Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung - Iris Veit - E-Book

Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung E-Book

Iris Veit

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Beschreibung

Was soll eine Ärztin oder ein Arzt wissen und können? Die Gestaltung der Beziehung zum Patienten gehört zu ihren/seinen Kernkompetenzen. Deshalb stellt dieses Buch die Patient-Arzt-Beziehung und eine Systematik dysfunktionaler Beziehungsmuster ins Zentrum und dient als Kompass, die unterschiedlichen Beziehungsmuster zu erkennen und zu nutzen. Eine integrative Sicht sowie eine hohe Praxisbezogenheit liegen zugrunde; bewährte verbale Interventionshilfen werden vorgestellt. Das Werk ist ein Begleitbuch der curriculären Weiterbildung "Psychosomatische Grundversorgung" (Richtlinien der Bundesärztekammer). Es ist ein Leitfaden, um die kommunikative Kompetenz aller Ärztinnen und Ärzte, der Medizin-Studierenden und auch verwandter Berufsgruppen zu verbessern. Die 2., überarbeitete Auflage berücksichtigt die aktuellen Leitlinien der AWMF, die Praxisempfehlungen der DEGAM und aktuelle, neurowissenschaftliche Forschung.

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Iris Veit

Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient

Unter Mitarbeit von Susanne Behling

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031999-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032000-0

epub:    ISBN 978-3-17-032001-7

mobi:    ISBN 978-3-17-032002-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

Verzeichnis der Fallbeispiele

Zu den Autorinnen

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur zweiten Auflage

1 Seele, Geist und Körper

1.1 Psychosomatische Theoriemodelle

1.2 Neurobiologische Aspekte von Geist und Körper

2 Bedeutung von Beziehung und frühen Bindungspersonen

2.1 Der Mensch ist auf soziale Bindungen ausgerichtet

2.2 Ergebnisse der Säuglingsforschung: Frühe Bindungserfahrungen bestimmen die späteren Beziehungserwartungen

2.3 Epidemiologie betont die pathologische Bedeutung fehlender, unzureichender oder traumatisierender früher Bindungspersonen

2.4 Frühe Bindungserfahrungen: Moderatoren der weiteren Entwicklung

2.5 Die Herausbildung eines Beziehungskonfliktmusters und dysfunktionale Beziehungsmuster

2.6 Ein integriertes Modell

3 Die Arzt-Patient-Beziehung und das Konzept der Beziehungsmodi

3.1 Übertragungsphänomene – Gefühle sind ansteckend

3.2 Beziehungsebenen der Arzt-Patient-Interaktion

3.3 Beziehungserwartungen und Verstrickungen in der Arzt-Patient-Beziehung

3.4 Die hilfreiche Beziehung

3.5 Das Konzept der Beziehungsmodi – Beziehungsmuster erkennen und sich darauf einstellen

4 Kommunikation zwischen dem Arzt und seinem Patienten

4.1 Im Zentrum: Die Arzt-Patient-Beziehung – Welche Kompetenzen benötigt der Arzt?

4.2 Verbale Interventionstechniken

4.3 Der Körper in der Arzt-Patient-Beziehung

4.4 Rahmenbedingungen in der psychosomatischen Grundversorgung

5 Regeln für besondere Gesprächsanlässe

5.1 Motivation zur Förderung von Gesundheit

5.2 Ressourcenorientierte Interventionen

5.3 Die Anamnese – das Erstgespräch

5.4 Das Aufklärungsgespräch zur Entscheidungsfindung

5.5 Gespräche zur Übermittlung belastender Nachrichten

6 Der ängstliche Beziehungsmodus

6.1 Phänomenologie des ängstlichen Beziehungsmodus

6.2 Psychodynamik des ängstlichen Beziehungsmodus

6.3 Das dysfunktionale, ängstliche Beziehungsmuster in der Arzt-Patient-Beziehung

6.4 Umgang mit dem ängstlichen Beziehungsmodus in der psychosomatischen Grundversorgung

6.5 Fallbeschreibung

7 Der depressive Beziehungsmodus

7.1 Phänomenologie des depressiven Beziehungsmodus

7.2 Psychodynamik des depressiven Beziehungsmodus

7.3 Das dysfunktionale, depressive Beziehungsmuster in der Arzt-Patient-Beziehung

7.4 Umgang mit dem depressiven Beziehungsmodus in der psychosomatischen Grundversorgung

7.5 Suizidalität

7.6 Fallbeschreibung

7.7 Einteilung der depressiven Syndrome im ICD-10

8 Der narzisstische Beziehungsmodus

8.1 Phänomenologie des narzisstischen Beziehungsmodus

8.2 Psychodynamik des narzisstischen Beziehungsmodus

8.3 Das dysfunktionale, narzisstische Beziehungsmuster in der Arzt-Patient-Beziehung

8.4 Grundsätzliches zum Affekt der Scham

8.5 Umgang mit dem narzisstischen Beziehungsmodus in der psychosomatischen Grundversorgung

8.6 Fallbeschreibung

9 Der zwanghafte Beziehungsmodus

9.1 Phänomenologie des zwanghaften Beziehungsmodus

9.2 Psychodynamik des zwanghaften Beziehungsmodus

9.3 Das dysfunktionale, zwanghafte Beziehungsmuster in der Arzt-Patient-Beziehung

9.4 Umgang mit dem zwanghaften Beziehungsmodus in der psychosomatischen Grundversorgung

9.5 Fallbeschreibung

10 Der histrionische Beziehungsmodus

10.1 Phänomenologie des histrionischen Beziehungsmodus

10.2 Erkrankungen im histrionischen Beziehungsmodus

10.3 Psychodynamik des histrionischen Beziehungsmodus

10.4 Das dysfunktionale, histrionische Beziehungsmuster in der Arzt-Patient-Beziehung

10.5 Umgang mit dem histrionischen Beziehungsmodus in der psychosomatischen Grundversorgung

10.6 Fallbeschreibung

10.7 ICD-10 Diagnosen

11 Beratungsanlass Psychische Traumatisierung

11.1 Definition Psychische Traumatisierung

11.2 Traumaverarbeitung

11.3 Traumafolgestörungen

11.4 Umgang mit dem traumatisierten Patienten

12 Persönlichkeitsstörungen – nicht können oder nicht Wollen?

12.1 Störungen struktureller Funktionen

12.2 Umgang mit „schwierigen“ Patienten

12.3 Diagnostische Leitlinien der Persönlichkeitsstörungen F60

13 Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden

13.1 Beziehungsdynamik: Programmierte Enttäuschung – Arzt und Patient scheinen nicht zusammen zu passen

13.2 Phänomene der nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden

13.3 Klagen ohne somatisches Äquivalent verstehen

13.4 Umgang mit leichten somatoformen Körperbeschwerden

13.5 Umgang mit schweren somatoformen Körperbeschwerden in der psychosomatischen Grundversorgung

13.6 Fallbeschreibung

14 Chronische Krankheiten – Entstehung und Verarbeitung

14.1 Krankheitsentstehung als Prozess

14.2 Krankheitsverarbeitung

15 Chronische Schmerzen

15.1 Chronifizierung von Schmerz verstehen

15.2 Klassifikation chronischer Schmerzzustände

15.3 Umgang mit chronischen Schmerzpatienten in der psychosomatischen Grundversorgung

15.4 Fallbeschreibung

16 Basiswissen über Essstörungen

16.1 Adipositas

16.2 Anorexia nervosa

16.3 Die bulimische Essstörung

17 Wissenschaftlich anerkannte Methoden der Psychotherapie und Kooperation im psychosozialen Versorgungssystem

17.1 Die Methoden der psychotherapeutischen Medizin

17.2 Die psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen

17.3 Die Bedeutung der Balint-Gruppen-Arbeit

17.4 Curriculum der psychosomatischen Grundversorgung

Anhang: Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Internetadressen

Literaturverzeichnis

Sachwortregister

Verzeichnis der Fallbeispiele

 

 

 

Zum ängstlichen Beziehungsmodus:

•  Patientin mit Mamma-Karzinom ( Kap. 6.5)

•  Südamerikanerin mit Diabetes mellitus ( Kap. 14.2.2)

•  Fallbeispiel zum Morbus Crohn und Angst ( Kap. 6.1.3)

Zum depressiven Beziehungsmodus:

•  Das »Pechkind« mit Diabetes mellitus ( Kap. 14.2.1)

•  Junger Patient mit Colitis ulcerosa ( Kap. 7.6)

•  Altruistische Ärztin ( Kap. 7.2.1)

Zum narzisstischen Modus:

•  Pat. mit Hepatitis C ( Kap. 14.2.1)

•  Bänker mit Herzinfarkt ( Kap. 8.6)

•  Der Autoverkäufer ( Kap. 8.3)

•  »Sei der Beste« ( Kap. 8.1)

Zum zwanghaften Modus:

•  »Umbringen kann ich mich alleine!« ( Kap. 4.2.2)

•  Juristin mit Fehlgeburten ( Kap. 9.5)

Zum histrionischen Modus:

•  Patientin mit mehrfacher Blepharoplastik ( Kap. 10.6)

•  Türkische Patientin mit kulturell bedingten Konflikten ( Kap. 10.1)

•  Chefsekretärin mit Identitätskonflikt ( Kap. 10.4)

•  Patientin mit komplexer Traumatisierung ( Kap. 10.1)

Fallbeispiele zu Interventionstechniken:

•  Fallbeispiel: Was ist eine Modellszene? ( Kap. 4.7.2)

•  Fallbeispiel zum Verbalisieren von Gefühlen ( Kap. 4.2.3)

•  Fallbeispiel zur Würdigung von Lebensleistungen ( Kap. 4.2.3)

•  Fallbeispiel zur Bedeutung der Familienanamnese ( Kap. 4.7.2)

•  Fallbeispiel zu Bewertung des Patienten vermeiden ( Kap. 4.2)

•  Fallbeispiel zum Erfragen der Bedeutung eines Symptoms (Türkische Patientin mit Unterbauchschmerzen  Kap. 4.2)

•  Fallbeispiel zum Deuten eines Symptoms ( Kap. 4.7.4)

•  Fallbeispiel zum Einsatz von Symbolisierungen ( Kap. 5.1.2)

•  Fallbeispiel zum Setzen von Zeitgrenzen ( Kap. 10.5)

•  Fallbeispiel zum familiären Kontext von Symptomen (Der Bettnässer  Kap. 4.8.3, Patient mit Nahrungsmittelallergie  9.3, erlernte Angst im familiären Kontext  Kap. 6.2, Paarkonflikt  Kap. 2.8.3)

•  Fallbeispiel zur paradoxen Interventionstechnik (bei Adipositas) ( Kap. 16.1.1 und  Kap. 5.1.2)

•  Fallbeispiel zu Interventionen bei somatoformen Körperbeschwerden ( Kap. 13.6)

Fallbeispiele zu Schmerz und Adipositas:

•  Fallbeispiel zu Trauma und somatoformer Schmerzstörung ( Kap. 15.4)

•  Fallbeispiel zu integrativen Sicht auf Adipositas ( Kap. 16.1.1)

Zu den Autorinnen

 

 

 

Frau Dr. med. Iris Veit ist niedergelassene Fachärztin für Allgemeinmedizin und arbeitet als Hausärztin und Psychotherapeutin in eigener Praxisgemeinschaft (Lehrpraxis der Ruhr-Universität Bochum). Sie ist Lehrbeauftragte der Ruhr-Universität Bochum und leitet für die Allgemeinmedizin den Bereich »Ärztliche Interaktion«. Sie ist weiterbildungsbefugt für psychosomatische Grundversorgung, Balint-Gruppen-Leitung und Fallsupervisionen. Sie ist für die Ärztekammer Westfalen-Lippe seit 20 Jahren in der Facharztweiterbildung »Allgemeinmedizin« tätig und leitet das Curriculum »Psychosomatische Grundversorgung«. Seit vielen Jahren beteiligt sie sich am Aufbau vernetzter Strukturen und moderiert verschiedene Qualitätszirkel. (Internetseite: www.irisveit.de.)

Frau Dipl. Psych. Susanne Behling ist niedergelassene psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin (DGPT) in eigener Praxis. Sie arbeitet zudem als Gruppenanalytikerin, Supervisorin (DAGG und DGSv) und Balintgruppenleiterin der Deutschen Balint-Gesellschaft e.V. Sie ist Dozentin am Westfälischen Institut für Psychotraumatologie (WIPT), das ein Curriculum nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie DeGPT anbietet. Ebenso ist sie als EMDR-Therapeutin, -Supervisorin und -Facilitator (EMDRIA Deutschland, EMDR-Institut) sowie als Supervisorin des Deutschen Institutes für Psychotraumatologie (DIPT) tätig. Sie hat das Frauenhaus Dortmund mit initiiert und war langjährige Leiterin der Frauenberatungsstelle Frauen helfen Frauen in Dortmund.

Vorwort zur ersten Auflage

 

 

 

Dieses Buch wurde geschrieben für Ärzte und jene, die es werden wollen, und sich für ein Verstehen des Anderen, ihres Patienten und auch ihrer Mitarbeiter interessieren; die darüber hinaus beim Verstehen nicht stehen bleiben, sondern ihre kommunikative und emotionale Kompetenz verbessern wollen. Das Buch richtet sich sowohl an Medizinstudenten, Ärzte in der Facharztausbildung als auch an die, die schon über längere Berufserfahrung verfügen. Vielleicht sind auch andere Menschen, die in ihrem Beruf mit Verstehen und Kommunikation zu tun haben, interessiert.

Speziell wende ich mich an diejenigen Kollegen, die als primär somatische Ärzte tätig sind oder tätig sein werden und eine curriculäre Weiterbildung in der psychosomatischen Grundversorgung für den Facharzt oder als Zusatzqualifikation für die Kassenärztliche Vereinigung (Psychosomatische Grundversorgung, Akupunktur und Schmerztherapie) benötigen.

Können Sie sich folgendes Gespräch vorstellen? Sie schlagen einer über Schmerzen klagenden, übergewichtigen, bluthochdruck- und zusätzlich noch zuckerkranken Patientin mit schlechter Stoffwechseleinstellung vor:

Arzt: »Bewegung kann Ihnen helfen. Gehen Sie doch in einen Sportverein!«

Patientin: »Wie soll ich denn da hinkommen?«

Arzt: »Es gibt doch öffentliche Verkehrsmittel.«

Patientin: »Sie wissen doch, die Rente reicht nicht und außerdem wurde mir das ›G‹ in der Bescheinigung des Versorgungsamtes nicht gewährt.«

Spüren Sie den leichten Vorwurf? Nun sind Sie auch noch selbst verantwortlich, dass Sie für das »G« (= gehbehindert im Schwerbehindertenausweis) nicht durch eine entsprechende Wertung der Befunde der Patientin Sorge getragen haben. Sie bleiben vielleicht hilflos oder verärgert zurück. Nun greifen sie zur Überweisung zum Facharzt und denken sich insgeheim: »Du wirst schon sehen, was Du davon hast!« Solche Beziehungsmuster zwischen Arzt und Patient sind Thema dieses Buchs.

Fürchten Sie nicht, dass dieses Buch dem Repertoire der Diagnosen, mit dem Sie umgehen müssen, nun die psychosomatischen hinzufügen will. Es orientiert sich im Aufbau nicht an speziellen, psychosomatischen Diagnosen. Stattdessen stellt es eine Systematik von Denk-, Fühl- und Verhaltensschemata des Menschen in seinen Mittelpunkt und wie sich diese in dysfunktionalen Beziehungsmustern darstellen, speziell in der Beziehung zum Arzt. Das geschieht aus mehreren Gründen:

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient eröffnet einen verstehenden Zugang zum Patienten mitsamt seinen nicht verbalisierten und unbewussten Anteilen. Dieser Zugang ist möglich, weil in der Arzt-Patient-Beziehung ein Muster erfahrbar wird, wie der Patient sich selber und den anderen sieht und darüber hinaus von dem anderen erwartet. Dieses Beziehungsmuster wurde bereits in der frühen Kindheit angelegt, abhängig davon, ob die Erfahrungen mit seinen frühen Bindungspersonen gut genug waren oder nicht. In diesem Buch wird eine Systematik dieser Beziehungsmuster dargestellt:

•  »Allein bin ich verloren, ich brauche einen anderen, an dem ich mich festhalten kann«, ist der Kern eines ängstlichen Beziehungsmodus.

•  »Ich verdiene keine Fürsorge – obwohl ich mich so sehr danach sehne, gibt mir niemand, was ich brauche«, ist der Kern eines depressiven Beziehungsmodus.

•  »Ich bin so toll, dass ich niemanden brauche – Bewunderung reicht!«, ist der Kern der narzisstischen Version eines Selbstwertkonflikts.

•  »Du kannst mir nichts anhaben, weil ich klüger und besser bin als Du!«, ist der Kern eines zwanghaften Modus.

•  »Ich spiele Dir vor, wie ich bin, weil ich es selber nicht weiß«, ist der Kern eines histrionischen Modus.

Diese Beziehungsmodi sind verbunden mit leitenden Affekten wie Angst, Trauer, Wut und Scham. Wenn es dem Arzt gelingt, diese Beziehungsmuster zu erkennen, muss er nicht Teil der dysfunktionalen Inszenierungen zu werden: Eine ältere Dame bleibt am Türrahmen des Sprechzimmers am Ende der Konsultation des Hausarztes stehen. Sie, der Hausarzt, haben schon über die Gebühr Ihres zeitlichen Sprechstundenrahmens mit der Patientin gesprochen. Sie wendet sich Ihnen nochmals zu: »Sie haben heute gar nicht meinen Blutdruck gemessen!« Die Patientin vermittelt damit das Gefühl, dass Sie nie genug tun und Ihre Anstrengungen nicht ausreichen. Möglicherweise bleiben Sie etwas schuldbewusst zurück. Sie hätten schon seit Tagen die eigene Mutter anrufen wollen, schießt es vorwurfsvoll durch Ihren Kopf. Oder Sie bleiben auch in diesem Beispiel ärgerlich gereizt zurück angesichts anspruchsvoller Patienteneinstellungen. Daraus können unheilvolle Interaktionsmuster entstehen, die dem Arzt wie seinem Patienten schaden. Solche Verstrickungen werden in diesem Buch systematisch beschrieben.

Wie kann der Arzt diese erkennen? Das Buch möchte Sie zu einer selbstbeobachtenden Haltung einladen, die den eigenen Gefühlen als wertvolles diagnostisches Instrument Bedeutung beimisst und nicht als etwas, was dem Arztsein abträglich ist, was ein geläufiges Vorurteil ist. Daher will dieses Buch Ihnen nicht zusätzliche Arbeit schaffen, sondern wird dazu beitragen, Ihren Alltag interessant zu gestalten. Da es Sie zu einer Haltung der Selbstbeobachtung anregt, wird es Sie vor Überforderung und Zynismus schützen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb in diesem Buch die Arzt-Patient-Beziehung im Zentrum steht.

Der letzte Grund liegt im therapeutischenWert der Arzt-Patient-Beziehung selbst. Mitfühlende Anteilnahme ist meist für die Erreichung des Ziels einer hilfreichen Beziehung schon ausreichend. Der Patient ist oftmals verunsichert oder sogar beschämt, wenn er Institutionen des medizinischen Systems aufsuchen muss. Seine Krankheit macht ihn bedürftig, vielleicht sogar hilflos und erfüllt ihn mit ängstigenden Erwartungen für seine Zukunft. Trifft er auf einen mitfühlenden Arzt, kann diese Begegnung schon hilfreich und heilsam sein, denn er begegnet einem Menschen, der Kompetenz und Anteilnahme verbindet. Darüber hinaus ist die vertrauensvolle Beziehung Voraussetzung dafür, dass der Patient gemeinsam mit dem Arzt Ziele verfolgt und vermitteltes Wissen eine Änderung seines Verhaltens bewirken kann. Viel Zeit wird von Ärzten auf nutzloses Erklären verwandt, im Irrtum befangen, dass der Mensch sich ändert, wenn er nur gut genug informiert wird. Allein der Wunsch, Gesundheit zu fördern, sollte die Beziehung zwischen Arzt und seinem Patienten fördern.

Das medizinische Versorgungssystem sollte diesem Wissen über die Arzt-Patient-Beziehung Rechnung tragen, anstatt zunehmend zeitlich und durch bürokratische Reglementierungen diese Beziehung einzuengen. Erfreulicherweise belegen mittlerweile Studien mit Hausärzten, dass eine bessere Arzt-Patient-Beziehung mit einer höheren Qualität der Versorgung einhergeht und die Arzt-Patient-Interaktion ein entscheidender klinischer Parameter der Entscheidungsfindung ist. In diesem Sinn ist dieses Buch ein Plädoyer dafür, in der Aus- und Weiterbildung der Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient Raum zu geben, denn sie gehört zu den Kernkompetenzen der ärztlichen Tätigkeit.

Diese Sichtweise der Arzt-Patient-Beziehung schließt eine Betonung der Ressourcendes Patienten ein. Die hier dargestellten Interventionen sehen den Arzt nicht als denjenigen, der die Lösungen erfinden muss, sondern als denjenigen, der dem Patienten hilft, seinen eigenen Weg zu finden. Wie kann der Patient Selbstwirksamkeit entwickeln und diese Überzeugungen bei ihm gestärkt werden? Diese Frage ist entlastend für den Arzt und wird zu einer wertschätzenden Haltung gegenüber dem Patienten führen.

In den primär somatischen Praxen ist die Arzt-Patient-Beziehung durch zusätzliche Besonderheiten gekennzeichnet. Dazu gehört, dass der Körper von Beginn an Teil der Beziehung ist. Die Beziehung wird hier im wahrsten Sinne psychosomatisch. Der Patient ist, wenn körperlich erkrankt, in einer abhängigen Situation, der Arzt in einer versorgend fürsorglichen, wenn er sich mit dem Körper befasst. Die für den Menschen relevante Beziehungssituation ist die zwischen Mutter und Kind. Sie wird von dem Menschen in der Situation der körperlichen Krankheit schnell aktiviert, und kann dem Arzt einen verstehenden Zugang leichter machen. Welch beruhigende und Sicherheit gebende Wirkung kann zum Beispiel von einer gründlichen körperlichen Untersuchung ausgehen! Welch regressive Situation entsteht bei der Ultraschalluntersuchung, wenn der Patient im Dunkeln liegt und sein Bauch mit einer warmen Masse massiert wird? Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Umgang mit ihm und seine kommunikative Bedeutung werden in die Systematik der Modi mit einbezogen. Zu weiteren Besonderheiten der Beziehung zwischen Arzt und Patient zählt, dass sie meist langfristig angelegt ist und das jeweilige Beziehungssystem des Patienten miteinschließt. Diese Besonderheiten versuchen die hier beschriebenen Interventionen zu berücksichtigen.

Das Modell der Psychoanalyse ist geeignet, Beziehungsmuster in ihrer Entstehung zu verstehen. Doch integriert das Buch auch andere Denkmodelle, insbesondere der Systemtheorie, der kognitiv-behavioralen Theorie und der psychischen Traumatisierung. Es wird versucht, einen dualistischen Ansatz in der somatischen und psychosomatischen Medizin zu überwinden. Krankheiten werden dann psychosomatisch, wenn somatisch nichts ausreichend Erklärendes gefunden werden kann oder psychogene Faktoren für die körperlichen Symptome offensichtlich überwiegen. Für den Patienten bedeutet das den Wechsel der Zuständigkeiten.

Das Buch verfolgt ein integratives Konzept, das Krankheit als einen Prozess sieht, in dem Innen und Außen in Rückkopplungsschleifen miteinander agieren. Bei einer Depression lassen sich somatische Äquivalente finden und auch bei den Infektionskrankheiten zeigt die Psychoneuroimmunologie die wichtige Bedeutung der psychosozialen Entwicklung des Individuums. Das ist nicht neu in der Medizin – schon vor fast 100 Jahren trank ein bedeutender Hygieniker ein Glas mit Cholerakulturen, um den Beweis anzutreten, das nicht das Virus allein, sondern die Widerstandskraft des Individuums ebenso wichtig für die Krankheitsentstehung ist. Zum Glück hatte er Recht.

Der integrative Ansatz zeigt sich auch in der inhaltlichen Gliederung des Buchs, die sich nicht an Krankheiten, sondern an Beziehungsmustern orientiert. Zunächst werden die historisch gewachsenen, theoretischen Modelle in der Psychosomatik dargestellt. Um dann jedoch ein integratives, psychosomatisches Denkmodell zu verstehen, ist Wissen über neurobiologische Aspekte unausweichlich. Deshalb werden im ersten Kapitel gegenwärtige Erkenntnisse der Neurobiologie zusammengetragen, insoweit sie das Zusammenwirken von Leib und Seele verständlich machen. Am Ende des ersten Kapitels wird dann ein integratives Modell der Psychosomatik beschrieben, das Beziehungsmuster in ihrer Entstehung und ihrer Vernetzung zum Kern hat und die neurobiologischen Aspekte mit reflektiert.

Kern des Buchs sind die Kapitel, die die Systematik der Beziehungsmuster und abgeleiteten Verstrickungen in der Arzt-Patient-Beziehung zum Gegenstand haben. Die Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster im jeweiligen Modus sind in einem Kontinuum von leicht bis schwer dysfunktional. Jedes Kapitel endet mit Empfehlungen, welchen Schwerpunkt der Arzt in der langfristigen Betreuung dieses Patienten und in der therapeutischen Kommunikation legen soll. Falldarstellungen unterstützen modellhaftes Lernen. Die Kapitel »Psychische Traumatisierung« und »Persönlichkeitsstörungen« helfen, die »schwierigen« Patienten am Ende des Entwicklungskontinuums (von wenig bis ausgeprägt) im jeweiligen Modus zu verstehen. Wie sich die Beziehungsmuster im Umgang mit den häufigsten Beratungsanlässen in den Praxen auswirken, behandeln die Kapitel über die somatoformen Störungen, die chronischen Krankheiten und Schmerzen, Essstörungen und die traumatisch bedingten Krisen. Das letzte Kapitel ist den verschiedenen Psychotherapieverfahren und dem Arzt als Netzwerkmanager im psychosozialen Versorgungssystem gewidmet.

Das Buch versucht, Ihnen einen Kompass zu geben, der bei vielfältigen Gesprächsanlässen hilfreich sein kann, und Sie im Umgang mit den unterschiedlichen Erkrankungen unterstützt, unabhängig davon, in welchem Fachbereich Sie tätig sind. Aus diesem Grund ist der Fokus auf das Verstehen der Beziehung zwischen Arzt und Patient gerichtet. Es sollen Techniken der Intervention vermittelt werden, die sich am Prozess der Beziehung orientieren. Es geht aber auch um Grundhaltungen des Arztes.

Das Besondere an diesem Buch ist die Praxisbezogenheit. Die dargestellten Interventionen haben sich im Alltag meiner Praxis bewährt und wurden im Laufe vieler Jahre zusammen mit auszubildenden Kollegen aus den Fachbereichen Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Orthopädie, Schmerztherapie und Dermatologie, um nur die häufigsten zu nennen, entwickelt. Sie werden viele Beispiele und Falldarstellungen finden, die alle einen realen Bezug haben.

Dieses Buch entspricht einem im Kammerbereich Westfalen-Lippe sehr erfolgreich evaluiertem Curriculum, das von den Autoren P.L. Janssen, G. Heuft und mir konzipiert wurde (Veit, Heuft, Borg 2008). Die Inhalte des Buchs bewegen sich daher im Rahmen der Richtlinien der Bundesärztekammer zur »Psychosomatischen Grundversorgung«. Da alle einzelnen Kapitel auch für sich allein gelesen verständlich sein sollen, kommt es unvermeidlich zu Wiederholungen. Ich bitte um Verständnis, dass aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form in einem neutralen Aspekt als Personenbezeichnung benutzt wird. Eine gleichzeitige Anwendung beider grammatikalischen Geschlechter schien mir den Lesefluss zu behindern. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint. Wo es Literaturangaben im Text gibt, werden Literaturhinweise am Ende des Buchs gegeben. Hier finden sich auch Literaturhinweise auf die Bücher, die dieses Werk beeinflusst haben und von allgemeinem Interesse sein könnten, ebenso wie Internetadressen, die für die psychosomatische Grundversorgung wichtig sind. Das Kapitel »Psychische Traumatisierung« wurde von Frau Behling geschrieben. Diagnosen nach ICD-10 sind das, womit wir arbeiten müssen und können. Sie bilden die Arbeit in der Primärversorgung nicht ab, weil dort mehr mit Symptombeschreibungen und Beratungsanlässen gearbeitet wird. Soweit es sinnvoll war, wurden die ICD-10-Diagnosen den einzelnen Modi zugeordnet und sind meist am Ende jedes Kapitels zu finden.

Das Buch hat einen integrativen Charakter. Psychosomatische Medizin kann ein Ort sein, an dem sich die verschiedenen Fachrichtungen zum gemeinsamen Austausch im Interesse des ganzen Menschen, des Patienten wie seines Arztes, treffen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.

 

Herne, im Februar 2010

Iris Veit

Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

 

Das Buch hat sich für die Weiterbildung Psychosomatische Grundversorgung für Ärzte aller Fachrichtungen bewährt und ist auf gute Resonanz gestoßen. »Das Buch eignet sich für alle Ärztinnen und Ärzte, die motiviert sind, aus ihrer tradierten Rolle herauszufinden und sich Beziehungsaspekten öffnen und damit vollständiger werden wollen. Es ist Begleiter bei der Fort- und Weiterbildung zur psychosomatischen Grundversorgung, aber auch Nachschlagwerk bei der täglichen Arbeit mit unseren mehr oder weniger schwierigen Patienten.« (KVWL, U.Thamer) »Die Stärken des Buches sind sicherlich die […] zum Thema Kommunikation und Beziehungsmodus sowie die hervorragenden psychodynamischen Darstellungen. Dies alles ist ganz nahe dem Praxisalltag. Insgesamt ein Buch, das von jedem, der in die psychosomatische Grundversorgung sich einarbeiten will, aber auch von jedem, der schon eine Weile hier tätig ist, mit Freude und damit mit Wissenszuwachs zu lesen ist.« (Abholz, Zeitschrift für Allgemeinmedizin)

In der jetzigen zweiten Auflage wurden die neuen bzw. überarbeiteten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften AWMF und Praxisempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin DEGAM berücksichtigt. Das Kapitel »Kommunikation« wurde so gestaltet, dass es auch für sich genommen als Leitfaden für ein Kommunikationstraining von Ärzten und anderen Fachgruppen verwendet werden kann. Es orientiert sich an definierten Kompetenzen, über die Ärzte am Ende ihrer Aus- und Weiterbildung verfügen sollten. Auch wenn es sich primär an Ärzte wendet, ist es auch für andere Fachgruppen, für Lehrende und für medizinische Fachangestellte geeignet. Die Übersichten zu den verbalen Interventionen wurden mit Formulierungshilfen so gestaltet, dass sie noch besser für die Unterstützung im Praxisalltag handhabbar werden. Die Darstellung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse wurde komprimiert und aktualisiert.

Der Kerninhalt des Buches, das Konzept der Beziehungsmodi als Orientierungshilfe für Verstehen und Beziehungsgestaltung, hat sich bewährt. Die Bedeutung eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverstehen und einer auf »Beziehung« orientierten Medizin ist in den letzten Jahren gewachsen. Diese Entwicklung zu unterstützen, bleibt das hauptsächliche Anliegen dieses Buches.

Iris Veit, Dezember 2017

1          Seele, Geist und Körper

 

 

 

Seit zweieinhalbtausend Jahren beschäftigt sich die abendländische Menschheit mit der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele. Dieses Verhältnis wurde schon früh als ein dualistisches verstanden. Ein dualistisches Verstehen bestimmt noch heute unser Alltagsdenken und wirkt in der Medizin bis in die Versorgungsstrukturen hinein. Die psychosomatische Krankheitslehre versuchte, einen Beitrag zur Klärung dieser alten Frage zu leisten, indem sie auf die Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist verwies und eine Klassifikation von Krankheiten mit weniger oder mehr psychischen Anteilen schuf. Sie blieb damit selber dem Dualismus verhaftet. Sie beschrieb Interaktionen, und Interaktionen kann es nur zwischen Getrenntem geben. Neuere Erkenntnisse verschiedener Fachgebiete machen es heute möglich, ein integratives Modell zu skizzieren, das den Menschen nicht in Leib und Seele unterteilt. Stattdessen kann es die Beziehungen zu anderen in den Mittelpunkt stellen und daraus Werden und Sein des Menschen erklären. Ein solches integratives Modell wird in den folgenden Kapiteln entwickelt und liegt dem ganzen Buch zugrunde. Beginnen möchte ich mit einem kurzen Exkurs, um die historischen Wurzeln des psychosomatischen Denkens zu klären.

Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass bereits der griechische Philosoph Platon die Trennung von sterblichem Leib und der unsterblichen Seele begründet habe, die dann durch Augustinus zu Beginn des Mittelalters zum Dogma des Christentums wurde.1

Mit dem Beginn der Neuzeit begründete Decartes eine Kluft zwischen subjektivem Denken und der Welt der objektiven Dinge, die beide durch die Brücke einer schlussfolgernden Vernunft verbunden sind. Mit seinem berühmten Satz »Cogito, ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) machte er den Subjektivismus zur Basis rationalen Denkens. Verbunden war damit, dass der Geist und seine Aktivität mit Bewusstheit gleichgesetzt und das Unbewusste in den Bereich des Mystischen verbannt wurde (Nannini 2006). In Berufung auf diesen Satz werden im frühmodernen Denken die kognitiven Fähigkeiten zum entscheidenden Merkmal des Menschen erklärt. Mit der Trennung von Subjekt und der objektiven Außenwelt wird auch der Körper aus dem Reich der Vernunft und des Denkens ausgeschlossen und dem Reich des Mechanischen zugeordnet. Die Trennung von Subjekt und Umwelt findet eine Widerspiegelung in der Trennung von Körper und Geist und verbindet sich mit einer reduktionistischen Denkweise, die im Verstehen der Einzelteile das Ganze verstehen und alles auf eine einzige, letzte Ursache zurückführen will. Sie gipfelt in der Physiologie des 19. Jahrhunderts, die den lebendigen Menschen auf eine analytische Mechanik reduzierte und Jahrhunderte der Beobachtung von Körper und Leidenschaften des Menschen in der Medizin in Vergessenheit geraten ließ.

Erst durch die Psychoanalyse wird das Unbewusste wieder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung in der Medizin. Eine der psychoanalytischen Hauptthesen besagt, dass das Unbewusste das Denken, Fühlen und Verhalten mehr bestimme als das Bewusstsein. Das Unbewusste stehe im Zusammenhang mit sozialen Erfahrungen und sei dynamisch. Darüber hinaus ist ihr Verdienst, den Blick auf die menschlichen Affekte und auf die Bedeutung des Körpers für die menschliche Entwicklung zu lenken. Die Psychoanalyse beendete zwar die Negation des Unbewussten in der Medizin, jedoch nicht den Dualismus zwischen Körper und Geist.

Nützlich für eine integrative Medizin wäre eine Rückbesinnung auf die großen Denker der klassischen Antike wie Aristoteles und Platon. Sicher ist, dass beide Philosophen der klassischen Antike einem umfassenden Begriff des Geistes folgten, der die Seele nicht dem Geist gleichsetzte und Geist nicht auf bewusste mentale Akte beschränkte, sondern Gefühle, Emotionen und angeborene Werte, und Rationales ebenso wie das, was wir als Irrationales bezeichnen, nach ihrer Auffassung zum Geist des Menschen gehörten.2 Diesen Gedanken greift die Psychoanalyse mit der Betonung des Unbewussten wieder auf.

Die Entstehung der wissenschaftlichen Psychosomatik ist mit der Psychoanalyse verbunden. Doch die Psychoanalyse ist nicht die einzige Wurzel des heutigen psychosomatischen Denkens. In der gegenwärtigen Psychosomatik begegnet man verschiedenen Modellen, die ihre Wurzeln außerhalb der Psychoanalyse, beispielsweise in der Psychophysiologie, den biologischen Systemtheorien und der humanistischen Tradition haben. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Modelle der Psychosomatik knapp dargestellt, um dem Leser eine grundlegende Orientierung zu ermöglichen. Die Modelle betonen jeweils unterschiedliche Aspekte der Interaktion zwischen Körper und Geist. In den letzten Jahrzehnten gewann in der psychosomatischen Theoriebildung ein integratives Denken mehr Raum, das über das linear-kausale Denken hinausgeht und stattdessen dynamische Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zum Mittelpunkt hat (Weiner 1985; 1994). Schritte auf diesem Weg waren das Modell von Uexküll und das bio-psycho-soziale Modell, dem die psychosomatische Grundversorgung ausdrücklich verpflichtet ist. Im Anschluss an die Darstellung dieser Modelle werden neurobiologische Erkenntnisse, soweit sie das Leib-Seele Problem betreffen und einem dualistischen Denken entgegenwirken, dargestellt.

Die neueren Erkenntnisse der Neurobiologie, der Säuglingsbeobachtung und der Bindungsforschung rücken die Beziehung zum anderen für die menschliche Entwicklung in den Mittelpunkt. Die neuronale Plastizität erlaubt zu verstehen, wie das Gehirn den Prozess der Interaktionen mit anderen vermittelt und sich dabei verändert. Säuglingsbeobachtung und Bindungsforschung belegen, dass die Selbstentwicklung von den Erfahrungen mit anderen abhängig ist, und der Körper dabei immer eingebunden ist. Diese neueren Erkenntnisse erlauben, einen dualistischen Standpunkt, der die Kluft zwischen Körper und Geist und die zwischen Subjekt und seiner Umwelt zum Inhalt hat, überhaupt zu verlassen. Körper und Geist sind nur Abstraktionen eines ganzheitlichen Prozesses (Goldstein 1943), der auf Beziehungen basiert. Die Beziehung sollte daher im Mittelpunkt einer heutigen Medizin stehen.

Zusammenfassend wird versucht, ein integratives Modell zu skizzieren, das die bestehenden Modelle zusammenführt und den Menschen in seinem Beziehungserleben berücksichtigt. Jahrtausendealte Fragen lassen sich nicht in wenigen Jahrzehnten lösen. Dass vor vielen Jahrhunderten bereits integrativ gedacht wurde, mahnt zur Bescheidenheit gegenüber neueren Theoriebildungen.

1.1       Psychosomatische Theoriemodelle

Das psychogenetische Modell

Das psychogenetische Modell, das mit der Psychoanalyse verknüpft ist, beinhaltet, dass die konflikthaften Beziehungserfahrungen mit frühen Bindungspersonen, auf die Säugling und Kleinkind unbedingt angewiesen sind, verinnerlicht werden und sich später in dysfunktionalen Beziehungsmustern des heranwachsenden Kindes und des Erwachsenen zeigen können. Das Modell betont sowohl die innerpsychischen Konflikte als auch die interpersonelle Ebene von Krankheit. Weil sich die dysfunktionalen Beziehungsmuster auch in der Arzt-Patient-Beziehung zeigen, ist das Modell zum Verstehen dieser Beziehung besonders geeignet. Im psychogenetischen Modell werden den konflikthaften Beziehungserfahrungen Bewältigungsstrategien zugeordnet. Die unbewussten Aspekte der Bewältigungsstrategien werden hier Abwehrmechanismen genannt.

Das psychogenetische Modell fügt der Entstehung aller Krankheiten die historische Dimension der Entwicklung hinzu und fokussiert die Emotionen. Letzteres ist nicht neu – in früheren Jahrhunderten waren die Leidenschaften in ihrer Wirkung auf den Körper wichtiger Gegenstand einer humanen Medizin (Sir Francis Bacon). Leider fanden Charles Darwins Beobachtungen über Emotionen und integrierte, motorische Verhaltensmuster bei Tieren in der Medizin keine Beachtung. Erst das (dem psychogenetischen Modell verbundene) Modell der Konversion stellt eine Verbindung zwischen emotional besetztem Konflikt und Körper her, welche sich auch in alltagssprachlichen Metaphern ausdrückt: Ärger schlägt auf den Magen, Angst sitzt im Nacken, das Herz wird gebrochen. Im Modell der Konversion ist das Symptom eine symbolische Darstellung der unbewussten, inneren Konflikte des Subjekts und der begleitenden Affekte. Konflikte und Emotionen »konvertieren« ins Symptom. Und weil das Symptom den unbewussten Konflikt versinnbildlicht, hat es einen Sinn, der verstanden werden kann.

Das Modell der Konversion hat jedoch einer den Patienten kränkenden Deutung von Symptomen Vorschub geleistet. Es fördert den Dualismus von Leib und Seele, diesmal von Seiten der Seele her: Ein Lidkrampf würde symbolisieren, dass man etwas nicht sehen will. Dennoch bleibt dieses Modell bedeutsam, denn es unterstreicht die Wirkung des Gefühls auf den Körper, auch wenn das Gefühl unbewusst bleibt. Jedoch ist der Begriff der Konversion nicht erklärend, sondern beschreibend. Eine einfache Beschreibung von Krankheit aus Emotionen und Konflikten ist heute nicht mehr ausreichend.

Das psychobiologische Modell

Als Erster verzichtete von Uexküll auf die kausale Rolle der Emotionen und schuf ein psychobiologisches Modell. Sein Modell des Situationskreises (von Uexküll 1979) stellt den Kranken als Subjekt in den Mittelpunkt. Seine Kernaussagen sind, dass jedes Individuum in einer im Verlauf seines Lebens von ihm selbst erschaffenen Wirklichkeit lebt. Das Individuum konstruiert sie aus seinen gesamten Erfahrungen, die er handelnd erwarb und die nun seine Wahrnehmung lenken. Die Wahrnehmungen aber beeinflussen wiederum die zukünftigen Erfahrungen. Diese subjektiv konstruierte Wirklichkeit umgibt das Individuum wie eine zweite Haut. Nach von Uexküll befindet sich jeder Mensch in einem ständigen Prozess, in dem Neues an Bisheriges angepasst werden muss. Krankheit wird in diesem Modell als Ausdruck einer Störung dieser Passung verstanden. Dieses Modell verbindet den Konstruktivismus mit der Tradition einer anthropologischen Medizin, deren Grundregeln auf Sir Francis Bacon (17. Jahrhundert) zurückgehen. Die humanistische Tradition stellt heraus, dass nicht die Krankheit, sondern der Kranke der Gegenstand der Medizin sein soll. Diese Sichtweise gewinnt an Bedeutung zwischen den beiden Weltkriegen und ist zeitlich wie inhaltlich mit der Philosophie Heideggers verbunden. Da dieses Modell den Kranken als Person in den Mittelpunkt stellt, lädt es den Arzt dazu ein, die subjektiven Theorien des Kranken zu erfragen, die Bedeutung und den Sinn, den der Kranke seiner Krankheit zuschreibt, d. h. den Kranken seine Geschichte erzählen zu lassen (narrativ).

Die psychophysiologischen Modelle

Das Stressmodell leitet sich aus der Tierphysiologie ab. Es beschreibt Stressoren oder Risikofaktoren, die die psychophysiologische Stressreaktion hervorrufen können und über diesen Weg den Körper beeinflussen. Selye, der Begründer dieses Modells, entdeckte die Bedeutung der Nebennieren für die körperliche Alarmreaktion und hat viel dazu beigetragen, die psychophysiologische Stressreaktion zu erforschen, die an späterer Stelle dargestellt wird. Der Stressbegriff wurde allmählich ausgedehnt auf alle Reize oder Aufgaben des Alltagslebens, die eine menschliche Reaktion hervorrufen. Ungeachtet der Kritik an der Beliebigkeit der Stress auslösenden Faktoren, ist die Stressreaktion eine wichtige physiologische Reaktion, um die Zusammenhänge von Emotionen und Körper besser zu verstehen. Dass Krankheit als misslungene Anpassung an äußere Bedingungen betrachtet wird, ist dem Stressmodell inhärent.

Die behavioralen Modelle legen den Schwerpunkt auf die Lernerfahrung des Individuums für die Entstehung und den Umgang mit Krankheit. Eine Methode des Lernens ist die Konditionierung. Der Konditionierung liegt ein universelles Prinzip unserer Synapsen zu Grunde: Neurone, die gleichzeitig aktiv sind, verbinden sich durch Synapsen miteinander; demnach gilt: was häufig genutzt wird, wird langfristig gebahnt. Die kognitiv-behavioralen Modelle haben ihre Wurzeln ebenfalls in psychophysiologischen Forschungen. Pawlow gab ihnen eine experimentelle Grundlage. Nach vielen Wiederholungen reagierte der Pawlow'sche Hundemagen mit Sekretion, wenn er nur einen Glockenton hörte. Das Sehen und Riechen von Nahrung ist gar nicht mehr erforderlich (klassische Konditionierung). Neben der klassischen gibt es die operante Konditionierung, bei der der Reiz nicht mit einem anderen Reiz, sondern mit Belohnung und Bestrafung kombiniert wird.

Ergänzt wurden die behavioralen Modelle in den letzten Jahrzehnten durch Theorien, die die Bedeutung der Kognitionen für Verhalten betonen. Sie sind als innere Bilder oder verbale Überzeugungen gespeichert. Verschiedene Therapien nutzen heute (über Veränderung dieser Bilder und Glaubenssätze) die Möglichkeit, die Verhaltensmuster selbst zu ändern (Bandler-Grinder 2013).

Salutogenetische Modelle

Während alle bisher dargestellten Modelle auf die Defizite des Patienten und seine Pathologie abheben, fokussieren die salutogenetischen Modelle dieRessourcenund die Selbstkompetenz des Patienten. Was hält uns gesund? Als Antwort auf diese Frage nennt Antonovskys Modell der Salutogenese das Kohärenzgefühl (Antonovsky 1997). Darunter versteht man die Auffassung, dass es einen sinnvollen Zusammenhang der Erlebnisse im Leben gibt. Ein solches Kohärenzgefühl ist abhängig von folgenden Faktoren:

•  Verstehbarkeit (Die Dinge werden sich erklärbar entwickeln.)

•  Machbarkeit (Ressourcen sind vorhanden, das Leben ist nicht ungerecht, man empfindet sich nicht als Opfer.)

•  Bedeutsamkeit (Lebensereignisse stellen eine Herausforderung dar, für deren Bewältigung sich Engagement lohnt.)

Auch das Modell der systemischen Familientherapie legt den Schwerpunkt auf die Ressourcen des Patienten. Es sieht das Symptom des Patienten immer im Kontext seiner Beziehungen. Ein Kind könnte beispielsweise eine Krankheit entwickeln, um die uneinigen Eltern vom Streit abzulenken und zusammenzuhalten. Es opfert sich, um die Familie in ihrer Gesamtheit zu erhalten. Der Patient und das ihn umgebende System können eine Lösung entwickeln, nicht das medizinische System, das ihm eine solche nur überstülpen könnte. Diese Annahme führt zu einer bescheideneren Haltung gegenüber der Rolle der Helfer.

Auch die mit der systemischen Therapie verbundene Hypnotherapie ist lösungsorientiert. Sie betont die Macht der inneren Bilder im Patienten und ihre Beeinflussung mit Hilfe suggestiver Interventionen in der therapeutischen Kommunikation (Schmidt 2007).

Das bio-psycho-soziale Modell

Das bio-psycho-soziale Modell (Engels 1977) basiert auf der Systemtheorie, einer in der Biologie entstandenen Theorie, und soll das alte biomedizinische Modell ablösen. Es ist heute das gängige Modell, um die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt bei Krankheitsentstehung und -verarbeitung zu unterstreichen.

Abb. 1.1: Das bio-psycho-soziale Modell (nach Engels 1977)

Die Systemtheorie sieht die Welt als ein System von Leitern, geordnet von elementarsten Teilchen bis hin zu komplexen, sozialen Phänomenen. Es gliedert sich ausgehend von Molekülen, über Zellen und Organe bis zum ganzen Menschen, über die Zwei- und Mehrpersonenbeziehungen zur Gesellschaft und Umwelt in hierarchisch aufeinander aufbauenden Ebenen. Diese Ebenen berühren sich an ihren Grenzflächen und beeinflussen sich in Feedbackschleifen.

Der progressive Aspekt dieses Modells ist, dass es eine Alternative zum mechanistischen Menschenbild und dem monokausalen, linearen Denken in der Medizin bietet.

Abb. 1.2: Bereiche des psychosomatischen Krankheitsverständnisses

Das bio-psycho-soziale Modell greift auf, dass soziale, ökonomische und politische Kräfte Krankheiten beeinflussen, Aspekte, die die Pioniere des psychogenetischen Modells nicht berücksichtigten. Die Schwächen des Modells liegen in der Annahme, dass die Welt hierarchisch aufgebaut ist und dass Emergenz das erklärende Prinzip sei. Emergenz bedeutet, dass ein Ganzes nicht aus der Summe der Eigenschaften seiner Bestandteile erklärt werden kann. Die Eigenschaften von Wasser lassen sich nicht aus den Eigenschaften des Sauerstoffs und Wasserstoffs erklären, aus denen es sich zusammensetzt. Der Begriff der Emergenz erklärt nicht, sondern beschreibt Offensichtliches. Auch werden Hierarchien der Komplexität lebender Systeme nicht gerecht, kritisieren moderne Systemtheoretiker. Denn lebende Systeme sind, neben Selbstreplikation und Anpassung, durch Selbstregulation gekennzeichnet. Sich selbst organisierende Prozesse basieren auf hemmenden und fördernden Rückkopplungsschleifen. Sie bringen daher Oszillation und Rhythmik (Anspannung/Entspannung – ergotrophe/tropotrophe Reaktion) und neue Muster hervor, Ordnung und plötzlichen Wechsel, nicht dagegen Hierarchien und Mittelwerte. Die Vernetzung in hemmenden und fördernden Rückkopplungsschleifen lässt neueFunktionenentstehen. Ein modernes, systemtheoretisches Modell beschreibt keine Leitern, sondern Energielandschaften mit Bergen und Tälern. Neuerem Wissen, selbst auf der biologischen Ebene, wird das bio-psycho-soziale Modell nicht gerecht. Diese Implikationen des Modells sollten berücksichtigt werden, wenn man es heute benutzt (Weiner 1996).

Zusammenfassung: Jedes der genannten Modelle legt den Schwerpunkt auf einen anderen Aspekt des Krankheitsverstehens: Die Funktionsweise biologischer Regulationssysteme, die subjektiv-personale Ebene, die interpersonelle Ebene und die Abhängigkeit aller dieser Ebenen von Gesellschafts- und Umweltbedingungen. Der gängige bio-psycho-soziale Ansatz beschreibt, dass alle diese Bereiche zusammenhängen, aber nicht wie.

Im letzten Jahrzehnt haben funktionelle Neuroanatomie, Neurophysiologie, Psychoneuroendokrinologie und Psychoneuroimmunologie, Emotionsforschung und epidemiologische Forschung, neuere Erkenntnisse der Genetik und die Entwicklung der Bindungstheorie auf der Basis der Säuglingsforschung, nachhaltig das psychosomatische Denken beeinflusst und sollen deshalb hier dargestellt werden. Die neurobiologischen Aspekte lassen verstehen, wie der Körper in die Umwelt und insbesondere in ein Beziehungsumfeld eingebunden ist. Sie ermöglichen ein integratives Denken, in dem Körper und Seele nicht mehr getrennt gesehen werden müssen.

1.2       Neurobiologische Aspekte von Geist und Körper

1.2.1     Neuronale Plastizität – das Gehirn ist ein sich selbst organisierendes, dynamisches, beziehungsabhängiges Organ

Die neuronale Plastizität ist die entscheidende Voraussetzung, damit sich Erleben in biologische Veränderungen umsetzen kann. Als neuronale Plastizität wird die Fähigkeit unseres Gehirns bezeichnet, sich mit seiner Tätigkeit zu verändern. Voraussetzung dafür sind Synapsen, die die Verbindung und Vernetzung von Neuronen, den Zellen des Nervensystems ermöglichen. Alle Leistungen des Gehirns beruhen auf synaptischer Signalübertragung. Unser Gehirn hat ca. 1010 Neuronen und jedes Neuron ca. 10000 Synapsen. Die Möglichkeit von Verbindungen erscheint damit unendlich. Bei der Geburt des Menschen verfügt das einzelne, menschliche Neuron über ca. 2500 Synapsen, gut zwei Jahre später bereits über die vierfache Anzahl. Eine Verbindung erfolgt dann, wenn zwei Neuronen oder

Abb. 1.3: Anatomie des GehirnsHypothalamus: Kontrollzentrum für biologische Grundfunktionen (Schlafen, Wachen, Sexualverhalten, Nahrung). Er kontrolliert die Hypophyse und die Kerngebiete des sympathischen und parasympathischen Nervensystems. Amygdala: Steuerung und Produktion von Emotionen, insbesondere für Angst und Furchtreaktionen. Hippocampus: liefert den Kontext von Wahrnehmungen und ist zusammen mit der ihn umgebenden Rinde an der Gedächtnisbildung beteiligt. Cingulärer Cortex und Insel: Verknüpfung zwischen Körpererleben und der äußeren Wahrnehmung, Sitz des Selbstgefühls und der Lebensgrundstimmung, Aufmerksamkeitsleistung und emotionale Schmerzwahrnehmung. PräfrontalerCortex: Bewusste Teile des Ichs, kontextgerechtes Handeln und Sprechen, Entwicklung von Zielen, Empathie. Orbitofrontaler Cortex: Sitz von Moral und Werten. Zwar besitzt das Gehirn lokal spezialisierte Strukturen, doch alle Funktionen wie Emotionen, Schmerz und Bewusstheit haben komplexe Verbindungen vieler Hirnareale zur Voraussetzung.

neuronale Netzwerke gleichzeitig tätig werden. Das erste Prinzip ist: Synchronisation bewirkt Interaktion. »Neurons, that fire together wire together« – dieses Prinzip liegt vielen unbewussten Lernvorgängen des Menschen zugrunde.

Neben der Gleichzeitigkeit ist ein weiteres Prinzip der synaptischen Verbindungen, dass ihre Stärke von der Häufigkeit ihrer Benutzung abhängt. Das bewirken besondere Rezeptoren an der Oberfläche der Synapsen. Werden diese Rezeptoren häufig genug erregt, setzen sie in ihrem Neuron eine Reaktionskette in Gang, die schließlich Gene im Neuron aktiviert. Am Ende der Reaktion stehen Proteine, die bestehende Synapsen verstärken oder neue bilden. Was häufig benutzt wird, wird gebahnt – oder bildhaft gesprochen: Aus einer Fußspur wird ein breiter Weg und schließlich eine Autobahn. Die Koppelung von Synapsen ist nicht nur von der Häufigkeit der Benutzung abhängig, sondern modulatorische Systeme verstärken oder hemmen diesen Vorgang. Ein förderndes, modulatorisches System ist

Abb. 1.4: Neuronale Netzwerke: Die Verbindungsstellen zwischen zwei Nervenzellen heißen Synapsen. Hier besteht ein enger Spalt, über den hinweg sich die Nervenzellen mithilfe von Neurotransmittern verständigen, die von der die Botschaft aussendenden Zelle gebildet werden und an den Rezeptoren der anderen andocken. Solche Neurotransmitter und Neuromodulatoren wie Glutamat, GABA, Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin können diesen Vorgang des Andockens beeinflussen. (Storch M 2002; Der Verlag und die Autorin danken dem CIP-Medien Verlag für die freundliche Genehmigung der Abbildung.)

zum Beispiel das Dopaminsystem. Es wird bei Belohnungserwartung ausgeschüttet. Dieser Vorgang entspricht dem Alltagswissen, dass das Gedächtnis stimmungsabhängig ist. Wenn positive Emotionen im Spiel sind, lernen wir leichter.

Zusammenfassung: Als neuronale Plastizität wird die Fähigkeit unseres Gehirns bezeichnet, sich mit seiner Tätigkeit zu verändern. Basis dafür sind die Synapsen. Die Kopplung von Synapsen ist abhängig von der Gleichzeitigkeit und der Häufigkeit ihrer Nutzung und ist durch Stimmungen modifizierbar. Die synaptische Chemie der Neurotransmitter mit hemmenden und fördernden Funktionen ermöglicht flexible Veränderung.

Alle Funktionen des Gehirns entstehen durch Vernetzung. Die Vernetzung geschieht auf allen Ebenen. Es verknüpfen sich nicht nur die einzelnen Zellen zu Netzwerken, sondern auch die Netzwerke untereinander. Diese Vernetzung ermöglicht, dass Menschen beispielsweise die Raumtemperatur um einige Grade höher einschätzen, wenn sie gerade eine positive Begegnung mit einem anderen Menschen hatten. Netzwerke sind in Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden, die entweder aktivierende oder hemmende Wirkungen auf den Anfang haben. Diese Funktionsweise garantiert Flexibilität.

Abb. 1.5: Konvergenzzonen: Funktionen entstehen aus Vernetzung

Netzwerke unterschiedlicher Funktionen verknüpfen sich in Konvergenzzonen. Sie sind das Markenzeichen des menschlichen Gehirns. Eine solche Konvergenzzone innerhalb der Großhirnrinde ist zum Beispiel der anteriore cinguläre Cortex (ACC), der Signale der Schmerzrezeptoren aus der Körperperipherie mit Signaleingängen emotionaler Systeme verbindet und für die emotionale Einfärbung der Schmerzwahrnehmung sorgt. Neben den affektiven nehmen weitere Netzwerke wie das der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, der Kognition und des Gedächtnisses Einfluss auf die afferenten Nervenbahnen (Bottom-up), die die Signale der peripheren Schmerzrezeptoren weiterleiten.

Die Verbindungen zwischen Netzwerken zu Konvergenzzonen sind keine Einbahnstraßen. Sind Konvergenzzonen entstanden, beeinflussen sie nun umgekehrt in Top-down-Regulationen die signalgebenden Netzwerke. Sie sind in kreiskausalen Regulationen verbunden und entwickeln eine Ordnung, in der überwachte Netzwerke ihre Überwacher kontrollieren. In dieser Weise modulieren absteigende Bahnen bereits auf Rückenmarksebene die von Schmerzrezeptoren ausgehende Signalübertragung. Es entstehen Muster oder Landschaften neuronaler Erregungsbereitschaften, die durch Oszillation und Rhythmik gekennzeichnet sind und Resonanz ermöglichen.

Diese einfache Funktionsweise erklärt, wie geistige Funktionen in den Körper eingebunden sind und eröffnet eine naturalistische Sichtweise darauf, dass Menschen Körper und Geist zwar getrennt denken, dieselben aber nicht getrennt sind. Wie beim Schmerzerleben skizziert, sind das, was wir als psychisch oder somatisch bezeichnen, Abstraktionen eines ganzheitlichen Prozesses (Goldstein 1934).

Netzwerke unterschiedlicher Funktionen arbeiten nicht nur vernetzt, sondern sie entstehen auch in Abhängigkeit voneinander. Ein Säugling bzw. ein Kleinkind lernt seine Umwelt erkennen und gleichzeitig in einem Prozess der gemeinsamen Aufmerksamkeit mit der hauptsächlichen Bindungsperson seine Umwelt emotional zu bewerten. Diese gleichzeitigen Prozesse bilden die Konvergenzzonen im präfrontalen Cortex ab, die kognitive und emotionale Netzwerke integrieren.

Zusammenfassung: Netzwerke verschiedener Systeme wie das sensorische, emotionale oder kognitive System und das Gedächtnis werden in Konvergenzzonen miteinander verknüpft und beeinflussen sich in Bottom-up- und Top-down-Regulationen. Funktionen sind Ergebnis von Vernetzung, Vernetzung ist abhängig von sozialen Erfahrungen. Das Gehirn ist ein soziales Organ, dessen Funktionsweise die fortlaufende Anpassung des Individuums an seine Umwelt- und Beziehungserfahrungen ermöglicht.

1.2.2     Emotionen

Wie sehen die Netzwerke aus, in denen der Körper mit dem Geist verbunden ist? Hinweise liefert das, was wir »Gefühle« nennen.

Gefühle sind komplexe Phänomene. Sie basieren auf unterscheidenden Wahrnehmungen von innen oder außen (Schmitt 2006), um das Individuum auf zukünftige Pläne und Handlungen zu orientieren, z. B. auf das Weglaufen aus der Gefahr (Ciompi 1997).

Gefühle sind vor allem leiblich. In der Emotionstheorie des Neurobiologen Damásio dienen sie der Regulation der Homöostase des Körpers und sind deshalb mit evolutionsbiologisch alten Hirnregionen verbunden. Alltagserfahrung lehrt, dass Gefühle mit autonomen Indices wie ein Anstieg der Herzrate, des Blutdrucks, der Muskelspannung und -durchblutung und der Körpertemperatur verbunden sind. Gefühle sind psychosomatisch. Auf das körperliche Eingebundensein der Gefühle verweisen auch Gestik, Mimik und Körperhaltungen, die von Menschen aller Kulturen verstanden werden (Ekman 2006). Sie sind somit interaktiv und eine wichtige Grundlage menschlicher Kommunikation. Gefühle können als geteilte Atmosphären von Individuen bezeichnet werden (Schmitz 2012).

Langanhaltende Emotionen werden als Stimmungen bezeichnet. Auch Stimmungen sind mit einem leiblichen Erleben verbunden. Wir fühlen uns bedrückt oder emporgehoben, wir fühlen Enge und Weite, Anspannung und Entspannung (Schmitz 2012). Das Dasein ist schon immer gestimmt (Heidegger 1927), oder anders formuliert bergen Grundstimmungen die Gesamtsituation des Individuums.

In einer Alltagsauffassung von Bewusstheit können Gefühle bewusstwerden oder unbewusst bleiben. Ärztlichen Erfahrungen entspricht, dass manche Patienten nicht das Gefühl der Angst, sondern lediglich die damit einhergehenden körperlichen Reaktionen bewusst wahrnehmen. Dass Gefühlsreaktionen auch unabhängig von evolutionsbiologisch neueren Gehirnarealen möglich sind, belegen Menschen, die ohne Großhirnrinde geboren werden. Sie zeigen basale Gefühlsregungen. Sie freuen sich, wenn sie gekitzelt und berührt werden. Sie lieben manche Musikstücke mehr als andere und reagieren unterschiedlich auf menschliche Stimmen (Damásio 2013).

Basale, angeborene Motivationen

Gefühle verbinden basale, angeborene Motivationen, Lernerfahrungen früherer Generationen mit individuellen Lernerfahrungen. Was sind basale Motivationen? Oder anders gefragt: Was treibt den Menschen an? Der amerikanische Psychologe J. Pankseep hat die bei Säugetieren vorhandenen basalen Motivationssysteme untersucht (Pankseep 1998). Weil die Evolution nicht vergisst und immer auf Bewährtem aufbaut, sind seine Forschungen über Säugetiere auch auf Menschen übertragbar. Er unterscheidet vier basale Motivationssysteme, die bei allen Säugetieren bereits zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden sind und jeweils aus einem anatomischen Netzwerk verbundener Neurone bestehen, das durch unterscheidbare Neuromodulatoren kontrolliert wird und endokrinen und immunologischen Einflüssen unterliegt:

•  ein Furchtsystem, das das Säugetier auf Flucht oder Erstarren orientiert und aus der Gefahrenzone bringen will und mit dem Gefühl der Angst verbunden ist,

•  ein Wutsystem, das die Grenzen des Individuums und der Gruppe nach außen behauptet,

•  ein Neugiersystem, das zur Suche nach benötigten Dingen und Exploration der Umwelt motiviert,

•  ein Separation Distress System, das in Verbindung mit sich später entwickelnden Systemen zum sozialen Bindungssystem wird. Säugetiere sind nach der Geburt von einem fürsorgenden Anderen abhängig. Bei Angst vor dem Verlassenwerden rufen oder schreien sie nach dem nahrung- und geborgenheitgebenden Anderen. Es unterscheidet sich vom Furchtsystem und vermittelt das Gefühl von Verlassenheit und Trauer.

Drei weitere Systeme, das der mütterlichen Fürsorge, des Spielens und der sexuellen Lust, etablieren sich nach seinen Untersuchungen später im Verlauf der Entwicklung. Die Systeme kombinieren sich untereinander. Aus solchen Kombinationen lassen sich soziale Gefühle wie zum Beispiel Scham und Neid ableiten. Basale Motivationen sind genetisch kodiert. Laborratten mögen in der 400. Generation im Käfig leben, jedoch ein Katzenhaar im Käfig lässt ihr Spielen und Herumtollen oder Fressen sofort sistieren. Insbesondere beim Menschen sind diese Systeme kulturell und durch individuelle Erfahrungen modifizierbar.

Alle emotionalen Systeme sind in kreiskausalen Regulationen mit anderen Hirnregionen verbunden. Wegen der Verbindung basaler, emotionaler Systeme mit evolutionär jüngeren Gehirnarealen können Emotionen mit bewussten Gedanken verbunden sein, durch Lernerfahrungen verändert werden, und Gedanken können Emotionen hervorrufen. Aufgrund ihrer Verbindung zu älteren Gehirnarealen existiert keine Emotion ohne physiologische Folgen und Folgen für das Verhalten. Die neuronalen Verbindungen zum Hirnstamm verknüpfen sie mit den Systemen der Lebensregulation.

Pankseep hat damit ein System beschrieben, das verstehen lässt, was den Menschen motivational bewegt. Zwar beinhalten alle Gefühle ein Mögen und ein Möchten. Die Vermeidung von Unlust und Streben nach Lust als entscheidende Motivationen des Menschen anzunehmen, erscheint jedoch angesichts der dargestellten empirischen Ergebnisse zu vereinfacht.

Das Furchtsystem und die Schaltkreise der Amygdala

Am besten untersucht scheint das Furchtsystem, das an der umfassenden emotionalen Antwort teilhat, die wir Angst nennen. Auch andere Systeme mögen das Gefühl der Angst generieren wie das Separation Distress System zum Beispiel die Verlassenheitsangst. Doch wenden wir uns dem basalen System der Furcht zu. Für dieses System sind Kerne der Amygdala zentraler Organisator. Menschen ohne Amygdala sind beeinträchtigt, mimische und sprachlich geäußerte Emotionen zu beurteilen. Deshalb können sie nicht einschätzen, wem sie trauen können. Ihre Aufmerksamkeit wird nicht auf bedeutende Dinge für das Überleben gerichtet, sondern auf Nebensächlichkeiten. Menschen ohne Amygdala können einen Mord im Film sehen. Befragt nach dem, was sie beeindruckt hat, berichten sie vielleicht, dass die Ermordete ein weiß gepunktetes Kleid trug (Markowitsch 2006).

Die Amygdala zählt zu den am besten vernetzten Kernsystemen unseres Gehirns überhaupt. In vielfältigen Rückkopplungsschleifen

•  nimmt sie über den Hippocampus Einfluss auf die kognitiven Prozesse und Erinnerungen, und der Hippocampus liefert ihr den Kontext emotionalen Lernens. In der Wildnis löst die Schlange Furcht aus, im Zoo ist sie faszinierend.

•  Über das Stirnhirn nimmt sie auf das dort lokalisierte Arbeitsgedächtnis Einfluss und darauf, was überhaupt in unser Bewusstsein gelangt. Unter Angstbedingungen können wir schlecht lernen, was bis zur vollständigen Blockade der Erinnerungen an das Gelernte führen kann.

•  Sie sorgt für die emotionale Einfärbung unserer Intentionen und nimmt Einfluss auf Entscheiden und Handeln.

•  Sie filtert unsere Wahrnehmungen und ist an deren Konstruktion beteiligt.

•  Die Amygdala und der Hippocampus setzen die neurophysiologische Stressreaktion in Gang, beeinflussen den Körper und werden wiederum durch ihn beeinflusst.

Abb. 1.6: Schaltkreise der Amygdala: Die Amygdala ist eines der bestvernetzten Kerngebiete unseres Gehirns und organisiert den Einfluss der Emotionen auf Wahrnehmung, Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis und damit Bewusstheit, Kognition und Handeln sowie unseren Körper (nach Rohen 2001).

Zunächst soll der Einfluss der Emotionen auf die Wahrnehmung betrachtet werden. Alle sensorischen Inputs werden über das Zwischenhirn, speziell über den Thalamus, an die Amygdala und ihre Netzwerke geleitet, bevor sie die sensomotorischen, akustischen und visuellen Rindengebiete erreichen. Diese Faserbahnen vermitteln die emotionale Einfärbung aller sensorischen von außen oder aus dem Körperinnern stammenden Informationen. Alltagserfahrungen bestätigen das: Wer sich ein grünes Auto kauft, sieht von nun an überall grüne Autos, die sich anscheinend auf wundersame Weise vermehren. Verliebte haben eine rosarote Brille auf der Nase, und wer in die Tiefe eines Brunnens gefallen ist, sieht kein Licht, sondern alles schwarz. Damit werden Wahrnehmungen jedoch nicht ausschließliches Konstrukt eines Emotionen besitzenden Subjekts, wenn auch manche Neurobiologen in der Tradition von Descartes und Kant dies meinen. Die Wirklichkeit ist nicht nur ein Konstrukt in unserem Kopf. Wir können nicht erkennen, was wir wollen. Wenn wir eine Farbe sehen oder einen Ton hören, muss in der äußeren Wirklichkeit ein unterscheidbares Etwas sein, was der Möglichkeit nach ein Ton sein kann (Aristoteles). Zum Ton wird es in einem erkennenden Subjekt. (Zum grundsätzlichen Unterschied von Unterscheidungs- und Repräsentationsphilosophien ist Ausführliches in »Die Moderne und Platon« von Arbogast Schmitt zu finden.)

Worin kann der Sinn für den Einfluss von Emotionen auf die Wahrnehmung liegen? Man kann Emotionen als geronnene Lebenserfahrungen des Individuums und seiner Vorfahren betrachten. Diese Lebenserfahrung filtert nun die Wahrnehmung, die dadurch weniger komplex wird. Die Kriterien der Auswahl richten sich nach dem, was sich bisher für das Überleben bewährt hat. In diesem Sinne sind Emotionen Teil der menschlichen Intelligenz.

Wie hängen Kognition und Emotion zusammen?

Die Trennung von Kognition und Emotion steht an der Wiege der Neuzeit und ist daher fest in unserer Vorstellung verankert. Ein konstruierter Gegensatz von Gefühl und Verstand entstammt einer aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Auffassung von der Dreiteilung der Vermögen der Seele (Gefühl, Verstand und Wollen). Diese philosophische Auffassung wird auch in heutigen Emotionstheorien bis in die Neurobiologie hinein vertreten, insofern Gefühlen eine eigene, emotionale Intelligenz zugesprochen wird. Manche Forscher meinen, dass die kognitiven Systeme im Nachhinein die Rechtfertigung für Entscheidungen liefern, die die unbewusst arbeitenden emotionalen Systeme bereits getroffen haben. Die populärwissenschaftliche Literatur ist voll von »Bauch- und Blinkentscheidungen«. Die Auffassung der Moderne, den Verstand Gefühlen als selbstständig gegenüberzustellen, läßt sich aus Descartes' Trennung von Subjekt auf der einen und objektiver Welt auf der anderen Seite ableiten, die durch die Brücke einer schlussfolgernden Vernunft verbunden sind. Doch Gefühle sind keine eigenständigen Akteure. Kognitionen und Emotionen entwickeln sich, wie bereits skizziert, gleichzeitig in einem Prozess, der von den frühen Bindungspersonen gesteuert wird, und sind gespeichert in Konvergenzzonen des präfrontalen Cortex, die kognitive und emotionale Systeme integrieren. Der mediale präfrontale Cortex scheint mit der Funktion verbunden zu sein, uns unsere Regeln zu vergegenwärtigen, der mehr orbitofrontale Cortex (OFC) vermittelt neuronal unsere Werte sowie moralischen Vorstellungen, wenn wir nach dem »Wozu?« und »Warum?« unserer Handlungen fragen. Die Netzwerke des präfrontalen Cortex (PFC) integrieren den emotionalen Einfluss und die vorgegebenen Intentionen auf das, was wir tun. Diese Funktion ist möglich, weil er über Verbindungen zu den Basalganglien und darüber zu motorischen Systemen verfügt.

Emotionale und kognitive Systeme hängen zusammen, das ist sicher; doch das gegenwärtige Wissen, wie beide Systeme zusammenhängen, ist noch lückenhaft. Bekannt ist, dass der PFC enge Verbindungen zur Amygdala hat, die für die Hemmung von Ängsten verantwortlich sind. Bekannt ist ebenfalls, dass bei Ausfall des Rindenbereich OFC der Mensch nicht in der Lage ist, das Risiko seiner Handlungen abzuschätzen und eine moralische Bewertung der Handlungen vorzunehmen. Menschen mit solchen Ausfällen werden affektiv flach und werden sozial sehr auffällig ( Kap. 12; Damásio 2001).

Sicher ist, dass Emotionen durch Lernerfahrungen modifizierbar sind. Einer dieser Lernvorgänge wird als Konditionierung bezeichnet. Leider impliziert dieser Begriff einen automatischen Reiz-Reaktion-Mechanismus, der in dieser reduzierten Einfachheit wohl nicht existiert (Goldstein 1934). Verschiedene Denkakte sind in diesen Prozess involviert. Gefühle durch Lernerfahrungen modifizieren zu können, nutzt die kognitive Verhaltenstherapie. Die Möglichkeit der Erziehung von Gefühlen verweist auf die große Bedeutung der Kultur und war bereits in der Antike ein Ziel der antiken Dramen.

Es ist auch bekannt, dass Imaginationen, ein anderes Wort für unsere bildliche Vorstellungskraft, auf emotionales Befinden und Körper dieselbe Wirkung haben können wie reale Sinneserfahrungen. Gute Schauspieler wissen, dass sie durch Aufrufen innerer Bilder ihr emotionales Erleben und damit ihren Körperausdruck beeinflussen können. Derselbe Vorgang liegt der Wirkung eines Placebo-Präparats zu Grunde: Unsere Vorstellungskraft wirkt auf den Körper. Die übergeordneten Konvergenzzonen vermitteln nicht nur die Wirkung von Placebos, sondern ganz allgemein die Wirkung von Imaginationen, was auch therapeutisch genutzt werden kann ( Kap. 5.1).

Einer dualistischen Gegenüberstellung von Kognition und Emotion ist entgegenzuhalten, dass erstens auch die Großhirnrinde an emotionalen Systemen beteiligt ist, sonst könnten Emotionen dem Ich gar nicht bewusstwerden. Zweitens entstehen Kognitionen und Intentionen sowie die Emotionen in einem Entwicklungsprozess, der von denselben sozialen Erfahrungen gespeist wird. Den unbewussten Erfahrungen kann dabei eine größere Wirkung auf das Verhalten zugeschrieben werden als den bewussten (Roth 2003).

Zusammenfassung: Emotionen sind geronnene Lebenserfahrung des Individuums und seiner Vorfahren. Sie beruhen auf unterscheidender Wahrnehmung von Innen und Außen, sind mit dem Körper verbunden, beinhalten immer Handlungsmuster und erscheinen dem Bewusstsein als Begleitphänomene. Sie sind verknüpft mit basalen Motivationssystemen. Kooperierende, emotionale Netzwerke beeinflussen Wahrnehmung, Gedächtnis, Kognitionen, Handeln und den Körper. Auch die Wahrnehmung ist stimmungsabhängig.

Zentraler Organisator eines Furchtsystems ist die Amygdala, die die umfassende neuronale Vernetzung belegt, die an dem Teil hat, was wir Gefühle nennen.

1.2.3     Die neurophysiologische Stressreaktion und die Wirkung von chronischem Stress

Die basalen, emotionalen Systeme können als ausführenden Kreislauf die neurophysiologische Stressreaktion benutzen. Bewusste und unbewusste Wahrnehmungen von Innen und Außen können die Amygdala veranlassen, eine körperliche Alarmreaktion in Gang zu setzen. In einer ersten Stressreaktion wird Noradrenalin freigesetzt, das die Systeme der Aufmerksamkeit aktiviert und auf die kognitiven Systeme hemmend wirkt, um alle Aufmerksamkeit auf die stressauslösende Situation richten zu können. In einem weiteren Schritt sendet die Amygdala Befehle zur Cortisonausschüttung an unser hormonelles System. Dies geschieht in hierarchisch gegliederten Rückkopplungsschleifen über die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse (HPA-Achse), in deren Zentrum die Produktion der Hormone Cortisol und Adrenalin (Nebennierenmark) steht. Der Hypothalamus schüttet CRF (Corticotropin-Releasing-Factor) aus und aktiviert damit die Hypophyse. Diese schüttet ACTH (adrenocorticotropes Hormon) aus, das die Nebennierenrinde und das Nebennierenmark aktiviert. Am Ende der Reaktionskette stehen das Cortisol, welches das Immunsystem bremst und vielfältige Wirkungen auf den Stoffwechsel hat, sowie das Adrenalin des Nebennierenmarks, welches für die bekannten körperlichen Symptome der Angst mit verantwortlich ist.

Abb. 1.7: Die neurophysiologische Stressreaktion

Darüber hinaus wird über die vegetativen Kerne des Hirnstamms das autonomeNervensystem des Sympathikus und des Parasympathikus (Kerne des Nervus Vagus, des Eingeweidenervs) kontrolliert. Das sympathische System und das Adrenalin finden in allen Organen Andockstellen, die β-Rezeptoren, die die Reaktionen in den Zellen in Gang setzen. Diese Systeme sind dafür verantwortlich, dass der Herzschlag steigt, die Atmung schneller und die Haut feucht wird sowie immunologische Veränderungen eintreten.

Die ausgeschütteten Hormone der neurophysiologischen Stressreaktion entfalten ihre Wirkung jedoch nicht nur an den peripheren Organen, sondern auch im Gehirn. Die Glucocorticoide wirken auf das Gehirn, insbesondere auf den Hippocampus und den Hypothalamus, zurück und hemmen die weitere Stressreaktion. Dieser Feedback-Mechanismus der Glucocorticoide hängt von der Anzahl ihrer Bindungsstellen, den Glucocorticoidrezeptoren (GR), und ihrer Verteilung ab. Die Anzahl der GR ist genetisch bestimmt, aber auch abhängig von frühkindlichen Erfahrungen. Fürsorgliche Rattenmütter, die ihre Kinder viel lecken und pflegen, erhöhen in einem epigenetischen Vorgang die Glucocorticoid-Rezeptoren im Hippocampus ihrer Kinder (Meany 2010). Dadurch kann die Stressreaktion schneller unterbunden werden. Fürsorgliche Bindungspersonen am Anfang des Lebens erhöhen die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber äußeren und inneren Stressoren.

Zusammenfassung: