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Als Joelin endlich aus ihrem verhassten Elternhaus auszieht, hat sie nur eine Tüte mit Kleidung, ihren geliebten CD-Player und die selbstgenähte Decke ihrer Oma dabei. In ihrer neuen Heimat Köln erwartet sie nichts und niemand. Sie ist auf sich allein gestellt - exakt so, wie sie es wollte. Doch schon bald wird ihr die Einsamkeit zum Verhängnis. Merkwürdige Geräusche halten sie nachts wach, Dinge verschwinden auf unerklärliche Weise, und dann ist da plötzlich dieses beunruhigende Video eines anonymen Absenders auf ihrem Handy. Joelin zweifelt zunehmend an ihrem Verstand. Doch die düstere Präsenz in ihrer Wohnung ist noch lange nicht fertig mit ihr … Ein packender Horror-Thriller über die Abgründe der menschlichen Psyche.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Pray for Joelin
Du bist niemals allein
Horror Thriller
Josephine Becker
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Josephine Becker
Umschlag: © 2024 Copyright by Josephine Becker
Lektorat: Sophie Fendel
Verantwortlich
für den Inhalt: Josephine Becker
Semmelweisstraße 4
98724 Neuhaus am Rennweg
Der Glaube versetzt Berge, heißt es in der Bibel.
Aber was passiert, wenn du nicht an das Gute,
sondern an das Böse glaubst?
Das gleichmäßige Klackern der hohen Absätze von Joelins dunkelblauen Pumps hallte von den kahlen Betonwänden wider. Die heutige Feierlichkeit verlangte nach ihren Lieblingsschuhen. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet! In den letzten Jahren hatte sie so viel über sich ergehen lassen müssen – das würde jetzt bald ein Ende haben.
Passend zu den Schuhen trug sie ein eng anliegendes blaues Partykleid. Der mit funkelnden Pailletten besetzte Stoff endete am Oberschenkel und bedeckte nur knapp den Saum ihrer Feinstrümpfe. Dieses gewagte Outfit passte perfekt zum Anlass. Sie war mit Tess vor ihrem Stammclub verabredet. Nur noch eine Gasse trennte sie von dem vereinbarten Treffpunkt. Beim Blick in die düstere Häuserschlucht wurde Joelin jedoch plötzlich unwohl.
An jedem anderen Tag herrschte hier streberische Stille, doch freitagabends lungerten zwielichtige Gestalten in den Schatten der Nacht herum. Der Gestank von billigem Alkohol und Gras stieg ihr in die Nase, während sie an den Grüppchen von betrunkenen jungen Männern vorbeiging. Sie vernahm das Scheppern von zerschellendem Glas hinter sich, als einen der Herren der Übermut packte und er seine Bierflasche auf die Straße warf. Anstößige Ausdrücke flogen ihr entgegen. „Na Süße, wie wär’s mit uns beiden?“ war da noch einer der harmlosesten Aussprüche. Als Joelin nicht darauf reagierte, gingen die Rüpel postwendend zu wüsten Beschimpfungen über. Sie würdigte diese Kerle keines Blickes und setzte stur ihren Marsch fort.
Schwungvoll bog sie um eine letzte Ecke, und vor ihr tauchte die grellblaue Leuchtreklame des Woody’s auf. Vor der hölzernen Schwingtür stand eine zierliche blonde Frau über ihr Smartphone gebeugt und tippte wild auf dem Display herum. Prompt vibrierte es in Joelins Handtasche. Dann sah die Blondine auf.
„Joelin, da bist du ja endlich!“, rief Tess und fiel ihr um den Hals. „Du hast dich ganz schön in Schale geworfen! Dieser Abend soll wohl unvergesslich werden, meine Liebe?“ Der verwegene Ausdruck in ihren blauen Augen ließ Joelin peinlich berührt wegsehen.
„Ich habe dir doch bereits gesagt, dass es mir heute Abend ganz sicher nicht um Kerle gehen wird.“ Joelin verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust. Auf Männer hatte sie wirklich nicht die geringste Lust.
„Wirklich ausgesprochen schade. Uns haben nämlich gerade ein paar sehr nett aussehende Jungs auf einen Cocktail eingeladen. Aber du hast Glück! Ich habe schon zugestimmt.“
„Tess, unsere Abmachung!“ Joelin hätte wissen müssen, dass ihre Freundin Kerle auf ihre Privatparty einladen würde – sie konnte es einfach nicht lassen. Eigentlich sollte dieser Abend nur ihnen beiden gehören.
„Ach, komm schon! Du wirst sie mögen. Ich überlasse dir auch die Wahl. Außerdem verstehe ich sowieso nicht, warum du heute keinen Spaß haben solltest. Diese Regel hast du dir ganz allein auferlegt, und ich werde dich jetzt davon befreien. Ich befehle dir, Spaß zu haben! Verstanden?“
Das überzeugte Joelin wenig. Trotzdem ergriff sie die ausgestreckte Hand ihrer Freundin und ließ sich durch die schwingende Holztür ziehen, die beim Öffnen mächtig Wind erzeugte.
Laute, rhythmische Musik schlug den beiden Frauen entgegen und brachte Joelins Herzschlag aus dem Takt. Tess zog sie in Richtung Bar, an der sich vereinzelte Grüppchen tummelten. Joelin liebte diesen Ort. Er war so ganz anders als die übrigen öffentlichen Treffpunkte in diesem hinterwäldlerischen Kaff. Alles in diesem Club bestand aus Holz. Die Wände ringsum waren damit vertäfelt, unbearbeitete Holzscheiben auf jeweils drei schmalen Beinen bildeten die Tische, und die Theke war ein einziges langes Brett, an dessen Seiten noch die Rinde zu erkennen war.
Sie steuerten auf das hintere Ende der Bar zu, und Joelin erkannte eine Gruppe von drei Männern und einer Frau. Diese kauerte auf einem Barhocker, hatte die Arme um den Hals eines rotblond gelockten Mannes gelegt und küsste ihn innig.
O Gott, bloß nicht die! Kann dieser Abend eigentlich noch schlimmer werden? Bei diesem Anblick stoppte Joelin abrupt, aber Tess schleifte sie unerbittlich weiter auf die Gruppe zu.
„Eve ist auch da? Tess!“, rief Joelin aufgebracht. Sie packte ihre Freundin am Arm und zog sie zurück, aber Tess war stärker.
„Hab dich nicht so!“, brüllte Tess gegen die laute Musik an. „Du musst dich ja nicht mit ihr abgeben. Außerdem hättet ihr diesen doofen Streit schon vor Jahren aus der Welt schaffen sollen.“
Dieser Abend schien überhaupt nicht das zu werden, was sich Joelin versprochen hatte. Tess ließ sich von ihrem mürrischen Gesichtsausdruck jedoch nicht beirren und zerrte sie erbarmungslos mit sich. Erst als sie bei der kleinen Gruppe eintrafen, ließ sie endlich Joelins Hand los. Prompt verschränkte sie die Arme vor der Brust und zeigte damit allen Beteiligten deutlich, was sie von diesem Treffen hielt.
Doch sie kam nicht dazu, demonstrativ den Rückzug anzutreten, denn der Mann, der als Einziger von ihr abgewandt dagestanden hatte, drehte sich nun zu ihr um. Charmant lächelnd reichte er ihr einen Cocktailkelch mit einem blauen Getränk und einem rosa Schirmchen darin.
„Wow! Tess hat nicht gelogen, als sie von dir gesprochen hat“, sagte er, und seine Augen strahlten sie an.
Joelin ergriff zwar den Kelch, aber den lausigen Anmachspruch ließ sie geübt an sich abprallen.
„Das kann sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes bedeuten“, antwortete sie trocken und nippte an dem Cocktail. Das Getränk schmeckte nach Kokosnuss und Apfelsine.
Das Lächeln verging dem Fremden nicht, im Gegenteil, jetzt zuckte er auch noch verführerisch mit den Augenbrauen. Sein kurzes schwarzes Haar hatte er gleichmäßig zur Seite gegelt. Er trug eine ebenso schwarze Hose und ein dazu passendes dunkles Hemd, bei dem er die obersten drei Knöpfe gewagt offen gelassen hatte. Dieser Typ sah unleugbar attraktiv aus, was Joelin ihn jedoch mit Sicherheit nicht wissen lassen würde.
„Ich mag dich jetzt schon“, flüsterte er ihr durch die blauen Locken ins Ohr. „Deine Tattoos sind echt cool!“ Er deutete auf die Astronautin auf ihrem Oberarm und linste nach den Sternen in ihrem Ausschnitt. Dann wandte er sich dem Kerl zu seiner Rechten zu – einem Mann wie ein Bär, mit dem kräftigen Nacken eines Schwimmers und einem ordentlich gestutzten Bart. Eine glänzende Glatze vollendete das Bild. Sein hochgeschlossener weißer Pullover saß so eng, dass sich seine muskelbepackten Oberarme darunter deutlich abzeichneten. In Kombination mit seiner ausgewaschenen Bluejeans stand sein Outfit in krassem Kontrast zu der dunklen Kleidung seines Freundes.
„Darf ich vorstellen? Das ist Bastian, und der knutschende Casanova da drüben ist Freddy“, erklärte der Fremde ihr unaufgefordert und klopfte dabei seinem Kumpel in Weiß auf die Schulter. „Eve kennst du schon, wie ich gehört habe. Ich bin Nic. Freut mich sehr, dich kennenzulernen.“
„Joelin“, antwortete sie knapp. Sie war nicht erfreut, dass Eve bereits von ihr gesprochen hatte. Wer wusste schon, was diese arrogante Ziege alles über sie preisgegeben hatte?
Doch Nic ergriff unerwartet ihre Hand mit dem Cocktailglas und nahm ihr das Getränk wieder ab. Er reichte es Bastian und stand auf. „Hast du Lust zu tanzen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sie auf die Tanzfläche, und schon bald legte er eine flotte Sohle zwischen den anderen Tanzenden hin. Joelin war zum ersten Mal an diesem Abend positiv überrascht. Nic wusste, wie man mit seinen Bewegungen spielte. Gerade vollführte er eine kompliziert aussehende Drehung, um dann vor Joelin auf die Knie zu fallen und ihr erneut die Hand zum Tanz anzubieten. Sie musste unwillkürlich lachen, als sie seinen feurigen Gesichtsausdruck sah, und ließ sich erweichen.
Joelin musste feststellen, dass Nic eine wirklich einnehmende Persönlichkeit hatte. Sein charmantes Auftreten wurde von seiner klugen Ausdrucksweise noch übertroffen, und er schaffte es immer, genau die richtigen Worte zu finden. Sie tanzten so lange miteinander, bis ihnen der Schweiß von der Stirn lief und Joelin schwer atmend eine Pause einforderte. Lachend kehrten sie zu der kleinen Truppe an der Bar zurück, wo Nics kahlköpfiger Freund noch immer mit ihrem Cocktailglas saß – nur dass es jetzt leer war und sich ein Whisky-Tumbler dazugesellt hatte.
„Bastian, du solltest ihr Getränk halten und nicht trinken!“, sagte Nic und fügte an Joelin gewandt hinzu: „Ich muss meinen Freund entschuldigen, er weiß manchmal nicht, was sich gehört.“ Dann bestellte er ihr einen neuen Drink.
„Du hast ja auch den Glücksgriff gemacht“, brummte der Kerl namens Bastian leise und nahm einen großen Schluck aus seinem Whiskyglas, während er sich wieder Tess zuwandte. Diese hielt gerade eine Rede über ihren Ex-Freund.
„Hey, was haltet ihr davon, wenn wir es uns gemütlicher machen?“, brüllte Freddy ihnen über die Köpfe der anderen Gäste hinweg zu. Es war das erste Mal, dass Joelin ihn sprechen hörte. Die gesamte Zeit über hatte er nur mit Eve geknutscht, was Joelin nur recht gewesen war. Seine Stimme klang anders, als sie erwartet hätte: schrill und durchdringend.
Die drei Jungs waren sich sofort einig und stießen sich gegenseitig feixend die Ellenbogen in die Rippen. Eve stand bereits auf, Freddy hatte seinen mächtigen Arm um ihre Schulter gelegt. Tess sah Joelin bittend an. Sofort war ihr klar, dass ihre Freundin nicht abgeneigt war. Nur war es ganz und gar nicht das, was Joelin wollte. Der Abend verlief bis jetzt überhaupt nicht wie geplant – sie hatten keine Männer dabeihaben wollen, eigentlich wollten sie nur tanzen, etwas trinken und Spaß haben. Zu zweit! Nun befanden sie sich in einer Gruppe, und die Hälfte davon waren Kerle.
Joelin zog Tess beiseite. „Wir sollten uns jetzt von denen trennen. Du hattest deinen Moment, Tess. Lass uns hierbleiben und noch etwas tanzen.“
„Was hast du denn? Du hast dich doch bestens mit Nic verstanden. Ich weiß, es fällt dir schwer, aber sei ein bisschen lockerer. Wenn dir irgendwas unangenehm ist, gehen wir sofort, versprochen!“
Noch bevor Joelin etwas sagen konnte, stand Nic schon wieder hinter ihr. „Gibt’s ein Problem?“
„Ich musste nur kurz mit meiner Freundin unter vier Augen sprechen.“ Joelin blickte ertappt weg. Tess’ Worte hatten sie verletzt. Wenn sie etwas nicht konnte, dann war es entspannen. Ihre Freundin wusste doch genau, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Warum war sie jetzt so taktlos?
„Wir müssen nicht zu Freddy gehen, wenn dir das unangenehm ist“, sagte Nic sanft. „Ich bleibe auch gern mit dir hier und wir tanzen noch ein bisschen.“
Seine einfühlsame Art überwältigte Joelin. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Nein, ist schon in Ordnung. Wir gehen also zu Freddy?“, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
„Ja, er wohnt hier gleich in der Nähe, und auf seinem Dachboden hat er ein echt gemütliches Party-Zimmer eingerichtet. Ein Blick lohnt sich wirklich!“ Seine aufmunternden Worte machten es Joelin unmöglich, Nein zu sagen.
Sie gingen die dunkle Straße entlang. Freddy und Bastian liefen voraus, sehr zum Verdruss von Eve, die keine Jacke trug und offenkundig zitterte. Doch das schien ihren Begleiter wenig zu interessieren. Tess schloss gerade zu Bastian auf, der nur einen kurzen Blick für sie übrighatte – wovon sie sich offenbar keineswegs entmutigen ließ.
Nic und Joelin hatten sich zurückfallen lassen und bildeten die Schlusslichter. Er sah sie immer wieder von der Seite her an, bis sie es nicht mehr aushielt.
„Hab ich irgendwas im Gesicht?“, fragte sie und bedachte ihn mit einem drohenden Blick.
„Eigentlich fehlt deinem Gesicht etwas.“
„Was meinst du?“
„Ich warte auf ein Lächeln. Das steht dir nämlich verdammt gut.“
Joelin spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Wie schaffte er es nur, so zielsicher ihren wunden Punkt zu treffen?
„Keine Sorge, ich mag dich auch so“, fügte er hinzu und knuffte sie sachte an der Schulter, weil Joelin zur Antwort nur die Augen verdrehte.
Freddy und Bastian machten vor einem großen Fachwerkhaus halt, und Freddy zog seine Schlüssel aus der Hosentasche. Das Metall klickte im Schloss, und die Tür sprang auf.
Das Innere des Hauses wirkte überraschend steril. Das Weiß der Wände wurde nur durch das offengelegte Fachwerk unterbrochen. Hintereinander stiegen sie eine steile Treppe hinauf, bis die Wände an Schräge gewannen und sie sich unter dem Dach befanden. Nic hatte nicht übertrieben. Der Raum war modern eingerichtet und in Grau gehalten. Ein halbrunder Kaminofen befand sich im Zentrum des Zimmers. Davor lud eine U-förmige Couchgarnitur zum Verweilen ein. Die Dachbalken waren mit Lichterketten umwickelt, die ihr schummriges Licht in jeder Ecke verbreiteten. Verschiedene Instrumente standen überall herum.
Freddy griff sich eine Gitarre, ließ sich auf die Couch sinken und begann, eine ruhige Melodie zu spielen. Die anderen folgten seinem Beispiel, und eine Weile lauschten sie alle wie gebannt, bis Eve die gemütliche Stimmung ruinierte und Freddy die Gitarre abnahm, um ihn erneut zu küssen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Nic.
„Kein Plan“, kam es von Freddy. „Auf was haben die Mädels denn Lust?“ Jeder hier im Raum wusste, worauf Eve Lust hatte, doch Freddy schien das nicht besonders ernst zu nehmen.
„Wie wäre es mit noch mehr Musik? Ich würde so gern Bastian spielen hören.“ Tess sah zu dem Mann in Weiß hinüber, und es lag ein Glanz in ihren Augen, der von dem Wein kommen musste, den Nic ihr soeben gereicht hatte.
„Bloß nicht!“, sagte Nic scherzhaft, während er Joelin ebenfalls ein großzügig gefülltes Glas hinhielt und sich dann zu ihr setzte. „Bastians Musikstil ist gruselig. Dann können wir uns auch gleich Geistergeschichten erzählen.“
In Bastians Augen lag nun ein gekränkter Ausdruck, und eine peinliche Stille trat ein.
„Warum eigentlich nicht?“, fragte Joelin. „Ich liebe Geistergeschichten.“
Alle sahen sie überrascht an. Für einen Moment verblüffte sie die Reaktion der anderen. Dann wurde ihr bewusst, wie selten sie gesprochen hatte, seit sie sich in der Bar getroffen hatten. Es war ihr beim besten Willen auch nichts eingefallen, und in Eves Nähe vermied sie sowieso tiefgründigere Gesprächsthemen. Aber wenn es jetzt um Übernatürliches ging, könnte der Abend vielleicht doch noch spannend werden.
„An was hast du dabei gedacht, an Lagerfeuermärchen?“, fragte Nic und richtete sich auf seinem Platz auf.
Doch bevor Joelin antworten konnte, meldete Eve sich zu Wort.
„Ja, wie wäre es mit einer Geisterbeschwörung?“ Sie warf Joelin einen hasserfüllten Blick zu.
Joelin wusste genau, worauf Eve anspielte. Gleich würde sie allen von ihrem Zwist erzählen, und Joelin stünde in einem völlig falschen Licht da. Sie erhob bereits die Stimme und hatte ein sarkastisches Widerwort auf den Lippen, als Bastian sie übertönte.
„Das wollte ich schon immer mal machen. Hat doch was Aufregendes, findet ihr nicht?“
„Gut, abgemacht!“, sagte Eve. „Dank Joelin weiß ich auch, wie das geht. Wir benötigen Zettel, Stifte und jede Menge Kerzen.“
Freddy schien von ihrem Befehlston überrollt worden zu sein und reagierte nicht sofort. Sie stupste ihn hart in die Seite, worauf er aufsprang und skeptisch dreinblickend zum Schreibtisch hinüberging.
„Ich finde, das ist keine gute Idee“, meldete sich Tess zu Wort.
„Mach dir keine Sorgen, Baby! Ich werde dich beschützen.“ Bastian legte den Arm um sie, doch sie sah eher ungläubig drein.
Unterdessen kam Freddy mit den benötigten Utensilien zurück und reichte sie Eve.
Diese hielt jedem einen Stoß Zettel entgegen.
„Schreibt das Alphabet und die Zahlen von null bis neun auf. Ich zünde die Kerzen an.“
„Machen wir das jetzt wirklich?“, fragte Tess entgeistert, als Nic und Joelin die weißen Papiere entgegennahmen.
„Klar!“, tönte Nic – zweifellos, um Joelin zu imponieren.
Prompt stand Tess von ihrem Platz neben Bastian auf und ging zu Joelin hinüber. „Wenn das so ist, sitze ich lieber bei Joelin“, sagte sie mit zittriger Stimme und ließ den verwirrten Bastian zurück.
Gemeinsam beschrifteten sie die Zettel mit den Buchstaben, was sich zu einem heillosen Durcheinander entwickelte. Am Ende hatten sie fast die Hälfte des Alphabets doppelt aufgemalt. Die Zahlen fehlten dafür komplett. Unter Gelächter und lautem Fluchen von Freddy, der aufstehen musste, um neues Papier zu holen, schafften sie es schlussendlich, ein Hexenbrett auf den Holzdielen nachzustellen. Bastian leerte seinen Gin Tonic in einem Zug und stülpte das Glas verkehrt herum auf den Boden. Eve schaltete die Lichterketten aus, sodass der Raum nur noch von den fünf Kerzen erleuchtet wurde.
„Wie sollen wir denn so erkennen, was uns der Geist textet?“, fragte Nic belustigt und starte in die Richtung, in welcher er Eve vermutete.
„Macht euch nicht lächerlich! Wir müssen nur die Buchstaben sehen.“ Eve ließ sich neben Freddy auf den Boden sinken. Alle anderen taten es ihr gleich, und sie bildeten einen Kreis um das Hexenbrett.
„Los, jeder legt einen Finger auf das Glas“, befahl Eve und blickte jeden Einzelnen von ihnen finster an. Auf Joelin haftete ihr Blick besonders lange.
Die Herren der Runde folgten ihrem Befehl augenblicklich, doch Tess und Joelin zögerten. Sie sahen sich fragend an.
„Na? Bist wohl nicht so taff, wie du immer tust?“, sagte Eve höhnisch.
Joelin wusste, dass dies keine gute Idee sein konnte. Vor allem nicht nach dem, was damals mit Eve vorgefallen war. Allerdings brachte sie Eves Verhalten derart in Rage, dass sie aus Trotz den Finger auf das Glas legte. Nun war Tess gezwungen einzusteigen. Joelin spürte, dass die Hand ihrer Freundin zitterte, als sie das Gefäß ebenfalls berührte.
Kaum dass alle ihren Beitrag geleistet hatten, erhob Eve ihre helle Stimme. „Ihr Seelen der Nacht, erhöret uns! Wir rufen euch an, mit uns zu sprechen. Erzählt uns eure Geschichte, wir sind bereit zu lauschen. Ist jemand da?“ Sie richtete den Blick zur Decke, als säße jemand auf einem Balken unter dem Dach.
„Ist jemand da?“, wiederholte sie mehrere Male, bis das Glas unter ihren Fingern plötzlich zuckte. Tess schrie auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Alle anderen wechselten nur stumme Blicke.
Bastian erlangte als Erster die Fassung wieder. „Wer stellt die erste Frage?“
Erneut war es Eve, die laut in die Runde rief. „Ist Joelin eine miserable Freundin?“, fragte sie an das Glas gewandt. Augenblicklich setzte es sich in Bewegung, um das Wort „Ja“ zu buchstabieren.
„Eve, ich kann spüren, dass du schiebst“, ermahnte Freddy sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Tu ich gar nicht!“, protestierte sie.
Doch auch Nic und Bastian stimmten Freddy zu.
„So macht das keinen Spaß, Eve. Du musst schon mitmachen. Immerhin war es deine verdammte Idee!“
„Ja, Nic hat recht“, pflichtete Bastian seinem Freund bei. „Ich möchte mir nicht diese Arbeit gemacht haben, um jetzt keine Ergebnisse zu sehen.“
Doch es war Joelin, die alle zum Schweigen brachte.
„Ihr verhöhnt die Geister“, sagte sie mahnend.
Freddy prustete los und machte gespenstische Geräusche.
„Wuuuhhhhuuu! Was für böse Buben wir doch sind!“ Allerdings genügte ein Blick von Joelin, um ihn das Grinsen vergehen zu lassen.
„Es gibt Regeln, die wir beachten müssen, wenn wir wirklich mit einem Verstorbenen reden möchten.“
„Du musst es ja wissen, Joelin!“, sagte Eve mit giftigem Unterton. Sie schien die Sache von damals nicht vergessen zu haben.
Joelin überging die Spitze und sprach einfach weiter.
„Wir müssen alle gleichzeitig das Glas berühren. Außerdem dürfen wir den Kreis nicht durchbrechen, bevor wir den Geist nicht verabschiedet haben. Unsere Fragen müssen immer höflich und als Bitte formuliert sein. Und verkneift euch eure Sprüche!“ Noch einmal sah sie grimmig zu Freddy, dann hielt sie die Hände startbereit über das Glas. „Seid ihr so weit?“
Zur Antwort legten alle einen Finger auf den Glasboden.
Joelin sprach in die Dunkelheit hinein. „Ihr Seelen, wir rufen euch! Ist jemand da? Ihr Seelen, wir rufen euch! Sprecht zu uns!“
Sie wiederholte die Worte unzählige Male, doch nichts geschah. Dann, gerade als Freddy genervt den Finger vom Glas nehmen wollte, ließ ein kräftiger Windstoß die Flammen der Kerzen aufflackern.
„Wow! Was war das?“, fragte Bastian.
Aus den Mienen der anderen war abzulesen, dass ihnen der Schreck in alle Glieder gefahren war.
Joelin legte einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann erhob sie wieder die Stimme.
„Wir haben dein Zeichen empfangen und danken dir dafür. Möchtest du mit uns sprechen?“
Stille war eingetreten. Nichts und niemand regte sich.
„Bist du noch da?“, fragte Joelin.
Plötzlich hob das Glas einen Zentimeter vom Boden ab. Wieder schrie Tess und hätte beinahe losgelassen.
„Niemals den Finger vom Glas nehmen!“, mahnte Joelin.
Ängstlich presste Tess sich an sie.
„Möchtest du nicht mit uns sprechen?“, fragte Joelin wieder an das Glas gerichtet, und es wurde still. Dann, ganz langsam, setzte es sich in Bewegung und formte ein Wort, bestehend aus vier Buchstaben.
D – O – C – H
Ein Keuchen ging durch die kleine Runde, aber Joelin beachtete es nicht. Sie war ganz in ihrem Element.
„Darf jemand dich etwas fragen?“, fragte sie.
Es funktionierte. Das Glas setzte sich in Bewegung und buchstabierte einen Namen.
E – V – E
Joelin biss die Zähne zusammen. Mit gepresster Stimme sagte sie: „Eve, du darfst eine Frage stellen.“
Überrascht sah sie Joelin an. Doch die Verwunderung wich rasch Hohn, und sie fragte spöttisch: „Ist Joelin eine miserable Freundin?“
Das Glas setzte sich dieses Mal stockend in Bewegung und benötigte mehr Zeit, um das Wort zu buchstabieren. Erst ein M, dann drehte es einige Runden, um zum nächsten Buchstaben zu gelangen. Darauf folgte das I, dann das S, wieder fuhr es wilde Kreise, um zum E zu finden. Das Glas wurde immer schneller und rauschte zum R und dann zum A, um direkt zum B weiterzurasen und schließlich zum E zurückzukehren. Die hektische Fahrt endete abrupt auf dem L, und alle keuchten.
„Miserabel!“, sagte Joelin laut, und Eve lachte ketzerisch. In Joelin kochte die Wut hoch. Doch sie durfte dieser jetzt nicht freien Lauf lassen. Sie kniff die Augen zusammen und erhob ein letztes Mal die Stimme.
„Wir danken dir und entlassen dich nun aus dieser Runde.“
„Hey, warte!“, rief Freddy. „Wir wollen auch noch unsere Fragen stellen.“
Doch Joelin ließ sich nicht erweichen.
„Wir danken dir und verabschieden dich aus dieser Runde!“, sagte sie lauter.
Gerade, als sich Freddy lautstark Gehör verschaffen wollte, wurden alle Kerzen mit einem Stoß ausgeblasen. Es war plötzlich stockfinster auf dem Dachboden. Tess schrie ein drittes Mal an diesem Abend auf und klammerte sich an Joelin. Nic tastete neben ihr wild suchend umher und berührte dabei sanft ihr Bein. Bastian brummte genervt und von Eve war ein lautes „Aua!“ zu hören. Dann erhellte das Licht der Deckenlampe das Zimmer und brannte schmerzhaft in Joelins Augen. Freddy stand im Türrahmen, den Finger am Lichtschalter. Joelin war die Einzige, die das Glas noch berührte.
„Was, verdammt noch mal, war das?“, fragte Nic.
Joelin wartete keine Antwort ab. Sie sprang auf, ergriff ihre Handtasche und rannte zur Tür.
„Joelin, warte!“, hörte sie Nic hinter sich rufen, aber sie blieb nicht stehen. Sie stürmte an Freddy vorbei und rempelte ihn dabei hart an der Schulter an, jagte die Stufen hinunter, hastete zur Haustür hinaus und befand sich auf der leeren Straße. Der kühle Nachtwind blies ihr eine blaue Haarsträhne ins Gesicht. Blindlings eilte sie die Gasse entlang.
Sie hätte dieses Spielchen nicht mitspielen dürfen. Doch ihr Stolz hatte sie wieder einmal dazu getrieben. Wieso hatte das Glas auf diese Weise geantwortet? War sie tatsächlich eine miserable Freundin? Oder hatte Eve wieder die Finger im Spiel? Aber wie hatte sie das mit den Kerzen und dem abhebenden Glas gemacht? Tränen stiegen Joelin in die Augen. Sie wollte nur nach Hause. Dann fiel ihr ein, was dort auf sie wartete, und die ersten heißen Tropfen kullerten ihr über die Wangen.
Plötzlich packte sie eine starke Hand an der Schulter und zerrte sie zurück. Joelins Schrei war sicher noch drei Straßen weiter zu vernehmen. Sie versuchte, die Person wegzudrücken, die sie gepackt hatte. Dann erkannte sie wer ihr gefolgt war und ihr Widerstand erlahmte.
„Joelin, du kannst doch nicht einfach so weglaufen!“, sagte Nic und schloss sie in eine feste Umarmung.
Sie ließ die Berührung zu. Die Tränen flossen ihr in Sturzbächen über das Gesicht, das sie an seiner Schulter verbarg. Aber sie erwiderte nichts. Dazu war sie auch gar nicht in der Lage.
„Was war da oben denn los?“, fragte Nic nach einer Weile.
Joelin wischte sich ihr nasses Gesicht am Ärmel ihrer Jacke ab. „Solche Dinge geschehen bei der Beschwörung eines Geistes“, sagte sie betont trocken, um die Fassung wiederzuerlangen.
„Das meinte ich nicht. Was ist mit dir und Eve los?“
Diese Frage überraschte sie. Nic schien sie wirklich aufmerksam beobachtet zu haben. Er war einfühlsam und rücksichtsvoll. Vielleicht hatte sie heute mit ihm einen echten Glückstreffer gelandet.
„Komm“, fügte er hinzu, „ich weiß einen netten Ort, an dem wir es uns bequem machen können.“
Er führte sie die Straße entlang, durch zwei schmale Gässchen und in den Garten eines Privatgrundstücks. „Hier sind wir auch schon.“
Joelin blickte auf einen Pavillon mit weiß gestrichenen, reich verzierten Säulen, an denen Efeu emporwucherte.
„Dürfen wir überhaupt hier sein?“, fragte sie. „Das Grundstück gehört doch sicher irgendjemandem.“ Leise Bedenken vernebelten ihren Verstand und ließen sie zurückweichen.
„Es wird niemand etwas dagegen haben, solange wir nichts kaputt machen“, erwiderte Nic und zog sie an der Hand vorwärts. „Vertrau mir!“
Joelin ließ sich mitreißen. Sie beugten sich über das Geländer und blickten in eine Schlucht. Über ihnen eröffnete sich das weite Himmelszelt, und von hier aus hatte man einen perfekten Blick in die Sterne. Es war traumhaft schön.
„Also, was ist zwischen dir und Eve vorgefallen?“
Joelin wandte den Blick von den Sternen ab und starrte auf ihre nervös zuckenden Hände.
„Ich bin nicht stolz darauf“, begann sie und scharrte mit den Füßen.
„Wir alle haben Dinge getan, auf die wir nicht stolz sind“, sagte Nic aufmunternd und beugte sich hinab, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
„Vor einigen Jahren war Eve mit meinem Kumpel Benjamin zusammen. Wir waren schon lange gute Freunde. Er hat mir erzählt, dass er zu feige sei, mit ihr Schluss zu machen. Also habe ich mir etwas einfallen lassen, um ihm zu helfen. Wir haben eine Séance inszeniert, und ich stellte die Fragen. Am Ende sollte alles darauf hindeuten, dass Eve die Beziehung mit Benni beenden musste. Das hat sie zum Schluss dann auch tatsächlich getan – aus Angst.“
„Und diese Geschichte hat sie dir derart übel genommen?“, fragte Nic, jetzt offenkundig verwundert.
„Die Geschichte geht noch weiter. Tess war damals auch dabei, und sie hat davon gewusst. Sie muss sich vor Eve irgendwie verplappert haben. Jedenfalls hat Eve herausgefunden, was wir getan haben.“
„Warum hat sie nicht einfach mit dem Kerl darüber gesprochen?“
„Weil in der Zwischenzeit Benni und ich ein Paar geworden waren“, sagte Joelin betreten und sah auf.
„Autsch!“ Nic schmunzelte. „Ich würde mal sagen, das ist richtig dumm gelaufen. Ich finde trotzdem, dass du dich deswegen nicht fertigmachen solltest. Wie gesagt, wir haben alle mal Dummheiten gemacht.“
„Ach ja? Welche Dummheiten hast du gemacht?“, fragte sie ihn herausfordernd.
„Ich? Keine. Ich bin perfekt!“, witzelte er, und Joelin musste lächeln.
„Oh, da ist es ja!“, sagte er aus dem Nichts heraus.
„Was meinst du?“
„Das Lächeln, das dich so verdammt gut aussehen lässt.“
In Joelins Magengegend kribbelte es heftig. Nic beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft, was einen warmen Schauer durch ihren ganzen Körper jagte. Er zog sie an sich, und sie ließ sich in seine Arme sinken. Eigentlich hatte sie genau das vermeiden wollen, denn sie wusste, dass nichts, was heute Nacht geschehen würde, eine Zukunft haben konnte. Doch seine Lippen fühlten sich so verdammt verführerisch an, dass sie es einfach passieren ließ.
Sie küssten sich so leidenschaftlich, dass Joelin für einen Moment darüber nachdachte, ihre eigenen Regeln zu missachten und Nic von ihrem neuen Wohnort zu erzählen. Dann rauschten ihr die Erinnerungen an die letzten Jahre durch den Kopf, und sie verwarf diesen törichten Wunsch wieder.
Zaghaft ließ Nic seine warme Hand unter ihr Kleid wandern und zu ihrer Brust hinaufgleiten. Sie drückte sie für einen Moment fester an sich, doch schob sie gleich darauf wieder weg.
„Wir sollten das nicht tun.“
„Du hast recht, dies ist nicht der richtige Ort. Es tut mir leid.“ Er zog die Hand unter ihrem Kleid hervor. Die Berührung erzeugte eine angenehme Gänsehaut auf Joelins Körper, was ihr ein Stöhnen entlockte. Nic ließ ihren Verstand verrücktspielen.
Eilig richteten sie ihre Kleider und lächelten sich dabei immer wieder an.
„Hast du Lust, morgen mit mir essen zu gehen?“, fragte Nic, während er seine Frisur glättete.
„Das geht nicht.“ Joelin spürte, dass sie rot wurde.
„Oh, okay? Und was ist mit Samstag? Wir könnten uns eine Pizza bestellen und einen Film anschauen.“
Aber Joelin musste auch diesen Versuch abschmettern. „Das geht leider auch nicht, Nic. Diese Party heute Abend … Das war meine Abschiedsparty, weißt du? Ich ziehe weg, schon morgen.“
Nic sah sie mit großen Augen an. Bestürzung lag in seinem Blick.
„Oh, ich verstehe. Vielleicht kann ich dich ja besuchen kommen? Ich habe im Januar eine Woche frei, und wir könnten …“
„Hör zu, Nic. Das Letzte, was ich will, ist, dich zu verletzen. Du warst wirklich das Beste an diesem Abend. Aber ich gehe aus gutem Grund von hier fort, und ich möchte nichts, rein gar nichts von hier mit in mein neues Leben nehmen. Das soll ein Neubeginn werden, und das kann ich nicht mit Ballast im Schlepptau.“
Nic starrte sie noch immer entsetzt an. Er begriff und begriff auch nicht, was da gerade vor sich ging.
„Es tut mir so leid, dass ich nicht eher etwas gesagt habe, Nic.“
„Kein Problem. Darf ich wenigstens wissen, wohin die Reise geht?“, fragte er, jetzt mit einem bitteren Unterton. Er war verletzt, das konnte sie deutlich hören.
„Ich ziehe nach Köln“, antwortete Joelin knapp.
„Das ist wirklich nicht gerade um die Ecke, und auch kein Vergleich zu diesem kleinen Städtchen hier“, antwortete er mit ungläubigem Unterton.
„Köln ist echt verdammt groß, und der Gedanke an den Umzug macht mir auch ein wenig Angst. Aber ich bin mir sicher, dass alles besser ist, als mein Leben hier.“
„Wenn du dich jemals fürchtest, dann sag einfach folgende Worte, Joelin: Ich bin niemals allein. Das habe ich auch immer getan, wenn mir irgendwas Angst gemacht hat.“
Sie nickte und sah in seine großen braunen Augen, doch er blickte nicht mehr zu ihr hinab. Sie wollte sich nicht auf diese Weise von ihm verabschieden. Also legte sie ihm sanft die Hand auf die Brust und küsste ihn ein letztes Mal. Plötzlich loderte da ein Feuer in seinen Augen, das in dem Moment entfacht worden zu sein schien, als sich ihre Lippen ein letztes Mal berührten. Der Abschied würde ihr nun doch schwerer fallen als gedacht.
Joelin ließ ihren Blick durch die kahle Wohnung schweifen. So überstürzt, wie sie aufgebrochen war, so sah es hier nun auch aus. Viel Platz gab es nicht. In einer Ecke standen ein paar Tüten mit den wenigen Habseligkeiten, die sie besaß. Darüber erstreckten sich zwei deckenhohe Fenster mit weißen Holzrahmen, an denen stellenweise die Farbe abblätterte. Vorhänge gab es keine. Joelin hasste diese muffigen Stoffbahnen, die nur zerknitterten und nach Staub rochen.
Außer der aufblasbaren Matratze, die sie vor drei Tagen in dem Geschäft um die Ecke gekauft, und der Decke, die sie von ihrer Oma einst geschenkt bekommen hatte, war die Wohnung fast leer. Die Vormieter hatten Joelin ihre alte Küche überlassen. Die roten Türen und schwarzen Griffe waren schon etwas ramponiert und abgegriffen. Aber Joelins Dankbarkeit für die provisorisch reparierten Schränke und die zerkratzte Herdplatte war kaum zu übertreffen. Sie hatte keine Möbel von zu Hause mitgenommen. Wie hätte sie diese auch im Zug transportieren sollen?
Es war höchste Zeit, diesen Weg zu gehen, dachte Joelin grimmig. Vor ihrer Abreise hatte Franka ihr noch eine äußerst nette Botschaft mit auf den Weg gegeben. Wenn Joelin sich die Worte ihrer Mutter in Erinnerung rief, legte sich eine dunkle Wolke über ihr Gemüt. „Ich kann das nicht länger mit dir!“, hallte es in ihrem Kopf wider. Aber jetzt war sie auf dem besten Weg, all dem endlich zu entfliehen. Diesmal wirklich. Vor zehn Jahren war schon einmal der Entschluss in ihr gereift auszuziehen, doch sie hatte sich vom Gegenteil überzeugen lassen. Schuld daran war ihr Ex-Freund gewesen.
Frankas ständiges Gerede über die Sorgen, die sie sich um ihre einzige Tochter machte, hatte bereits zu Joelins sechzehntem Lebensjahr an Bedeutung verloren. Ihre Mutter zeigte niemals echtes Interesse an ihr. Was die Nachbarn über die Familie denken könnten, war schon immer wichtiger gewesen. Dafür mischte sich Franka trotzdem fortlaufend in ihr Leben ein – so wie es eine gute Mutter eben tat, lautete ihre Begründung dann.
Bullshit, fand Joelin.
„Wir müssen reden!“, hatte Franka zum Schluss fast täglich gesagt. Dabei gab es nichts zu bereden. Was brachte es, Joelins Fehler aus der Vergangenheit ständig neu aufzurollen? Die reine Zeitverschwendung! Auch jetzt konnte sie Franka bildlich vor sich sehen, wie sie mit verschränkten Armen im Türrahmen stand und sie strafend anblickte, weil sie keine Antwort auf ihre vielen Fragen erhielt. Nicht selten hatte Joelin ihr die Tür vor der Nase zugeknallt, abgeschlossen und ihr lautstark geraten, sich aus ihrem Leben herauszuhalten. Vielleicht war sie zu hart zu Franka gewesen? Doch ihre Mutter hatte sich dafür bei ihr revanchiert. Gegen die letzten Worte an ihre Tochter verblassten Joelins Taten. Nach ihrer letzten Unterhaltung waren ihr die immer wiederkehrenden Verletzungen endgültig zu viel geworden. Sie hatte sich ihre Sachen geschnappt und war zu Tess geflohen.
Aber Joelin hatte sich vorgenommen, keinen weiteren Gedanken an ihre Eltern zu verschwenden. Jetzt war sie weit genug von ihnen entfernt, um sie nie wieder sehen zu müssen. Alle Anspannung war von ihr abgefallen, als sie endlich die Zusage für die Wohnung in den Händen gehalten hatte. Obwohl Kölns überfüllte Straßen ihre Knie so manches Mal zum Zittern brachten, hatte sie hier zum ersten Mal das Gefühl, frei zu sein und erhobenen Hauptes der Welt entgegentreten zu können. Hier kannte sie niemand. Keiner würde über sie urteilen. Endlich konnte sie wachsen und sich frei entfalten.
Ihr Stolz hatte nicht zugelassen, sich persönlich bei Franka zu verabschieden, und einen Brief zu verfassen, erschien ihr wie der blanke Hohn. Wahrscheinlich wäre in dieser Nachricht kein einziges wohlwollendes Wort zu finden gewesen. Dennoch hatte Joelin ihre neue Adresse bei ihrer Mutter hinterlassen. Köln war von ihrem Heimatort Hunderte von Kilometern entfernt, sodass keine Gefahr bestand, dass Franka ihr einfach so über den Weg lief. Ebenso wenig wie Joelins Vater. Wo er aktuell wohnte, wusste sie nicht einmal. Vielleicht würde er nun zu Franka zurückkehren, jetzt, da Joelin ausgezogen war? Auf diese Bedingung hatte er besonderen Wert gelegt, bevor er seine Sachen gepackt hatte und verschwunden war.
Doch diese Geschichte bildete ein anderes Kapitel in ihrem Leben und verblasste nach all den Jahren schon allmählich. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Joelin blickte niemals zurück. Das hatte sie sich bereits im Alter von sechzehn Jahren geschworen.
Der Blick nach vorn war jedoch gar nicht so rosig, stellte sie mal wieder fest, als sie ihre karge neue Wohnstätte betrachtete. Das Einzige, was sie vor ihrer Abreise organisiert hatte, war ein Job in einer Bibliothek ganz in der Nähe ihrer Einraumwohnung. Allerdings konnte sie erst in zwei Monaten dort anfangen. Bis dahin musste sie mit ihrem wenigen Ersparten auskommen. Es reichte gerade für die Miete und dafür, ihren Magen zu füllen. Wenn sie gezielt haushaltete, würde vielleicht noch ab und zu ein Kaffee herausspringen. Sie hatte von einer Kaffeerösterei stadtauswärts gehört, die die unterschiedlichsten Kaffeesorten und Geschmacksrichtungen anbieten sollte. Sobald sie etwas Geld verdient hätte, würde sie in diesem Laden vorbeischauen, versprach sie sich.
Koffein war das einzige Laster, das von den vielen anderen übrig geblieben war. Joelins krankhaftes Verlangen nach Beruhigungsmitteln hatte sie zum Schluss fast all ihre echten Freunde gekostet. Dagegen war ihre aktuelle Koffeinsucht ein Witz. Nach ihrem Absturz wollten nur noch wenige Menschen mit ihr in Verbindung gebracht werden, und die hatten sich inzwischen über den gesamten Globus verteilt. Abgesehen von ihnen kamen nur Leute zu Joelin, wenn sie sich etwas von ihr erwarteten – so wie Tess, die vor ein paar Tagen nicht allein hatte ausgehen wollen. Da war eine angebliche Abschiedsparty doch ein perfekter Vorwand gewesen.
Maja war eine der wenigen, die sich als echte Freundin entpuppt hatte. Allerdings hatte sie schon seit Monaten nichts mehr von sich hören lassen. In ihrem Fall war das jedoch normal. Sie reiste ständig in der Weltgeschichte umher und blieb nie lange am selben Ort. Joelin wusste, warum sie das tat. Sie floh vor Martin. Maja hatte nur eine einzige falsche Entscheidung getroffen und wurde nun hartnäckig von den Konsequenzen verfolgt. Trotz der einstweiligen Verfügung gegen ihren Ex-Freund schaffte der es immer wieder, sie aufzuspüren. Ob mit Telefonterror bei ihren Eltern oder mit üblen Gerüchten, die er an der Uni unter ihren Kommilitonen streute, Martin machte Maja das Leben zur Hölle. So hatte sie, wie nun Joelin, alle Kontakte zu ihrem früheren Leben abgebrochen, reiste von Land zu Land und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Den Männern hatte sie endgültig abgeschworen.
Mit dem Gedanken bei ihrer Freundin ließ sich Joelin auf die Luftmatratze fallen und sank gleich einige Zentimeter tief ein.
Dass diese Dinger immer Luft verloren! Genervt wandte sie sich nach der Pumpe um.
„Seltsam! Ich bin mir sicher, sie an die Wand gelehnt zu haben“, flüsterte sie gedankenverloren. Doch dort war die Pumpe nicht mehr. Hektisch durchwühlte Joelin jede mitgebrachte Tasche. Nichts!
„Werde ich jetzt auch noch vergesslich?“, fragte sie laut in die leere Wohnung hinein.
Joelin suchte in der kleinen Küche und danach in dem noch kleineren Bad, aber die Pumpe war nirgends zu finden. Ratlos blieb sie im Türrahmen stehen, der den Flur vom Wohnzimmer abgrenzte, und ließ den Blick schweifen. Plötzlich bemerkte sie eine Veränderung. Wenn Joelin nicht im Türrahmen gestanden und so lange in diese Richtung gestarrt hätte, wäre es ihr wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen. Die Wohnungstür stand einen Spalt breit offen.
Kälte kroch ihren Rücken hinauf. War jemand in der Wohnung? Aber warum sollte man eine Luftpumpe stehlen? Sollte sie nachsehen, ob irgendjemand vor ihrer Tür stand? Die Aufregung ließ Joelin das Atmen vergessen. Eines war jedoch klar: Sie konnte nicht den ganzen Tag wie angewurzelt hier stehen bleiben. Also setzte sie sich in Bewegung.
Ihre Muskeln verweigerten vor Anspannung fast ihren Dienst, als sie den ersten Schritt in Richtung Tür machte. Sie streckte die Hand nach der Türklinke aus, als ein ohrenbetäubendes Krachen sie aufschreien ließ. Im ersten Moment dachte sie, die Tür sei ins Schloss gefallen. Nur ein Blick genügte, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Die Wohnungstür stand weiterhin einen winzigen Spaltbreit offen. Demnach musste das Geräusch aus ihrer Wohnung gekommen sein.
Joelin spürte, wie sich die winzigen Härchen in ihrem Nacken aufstellten.
Hatte sich der Einbrecher an ihr vorbeigeschlichen und versteckte sich jetzt in ihrer Wohnung? Sie widerstand dem starken Drang, wegzulaufen, und wandte sich langsam, fast schon in Zeitlupe um, mit dem Schlimmsten rechnend.
Im spärlichen Licht des dunklen Wohnungsflurs war nichts zu sehen. Sie ging zum Badezimmer hinüber, drückte die Türklinke hinunter und spähte durch einen schmalen Schlitz hinein. Auch hier war niemand. Genauso verhielt es sich im Wohnzimmer und der angrenzenden Küche. Was um alles in der Welt hatte diesen Lärm verursacht?
Wieder stand sie reglos da, um zu überlegen – als sie es sah. Aus dem Einbauschrank im Flur ragte der Schlauch der Luftpumpe. Er steckte zwischen Tür und Rahmen, als hätte jemand die Pumpe achtlos hineingestopft.
War sie vom oberen Regalbrett gefallen?Doch Joelin war sich ganz sicher, dass sie diesen Schrank noch kein einziges Mal angerührt hatte. Außerdem würde sie niemals etwas so flegelhaft verstauen.
Joelin hasste Unordnung. Bereits in ihrem Elternhaus hatte alles an seinem vorgesehenen Platz liegen müssen. Das war das Einzige, was ihre Mutter ihr nicht hatte vorhalten können. Es hatte Franka trotzdem nicht daran gehindert, sie dafür abzuwerten. Die wenigen Gelegenheiten, in denen sie ihrer Mutter erlaubt hatte, ihr Zimmer zu betreten, hatte sie meist sofort bereut. Franka besaß die lästige Angewohnheit, sich beim Sprechen auf die Schreibtischkante zu setzen. Dabei brachte sie mit ihrem knochigen Hinterteil Joelins Malutensilien durcheinander. Joelins Ärger darüber erreichte seinen Höhepunkt, als die unbelehrbare Franka sich eines Tages auf eine Farbtube setzte und das Lila quer über Joelins neueste Arbeit spritzte. Tage hatte sie damit zugebracht, das Porträt bis zur Perfektion zu schattieren, und ihre Mutter verdarb alles in wenigen Sekunden. Jener Tag war der letzte gewesen, an dem Franka ihr Zimmer von innen gesehen hatte.
Doch ihre Mutter war nicht da, und Joelin selbst würde so eine Liederlichkeit niemals hinterlassen. Aber wie sollte die Pumpe sonst dort hingelangt sein? Es war niemand weiter hier. Sie hatte sich gerade eben davon überzeugt.
Mit einem Mal wünschte sich Joelin, sie wäre jetzt nicht allein. Langsam ging sie auf die geriffelte Schranktür zu, um sich einen Überblick zu verschaffen. Mit zitternden Fingern umschloss sie den Türgriff, dann atmete sie tief durch. Was sollte sie tun, wenn sich dort ein Fremder versteckte? Ihr Herz sprang ihr fast aus der Brust. Ruckartig zog sie die Tür auf.
Nichts! Die Pumpe lag unschuldig am Boden, doch sie hatte eine tiefe Delle im Parkett hinterlassen.
„Scheiße!“, entfuhr es Joelin. Im Schrank war natürlich niemand. Ihr eigentliches Problem war die Blessur, und sie machte sich über imaginäre Eindringlinge Sorgen.
In diesem Moment wehte ein kalter Windhauch durch das gekippte Fenster herein und erfasste ihr blaues Haar. Erneut erklang ein ohrenbetäubendes Krachen, und Joelin zuckte erschrocken zusammen. Schwer atmend lugte sie in den Flur – der Wind hatte die Tür zugestoßen.
Während Joelin sich über ihre Nachlässigkeit ärgerte, fragte sie sich, wann sie so schreckhaft geworden war. Früher hatte sie sich einen Spaß daraus gemacht, andere zu erschrecken. Das musste wohl am Alter liegen.
Das Alter! Der Gedanke durchzuckte sie wie ein Blitz. Es blieben nur noch wenige Stunden bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag.
Joelin überlegte, wie sie die Delle im Boden kaschieren könnte, doch ihr wollte nichts einfallen. So verstaute sie missmutig ihre wenigen Habseligkeiten in dem nun verhassten Wandschrank. Sorgsam legte sie die durcheinandergeratene Kleidung zusammen und sortierte sie in das eingebaute Regal ein. Die einzigen zwei Paar Schuhe, die sie besaß, stellte sie ins unterste Fach, zusammen mit dem Picknickkorb, um den sie Franka heimlich erleichtert hatte. Darin waren vier Teller, vier Tassen, Besteck sowie zwei Sektgläser, von denen sie eines herausnahm und sich Leitungswasser eingoss. Das kalte Wasser benetzte ihre trockenen Lippen und klärte ihre Sinne. Die Frage blieb jedoch bestehen: Wie war die verdammte Luftpumpe in den Schrank gekommen?
Sie musste unfreiwillig schmunzeln, als sich ihr eine Erinnerung aufdrängte. Ihr erster Freund hatte sich damals auch im Wandschrank versteckt, nachdem ihre Mutter sie beim Fummeln überrascht hatte. Sie konnte sich noch genau an Frankas Wortlaut erinnern, als diese die Flügeltüren aufgerissen hatte und ein splitterfasernackter Fünfzehnjähriger vor ihr stand.
„Ausgerechnet diese Luftpumpe musste es sein?“, hatte sie Joelin angeschrien.
Diese Pumpe konnte jedoch nicht von allein in den Wandschrank gelangt sein. Hatte noch jemand einen Schlüssel zur Wohnung? Das wäre beängstigend. Joelin nahm sich vor, den Vermieter gleich morgen aufzusuchen und diesbezüglich zu befragen.
Nachdem sie das Sektglas geleert hatte, packte sie die letzten Tüten aus. Sie wickelte ihren alten CD-Player aus den Handtüchern, mit denen sie ihn für den Transport gepolstert hatte. Dieses ramponierte Ding würde in den nächsten Wochen ihre einzige Ablenkung in der sonst leeren Wohnung sein. Sorgsam stellte sie ihn neben ihre Luftmatratze, die sie immer noch nicht wieder vollständig aufgeblasen hatte, und stapelte ihre wertvollsten CDs auf das Fensterbrett darüber. Dann zog sie wahllos eine Disc hervor und legte sie ein. Es erklangen Soulsongs mit melancholischen Texten über Liebe und Verrat, die den kahlen Raum sogleich wohnlicher und lebendiger machten. Joelin legte sich auf die Luftmatratze und sank wieder einige Zentimeter tief ein, doch dieses Mal war es ihr egal. Sie kuschelte sich in die Decke ihrer Oma und schloss die Augen.
Ein Lächeln sagt mehr als tausend Worte, erklärst du mir. Doch wenn du in mein schmerzverzerrtes Gesicht siehst, bemerkst du nichts. Selbst wenn ich dich anschreien würde, könntest du mich nicht hören.
Die Worte der Soulsängerin ließen Joelin zuerst wehmütig und dann schläfrig werden. Sie versuchte, dem Songtext zu folgen, doch die Worte drangen bereits nur noch bruchstückhaft in ihr Bewusstsein. Kurz bevor sie in das Reich der Träume abdriften konnte, zerrte jedoch etwas an ihrem Verstand.
Ich werde kommen, um mein Glas mit deinem Blut zu füllen und deinen Geist mit Schwärze zu umhüllen.
Joelin konnte sich nicht daran erinnern, jemals solch einen Satz auf dieser CD gehört zu haben. Aber sie war plötzlich so müde, dass sie ihre Augen nicht länger offen halten konnte. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
Es war tiefste Nacht, als Joelin erwachte. Um sie herum herrschte Finsternis. Sie konnte nichts erkennen außer dem kleinen Lichtpunkt an ihrem CD-Player. Er war noch immer an, doch spielte keine Musik mehr. Schläfrig suchte sie nach ihrem Telefon und fand es am Boden. Es musste aus ihrer Hosentasche gerutscht sein.
Das grelle Licht des Handy-Displays schmerzte in ihren müden Augen. Nur verschwommen konnte sie die Uhrzeit entziffern. Es war genau drei Uhr. Joelin wunderte sich, dass sie um diese Zeit aufgewacht war, und wollte sich gerade wieder hinlegen, als sich etwas in ihrem Blickfeld bewegte.
Plötzlich war Joelin hellwach. Sie verharrte in der Bewegung und lauschte in die Dunkelheit. Angst ergriff sie und ließ ihre Eingeweide verkrampfen. Hier war eindeutig jemand. Durch die offen stehende Tür konnte sie in den finsteren Flur blicken. Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass der Eindringling sich erneut zeigte.
Aber Sekunde um Sekunde verstrich, und nichts geschah. Ihre Arme, auf denen sie sich abstützte, fingen an zu brennen. Irgendetwas musste sie tun, schließlich konnte sie nicht die ganze Nacht hier herumsitzen. Nur was?
Joelin schlug ihre Decke zurück. Wieder verharrte sie, doch es war nichts und niemand zu hören oder zu sehen, also stand sie mit wackeligen Beinen auf. In Zeitlupe setzte sie einen Fuß vor den anderen und bewegte sich wie eine Schlafwandlerin auf die Flurtür zu, hielt dann jedoch kurz inne. Was sollte sie tun, wenn dort wirklich jemand auf sie lauerte? Sie hatte noch immer ihr Telefon in der Hand. Sie könnte die Polizei rufen. Doch wenn sich herausstellte, dass niemand in ihrer Wohnung war, würden sie Joelin für verrückt erklären.
Sie atmete noch einmal tief durch, dann schlich sie weiter. Die Dielen knarzten unter ihren schwitzigen Fußsohlen, sonst war es ruhig. Behutsam bewegte sie sich auf die Stelle zu, wo sie den Schatten vermutete. Ein Rascheln. Unerwartet streifte etwas ihren Knöchel, und Joelin zuckte reflexartig zurück. Nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken. Ein schrecklicher Gedanke keimte in ihr auf. Gab es vielleicht Ungeziefer in ihrer Wohnung? Dann würde sie doch lieber einem Einbrecher in die Arme laufen. Alles, was mehr als vier Beine hatte, verabscheute Joelin zutiefst. Sie spähte in die Dunkelheit, aber zu ihren Füßen lag nur eine umgekippte Plastiktüte, aus der einige ihrer spärlichen Besitztümer quollen. Erleichterung ließ sie geräuschvoll ausatmen. Sie würde den Kammerjäger nicht kommen lassen müssen. Doch die Euphorie hielt nur für kurze Zeit an, denn die Frage nach dem Eindringling war damit noch nicht geklärt.
Endlich hatte sie die Tür zum Flur erreicht. Vorsichtig beugte sie sich vor und tastete mit der freien Hand nach dem Lichtschalter. Nach einigen quälenden Sekunden fand sie ihn und ließ ihn klicken. Licht strömte durch den winzigen Flur und erhellte jeden Winkel.
Bei dem, was sie jetzt sah, zog sich ihre Brust noch enger zusammen. Vom Scheitel abwärts breitete sich eine Eiseskälte über ihren gesamten Körper aus und umhüllte sie wie Wasser beim Sprung in einen gefrierenden See.
Ihre Wohnungstür stand eine Handbreit offen und offenbarte das dunkle Treppenhaus dahinter. Es war jemand hier gewesen.
Joelin stürmte los. Ihre Zehenspitzen schienen kaum den Boden zu berühren, so schnell rannte sie. Mit einem lauten Donnerschlag knallte sie die Tür zu und ließ sich mit dem Rücken gegen das raue Holz sinken. Ihr Herz hämmerte so heftig, als wollte es aus ihrer Brust springen. Wieso um alles in der Welt stand diese verdammte Tür offen?
Als das Gefühl endlich in ihre Beine zurückkehrte, stemmte sie sich von der Tür weg. Immer noch zitternd wollte sie zurück ins Bett wanken, als es plötzlich leise hinter ihr klickte. Erneut erstarrte sie zu einer Salzsäule. Joelin rechnete mit dem Schlimmsten. Gleich würde sie jemand überfallen, sie vergewaltigen oder gar ermorden. Ihr gesamter Körper schmerzte vor Anspannung, während sie ihren Kopf Millimeter für Millimeter in Richtung des Geräuschs drehte.
Wieder stand die Eingangstür einen Spalt offen. Joelin war unfähig, etwas zu tun. Was sie sah, erschien ihr so unwirklich, dass sie nichts anderes tun konnte, als auf den großen Knall zu warten. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass gleich ein dunkel gekleideter Mann mit einem Fleischermesser auf der Schwelle erscheinen würde.
Minutenlang verharrte sie in der Stille, doch nichts geschah. Irgendwann nahm Joelin all ihren Mut zusammen, griff mit ihren dünnen Fingern nach dem Türknauf und zog die Tür auf. Im Flur war es dunkel. Durch die kleinen Fenster fiel nur hin und wieder der Lichtschein eines vorbeifahrenden Autos herein.