Präludium für Josse - Snorre Björkson - E-Book

Präludium für Josse E-Book

Snorre Björkson

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Beschreibung

Vom Zauber des Augenblicks.

Das erste Mal begegnen sich Holtes und Josse im Posaunenchor auf einem Friedhof. Und nichts scheint verheißungsvoller als der bevorstehende Sommer, denn Josse hat das Abitur in der Tasche und genießt ihre freien Tage vor dem Musikstudium. Um ihr Herz zu gewinnen, entführt Holtes sie zu einer Reise auf den Spuren ihres Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach. Sie erleben einen Sommer der Liebe zwischen duftenden Wiesen und rauschenden Getreidefeldern, verbringen romantische Nächte in Schafställen, im Iglu-Zelt und unter freiem Himmel. Irgendwann aber erreichen sie Lübeck, das Ziel der Reise, und ihre gemeinsame Zeit nähert sich dem Ende …

Ein warmer, tiefgründiger und zu Herzen gehender Roman über große Gefühle und die erste Liebe.

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Über Snorre Björkson

Snorre Björkson, geboren 1968 in Norddeutschland, spielt diverse Instrumente, schreibt Romane, Lyrik und Hörspiele für den Rundfunk und macht Kabarett und Theater. Er lebt mit seiner Familie am Steinhuder Meer.

Informationen zum Buch

Vom Zauber des Augenblicks.

Das erste Mal begegnen sich Holtes und Josse im Posaunenchor auf einem Friedhof im November. Und nichts scheint verheißungsvoller als der bevorstehende Sommer, denn Josse hat das Abitur in der Tasche und genießt ihre freien Tage vor dem Musikstudium. Um ihr Herz zu gewinnen, entführt Holtes sie zu einer Reise auf den Spuren ihres Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach. Sie erleben einen Sommer der Liebe zwischen duftenden Wiesen und rauschenden Getreidefeldern, verbringen romantische Nächte in Schafställen, im Iglu-Zelt und unter freiem Himmel. Irgendwann aber erreichen sie Lübeck, das Ziel der Reise, und ihre gemeinsame Zeit nähert sich dem Ende …

Ein warmer, tiefgründiger und zu Herzen gehender Roman über große Gefühle und die erste Liebe.

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Snorre Björkson

Präludium für Josse

Roman

Inhaltsübersicht

Über Snorre Björkson

Informationen zum Buch

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Ouvertüre

I Präludium

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

II Air

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

III Fuge

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Coda

Ich danke

Anmerkung

Impressum

Erfunden sind alle in diesem Roman vorkommenden Personen mit Ausnahme derer, die in historischen Zusammenhängen genannt werden, und Öllmann, über dessen Herkunft ich nichts zu sagen weiß.

»non insequor hostis; nympha, mane!«

Ovid, I, 504

Für …,

die immer schon wieder weiter war

Präludium [spätmittelalterlich, von lat. praeludere, vorher, zur Probe spielen; frz. prélude, ital. preludio, engl. prelude; deutsch auch übersetzt als Vorspiel] ist seit den Anfängen im 15. und 16. Jahrhundert in erster Linie das Vorspiel auf einem einzelnen Instrument [namentlich Tasteninstrument oder Laute].

Riemann, Dreibändiges Musiklexikon, 12. Auflage, 1959

Ouvertüre

Das gefachte Holz mit dem eisernen Fischmaul gibt einen lauten, dumpfen Ton. Sofort umhüllt mich der Geruch von altem Mauerwerk, dunklen Bänken, Vorhängen und Büchern.

Von oben scheint Licht herab. Wenn ich jetzt wieder nach draußen ginge, könnte ich den Dezember riechen, Krähen in den leergewehten Bäumen hören, die diesig-kalte Luft auf der Haut spüren.

Bald ist Winter, bald ist Schnee, verspricht die Luft, lachen die Krähen.

Aber ich gehe nicht nach draußen, nicht zurück. Das dumpfe Geräusch der Tür hat das Lachen der Krähen aus der Luft gelöscht. Jetzt ist es vollkommen still.

Was für ein Tag: Mein sechsundzwanzigster Geburtstag! Aber das wissen die beiden da oben ja nicht, die beiden, die auf mich warten. Mein Orgellehrer, Kantor Böhm, und Kreiskantor Eckhart. Meister Eckhart.

Heute ist meine D-Prüfung für den kleinen Orgelschein. Der Steinfußboden knirscht, und für einen Moment ist es, als ginge ich über einen gefrorenen See. Ich greife schnell nach der Klinke und öffne die Tür zu der Holztreppe, die zur Empore führt.

Mein Fuß berührt die erste Stufe …

Die Stufe knarrt.

»Psst, die Treppe ist so laut.«

»Ja, ich hör das.« Sie blieb einen Moment in dem schmalen Treppenhaus stehen, das grüne Notenbuch unter dem Arm, lächelte.

So nah, beinahe hätte ich etwas zu dir gesagt, Josse.

»Das gibt auch Leute, die sagen gar nichts, und das zwei Wochen oder länger, das ist auch anstrengend.«

Es gibt auch Leute, die können an Land nicht sprechen, so wie die Seejungfrau. Die sind fremd in dieser Welt.

»Hier: Dies Präludium, das solltest du mal versuchen, das ist nicht schwer.«

Schritt um Schritt eilt das Knarren mir voraus. Ich folge der Treppe um die Ecke. Da hängt die große Uhr mit den Einstellungen für die Glocke und tickt. Wenn man jetzt weiter nach oben geht, gelangt man in den Turm. Aber das lohnt nicht: Da oben ist es dunkel und staubig, und in dem Fenster mit dem Bleigitter hängen ein paar verhungerte Spinnen. Und hier ist ja bereits die Tür. Dann bin ich auf der Empore, bei der Orgel.

Dann ist Licht. Ich öffne die Tür, und noch ehe ich hinausgetreten bin, erkenne ich die Stimme von Achim Böhm:

»Ah, da ist er ja, Holtes de Vries, mein Schüler.«

»Moinmoin«, sage ich, ziehe die Tür hinter mir zu und gehe zur Orgel.

»Einmal Moin reicht!« brummt Meister Eckhart.

Sein Bauchansatz wölbt die beige Strickweste nach vorne. Graue Haare winken über das kahle Mittelfeld auf seinem Schädel, so als wollten sie sagen: Hier geht’s lang.

»Ich bin Kreiskantor Eckhart, die meisten sagen Meister Eckhart, haha, aber das muss nicht. Freut mich, Sie kennenzulernen, junger Mann. Setzen Sie sich doch. Is ja heute Ihre Orgel.«

Er erhebt sich hüstelnd von der Orgelbank, auf der er bis eben mit dem Rücken zu den Manualen gesessen hat. Es sieht aus, als habe er Rückenschmerzen. »Und Geburtstag haben Sie ja auch!« sagt er.

»Oh, woher wissen Sie das denn?« frage ich.

»Wir haben das gerade auf deiner Anmeldung gesehen, gratuliere!« erklärt Achim, wobei er mit der Hand seine Brille berührt, die quadratische Reflexion über der Nase festschiebt. Er hat die glatten schwarzen Haare kürzer als sonst.

»Ja, ich gratuliere auch«, sagt Meister Eckhart und lässt sich auf einen Stuhl nieder. Der Stuhl knarrt. »Dann wollen wir mal hören, was das heute für eine Geburtstagsmusik gibt.«

Ich lege meinen Mantel über einen der vielen grau lackierten Stühle mit den braunen Sitzkissen. Dann gehe ich zur Orgelbank, setze mich, ziehe, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, die Schuhe aus, indem ich die Füße gegeneinanderschiebe. Dann drehe ich mich zum Manual. Die Bank ist etwas niedrig, aber ich mag nun nicht mehr aufstehen und sie auf die richtige Höhe kurbeln. Ich müsste meine Schuhe wieder anziehen oder in dicken Wollsocken vor der Orgelbank stehen. Ich spiele immer in Socken. Aber heute hat eine meiner Socken ein Loch. Ich ziehe die Füße schnell unter die Bank und spüre, wie ich die Pedale zu fassen bekomme. Ich nehme die Noten aus dem Baumwollbeutel. Ich stelle die Noten auf das Pult oberhalb der beiden Manuale und warte.

I Präludium

1

Ich war nie mit ihr tanzen.

Ich bin auch nie mit ihr im Kino gewesen.

Ich habe nie Popcorn in den nächtlichen Himmel geworfen für ihren schönen Mund.

In jenem Jahr, als ich Josse das erste Mal traf, wohnte Vater noch bei uns. Natürlich hat das nichts miteinander zu tun. Es hat sich nur in meiner Erinnerung miteinander verbunden wie eine nicht mehr zu löschende Synapse, eine versteinerte Spur im Korallenriff meines Gedächtnisses, so als wäre es mit Josse anders gewesen, wenn Vater geblieben wäre, oder als wäre Vater geblieben, wenn es mit Josse anders gewesen wäre. Vielleicht hätte es wirklich anders sein können, wenn ich ein klein wenig mutiger gewesen wäre.

Angefangen hat es auf einem Friedhof …

Die Glocken schlugen schon. Unsere Schritte knirschten auf dem Weg aus feinem Kies. Dunkelroter Schorf, der sich am Schuh reibt, klebenbleibt und sich ein kleines Stück weiter wieder legt.

Mein Großvater hatte seine Tuba in dem selbstgenähten grauen Beutel auf den Rücken geschnallt, und in seinem schwarzen Wollmantel und mit dem Elbsegler auf dem Kopf sah er aus wie ein alter Seemann, der nach langer Fahrt seinen Seesack nach Hause trägt. Ich trug mein Baritonhorn in einem beigen Kunstlederbeutel in der einen Hand und in der anderen die abgegriffene Ledertasche mit den Notenständern und den dicken Posaunenbüchern. Nicht ohne Stolz trabte ich neben dem alten Mann durch die Reihen dunkler Marmorsteine, die Spalier stehenden Namen der Toten, und ich dachte, dass es seltsam aussehen musste, als ob die Toten einen ehrfurchtsvoll begrüßten und nicht umgekehrt, weil doch eigentlich die Lebenden ehrfurchtsvoll über den Friedhof gehen sollten.

Ich versuchte mir im Vorbeigehen Namen einzuprägen. Ich las den Namen Eschen und auf einem anderen grauen Stein hinter einem Geburtsjahr schwarz umrissen das Wort Lyck. Die Schaufel des ostpreußischen Elches leuchtete kurz auf und verschwand hinter einer Hecke. Für einen Moment hatte ich vermeint, das Geweih winken zu sehen. Ich drehte mich noch kurz um nach dem Stein, geriet für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Schritt, so dass ich beinahe stolperte, ging dann aber weiter, als ob nichts wäre.

Wir spielten an diesem Tag in einer kleinen Nachbargemeinde, welche früher mit unserem Dorf, einer jener zweigestückelten Ansammlungen von rotem Backstein und hellem Klinker, deren Name keine Rolle spielt, ein gemeinsames Kirchspiel gebildet hatte und die mit dem Fahrrad in weniger denn zwanzig Minuten zu erreichen war, vorausgesetzt, die Schranke an dem kleinen, die beiden Dörfer voneinander trennenden Bahnübergang war nicht geschlossen. Es war November, Volkstrauertag und nicht weit vor meinem sechzehnten Geburtstag.

»Heute spielst du das erste Mal mit, Holtes, kannst du denn alles?« fragte mein Großvater, nicht besonders besorgt, aber sich doch noch einmal vergewissernd, wie es seine Art war. Und ich antwortete: »Och, Großvater, das wird schon angehn.«

»Hast du denn noch geübt?« fragte er weiter. Offensichtlich hatte ihn meine Antwort nicht beruhigt.

Möchte ja sein, ich würde mich verspielen. Möchte sein, die Stints, Trompete, Trompete und Tenorhorn, würden sagen, das hätten sie sich gleich gedacht, nur zweimal an der Übestunde teilnehmen sei zuwenig.

Möchte sein, Stints Tenorhorn hat nur drei Ventile, mein Bariton aber vier.

»Herr Stint bläst wie der Wind!« hatte Hannes gesagt, als ich das erste Mal zum Posaunenchor gegangen war. Da möchte man meinen, ich müsste besser spielen, hab ja ein Ventil mehr.

Ich hatte die vergangenen zwei Wochen jeden Tag mehr als eine Stunde geübt. Ich hatte sogar mein Mundstück in der Tasche meines Mantels mit in die Schule genommen, war zwischen den Unterrichtsstunden in der Pause mit dem Mundstück an meinen Lippen durch die Flure gegangen und hatte versucht, möglichst viele verschiedene Töne zu erzeugen, denn den Ansatz üben kann man auch ohne Instrument, der Mund weiß es ja nicht, dass an dem Mundstück kein Baritonhorn dran hängt.

»Ich übe immer, das weißt du doch. Alles so gut probieren, wie es geht«, sagte ich, als zwischen den Wacholderbüschen und Eibenhecken die weiß getünchte Kapelle sichtbar wurde.

Die anderen vom Posaunenchor warteten bereits unter dem Vordach der Kapelle, hatten schon die dünnen, verchromten Notenständer aufgeklappt und pusteten, mehrheitlich tonlos, Stint junior entfuhr ein Staccatosignal, die Mundstücke ihrer Instrumente warm.

Großvater stellte seine Tuba verkehrt herum auf den Boden und nahm seinen Elbsegler ab, so dass seine kahle, lange Stirn mit dem weißen Haarkranz aufleuchtete. Reihum wurden wir nun begrüßt:

»Moin, Herr de Vries.«

»Moin, Ute.«

»Guten Tag, Herr de Vries.«

»Guten Tag, Hannes.« Und so weiter.

»Moin, Holtes.«

»Moin, Ute.« Sie klappte ihr Waldhorn unter den Arm, drückte es an den Parka, an dem die Flagge entfernt war.

»Schön, dass du da bist!«

»Na, Holtes, das kriegen wir schon hin. Hauptsache, das gibt nicht gleich Regen.«

Hannes aus Holtebüttel, ein guter Esser, Anfang Zwanzig, mit rotblondem Bart, der Stolz seiner Mutter und einer von Utes vielen Verehrern, einer jener Menschen, die auf eine geheimnisvolle Weise mehr Platz einnehmen, als ihrem Körperumfang ohnehin entspricht. Die dazu immer einen flotten Spruch auf den Lippen haben. Einer, der sich selbst einen alten Friesen nannte: »Für mich als alten Friesen ist das auch adderdütschen Tüünkrååm!« Hannes spielte Bachtrompete, und es war selbstredend eine große Ehre, dass wir mit ihm spielen durften. Sein kleines Instrument war das einzige, das ordentlich geputzt war und glänzte. Er muss ja auch am wenigsten putzen, dachte ich, als ich mein Instrument, das die eine oder andere fahl angelaufene Stelle zeigte, aus dem Beutel befreite. Tatsächlich massierte Hannes bereits wieder das golden glänzende Rohr seiner Bachtrompete mit einem Tuch. Gleichzeitig blies er in das Instrument und bewegte die Ventile auf und ab. Zu seiner Rechten stand eine junge Frau. In den Händen hielt sie eine Posaune. Ich sah die Frau nur flüchtig an: Glatte, mittelblonde Haare, eine Art herausgewachsener Pony, die Haare in der Mitte gescheitelt und nach hinten gekämmt. Sie wahrscheinlich etwas älter als ich. Ich nahm die Notenständer aus der Tasche, reichte meinem Großvater den seinen und klappte meinen auf, was mir nicht sogleich gelang, denn wenn man die schmalen Alubügel in die falsche Richtung auseinanderfaltet, versperren und verbiegen sie sich ineinander, und Hannes sagte schon »Klappt nicht?«, aber da hatte ich es geschafft, und es klappte. Ich zog den Notenständer hoch und drehte die Schraube fest. Dann stellte ich das Buch aufgeschlagen auf den schmalen Sims.

»Ich hab auch noch Hilfe aus Verden mitgebracht!« sagte Hannes.

Die Frau mit der Posaune wanderte an meine Seite.

»Das wird schon klappen. Ich spiel deine Stimme mit!« sagte sie.

Ich sah große blaue Augen unter einer klaren Braue. Eine eher schlanke Gestalt in einem dunklen Mantel über einer ausgewaschenen Jeans.

Ihre Posaune war nur mäßig geputzt.

Ich sah auf meine Noten, jetzt, da sie neben mir stand. Im Winkel meiner Augen den verschwommen schimmernden Zug ihrer Posaune. Wurde ich rot?

Ich wurde an den Strand gespült.

Es war kalt, und ich konnte noch nicht sprechen.

Ich wusste nicht, dass ich an den Strand gespült worden war.

Ich dachte, ich läge noch auf dem Grund der See.

Über mir das Licht der Gezeiten.

»Wenn du was nicht kannst, drückste einfach die Taste und lässt den Ton weg«, sagte Hannes noch. »Hauptsache, du weißt, wo du bist. Oh, ich glaub, es geht los.« Dann vergrub er das Trompetenmundstück irgendwo in seinem rotblonden Bart.

»Alles fertig?« flüsterte Ute, ließ ihre Hand im Schalltrichter verschwinden und wies mit ihrer spitzen Nase eine Runde. Sie blies ihren dunkelblonden Pony hoch, nahm eine gespannte Haltung ein, ähnlich einem Läufer am Startbrett, und winkte mit ihrem Horn:

»Auf mein Zeichen. Eins, zwei, drei, und …«

Wir spielten eine kurze Intonation und begannen dann mit unserem Choral Liebe, die du mich gefangen. Wie viele Töne ich an dem Tag weggelassen habe, weiß ich nicht mehr.

Ein Schwarm Krähen stob lärmend auf. Ob die Gemeinde mitsang oder nicht, konnten wir da draußen nicht hören, wohl aber den langen Snack der Pastorin, der durch die Lautsprecheranlage bedächtig blechern über den Friedhof schallte. Sie redete über alles, was ansonsten über das ganze Jahr verteilt wird: Leben, Leiden, Demokratie, Freiheit, Musik, Frieden, Liebe, Jesus, den lieben Gott und so weiter. Nur Weihnachten hatte sie vergessen.

Bald hörte ich nur noch halb zu. Ich blickte vorsichtig zu der jungen Frau mit der Posaune.

Ihre Augen schimmerten türkis, als sich der Himmel verdunkelte.

Die Pastorin drinnen sagte gerade: »Wir wollen nicht vergessen«, als es anfing zu regnen: kleine, klare Kiesel, die vom Himmel fielen. Wasser, das sich schnell auf dem Flachdach sammelte, Applaus prasselte, und dabei einen Vorhang zuzog. Wasser, das hastig Gesichter auf die grauen Steinplatten malte, dunkel verwischte und zwischen den Steinen kleine Rinnen bildete, die sich in unsere Richtung bewegten. Wasser auf dem Kiesweg. Wasser in den Eibenhecken. Wasser im Wacholder. Perlenkettenwasser. Wasser, das sich selbst beklatschte. Wasser, das Steine und Namen wusch.

»Ich hoffe, wir müssen jetzt nicht noch zum Schluss im Regen ›Ich hatt’ einen Kameraden‹ oder die Nationalhymne spielen«, brummte Hannes los.

Ute winkte fröhlich ab. »Wir sind ja ein Kirchenposaunenchor, und für die Nationalhymne sind genug Leute erschossen worden.«

»För mi as olen Fresen is dat ook adderdütschen Tüünkrååm. In meinem Herzen gehöre ich zu den Niederlanden. Na, Holtes, was meinst du?«

»Ja, äh, ich auch«, sagte ich, weil ich daran denken musste, wie mein Vater mit uns auf Terschelling einen Drachen gebaut hatte, und es war ein windiger Tag gewesen, mit grauen Wolken und Sonne, die dazwischen in langen Vorhängen über die See glitt, und Sand wirbelte auf, und es war Bevrijdingsdag gewesen, und jemand hatte eine Flagge gehisst, und ich war stolz, weil noch nie jemand Mof zu mir gesagt hatte und alle doch immer gesagt hatten, in den Niederlanden wirst du als Moffe beschimpft, und mein kleiner Bruder hatte den Drachen losgelassen, und der Drachen war in die Brandung gefallen, und ich hatte nasse Füße bekommen, weil ich nur Turnschuhe anhatte, aber die Schnur war nass und vertüdelt gewesen und, als ich sie auseinandermachen wollte, gerissen, aber Hannes sagte:

»Ich meine, ging doch schon ganz gut, oder?«, weil er etwas ganz anderes gemeint hatte, nicht die Niederlande, nicht den Befreiungstag, nicht den aufgewirbelten Sand von Terschelling, sondern die Musik, und ich antwortete noch einmal, diesmal ohne ihn anzusehen, glaube ich: »Ja, ging ganz gut.«

Da sagte sie, ihre Posaune mit beiden Händen haltend, so als wolle sie gleich weiterspielen: »Wir kennen uns vom Sehen. Wir sind auf derselben Schule. Ich mach nächstes Jahr Abi, und du?«

Ein Splitter traf meine Haut, Regentropfen rannten über meine Hand, schreckten Gedanken auf.

»Ich, ich bin gerade in die zehnte Klasse gekommen.«

»Und wie lange spielst du schon Baritonhorn?« fragte sie weiter.

Beinahe hätte ich gesagt: Zwei Tage, oder: Zwei Jahre. Ich sagte: »Zwei Wochen.«

Dann packten wir unsere Instrumente, die Notenständer und die Bücher zusammen. Auch sie klinkte ihre Posaune auseinander und ließ die Einzelteile in einem rechteckigen braunen Koffer verschwinden.

Kennst du Terschelling?

Ja, doch ich war nie da.

Dort gibt es Sand und Wasser und Licht.

Ist das weit von hier?

Nicht weit.

Gut, ich hab Zeit.

Wie heißt du?

»Das hätten wir ja mal wieder geschafft!« Hannes aus Holtebüttel lachte einen Auftakt. Ute federte zwei Schritte auf den Auftakt zu: »Danke, dass ihr da wart, bei dem Wetter!«

»Aber Ute, für dich spiele ich am Nordpol!«

»… Herr de Vries?«

Herr Stint reichte meinem Großvater die Hand.

»Wir sind mit dem Rad hergekommen!« sagte mein Großvater.

»Na dann, Holtes, auf Wiedersehen!« sagte Herr Stint zu mir.

Eine kleine rötliche Hand zeigte in meine Richtung. Ich nahm die Hand entgegen. Sie war kühl.

»Auf Wiedersehen!«

Die Hand zog sich zurück. Die Hand verschwand in einem dunklen Lederhandschuh. Ich zog den Reißverschluss meiner Baritontasche zu. Ich nahm das Instrument vor meine Brust. Ein zu groß geratenes Baby.

»Habt ihr beide noch was vor?«

Ich sah zu Ute, Hannes und der Frau mit dem Kasten. Ein hellblauer Posaunenchoraufkleber.

Sie hatte lange, mittelblonde Haare, ein offenes, aber nachdenkliches Gesicht, große dunkelblaue Augen. Blau oder türkisblau.

Geheimnis zwischen Steinen. Nasskalte Novemberluft, gräuliches, milchigtrübes Regenlicht. Nur die Toten haben bereits ihren letzten Namen. Ihren Namen hatte ich nicht.

Dann sagte mein Großvater etwas, ich sah noch einmal zu der kleinen Gruppe, die sich eben auch anschickte, eine Bewegung zu machen und aus dem Rechteck der Vorhalle hinaus in den verebbenden Regen zu rücken. Ich drehte mich um und folgte ihm, der schon den groben, graugespannten Stoff auf seinen Rücken gehängt hatte, und wir gingen zu unseren Rädern. Bald standen wir vor der heruntergekurbelten Schranke, auf der noch Regen glänzte und die mich immer an eine dänische Lutschstange erinnerte. Auf der anderen Seite, wo der Weg weiterführte, sah man nun, da die Jahreszeit dem Landgasthaus die Deckung der Linden entzog, die breite grüne, mit weißen Linien mehrfach einen Rahmen bildende Tür verschlossen, hinter den fahlen Butzenscheiben unter den zur Seite gewinkelten Gardinen taube Lampenschirme stehen. Das vom ausgedünnten, halb transparenten Gezweig versteckte Schild Bundeskegelbahn las man durch die Zweige hindurch, ergänzte, was fehlte. Von den beiden Bäumen, die jenseits der Schranke wie zur Begrüßung einen Bogen über den Landweg wölbten, der großen, noch nicht gänzlich kahlen Eiche und dem dahinter wie in den Schutz gerückten Ahorn tropfte der Vormittag auf die blauschwarz schimmernden Pflastersteine. Ein unregelmäßiges klatschendes Geräusch. Ich spähte zum Turmhäuschen hinauf, von dessen Wand wie ein Wappen das Zeichen Bf prangte, ob jemand anwesend war, vermeinte hinter dem getönten Glas den Schemen eines Einzelgängers zu entdecken, während wir das leise Surren zu erlauschen suchten, warteten, dass der stündliche Zug, von Bremen oder Norddeich kommend, durchgefahren war in Richtung Süden.

2

Es gibt einen gefährlichen Ort, und das ist da, wo die Fuge in die Grundtonart zurückfällt, wenn die dritte Stimme, meist ist es die Tenorstimme, mit dem Hauptthema einsetzt.

Kontrapunkt (lat.-mlat.; Note gegen Note)

1. Technik des musikalischen Satzes, in der mehrere Stimmen gleichberechtigt nebeneinanderher geführt werden

2. etwas, das einen Gegenpol zu etwas anderem bildet

3. eine Art schwarzes Loch im Innern der Fuge

In dem Moment beginnt sich alles zu drehen, das Stück, eben noch aus zwei einander gegensätzlichen Gedanken bestehend, wird zu einem Wirbel. Dort ist der Raum am entferntesten, am undurchdringlichsten zugleich. Ich weiß, dass der Raum um mich existiert, jedoch: Er existiert nicht. Dort, wo der Kontrapunkt sich weitet, langsam um mich kreist, verschwindet die Jetztzeit sichtbar zwischen den dünnen Linien. Die Augen werden Ohren.

»Holtes, kannst du mir das mal erklären? Holtes!«

Der Kontrapunkt war falsch, das konnte nicht sein. Die Tonart stimmte nicht, die Dissonanz war ungewollt, mathematisch nicht erklärbar.

»Holtes, schläfst du?«

Ein Geschichtslehrer stand vor meinem Tisch. Wie war er da hingekommen? Ich klappte das Buch zu, sah nach vorn, dorthin, wo der Mann in der grünen Kordhose stand. Die Klasse tuschelte.

»Ich hab gar nicht bemerkt, dass die Stunde bereits angefangen hat«, sagte ich.

»Das glaube ich. Gib mir das, was ist das?« fragte Herr Spier und fasste es bereits an, das heilige Buch. Er hielt es hoch und starrte auf den Titel.

»Johann Sebastian Bach: ›Die Kunst der Fuge‹. Aha. Was heißt Fuge auf deutsch, Jan!«

»Flucht?«

»Hör mal zu, Holtes: Die Kunst der Flucht – das passt zu dir!«

Das Buch knallte auf meinen Tisch.

»Bin ich froh, dass nächste Woche Projektwoche ist!« sagte er noch und wandte sich zurück in den unergründlichen Raum, aus dem er so unerwartet gekommen war.

»Ich auch«, rief ich ihm nach, piano.

Noch einmal drehte er sich um: »Was?« rief er zurück, mezzoforte.

Ich sagte: »Ich bin auch froh, dass nächste Woche Projektwoche ist.«

Noch am selben Tag stand ich in der Pausenhalle vor dem Aushang mit den Projektgruppen. Heute sollten die letzten Wahlzettel abgegeben werden, und ich hatte mich noch immer nicht entschieden zwischen Englisch-Theaterspielen, Feuchtbiotop anlegen mit Wulfilas oder Lehmofen bauen bei Doktor phil. Heinrich Vesbeck, der uns in unserer Zelle, wie wir den kleinen Lateinraum zu nennen pflegten, von Baucis und Philemon vorschwärmte: »Damals gab es noch echte Liebe!« Vor der Tafel stehend, in Richtung Fenster blickend und, als wäre ihm von dort aus eine andere Erkenntnis zugekommen, sich selbst korrigierend: »Na ja, wahrscheinlich war das schon damals selten, sonst wären ja auch nicht die Götter beeindruckt gewesen. ›Welt, du willst betrogen werden‹, sagten schon die alten Griechen. Hausaufgabe zu morgen: Ablativus absolutus!« Dann kramte Doc Vesbeck ein Hustenbonbon aus seiner Hosentasche und wickelte es aus.

»Holtes, du könntest, wenn du wolltest.«

Er lobte stets im Konjunktiv. Er sagte leider nie, was ich könnte, wenn ich wollte, die Grammatik lernen, die Götter beeindrucken oder die Welt betrügen. Und wie um das eben Gesagte noch zu verstärken, trat er an das Fenster, wobei er die Hände auf seinem Rücken solidarisch verknotete, und sprach:

»Ach, die Zeit, sie fliegt so schnell dahin. Wenn ihr wüsstet, wie schnell die Zeit fliegt.«

Dann schritt er durch die schmale Versammlung von Lateinschülern, selten waren wir mehr als zehn, trat wieder an das Lehrerpult, nahm seine Brille ab, fischte ein Stofftuch aus – auch er trug eine Kordhose – der Tasche, um die Brille zu reinigen, derweil er mit brillenlos müden Augen noch einmal in die Runde spähte, den Blick, so schien mir, länger bei mir verweilen ließ, und bei mir so das Gefühl weckte, ein Eingeweihter zu sein in jenes unaufhaltsame Fortfliegen der Zeit, von dem er gesprochen hatte. Und oft kam ich mir, wenn ich, nach einer unregelmäßigen Verbform gefragt, gerade mit den Händen unter dem Tisch einen Fingersatz erinnert hatte, den Pony über die Augenbrauen stranden ließ, den Blick nach unten gerichtet, in die Leere schaute, mein verlegenes Grinsen spürte und nicht unterdrücken konnte, wie ein Verräter vor, und ich dachte: Später, wenn ich nicht so müde sein werde, meine Augen weniger fahrig sind, mein Geist weniger hungrig, meine Hände weniger unruhig, meine Stirn weniger blass. Später würde ich all diese Tabellen verstehen, würde den ganzen Brugmann auswendig lernen, würde das große Latinum nachholen, würde ein Gelehrter sein und würde ihm antworten:

»tuli« – ich habe getragen.1 So hatte ich bereits eine halbe große Pause auf die Liste neben dem grau gerahmten Vertretungsplan gestarrt, dort, wo das Licht in quadratischen Fluchten durch die Decke fällt. Hinter mir auf der gegenüberliegenden Seite des Pausenflures lagen, tiefbraun in die Wand eingelassen, sämtliche Kontinente der Erde. Ich meinte deren Anwesenheit durch den Raum zu spüren. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich nicht entscheiden konnte?

Asien ist eine große Fläche, die ich manchmal morgens mit der Hand berühre.

Da traf ich sie das zweite Mal. Ich erkannte ihre Stimme sofort. Urplötzlich aufgetaucht aus dem Niemandslärm der Pause: dem Cluster der Stimmen, die sich im Flur zwischen den schlanken Säulen mit den kleinen schwarzen Fliesen zerteilten und im schwachen Echo wiederfanden. Das Geräusch des Kopierers auf dem Gang. Die Tür, die sich zum Sekretariat öffnete. Die Stimme des Hausmeisters mit Akzent.

Ich habe ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter, aber ein gutes für Stimmen. Ich mache manchmal die Augen zu, wenn ich mir unsicher bin, woher ich jemanden kennen soll, um besser auf die Stimme achten zu können. Ihre Stimme war klar und präsent. Unverbindlich, gleichwohl freundschaftlich. Beinahe zärtlich. So hatte ich es schon im Nachherbst auf dem Friedhof empfunden. Ich wurde rot, genau wie damals im November. Weil sie eine schöne Frau war? Ich weiß gar nicht, ob sie das war. Ich weiß nicht, wann eine Frau schön ist.

Ihre Stimme stellte sofort eine gemeinsame Geschichte her und weckte in mir den Wunsch, irgendwie zu ihr zu gehören. Wie? Ich wusste nicht, wie. Ich fühlte mich ertappt.

Ich hatte nicht mehr an sie gedacht. Aber als sie mich ansprach, war es so, als hätte ich die ganze Zeit unentwegt an sie gedacht, ohne mir dessen bewusst zu sein, als hätte ich mir eine Geschichte mit ihr ausgemalt, als wäre mein Schreibtisch voller Briefe für sie, als hätten wir eine Geschichte zusammen, Josse und ich, oder ein Geheimnis oder als kennten wir uns schon sehr lange. Als wären wir gerade erst gestern zusammen im Kino gewesen. Als würde sie sagen: Hier, du hast das bei mir vergessen. Gleich würde sie irgend etwas aus der Tasche kramen und es mir reichen: ein Buch, einen Schal, ein Tuch, einen Schlüssel, einen Brief an sie, den sie nicht geöffnet hatte. Ich fühlte mich von ihr durchschaut. Ich überlegte sogar einen Moment, was ich bei ihr vergessen hatte. Aber ich war ja noch nie bei ihr gewesen. Vielleicht hatte ich irgend etwas auf dem Friedhof vergessen?

»Moinmoin, na? Kennst mich noch? Wir haben vergangenes Jahr zusammen gespielt.«

Den Posaunenkasten hatte sie auch dabei.

»Weißt du noch?« sagte sie.

»Ja, ich weiß noch«, antwortete ich.

»Ich heiß Josse!« sagte sie, und ich hörte zum ersten Mal ihren Namen. Ein seltsamer Name, wie ich fand, zumal für eine Frau, denn ich hatte mal von einem Heiligen ähnlichen Namens gelesen.

»Holtes, ich heiß Holtes!« sagte ich.

»Ich weiß, ich kenne deinen Großvater. Er macht doch ab und zu Lektorendienst und predigt und so?«

»Woher weißt du das?«

»Ich spiele in Verden Orgel. Dein Großvater war auch schon bei uns im Gottesdienst«, erklärte sie, und dann fügte sie hinzu:

»Holtes heißt du? Das ist ein schöner Name.«

»Das bedeutet Sohn des Waldes!«

»Ich heiße Barkholt mit Nachnamen. Das bedeutet Birkenwald.« Sie sah einen Moment auf die Liste. Ihr Gesicht reflektierte matt auf dem Plexiglas über dem Vertretungsplan.

»Jetzt fangen sie mit solchen Sachen wie Projektwochen an«, sagte sie dann. »Wo ich schon bald mit der Schule fertig bin. Das hätten sie sich auch schon früher überlegen können. Und? Hast du dir schon ein Projekt ausgesucht?«

»Nej, hab ich noch nicht.«

»Spielst du noch mehr Instrumente?«

»Ich spiele Konzertgitarre. Und auch ein bisschen Klavier. Aber Klavier nur so, ohne Unterricht, nur so ein bisschen halt.«

Ich sagte nur ein bisschen, denn eigentlich hatten wir kein Klavier zu Hause, nur ein altes Harmonium, das etwas zu tief gestimmt war, mit ächzenden Bälgen, die mich an meine ostpreußische Oma erinnerten, die Asthma gehabt hatte, aber nicht besonders schwer, nur wenn sie Treppen hatte steigen müssen, dann hatte man es bemerkt. Meine Eltern hatten gesagt, sie würden mir vielleicht ein Klavier kaufen, wenn ich Harmonium spielen könnte. Aber auf einem Harmonium kann man nur Choräle spielen, und meine Oma hatte auch immer Choräle gesungen, im Singkreis, und sie hatte bis zum Schluss ihre langen, dünnen Haare in einem Dutt getragen und, bevor sie die Rezepte mit in ihr langsames Vergessen genommen hatte, zu jeder Feier Mohnstriezel und Bienenstich gebacken, von mir mit ganz viel Sahne gegessen, und der Tee war immer viel zu dünn gewesen, und ganz früher, als ich ein Kind gewesen war, hatte das Östlind & Almquist bei meinen Großeltern gestanden, und ich hatte meinen Kuchenteller während einer Geburtstagsfeier auf dem Harmonium abgestellt, vor das Bild, welches »unseren seligen Herrn Doktor Luther« zeigte. Ich hatte mich mit jemandem unterhalten und in einem alten Gesangbuch geblättert, und als ich dann aufsah, zum Östlind & Almquist, war mein Kuchen fort. Mein Teller stand dort, aber der Kuchen war fort, und ich wusste nicht, wer ihn gegessen hatte, und traute mich nicht, zu fragen. Eine gewisse Unsicherheit war in mir entstanden, ob nicht er, der selige Herr Doktor Martin Luther, den Bienenstich mitsamt der Sahne gegessen hatte, jedenfalls sah er doch, wenn ich mich nicht täuschte, noch etwas beleibter aus als eben noch. Auf jenem Östlind & Almquist aber kann man höchstens den Anfang der Mondscheinsonate spielen, jedoch nur ganz langsam, was den Mond besonders schaurig macht, auf keinen Fall aber kann man das Regentropfenprélude spielen, und schon gar nicht den jazzigen Teil der Pathetique mit den Oktavbässen, den ich gerne versucht hätte.

»Dann nimm doch Nummer siebzehn: Schulband!« löste sie mich aus meinen Gedanken an Östlind & Almquist. »Das habe ich auch gewählt. Annette, eine Freundin von mir, ist da auch bei. Dann können wir zusammen spielen.« Sie sagte das fast wie eine Frage. Oder wie jemand, der sagt: Es liegt an dir.

Dann verabschiedete sie sich, da sie nun zum Domgymnasium rüber müsse, weil sie dort am Musikleistungskurs teilnehme. Ich sah ihr nach, wie sie zwischen den Säulen verschwand. Der Kopierer machte ein Geräusch. Es klingelte zur Stunde.

»Holtes de Vries ist wieder der letzte«, sagte die Sekretärin mit dem Blinzeln hinter der Brille unterhalb der gebleichten Welle. Ich reichte ihr den Zettel über den Tresen.

»Siebzehn« stand da, sehr deutlich mit dem Füller geschrieben, und mein Name und meine Klasse.

Die Tür zum Schulleiter stand offen, so dass zu sehen war, wie beschäftigt er war, dass er sogar das Telephon klingeln ließ.

»Das habe ich mir ja fast gedacht«, sprach die halb mütterliche, nasale Freundlichkeit über den Tresen zu mir.

»Wieso?«

»Nichts für ungut. War nur so dahingesagt. Du hast ja keinen Zweitwunsch angegeben.«

»Haben denn viele dasselbe angekreuzt?«

»Kann ich nicht sagen. Wird schon klappen.«

Der Schulleiter im Nebenraum griff zum Telephon.

»Womit kann ich helfen?« Draußen hatte sich der Gang beruhigt. Die Stunde hatte längst begonnen. Ich zog die Tür hinter mir zu. Ein schwarzer Splitter traf mein Auge: Die Fliese bewegte sich ruckartig zurück in die Säule. Ich blinzelte in Richtung Asien. Der Kopierer summte seinen Wachtraum. Ich öffnete das große Glas in Richtung Treppenhaus.

3

In der darauffolgenden Woche geschah es – oben in Raum 201, in dem ich mich früher einmal hatte einschließen lassen, weil ich wusste, dass der kleine Flügel unverschlossen geblieben war, bis mich die Putzfrau fand, mein Spiel unterbrach –, dass Josse und ich das erste Mal gemeinsam am Klavier saßen. Später rückten wir, beinahe aneinander gewöhnt, dichter, wurden auch nicht verlegen, wenn sich die Stimmen und damit unsere Hände kreuzten, sich unsere Finger berührten. Aber jenes erste Mal entfaltet in meiner Erinnerung einen Raum, der in seiner Deutlichkeit von späteren Malen nicht eingenommen werden kann. Dieses erste Mal gemeinsam am Klavier bleibt für mich auf eine besondere Weise bedeutsam und ist mir bewusster als vieles, was zwischendurch geschah, ähnlich meiner Erinnerung daran, wie wir, Josse und ich, viel später zum letzten Mal gemeinsam Klavier spielten, wobei ich nicht die Hoffnung auf eine Wiederholung aufgab, wohl wissend, dass ja das erste Mal unwiederholbar und bereits vor langer Zeit geschehen war: Wir hatten gerade geprobt, es hatte zur Pause geklingelt, und bis auf Josse, Annette und mich hatten alle den Musikraum verlassen. Ich spürte einen Druck. Nur leicht. Josse war mit ihrer Posaune an den Klavierschemel, auf dem ich hinter dem kleinen hellbraunen Schulflügel saß, herangetreten und hatte mir den Metallzug in den Rücken gedrückt.

»Hej, du sollst nicht immer meine Stimme auf deinem Klavier mitspielen!« hörte ich sie sagen.

»Tu ich das?« fragte ich ertappt, denn wirklich war ich Josses Tönen mit meiner linken Hand auf den Tasten gefolgt.

»Lass die Waffe fallen!« forderte sie mich auf, und tatsächlich überlegte ich einen Moment, ob ich nun die Hände hochheben sollte. Josse trat neben den Schemel, so dass wir uns ansehen konnten.

»Hier, bei ›Hotel California‹, hast du die ganze Zeit meine Bassstimme mitgespielt!« sagte sie sehr ernst.

»Ach was«, wehrte ich ab. »Deine Posaune ist doch viel lauter.«

»Aha, meinst du?«