Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte (Romantic Suspense meets Dark Academia) - Stefanie Hasse - E-Book

Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte (Romantic Suspense meets Dark Academia) E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Ein glamouröser Schulball. Eine tote Schülerin. Und fünf Jugendliche mit einem Geheimnis – und einem Motiv. Die noble Fairchild Academy wird von einem Skandal erschüttert: Die Schülerin Sarah Matthews – wunderschön, geliebt, beneidet – ist auf einem Schulball in den Armen ihres Freundes Chase zusammengebrochen und gestorben. War es ein schrecklicher Unfall – oder Mord? Als die Polizei die Ermittlungen aufnimmt, ändert sich für fünf Jugendliche aus Sarahs Umfeld alles. Denn schnell ist klar, dass jeder von ihnen ein Motiv hatte. Allen voran Chase, Sarahs Freund, und Brooke, ihre beste Freundin … Für Fans von "Secret Game" und "Beautiful Liars": der neue Highschool-Thriller von Stefanie Hasse. Mehr von Stefanie Hasse: Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold. Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz. December Dreams. Ein Adventskalender.

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Seitenzahl: 375

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2020 Ravensburger Verlag GmbH Copyright © 2020 by Stefanie Hasse Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Lektorat: Hanna Schmitz Umschlaggestaltung: Anna Rohner Verwendete Bilder von © millaf / AdobeStock, © Aleshyn_Andrei / Shutterstock, © Dmitry Bakulov / Shutterstock, © autsawin uttisin / Shutterstock und © Yauheni Kazlou / Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473-51065-8

www.ravensburger.de

KAPITEL 1

FREITAG, 31. OKTOBER

Brooke

Bald.

Mit einem Kribbeln im Bauch strich Brooke ein letztes Mal über die Buchstaben, ehe sie das weiche Papier wieder faltete und in der Tasche ihres Umhangs verbarg. Ihr Spiegelbild lächelte umrahmt von zahlreichen weiteren Origami-Kranichen in allen erdenklichen Farben und Größen. Selbst die Theaterschminke konnte die zarte Röte auf ihren Wangen nicht vollständig abdecken. Ihr Herz stupste vor Aufregung gegen die Rippen. Nach einem kurzen Blick auf die Digitalanzeige des Weckers verließ sie ihr Zimmer. Der Luftzug des flatternden Umhangs ließ die von der Decke baumelnden Papiervögel rascheln. Morgen würde sie den Kranich in ihrer Tasche zu den anderen Botschaften hängen. Morgen wäre »bald« endlich Vergangenheit.

Ein für Kalifornien verstörend kalter Wind zerrte an Brookes schwarzem Umhang und peitschte ihr die dunkelblonden kinnlangen Haare ins Gesicht, während sie auf der Veranda wartete. Bunt gemischte Gruppen aus Geistern, Hexen und Superhelden zogen trotz der Kälte lachend von Haus zu Haus. Brooke beobachtete, wie sich die Kinder vor der Tür gegenüber aufstellten und ihren Spruch aufsagten. Miss Malec verteilte Süßigkeiten, gleichzeitig rollte die schwarze Limousine vor.

Sofort war die Kälte vergessen. Brookes Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, als sie die Stufen von der Veranda hinabstieg. Die Tür des Fahrers öffnete sich, wurde dann jedoch wieder geschlossen. Brooke konnte Chase’ Einwand nahezu hören. Ihr Blick glitt zur Hintertür, die in diesem Moment von innen geöffnet wurde. Vielleicht vergaß Brooke, Luft zu holen, stand einfach nur wie festgefroren auf dem Bürgersteig und beobachtete Chase beim Aussteigen.

Sie war sich seiner Blicke, einer Berührung gleich, überdeutlich bewusst. Mit ernster Miene verneigte er sich, tippte an den zum lilafarbenen Revers des altmodischen Smokings passenden Zylinder und legte lässig den Arm auf den Rahmen der Tür. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten, und seine Lippen verzogen sich zu seinem ganz eigenen schiefen Lächeln, das der kleinen Narbe auf der Oberlippe geschuldet war, die ihn seit einem halben Jahr zeichnete. Es genügte ein Blick auf dieses Lächeln und Endorphine fluteten Brookes Körper und brachten ihren Puls zum Rasen.

»Soll ich mich noch irgendwie drehen oder eine andere Position einnehmen, damit du einen besseren Blick hast?« Sein Lachen wirkte wie wärmendes Kaminfeuer in der Kälte der Nacht.

»Ich habe nur dein Make-up bewundert«, konterte Brooke, während sie auf ihn zuging und sich nun tatsächlich auf die Arbeit der von Chase’ Mom engagierten Make-up-Artistin konzentrierte. Durch die Betonung von Chase’ kantigen Gesichtszügen, mit den silbernen Spitzen der dunklen Haarsträhnen, die unter dem Zylinder ins Gesicht hingen, und den dunkel geschminkten Augen war Chase die perfekte Kopie des verrückten Hutmachers, und Brooke musste sich zurückhalten, ihn nicht mit gestammelten Komplimenten zu überschütten. Auch wenn Chase sie verdient gehabt hätte.

Ganz gentlemanlike stellte er sich neben die Fahrzeugtür und verbeugte sich sogar, als Brooke einstieg. Sein Zylinder verrutschte dabei kein bisschen, was Brooke mit einem Lächeln registrierte, ehe ihre Gedanken wie leer gefegt waren. Aus dem Wagen schlugen ihr wohlige Wärme und sanfte Klänge entgegen. Dass ihr Atem erneut stockte, hatte jedoch einen anderen Grund. Im Inneren der Limousine roch es so intensiv nach Chase’ Parfum, als würde sie an ihn gelehnt die Nase in seine Halsbeuge drücken. Sie schluckte mehrmals, sog seinen Duft ein letztes Mal tief ein und atmete fortan durch den Mund.

»Wo ist Sarah?«, brachte sie mit rauer Stimme hervor.

»Sie hat mir eine Nachricht geschickt, dass sie noch ein paar Minuten braucht. Wir holen sie gleich ab.«

Brooke nickte nur schwach und setzte sich auf das warme Leder. Auch wenn sich Chase auf die Sitzbank gegenüber fallen ließ, erfüllte seine Präsenz den gesamten Innenraum der Limousine mit einem Prickeln, sodass er genauso gut direkt neben ihr hätte sitzen können.

Brooke sah schnell zum Fahrer und verfolgte anschließend die vorbeiziehenden Lichter des abendlichen Wooden Heights. Die Fahrt von ihr zu Sarah dauerte nur wenige Minuten und dennoch würde es zu lange sein. Immer wieder warf sie einen kurzen Blick zum Fahrer, dann zu Chase, der sein charmantes Lächeln durch einen ganz anderen Ausdruck ersetzt hatte.

Bald.

Brookes Mund war mit einem Mal entsetzlich trocken. Sie konzentrierte sich auf die schaurig geschmückten Vorgärten jenseits der getönten Scheibe, auf die Kinderscharen, die von Tür zu Tür gingen, und ließ sich von Erinnerungen zerstreuen, wie sie mit Sarah, Chase und Piper vor vielen Jahren genauso um die Häuser gezogen war. Eine Zeit, in der es kein höheres Ziel gegeben hatte, als jede Menge Süßigkeiten zu erbeuten, die nach einem kleinen Spruch und einem Lächeln die großen Sammelbeutel füllten.

Wenn es doch heute noch ebenso einfach wäre zu bekommen, was man begehrte … Ihr Herz pochte, als wollte es aus ihrer Brust springen und sich Chase in die Arme werfen. Zur Ablenkung atmete sie tief durch, vergrub ihre Hände in ihrem langen Kleid und rief sich das Unwort der letzten Monate ins Gedächtnis: Geduld. Bald würde es ein Ende haben. Die nächsten Minuten kamen ihr im Nachhinein vor wie ein Traumbild, verschwommen und surreal, ehe der Wagen in der Einfahrt der Matthews zum Stehen kam. Brookes Finger klammerten sich um das gefaltete Papier, das sie in ihrem Umhang verbarg. Ein Anker, Halt und Hoffnung zugleich.

Bald.

Der Fahrer stellte den Motor ab und wollte erneut aussteigen, doch Chase war schneller.

Brooke schluckte bei Sarahs Anblick den Kloß in ihrer Kehle hinab, ehe sie zu Chase schaute, der Sarah einen Moment später ebenso galant die Wagentür offen hielt wie ihr zuvor. Sarah sah wie immer perfekt aus, selbst als Hexe von Oz. Unzählige schwarze Strähnen durchwirkten ihre langen blonden Haare, ihre grün geschminkte Haut tat ihrer Schönheit seltsamerweise keinen Abbruch. Ihr Teint war selbst jetzt makellos und die Farbe passte zu ihren leuchtend grünen Augen.

Als sie in den Wagen stieg, kam Brooke sich nicht nur aufgrund ihrer zum bleichen Vampir geschminkten Haut blass vor. Neben Sarah Matthews verblasste einfach jeder. Selbst Chase, für den Sarah nur einen kurzen unzufriedenen Blick übrig hatte.

»Du siehst großartig aus!«, begrüßte Sarah Brooke beim Einsteigen mit einem strahlenden Lächeln, das ihre perfekten Zähne zeigte. »Aber dein Lippenstift ist verschmiert.« Während Brooke das Handy aus der Tasche zog und sich mit der Facecam betrachtete, setzte sich Sarah neben Chase und ging den Plan für den heutigen Abend mit ihm durch.

»Im Foyer werden Fotos fürs Jahrbuch gemacht. Wir müssen unbedingt ein gutes Paarbild hinbekommen, das Morgan für die Schülerzeitung verwenden kann. Das Licht wird dort viel besser sein als später direkt nach der Wahl.«

Ihre Worte verschwammen im Rauschen und Ruckeln der Limousine, während sich Sarahs Parfum mit jeder Sekunde weiter im Raum ausbreitete, bis nichts mehr in der Luft lag, das bei Brooke für Herzklopfen sorgte.

»Vergiss nicht, die Neuen mit mir zu begrüßen. Wir sind das Homecoming-Paar und es ist unsere Pflicht. Sie sollen sich willkommen fühlen«, sagte Sarah gerade, als Brooke das Handy wegpackte. »Das siehst du doch genauso, oder, Brooke?«

Für Brooke lagen die Prioritäten des Abends woanders. Chase nahm ihr die Worte aus dem Mund.

»Es ist eine Halloween-Party, Sarah. Kein Staatsakt.«

Sarahs Lächeln verblasste. Ihr Schweigen sagte in diesem Moment mehr, als tausend Worte es könnten.

Bis zum Cathedral, das hoch über Wooden Heights thronte und in dem die Halloween Teen Night der örtlichen Schulen veranstaltet wurde, waren es rund zwanzig Minuten, die sie mit belanglosen Gesprächen und dem Scrollen durch Instagram füllten und die dort geposteten Kostüme ihrer Mitschüler kommentierten.

»Casseys Kostüm ist ein Brautkleid von Sarah Burton?« Sarahs Stimme schrillte durch den Wagen. Brooke sah zu Chase, der nur mit den Schultern zuckte.

»Sie hat Kate Middletons Hochzeitskleid entworfen! Eine begnadete Designerin«, half Sarah ihnen auf die Sprünge, aber sie hatte ihre beste Freundin nie für solch banale – und teure – Dinge wie Mode begeistern können.

Brooke warf ihr daher ein hoffentlich beruhigendes Lächeln zu. »Und wenn schon. Bisher hat es Cassey auch nie geholfen. Du wurdest jedes Mal zur Ballkönigin gewählt, sogar zur Homecoming-Queen.« Im Stillen hoffte Brooke, dass es auch wirklich so kommen würde. Es stand so viel auf dem Spiel.

Bald.

»Sie hat ihn tatsächlich überredet zu kommen?« Sarahs Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, doch ihr Tonfall verriet, was sie über Piper dachte.

Jam, Devin und Piper warteten auf den Stufen vor dem weitläufigen Vorplatz des Cathedrals, dessen futuristischer Anblick Brooke wie immer den Atem raubte. Von den Serpentinen aus, die sich die Santa Cruz Mountains emporschlängelten, erkannte man nur einen gigantischen Steinwürfel, aus dem dann beim Näherkommen der lange Seitenflügel mit dem Eingang wuchs. Seit ihrer Aufnahme an der Fairchild Academy war Brooke mehrmals für verschiedene Ausstellungen oder Projekttage mit der Schule hier gewesen. Piper hatte im Museum sogar einmal ihren Geburtstag gefeiert. Damals, als sie sich noch nähergestanden hatten.

Der Wagen hielt direkt vor den Stufen und die drei stiegen aus.

»Hi, Piper! Du siehst umwerfend aus«, sagte Sarah, ehe sie sich zu Devin wandte. »Wie kommt es, dass du dich auf einer Highschool-Party blicken lässt, Dev?« Ihr Ton war nun herausfordernd. Devin hielt die Antwort seiner deutlich hervortretenden Kiefermuskulatur nach mit aller Kraft zurück.

Jam rettete die Situation. »Gott sei Dank seid ihr endlich da! Lasst uns reingehen.« Er begrüßte Chase mit Handschlag und verbeugte sich dann übertrieben vor Brooke und Sarah, ehe er den Umhang seines klassischen Draculakostüms mit Anzug, Fliege und Stehkragen zur Seite warf und Brooke den Arm anbot. Sie hakte sich unter und lächelte über Jams Bemerkung, dass sie ihn nie wieder mit Devin und Piper allein lassen durfte.

Sarah zwinkerte Brooke zu, während sie sich an Chase’ Arm hängte und sie zusammen mit Devin, dem Jedi, und Piper, der Prinzessin – die beiden trennte mindestens ein halber Meter – zum Eingang des Museums gingen.

Unten im Foyer wurden, wie von Sarah angekündigt, alle geknipst. Nachdem Sarah dem Fotografen genaue Instruktionen für ihre Fotos mit Chase gegeben hatte, alberten alle auf den restlichen Bildern herum. Gespannt warteten sie auf die ersten Konturen der Instax-Bilder, die nach den offiziellen Fotos gemacht wurden.

Irgendwann quietschte Sarah und hielt Brooke das Bild so dicht vor die Nase, dass diese zurückweichen musste.

»Sehen wir nicht einfach umwerfend aus?« Sarah zuckte verheißungsvoll mit den schwarz geschminkten Brauen, ehe sie sich wieder mit dem Foto Luft zufächerte.

Chase verdrehte die Augen und wartete auf das Bild in seiner Hand. Sie hatten jeder einfach eins der vielen Bilder geschnappt, nachdem sie verschiedene Konstellationen ausprobiert hatten. Auf dem Foto in Brookes Hand befanden sich drei Personen: Sarah, Chase und sie selbst. Chase stand in der Mitte und seine Arme lagen über den Schultern der Mädchen. Brooke steckte das Foto ein, um diesen Moment für immer in Erinnerung zu behalten.

Doch auch ohne Foto würde sie diese Nacht niemals vergessen.

Jam

Was hatte ihn nur geritten, mit Piper und Devin zum Museum zu fahren? Wieder und wieder wünschte sich Jam an einen anderen Ort. Die beiden waren wie ein Forschungsprojekt zur Plattentektonik. Sie rieben kaum merkbar gegeneinander, ehe sie einen Tsunami, ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch verursachten. Seit Beginn seines Geologie-Vorbereitungskurses bekam er den Vergleich nicht mehr aus dem Kopf. Die Spannungen zwischen Devin und Piper wären inzwischen sicher schon mit einem Seismografen messbar. Doch er konnte sich wohl kaum in ihre Beziehung einmischen, das sollten die beiden besser unter sich ausmachen. Wen interessierten schon Beziehungstipps des ewigen Singles Jermaine Thomas? Er schnaubte, was ihm einen kurzen Seitenblick mit anschließendem Kopfschütteln von Piper einbrachte, ehe sie Devin weiter mit ihren oberflächlichen Meinungen zu den Ankömmlingen zutextete und sich dabei wirklich wie die Prinzessin benahm, als die sie sich verkleidet hatte. Devin schien ihr nicht wirklich zuzuhören, und Jam fragte sich wieder einmal, warum Piper in Devins Gegenwart immer zu einem anderen Menschen wurde.

Eigentlich hatten sie alle gemeinsam zum Halloween-Ball fahren wollen, aber Piper hatte eine Szene gemacht und sich geweigert, mit Sarah in ein Fahrzeug zu steigen. Daher warteten Jam, Devin und Piper nun schon eine ganze Weile an dem windigen Platz vor dem Museum und sahen zu, wie polierte deutsche Autos in den Spots, die die Auffahrt säumten, funkelten wie Diamanten und bis zur Unkenntlichkeit veränderte Sportwagen auf den Parkplatz rollten. Bislang war keine einzige Limousine angekommen. Andere legten weit weniger Wert auf einen klischeehaft perfekten Auftritt. Niemand außer Sarah, der Queen der Fairchild Academy. Nicht einmal Aidan Fairchild, der gerade nahezu lautlos mit seinem silbernen Tesla an ihnen vorbeirauschte und dabei fast Piper streifte, die lautstark Devin zu überzeugen versuchte, endlich hineinzugehen und nicht länger zu warten.

»Wir halten uns an das, was ausgemacht war«, wiederholte Devin zum mindestens dritten Mal. Die Aussage ging in Pipers an die Rücklichter des Teslas gerichteten Beschimpfungen unter. Dann fuhr endlich die von Chase gebuchte Limousine vor und Jam stieß in Gedanken ein Dankesgebet aus.

Er bot Brooke, die passend zu seinem Kostüm als Vampirin gekleidet war, seinen Arm an und zusammen betraten sie das Gebäude. Sie machten gemeinsame Fotos in unterschiedlichen Konstellationen – Jam steckte das Bild von sich mit Brooke und Piper in die Tasche, auf dem sie so taten, als würden sie der hübschen Prinzessin das Blut aus dem Hals saugen.

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Mit jeder Stufe wurde die Musik lauter und mehr Spinnweben, falsche Spinnen und Ungeziefer säumte das Treppengeländer. Der Ballsaal war so spärlich beleuchtet, dass Jam sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen musste. Hier und da durchschnitten grüne oder orangefarbene Lichter den künstlichen Nebel. Direkt hinter dem Eingang verteilte ein Zombie alkoholfreien Punsch. Jam nahm zwei der Kristallschädel und reichte einen davon Brooke.

Mit ihrem Punsch in der Hand flanierten Brooke und er über die Party, begrüßten Geister, Dämonen, blutverschmierte Krankenschwestern und Zombies in allen Varianten und hielten Smalltalk mit einigen ihrer Mitschüler, mit denen man sich nur auf Partys wie dieser unterhielt. Brooke und er standen gerade am Büffet, das auf einer Art OP-Tisch aufgebaut war, als sich Sarahs unverkennbare Stimme in die Musik mischte.

»Als was genau hast du dich denn verkleidet, Morgan? Du siehst aus wie immer.« Ihr Lachen ließ Jam zusammenzucken und instinktiv sah auch Brooke hinter sich, wo Morgan stand und abgesehen von dem Kittel, den sie sonst nur ab und zu im Chemielabor trugen, gekleidet war wie an jedem anderen Tag auch. Nur dass sie unter dem Tablet, das an ihr festgewachsen schien, zusätzlich ein Klemmbrett in der Hand hatte.

»Ich bin kein Fan von Verkleidungen«, erwiderte Morgan mit einem Schulterzucken. Ihre Antwort jedoch kam zögernd, als hätte sie etwas länger über die richtigen Worte nachdenken müssen. »Aber beim großen Kessel! Man erkennt ja wohl, dass ich eine Ärztin bin.«

Während Jam noch darüber nachdachte, was es mit dem Kessel auf sich hatte, sprach Chase bereits.

»Du magst keine Verkleidungen und besuchst ausgerechnet eine Halloween-Party?«, fragte er kein Stück belustigt, sondern genau wie Jam wirklich interessiert an einer Erklärung.

»Ich gehöre zum Orga-Komitee.« Nun war Morgan wieder in ihrem Element, richtete sich auf, sodass ihre Präsenz selbst neben Sarah deutlich greifbar war, warf einen Blick auf ihr Klemmbrett und rauschte davon.

»Sie lässt uns ernsthaft einfach so stehen?« Sarah warf ihr einen empörten Blick hinterher. Doch schnell war sie abgelenkt und zog Chase mit sich, weil sie irgendwen gesehen hatte, den sie begrüßen musste.

»Willst du tanzen?«, fragte Jam an Brooke gewandt, doch die starrte an die Stelle, an der Sarah und Chase in der Menge verschwunden waren, und schien in Gedanken meilenweit entfernt. »Oder willst du vielleicht lieber ein Opfer auswählen und ihm das Blut aussaugen?« Noch immer keine Reaktion. Jam lachte und schnippte vor ihrem Gesicht mit den Fingern, woraufhin Brooke endlich aus ihrem Tagtraum zurückkehrte und mit einem geistreichen »Hm?« reagierte.

»Wo warst du denn gerade?«, fragte Jam, der immer noch lachte, bis seine Schulter sich meldete und ein stechender Schmerz durch seinen gesamten Oberkörper fuhr.

»Die Dekoration dort.« Brooke deutete mit dem Kopf zum Friedhof, wo auf Grabsteinen weitere Snacks standen. Darüber waren zig Spinnweben um mehrere kleine Äste gewoben.

Jam erkannte nichts Seltsames. »Was ist damit?«

»Sind die Beeren nicht giftig?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Jam lachend. »Mit Pflanzen habe ich so gar nichts am Hut.«

»Du willst Geologie studieren. Das hat doch irgendwie auch mit Natur zu tun.«

»Mein Fachbereich sind Steine und Mineralien, tote Dinge, ganz sicher nichts Lebendes wie Pflanzen.« Er wackelte verlegen mit den Fingern und erklärte: »Bei meinem schwarzen Daumen wäre das die denkbar schlechteste Studienwahl.«

Endlich brachte er Brooke zumindest zum Lächeln. Es war tatsächlich das erste Mal an diesem Abend, obwohl er ständig versuchte, das, was sie beschäftigte, zu vertreiben. Natürlich war ihm aufgefallen, wie abwesend sie ständig war, wie trüb ihre Augen wurden, wenn sie die anderen beobachtete wie jetzt gerade Morgan, die einen Stuhl heranschleppte und die Zweige über den Snacks abnahm und einer Mumie in die Hand drückte. Jam glaubte zu hören, wie sie sich beim Personal beschwerte.

»Ob giftig oder nicht, jetzt sind die Beeren weg«, sagte Jam. »Und hier sind schließlich alle alt genug, man muss niemanden davor warnen, von der Deko zu naschen.«

Brooke nickte, sah der Mumie mit den Ästen hinterher, bis diese zwischen den Grabsteinen verschwunden war.

»Wollen wir nun tanzen oder nicht?« Als Brooke ihn irritiert ansah, fiel ihm ein, dass sie seine erste Frage nicht gehört hatte, und er erklärte sich.

»Klar«, sagte sie wenig begeistert, hakte sich dann jedoch bei Jam unter und ließ sich von ihm zur Tanzfläche führen, wo Sarah ausgelassen mit mehreren Männern und Frauen tanzte – außergewöhnlich freizügig, wie Jam sie nie gesehen hatte. Vielleicht hatte Sarah Alkohol hereingeschmuggelt und in ihr Getränk gemischt. Selbst beim Tanzen schüttete sie den Punsch geradezu in sich hinein.

»Sie muss einfach immer im Mittelpunkt stehen«, sagte Jam mehr zu sich selbst, aber ausgerechnet jetzt hörte Brooke zu, öffnete den Mund, um ihre beste Freundin zu verteidigen, schloss ihn dann jedoch wieder.

Morgan teilte soeben die Menge auf der Tanzfläche und trat zum DJ auf die Bühne. Die Musik und die schaurigen Schreie im Hintergrund wurden leiser. Aus ihrem Arztkittel zog sie einen Stapel Kärtchen und hielt ihn hoch. Brooke und Jam hatten kurz zuvor ebenfalls gevotet, auch wenn Jam sich sicher war, dass Sarah gewann. Sie siegte immer – als hätte sie es im Blut. Frustrierend!

»Ich mache es kurz und knapp. Unser Königspaar des diesjährigen Halloween-Balls sind … welch fantastische Überraschung«, schob sie ohne den von Jam erwarteten Sarkasmus ein, »Sarah Matthews und Chase Cassidy! Genießt euren Halloween-Tanz!« Die Menge johlte und applaudierte, Sarah selbst taumelte zwischen den Beglückwünschenden hin und her, bis sie an Chase’ Brust lag und er offensichtlich Mühe hatte, sie aufrecht zu halten. Sie musste wirklich betrunken sein. Wer hatte ihr den Alkohol gegeben?

Brooke neben Jam hatte aufgehört zu tanzen und beobachtete Sarah ebenfalls aufmerksam. Als Sarah in sich zusammensackte und Chase das plötzliche Gewicht nicht ausgleichen konnte und mit ihr zusammenbrach, stürzte sich Brooke als Erste nach vorne und fiel neben Sarah und Chase auf die Knie.

Die ersten echten Schreie übertönten die Halloween-Klänge und Jams Nackenhärchen stellten sich auf.

Chase

»Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?«, fragte Chase mehrere Male, aber Sarah schien ihn konsequent zu ignorieren, während sie durch den Raum schwebte und ihn mit sich zog. Wieder und wieder rief er sich in Erinnerung, dass diese Farce bald ein Ende haben würde, aber auch das machte den Abend nicht besser. Egal wohin sie beide traten, sein Blick suchte unentwegt eine blonde Vampirin. Nur wenn er wusste, wo Brooke war, konnte er wieder normal atmen.

Sarah verschwand ständig in der Damentoilette, um das Grün in ihrem Gesicht zu erneuern, während sie von ihm erwartete, vor der Tür stehen zu bleiben. Wenn sie danach herauskam, war sie jedes Mal noch etwas dunkler geschminkt, aber Chase hatte keine Lust darauf, sich mit ihr darüber zu streiten, dass sie viel zu viel Theaterschminke aufgetragen hatte. Sarah tänzelte und hüpfte überschwänglich zwischen den Partygästen umher, nicht ohne ihm immer wieder Details ins Ohr zu flüstern, die Chase allesamt nicht einmal auffielen, geschweige denn interessierten: dass die erdbeerblonden Haare von Mandy Casters nicht zum Outfit ihres Begleiters passten oder dass Tom Kellers Augen deutliche Spuren seines Drogenkonsums zeigten. Immer wieder umarmte sie irgendwelche Leute, die Chase nur vom Sehen kannte und von denen er nicht einmal wusste, dass Sarah mit ihnen näher in Kontakt stand. Gerade ließen sie Ken Mallis, die neue Nummer eins des Schwimmteams der Fairchild Academy, mit grübelndem Gesichtsausdruck und einem blassen grünen Schimmer auf der Schläfe hinter sich. Sarah hatte sich an ihn gepresst, ihm vor den Augen seiner langjährigen Freundin Harper einen Kuss auf die Wange gedrückt und ihm irgendetwas ins Ohr geflüstert, bis Chase sie endlich von ihm losreißen konnte. Er schob sie in Richtung Büffet und zischte: »Was hast du getrunken?«

Sarah reagierte wie auf seine vorherige Frage beim Tanzen. Ihre Worte stolperten ungewohnt undeutlich aus ihr heraus. »Keinen einzigen Tropfen.« Es folgte ein Vortrag darüber, dass sie nie Alkohol trank, weil der schlecht für den Teint war. Sie steuerte gleich wieder auf den Punsch zu und drückte auch Chase einen Becher in die Hand. Er roch daran, nahm einen vorsichtigen Schluck – aber es war definitiv kein Alkohol darin. Als sie erneut auf ihren hohen Absätzen ins Taumeln geriet, hielt er sie am Handgelenk fest und bemerkte den flatternden Puls unter ihrer grünen Haut.

»Geht es dir gut?«, schrie er dicht an ihrem Ohr. Die Musik wurde mit jedem Song lauter und das darüberliegende Heulen und die Schreie – passend zum heutigen Abend – wirkten immer echter.

Sarah schüttelte sich vor Lachen und winkte ab, ehe sie in Richtung Tanzfläche verschwand. Chase hatte nicht das Gefühl, dass es ihr gut ging. Garantiert hatte sie wieder einmal den ganzen Tag kaum einen Bissen gegessen und ihn wegen des Alkohols angelogen. Eine denkbar schlechte Kombination. Sarah wartete nicht auf ihn, sondern tanzte bereits zwischen Gruppen und Paaren hindurch. Daher drehte Chase um und ging zum aufgebauten OP-Tisch zurück, schnappte sich einen Pappteller und legte allerhand Fingerfood – täuschend echt aussehende blutende Finger, Augäpfel in kleinen Blätterteigtaschen und Mini-Mumien – darauf, um es Sarah zu bringen. Solange sie in diesem Zustand war, würde er nicht mit ihr reden können. Er dachte an den Kranich, den er Brooke letzte Woche gegeben hatte, und das verborgene Versprechen.

Bald.

Chase bemühte sich, an Brooke vorbeizugehen und nicht stehen zu bleiben, obwohl jede Zelle seines Körpers zu ihr strebte. Sie lachte gerade über einen Witz von Jam, was ihm einen Stich versetzte. Vorsichtig balancierte er den Pappteller durch die Menge, die gerade zu Michael Jacksons Scream rhythmisch zuckte. Am anderen Ende der Tanzfläche, beinahe von Nebelschwaden verschluckt, sah er die Hexe von Oz und bahnte sich einen Weg zu ihr. Sie tanzte von einem Typen zum nächsten, umarmte wildfremde Menschen und hinterließ auf etlichen Gesichtern grüne Spuren. Ihr Gesicht glänzte, die Farbe schien zu zerfließen und war nicht länger gleichmäßig verteilt wie zu Beginn des Abends. Sie hatte sich noch nie so gehen lassen, nicht einmal vor ein paar Wochen, als sie die Krone der Homecoming-Queen gefeiert hatte.

Er drängte sich bis zu ihr durch und schob sie an einen freien Fleck am Rand der Tanzfläche. Sie glühte regelrecht, und an ihrer Schläfe rann bereits grüne Farbe hinab, während sie im Rhythmus der Musik immer näher tanzte und die Lücke zwischen ihnen schloss. Er sog scharf die Luft ein, als sie sich gegen seinen Unterleib presste und weiterhin bewegte, ohne zurückzuweichen. Neben den Boxen war es schier unmöglich, mit ihr zu sprechen.

Chase versuchte es dennoch: »Wann wirst du die Trennung offiziell bekannt geben?«, brüllte er in ihr Ohr, doch Sarah tanzte schon wieder davon, sodass seine Worte in dem lauten Gesang der Partygäste untergingen. Chase hielt sie fest, brüllte ihr entgegen, sie sollte eine kurze Pause machen, aber wieder einmal ignorierte Sarah alle Ratschläge. Sie nahm ihm den Teller ab und schnappte sich einen der Augäpfel. Chase war erleichtert, doch Sarah verzog angewidert das Gesicht und stellte den Teller auf einer der Boxen ab und presste sich erneut an ihn. Weil er nicht reagierte, griff sie nach seinen Händen und legte sie sich auf die Hüften. Sarah gab eine beinahe unerträgliche Hitze ab. Er entzog sich ihr. Sie winkte ihn mit sich zum Tanzen. Chase wollte reden, nichts anderes, daher schüttelte er den Kopf, woraufhin sie offenbar die Augen verdrehen wollte, was sie kurz taumeln ließ. Instinktiv wollte Chase sie stützen, sie zuckte aber nur mit den Schultern und stolperte zurück in die Menge und warf sich einem muskulösen Typen mit Werwolfmaske an den Hals.

Sie tanzte auf eine Art mit ihm, die Chase dazu veranlasste, sich automatisch nach den erwachsenen Aufsichtspersonen umzusehen. Dabei bemerkte Chase Sarah und den Werwolf in etlichen Handydisplays von Mitschülern, die diese Show für die Ewigkeit aufbewahren wollten. Sarahs Körper presste sich an den des Maskierten, sodass um sie herum der Kreis immer größer wurde, Pfiffe und Anfeuerungsrufe erklangen und immer mehr Handys auf die beiden gerichtet wurden.

Die Musik verstummte plötzlich und hinterließ ein Pfeifen in Chase’ Ohr, ehe jemand gegen das Mikrofon klopfte und sich die Schaulustigen nörgelnd zur Bühne umdrehten, wo Morgan mit rosa Stressflecken am Hals und geröteten Wangen im Spotlight stand.

Sarah presste sich eng an ihren Werwolf, wandte sich der Bühne zu und lächelte nur selbstgefällig, als Morgan ihren Namen nannte – und den von Chase. Sarah riss die Arme hoch und sah sich um, suchte offensichtlich nach ihm, und obwohl er freie Sicht auf sie hatte, schien sie ihn nicht zu finden. Er ging auf sie zu. Der Tanz war die Gelegenheit, endlich mit ihr zu sprechen und herauszufinden, wann sie ihr Versprechen einlösen würde.

Morgan gab dem DJ die Anweisung, einen ruhigen Song aufzulegen, und Sarah grinste Chase nun mit etwas entrücktem Blick an, während sie auf ihn zu torkelte und ihre Arme um ihn schlang, um nicht zu stolpern. Er stützte sie, indem er sie ebenfalls umarmte und im Takt wiegte. Sie drängte sich immer näher an ihn, was ihm unangenehm war. Er wollte nicht auf etlichen Videos zu sehen sein. Als ein Spot sie beide traf, verzog Sarah das Gesicht und verbarg es in seiner Halsbeuge.

Chase ergriff die Gelegenheit. »Du hast bekommen, was du wolltest«, sagte er in ihr Ohr, woraufhin sie sich leicht aufbäumte und sogar erschauderte. »Nach dem Tanz gehst du nach vorne und machst unsere Trennung offiziell, okay?«

Ihre Hüfte presste sich gegen seine. Sein Puls wurde schneller, und sie erwischte ihn eiskalt, als sie nach oben sah und ihn küsste. Ihre Lippen schienen ihn zu verbrennen, waren noch heißer als der Rest ihres Körpers. Ihre Zunge glitt blitzschnell in seinen Mund und Chase schmeckte etwas Bitteres. Er zog den Kopf zurück. Das war nicht die Richtung, die er einschlagen wollte, die vereinbart war. Wie von selbst suchte er Brookes Blick, wollte sie wissen lassen, dass er das nicht hatte kommen sehen.

»Sarah, lass uns nach draußen gehen«, drängte er weiter, während sie wie eine völlig fremde Person versuchte, ihn erneut zu küssen. Weil er den Kopf hob, küsste sie seinen Hals, krallte sich unter seinem Jackett in sein Hemd. Er wollte sich aus ihrem Griff befreien, tastete sich bereits ihre Arme entlang nach hinten, um ihre Finger zu lösen. »Du glühst! Wir sollten nach draußen gehen, damit du etwas abkühlen kannst.«

Als sie so laut aufstöhnte, dass das Mädchen des Tanzpaares neben ihnen kopfschüttelnd auflachte, reichte es Chase. Er blieb endgültig stehen, schob seine Rechte unter Sarahs Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. Doch sie sah ihn nicht, da war er sich sicher. Ihr Blick trübte sich und für einen kurzen Moment setzte sein Herzschlag aus.

Dann erschlaffte Sarahs Körper und sie brach zusammen. Er versuchte, sie aufzufangen, griff unter ihre Arme, doch er war nicht schnell genug und verlor das Gleichgewicht. Sie riss ihn mit sich nach unten und ihr Kopf fiel wie der einer Puppe nach hinten. Chase reagierte sofort und stützte ihn, legte Sarah vorsichtig auf den Boden und brüllte die Umstehenden an, einen Arzt zu rufen. Plötzlich war Brooke neben ihm, tastete Sarah ab und fühlte ihren Puls.

»Ruft einen Arzt!«, schrie sie ebenfalls. Selbst für eine Vampirin war sie ungewöhnlich bleich. Endlich verstummte die Musik und Brooke wiederholte ihren Befehl. Das Piepen in seinen Ohren wurde vom Rauschen seines Pulses übertönt.

Brooke beugte sich über Sarah, rollte sie in die stabile Seitenlage und winkelte ihr Bein an, damit sie nicht umkippte. Sie war erstaunlich. Mit geübten Griffen löste Brooke die Korsage an Sarahs Kleid, woraufhin ihr Rücken freilag. Sarahs Haut war fiebrig rot.

»Bringt etwas zum Kühlen!«, forderte Brooke, und sofort sprang eine Mumie mit einer Styroporkiste voller Eiswürfel herbei, die Brooke über Sarah auskippte. Sarah zuckte nicht einmal zusammen. Hatte sie wirklich keinen Alkohol, sondern etwas anderes zu sich genommen? Schnell drängte Chase die aufkeimenden Bilder an die Party im Frühjahr zurück, an das zerstörte Auto, die Glasscherben überall, die Last unausgesprochener Dinge, das Gewicht so vieler Geheimnisse.

Brooke hob Sarahs Kopf an und legte ihren Umhang darunter. Dann schlug sie Sarah auf die Wange, erst sanft, dann so fest, dass das Klatschen durch den Saal hallte. Sarahs Lider flatterten nur kurz, dann erschlaffte sie wieder.

Chase hielt Sarahs Hand, die schnell kühler wurde, krallte sich an ihr fest wie an dem letzten Fetzen eines Traumes, der immer mehr verblasste. Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging, bis endlich laute Stimmen über das Rauschen in seinen Ohren drangen und er von Sarah weggezogen wurde. Sarah, die mittlerweile blaue Lippen hatte.

Devin

Im Raum war ein konstantes Murmeln zu hören, während die Gerüchte überkochten: »Zu viel Alkohol.« »Drogen.« »Medikamente.« Niemand glaubte an den anaphylaktischen Schock, den die Sanitäter gleich als Erstes diagnostiziert hatten, ehe sie Sarah Adrenalin injiziert hatten. Um Devin herum klang es wie das Summen eines Bienenschwarms, der sich hinter den künstlichen Spinnweben, die von der Decke hingen, zum Abflug bereit machte. Er erschauderte bei dem Vergleich und die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Er stand etwas abseits bei den Grabsteinen, die den Weg zur Küche und dem kleinen Nebenraum verdeckten, und wartete, dass Emily, seine Stiefmutter, wieder herauskam. Die stetig anwachsenden Sorgen um sie wurden nur von dem Gefühl, versagt zu haben, unterbrochen. Er war wie erstarrt gewesen, als er Sarah hatte zusammenbrechen sehen. Wieder einmal. Brooke war es gewesen, die Erste Hilfe geleistet hatte, die Sarah geholfen oder es zumindest versucht hatte. Nicht er, der schon vor seinem Studium etliche Medizinkurse belegt hatte.

»Mir ist langweilig«, erklang plötzlich eine Stimme direkt neben ihm. »Würdest du mich nach Hause fahren?«, fragte Piper so laut, dass sich gefühlt der gesamte Saal zu ihnen umdrehte. Geschminkte Geister und Vampire, Hexen und Prinzessinnen, demaskierte Superhelden und mehr. Was rund eine Stunde zuvor im Zwielicht der Halloween-Party noch cool ausgesehen hatte, wirkte nun im hell ausgeleuchteten Saal beinahe lächerlich grotesk. Er legte eine entschuldigende Miene auf und zeigte anschließend hinüber zu Dr. Lessing, Pipers Vater, der mit der immer weiter wachsenden Gruppe von Eltern sprach.

»Dein Vater ist auch noch hier«, presste er nur für Piper hörbar hervor. Er wollte keine Szene machen. Nicht hier. Nicht heute.

Doch Piper zuckte nur mit den Schultern und sah zu ihm hinauf. Selbst mit ihren hohen Schuhen überragte er sie so weit, dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste. Das Goldpuder reflektierte die Deckenbeleuchtung und ließ sie krank wirken, anstatt ihre dunkle Haut zum Schimmern zu bringen. Piper lag leider inzwischen sehr viel – zu viel! – an ihrer Außenwirkung. Vermutlich wollte sie deshalb gehen. Wie zur Zustimmung rückte sie das auf ihren hochgesteckten Haaren thronende Krönchen zurecht.

»Ich kann jetzt nicht gehen, Piper.« Natürlich schmollte sie sofort. Mit ihren vollen Lippen konnte sie das besonders gut und hatte so auch ihrem Vater bereits einige Dinge abgerungen.

»Ich muss bei Emily bleiben«, versuchte Devin weiter, sie zur Vernunft zu bringen – oder sie loszuwerden. »Sie hat heute ihre Tochter verloren und ist ganz allein.« Warum hatte er nicht schon längst einen Cut gemacht? Warum hatte er sich von Piper überreden lassen, die Party gemeinsam zu besuchen?

»Sie ist deine Stiefmutter, Dev, nicht deine Mutter.« Devins Puls beschleunigte sich, ganz gleich, wie tief er ein- und ausatmete. »Nolan wird sicher jeden Moment hier sein und kann sie trösten.«

Devin schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen. Piper war ein bildhübsches, sehr kluges Mädchen. Nur leider setzte ihr Gehirn hin und wieder aus. Anders konnte er sich nicht erklären, dass sie jetzt mit gelangweiltem Blick und einem genervt klingenden Seufzen der von zwei Sanitätern geschobenen Trage hinterhersah, auf der Sarah lag – den gesamten Körper unter einer Decke versteckt, sodass nur noch ein Teil ihrer blonden Haare mit den schwarzen Strähnen hervorschaute.

»Tu wenigstens so, als wärst du kein Roboter«, zischte er Piper zu, während er wie alle anderen, an denen die Sanitäter vorbeikamen, den Kopf senkte.

»Warum sollte ich? Sie war ein Biest!«

Sofort spürte er erneut zahlreiche Blicke wie Nadelstiche. Er griff nach Pipers Hand und zog sie mit sich hinter die Grabsteine, wo ihnen als Mumien verkleidete Kellner begegneten. Wortlos ging er zu dem Personalfahrstuhl, und weil dort ebenfalls Trubel herrschte, fuhren sie nach unten. Der Fahrstuhl öffnete sich direkt nach draußen. Piper ließ sich gerne von ihm mitziehen, sie glaubte vermutlich, sie hätte ihn überzeugt zu gehen. Devin jedoch hatte nur einen Gedanken: Er musste es beenden, auch wenn es wohl keinen ungünstigeren Zeitpunkt gab. Doch zuvor …

Piper schauderte in ihrem dünnen Kleidchen. Schon den gesamten Oktober über waren die Temperaturen unter der Norm gewesen, nun kam der leichte Wind dazu, der über ihre von der Hitze im Veranstaltungsraum des Museums aufgeheizten Körper strich. Devin war froh, dass sein Kostüm aus einem langen Hemd und dem schweren Jedi-Umhang bestand. Letzteren zog er aus und reichte ihn Piper. Als sie sich in den Umhang hüllte und daran roch – was wesentlich gruseliger war als sämtliche Kostümierungen auf dem Halloween-Ball –, versuchte er, ihr gut zuzureden, während er die fliegenden Strähnen seiner Haare einfing und sie im Nacken neu zusammenband.

»Piper, du kannst nicht so über sie sprechen. Sarah ist …« Die Luft reichte nicht aus, um die Worte herauszulassen. Sie auszusprechen, würde alles real machen. Er schluckte und versuchte es nach einem tiefen Atemzug erneut. »Sarah ist tot.«

Piper sah aus, als wolle sie etwas Bissiges erwidern, besaß aber zumindest so viel Anstand, es nicht zu tun.

»Wir sollten heute alle bei unseren Familien bleiben«, legte er nach. »Dein Vater will sicher auch, dass du mit ihm zusammen heimfährst und nicht mit mir.«

Sie schien kurz über seinen Vorschlag nachzudenken, schüttelte dann jedoch den Kopf.

»Er wird noch ewig hier beschäftigt sein und mich komplett ignorieren. Nimm mich mit zu dir und …« Sie überwand innerhalb eines Wimpernschlags die Distanz zwischen ihnen und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. »Wir könnten den Abend gut ausklingen lassen.«

Das war zu viel. Er packte Piper an den Oberarmen und schob sie von sich.

»Bist du verrückt? Ich soll mit dir von hier verschwinden und …« Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es! Ich habe keine Lust, es zu erklären. Wenn du es selbst nicht verstehst, kann ich dir auch nicht helfen. Ich wollte die Sache zwischen uns …«

»Die Sache?« Ihr Einwurf klang beinahe hysterisch.

»Unsere Beziehung ist schon lange nicht mehr dieselbe wie am Anfang. Wir haben uns unterschiedlich entwickelt, merkst du das nicht? Du hast mich nahezu genötigt, mit dir hierherzukommen.«

»Aber …«

Devin schüttelte den Kopf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die der Wind wieder aus seinem Zopf gelöst hatte. »Kein Aber, Pips, wir hatten früher eine tolle Zeit zusammen, aber die ist vorbei. Wir sind vorbei.«

Anstatt dass sie dafür kämpfte und ihn wieder anflehte, so etwas nicht zu sagen, wurde ihre Stimme kälter als der Wind. Devin erschauderte.

»Dann hat Sarah wohl doch noch ihren Willen bekommen.«

Danach drehte sie sich um und ging mit großen Schritten den seitlichen Gebäudeflügel entlang zum Haupteingang. Devin stand einen Moment völlig erstarrt da, kehrte dann zum Personaleingang zurück. Vor dem Fahrstuhl stieß er beinahe mit Chase und Brooke zusammen. Brooke hatte knallrote Augen und sah aus wie ein Waschbär. Wenigstens eine besaß den Anstand, um Sarah zu trauern.

Chase war im Begriff gewesen, etwas zu Brooke zu sagen, hielt dann jedoch inne und trat einen Schritt von ihr weg – sein sorgenvoller Blick jedoch klebte geradezu an Brooke. Ein Brummen durchschnitt die unangenehme Stille zwischen ihnen und Brooke zog mit einem »Na endlich« ihr Handy aus ihrem Vampirumhang. Ohne Verabschiedung rannte sie Richtung Personaleingang davon.

»Was hat sie?«, fragte Devin, weil offensichtlich war, dass es hier um mehr als Sarahs Tod ging.

»Sie ist vollkommen durcheinander«, erwiderte Chase und fuhr sich durch die von seinem Zylinder platt gedrückten Haare, als könnte er damit auch Ordnung in seine Gefühle bringen.

»Verständlich«, sagte Devin. »Mir geht es genauso. Sie … Sie war meine Schwester und Emily …«

»I…ich habe …«, stotterte Chase. »Alter, es tut mir leid. Mein Beileid. Ich war so auf mich selbst fixiert …« Er rieb sich über das Gesicht und verschmierte sein Make-up.

Erst etwas verzögert antwortete Devin: »Schon … okay. Denke ich. Immerhin war sie deine Freundin. Das zählt vielleicht sogar mehr als Stiefschwester.« Devin wusste nicht, was er fühlen sollte. So langsam ebbte das Adrenalin ab, das durch seinen Körper geschossen war, als er Sarah mitten auf der Tanzfläche hatte zusammensacken sehen. Er richtete seinen Blick wieder auf Chase. Sein schmaler dunkler Anzug, passend zu seiner Aufmachung als verrückter Hutmacher, schimmerte stellenweise in Grün. Das Grün von Sarahs Schminke zeigte sich auch auf seinem weißen Hemd. Chase hatte Sarah im Moment ihres Todes in den Armen gehalten. Sie war ausgerechnet beim Tanz des Königspaares zusammengebrochen. Besser hätte sie es nicht timen können. Devin schalt sich für den Gedanken. Er klang schon wie Piper.

»Wie geht es Emily?«, riss Chase ihn zurück in die Realität. Devin zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Er überlegte, wie weit Sarah Chase in das Familiendrama eingeweiht hatte. Er beschloss, lediglich die Fakten zu nennen. »Ihre Tochter ist gestorben. Auf einer Halloween-Party.« Er stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen Unglaube und Verzweiflung lag. »Emily ist kurz vor dem Durchdrehen! Eine Polizistin hat sie irgendwo in einen anderen Raum gebracht.« Devin gestikulierte vage in Richtung der Nebenräume über ihnen. »Sie wollen mich nicht zu ihr lassen, sondern warten, bis Dad kommt. Er war …« Devin suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, »… nicht zu Hause, als ich angerufen habe.«

Chase nickte, als hätte er verstanden. Devin hatte Chase immer gemocht. Er und Sarah waren frisch zusammen gewesen, als Devin und sein Dad vor fast drei Jahren zu Emily und Sarah gezogen waren. Er hatte miterlebt, wie sich alle entwickelt hatten. Seit damals hatte sich einiges verändert. Piper war mit jedem Tag anhänglicher geworden, warf ihm bei jedem Gespräch mit einer weiblichen Person Flirten – oder mehr – vor und presste ihm sämtliche Energie ab.

Er hatte an Sarah und Chase immer bewundert, dass ihre Beziehung nach all den Jahren noch so gut lief. Sarah hatte zu Hause oft damit angegeben. Und nun war es einfach so … vorbei. Devin konnte es nicht fassen, dass Emily heute in ein Haus zurückkehren musste, das ihre Tochter nie wieder betreten würde.

Brooke

»Was tust du?« Brookes Stimme brach. Sie wusste nicht, ob aufgrund des Verlustes oder der bitteren Enttäuschung.

»Wir müssen raus hier«, erwiderte Chase, fuhr sich wieder und wieder durch die Haare, während er Brooke ihren Umhang reichte und sie den schmalen Flur Richtung Personalfahrstuhl entlangschob. Sein Zylinder lag vermutlich noch auf der Tanzfläche.

Brooke versuchte angestrengt, in ihrem Kopf für Ordnung zu sorgen, alles zu sortieren, zu begreifen, während sie ihren Umhang schützend um sich schlang. Es schien unmöglich. Der gesamte Abend zog in Endlosschleife durch ihren Kopf, ihre Gedanken kreisten wie die schwarzen mechanischen Dekokrähen über der Tanzfläche. Die Tanzfläche, auf der Sarah gestorben war.

Den Blick, den die Sanitäterin ihrem Kollegen zugeworfen hatte, würde Brooke nie im Leben vergessen. Wie in einem Gif presste sie immer wieder die Lippen zusammen und schüttelte langsam den Kopf, während sie ihre Lider schloss.

Und wieder.

Und wieder.

Die beiden hatten Sarah irgendetwas gespritzt, sie beatmet, ihr eine Herzdruckmassage gegeben – doch sie waren zu spät gekommen.

Nach diesem Moment war für Brooke alles wie verschwommen. Irgendwann hatte Chase seine Hand auf ihren Rücken gelegt, mechanisch hatte sie einen Schritt nach dem anderen gemacht, war – soweit sie sich erinnerte – gegen etliche Partygäste gestoßen, die ihr nicht hatten ins Gesicht sehen können.

Nun standen sie hier vor dem Fahrstuhl und Brooke bemerkte das verzerrte Bild von sich und Chase im gebürsteten Aluminium. Sie musste eine Entscheidung treffen. Ihre Hand schloss sich so fest um den Kranich in ihrer Tasche, dass sie ihn nie wieder würde entfalten können. Ihr Herz krümmte sich vor Schmerz, als sich die Tür vor ihnen öffnete und sie den Aufzug betraten.

Kaum dass die Tür sich wieder geschlossen hatte, zog Chase sie an sich, presste sie fest gegen seine harte Brust, als könnte sie ebenfalls in seinen Armen zusammenbrechen. Seine Finger wühlten sich durch ihre auftoupierten Haare bis zu ihrem Nacken, seine Hände waren eiskalt. Er presste ihr einen schnellen Kuss auf den Scheitel, als der Fahrstuhl anhielt. Hastig trat er zur Seite, hinterließ eisige Kälte in ihrem Körper, kälter noch als der Wind, der nun von draußen hereindrang. Doch auf der anderen Seite der Tür stand niemand. Chase griff fest nach ihrer Hand und machte ein paar Schritte ins Dunkel, hinaus aus dem Lichtkegel des Personaleingangs.

»Was machen wir jetzt?« Chase’ Stimme war voller Schmerz, seine Augen waren gerötet, als er ihr tief in die Augen sah. Doch sie wusste es nicht. Sein Duft nach Sandelholz hüllte sie ein wie Stunden zuvor in der Limousine. Als alles noch wie geplant gelaufen war, ihr Körper bei jeder Berührung in Flammen gestanden hatte. Das Beben, als er ihr Gesicht berührt hatte, sein Daumen vorsichtig über ihre Lippen geglitten war, ein letztes gehauchtes Versprechen, dass es bald ein Ende haben würde.

Ehe die Limousine vor Sarahs Haus gehalten hatte.

Nun raste Brookes Puls in derselben Geschwindigkeit. Nicht jedoch vor Verlangen und Begierde, sondern aus Furcht. Chase trat auf sie zu, hielt sie in den Armen und presste sie erneut an sich, während er unverständliche Worte murmelte. Er beugte ihren Kopf nach hinten, sah ihr so tief in die Augen, dass die Luft zwischen ihnen summte vor Energie. Beinahe hätte Brooke nachgegeben. Chase kannte die Antwort, ob er sie aussprach oder sie, es käme auf dasselbe Ergebnis heraus.

»Wir können das nicht machen. Es ist falsch, das weißt du.« Mit einem tiefen Atemzug sammelte sie sämtliche Willensstärke in ihrem Körper und löste sich von ihm, wich einen Schritt zurück.

»Du kannst nicht gehen«, flehte Chase, streckte ihr seine Hand entgegen.

»Wie würde es für alle anderen aussehen?«, fragte Brooke. »Sie ist … war meine beste Freundin.« Hastig blinzelte sie die Tränen weg. Tränen der Verzweiflung.

»Mir ist egal, was sie denken.« Chase schob trotzig den Unterkiefer nach vorne, doch Brooke sah ihm an, dass er es nicht so meinte. Seine Lippen bebten. Sie hatten beide etwas verloren. Und Chase war ein anständiger Kerl. Der Abend hätte anders laufen sollen.

»Ist es nicht. Das weiß ich.« Sie griff in die Tasche in ihrem Umhang, zog den zerdrückten Kranich hervor und reichte ihn Chase. In seinen bernsteinfarbenen Augen stand bloßes Entsetzen.

Brooke öffnete vorsichtig die Flügel und deutete auf die vier Buchstaben, auf das »Bald«, an dem sie beide sich schon so lange festgehalten hatten, bis Chase den Mut gefunden hatte, mit Sarah zu sprechen. Sarah war von Kindesbeinen an ihrer beider Freundin gewesen, daher hatte Chase ihr die Möglichkeit geben wollen, offiziell Schluss zu machen.

Und nun war Sarah tot. Allein dieser Gedanke presste Brookes Eingeweide zusammen und in ihrem Mund sammelte sich der Speichel, ganz gleich, wie oft sie ihn herunterschluckte. Ihre beste Freundin war gestorben und Brooke war nicht mehr in der Lage zu fühlen. Sarah war genauso alt wie sie. Ihr Atem beschleunigte sich, ihr Puls raste. Etliche Bilder von Sarah und ihr selbst, so viele gemeinsame Erinnerungen, zogen durch ihren Kopf, katapultierten sie zurück ins Frühjahr.

LauteMusik,durchdieNachtschneidendeScheinwerfer,lautesHupen, ein entferntes dröhnendes Krachen.

Chase wich hastig von ihr zurück, die Bilder verblassten. Auch Brooke hörte die sich nähernden Schritte. Devin bog um die Ecke und prallte völlig in Gedanken versunken beinahe in Chase hinein. Brooke versuchte, sich die Tränen wegzuwischen, und sah verstohlen zu Devin. Was er wohl dachte? Hatte er sie zusammen gesehen?