht mehr bewohnt und unansehnlich alt; der Termin für den Abbruch stand bereits fest.

In der Nacht vor dem Abriss machte sich ein junges Mädchen aus der Wohnsiedlung auf Erkundungstour. Die Leiche, die später Hopeful Doe heißen würde, lag in einem Einbauschrank der hinteren Räume des abbruchreifen Hauses. Sie trug ein leichtes, blaues Sommerkleid und einen einzelnen Diamantohrring. Den Berichten zufolge dachte das junge Mädchen zuerst, die angewinkelten Beine würden zu einer ausrangierten Schaufensterpuppe gehören. Wer auch immer die Leiche dort versteckt hatte, musste gehofft haben, man würde sie einfach übersehen und die Identität des Mädchens würde zusammen mit dem Schutt und Geröll abtransportiert werden.

Ich rufe noch einmal die Polizeiskizze auf und beuge mich nah an den Bildschirm. Das tote Mädchen kommt mir bekannt vor. Für einen Moment ist da eine intuitive Verbindung, ein kurzes Gefühl des Wiedererkennens, das sofort wieder verblasst. Immer, wenn ich versuche, Hopeful Does Bild einzuordnen, entgleitet es mir etwas weiter und zersetzt sich vor meinen Augen, bis es wieder das Gesicht einer völlig Fremden ist.

VIER

Ich kann es spüren. Ein kurzes Aufflackern von Fremdheit, als würde ich aus mir heraustreten. Es passiert beim Gehen, beim Einschlafen oder wenn ich eine Routinetätigkeit erledige, die keine Aufmerksamkeit fordert. Eine Orientierungslosigkeit erfasst mich und lässt die Welt um mich herum plötzlich zu plastisch wirken, als sähe ich eine fremde Umgebung vor mir. Die gewohnte Vertrautheit ist verschwunden, und darunter kommt ein aufreibend unbekannter Ort voller scharfer Ecken und Kanten zum Vorschein.

Wenn ich zurückkomme, denke ich jedes Mal an ihren Namen: Sylvia. Sylvia. Ich denke an Zimmer 12, an das Knie ihres Mannes, das meines berührt, und daran, wie dieser Moment das Zentrum meines säuberlich verschnürten Lebens rührt und einen Knoten löst.

Sylvia.

In meiner Anfangszeit als Körper gab es ein Thema, das im Warteraum immer mein Interesse weckte. Das Einzige, was mein verträumtes Lauschen zu aktivem Zuhören werden ließ. Besessenheit war ein Thema, über das nur selten und im Flüsterton gesprochen wurde: der eine lachend, der andere tadelnd, der Nächste verächtlich. Es waren eher Andeutungen als konkrete Geschichten, doch die genügten, um meine Fantasie anzuregen: Körper, die sich den Angehörigen von Klienten öffneten und nie mehr zurückkehrten, denen ihr körperliches Zuhause von listigen Hausgästen unter den Händen weggestohlen wurde.

Wenn ich abends im Bett lag, stellte ich es mir vor: Mein Körper würde nicht mehr mir gehören. Meine Hände wären nicht mehr meine Hände, und mein Mund würde die Worte einer anderen Frau formen. Und ich fragte mich: Geschah so etwas ganz plötzlich? Würde ich die Augen schließen, wenn ich den Lotos schlucke, und sie dann nie wieder öffnen? Oder war es ein allmählicher Prozess, ein schleichendes Auswaschen? Eine schrittweise Invasion von Eingebungen und Träumen, von Instinkten, Vorlieben und Gedanken?

Vor fünf Jahren hat mir die Vorstellung, dass so etwas passieren könnte, keine große Angst eingejagt, sondern nur eine leise Neugier geweckt. Die Jahre vergingen, und ich blieb ich selbst, und irgendwann vergaß ich, mir darüber Sorgen zu machen. Egal, wie viele Lotos-Pillen ich nahm, jedes Mal wachte ich in meinem eigenen Bett wieder auf, fest verankert in meinem eigenen Fleisch und Blut. Ich ließ die Angst los und verbannte sie an denselben Ort wie all die anderen Dinge, die ich ignoriere und übersehe.

*

Am Dienstag wird mir schlecht. Es passiert ohne Vorwarnung. Mein Kiefer krampft sich zusammen. Mir wird schwindelig, mein Körper sackt unter mir weg. Ich stürze aus Zimmer 12 und schaffe es gerade noch zur Toilette, bevor ich anfange zu würgen.

Danach frische ich vor dem Spiegel Sylvias Lippenstift auf. Mein blasses, feuchtes Gesicht wirkt seltsam neu auf mich, wie frische Haut, die über eine Wunde wächst. Im Kontrast dazu ist Sylvias Lippenstift dunkler als je zuvor, als würde er aus mir die Kraft für seine Farbe ziehen.

Krachend fliegt die Toilettentür auf. Ein Körper kommt herein, eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die abrupt stehen bleibt, als sie mich sieht. Ihr Gesicht spiegelt meine Überraschung wider.

»Ana«, sage ich. »Ich wusste gar nicht, dass du wieder hier arbeitest.«

»Dir auch einen guten Morgen, Edie«, sagt Ana. Sie ist neben Lee einer der wenigen Körper, mit denen ich regelmäßig spreche. Wir sind auf eine unverbindliche Art befreundet. Ana kommt und geht in einem unberechenbaren und undurchschaubaren Rhythmus, sie arbeitet mal ein paar Monate hier, um dann wieder zu verschwinden.

»Nimm’s mir nicht übel«, sagt sie jetzt, »aber ich glaube, das ist nicht deine Farbe.«

Es dauert einen Moment, bis ich ihr folgen kann. »Das ist für einen Klienten«, sage ich. »Hat seiner Frau gehört.«

Sie lacht. »Seine Frau hatte einen miesen Geschmack.« Anas Spiegelbild hinter mir fährt sich flink mit den Händen durch die tiefschwarzen Haare. »Ach, komm schon, schau mich nicht so an. Die Farbe ist einfach ein bisschen knallig für jemanden, der so käsig ist wie du.«

»Es geht dabei nicht um mich.«

»Nein, natürlich nicht«, sagt Ana. »Natürlich nicht.« Sie zieht sich eine Haarnadel aus ihrer Frisur und steckt sie sich zwischen die Lippen, wo sie wie die Zunge einer Schlange herausragt. »Es heißt doch, mit Rouge würde man aussehen, als hätte man gerade einen Orgasmus gehabt«, nuschelt sie und nimmt die Haarnadel aus dem Mund. »Neulich habe ich in einer Zeitschrift gelesen, dass Lippenstift die Männer an die Schamlippen erinnern soll.« Sie artikuliert das Wort übertrieben deutlich.

Plötzlich kommen mir meine Lippen anzüglich und obszön vor. Ich senke den Blick. Hinter meiner Verlegenheit verbirgt sich ein Ansturm der Erregung. »Das hat hiermit gar nichts zu tun«, sage ich.

»Wieso bloß nicht?«

»Das weißt du genau.« Sylvias Lippenstift fest in der Hand, komme ich mir lächerlich und entblößt vor. Als hätte mir ein Fremder die Hand unter den Rock geschoben.

Ana neigt den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, saugt die Wangen ein und streicht sich die Haare glatt. Neben ihrem Spiegelbild kommt mir meines so unbedeutend vor. Gespenstisch. »Ach, übrigens«, sagt Ana, »ich wollte dich fragen, ob du Thisbe in letzter Zeit gesehen hast.«

»Thisbe«, wiederhole ich.

Sie seufzt. »Sag mir bitte, dass du sie kennst.« Als ich nicht antworte, hilft sie mir auf die Sprünge: »Winziges Ding. Blond? Ungefähr die gleiche Haarfarbe wie du. Hat Anfang des Jahres hier angefangen.«

»Ich weiß, wer sie ist«, sage ich.

»Und, hast du sie gesehen? Sie schuldet mir noch Geld.«

»Sie hat hier aufgehört«, sage ich. »Nicht lange nach dir.«

Im Spiegel fängt Ana meinen Blick auf. Sie scheint etwas sagen zu wollen. Dann wendet sie sich ab und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.

»Viel Glück mit deinem Klienten«, sagt sie.

*

»Schön, dass Sie wieder da sind, Mr Braddock.«

Ich ertappe mich dabei, dass ich Patricks Bewegungen sehr genau beobachte, als er zu seinem Platz geht. Es liegt eine gewisse Zuversicht darin, als würden sich seine Muskeln an bessere Zeiten erinnern. Das lässt ihn verletzlich und gleichzeitig stark wirken. Ich male mir aus, wie ihm die Frauen aus seinem Bekanntenkreis in tief ausgeschnittenen Kleidern selbst gebackenen Kuchen vorbeibringen und mit Tränen in den Augen versprechen, alles zu tun, was sie können, um ihm durch diese schwere Zeit zu helfen.

Ich drehe meine Knie von ihm weg. »Kurz zu etwas Geschäftlichem, Mr Braddock«, sage ich. »Letzte Woche haben Sie den Lippenstift Ihrer Frau hier in der Elysischen Gesellschaft vergessen.«

Er blinzelt. »Ich habe ihn extra für Sie hiergelassen«, sagt er. »Sie sollten ihn behalten.«

»Verstehe.« Mein Gesicht verrät nichts. »Möchten Sie Ihrer Frau heute etwas Bestimmtes mitteilen?«

Er fährt sich kurz mit dem Daumen übers Kinn. »Eigentlich nicht. Ich möchte mit ihr sprechen, so wie letztes Mal.« Er lächelt. »Würde es Ihnen helfen zu wissen, was ich meiner Frau sagen werde?«

»Es geht nur um Sie und Sylvia. Denken Sie gar nicht an mich.«

Sein Lächeln wird breiter. »Gar nicht so leicht, wenn Sie direkt vor mir sitzen.«

»Betrachten Sie mich als Mittel zum Zweck.«