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«Das perfekte Sommerbuch!» Reese Witherspoon Weißer Sand, türkises Meer, kühle Drinks: Die schmale Brücke, die Ellery zum Luxushotel Broken Point bringt, führt direkt ins Paradies. Hier scheint alles perfekt. Eine schillernde Hochzeitsgesellschaft nimmt das Gelände ein – die Erwartung einer echten Traumhochzeit liegt in der Luft. Und Ellery spürt eine Verbindung zur Braut Olivia, die ebenfalls nicht ganz ins Paradies zu passen scheint. Doch dann zieht ein Unwetter auf, bald stürzt Regen auf das Hotel nieder, Donner zerreißt die Luft. In der Hochzeitsnacht findet Ellery im Pool eine Leiche. Als der Tag anbricht, ist nichts wie zuvor. Durch das Unwetter wurde die Brücke schwer beschädigt. Die Hotelgäste sind gefangen. Schnell kippt die Hochzeitsstimmung in etwas Düsteres, Unberechenbares. Dann liegt am Fuß der Klippen eine zweite Leiche. Niemandem ist zu trauen. Und plötzlich ist Olivia verschwunden …
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Seitenzahl: 419
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ally Condie
Die perfekte Hochzeit. Der perfekte Mord.
Thriller
«Das perfekte Sommerbuch!»Reese Witherspoon
Weißer Sand, türkises Meer, kühle Drinks: Die schmale Brücke, die Ellery zum Luxushotel Broken Point bringt, führt direkt ins Paradies. Hier scheint alles perfekt. Eine schillernde Hochzeitsgesellschaft nimmt das Gelände ein – die Erwartung einer echten Traumhochzeit liegt in der Luft. Und Ellery spürt eine Verbindung zur Braut Olivia, die ebenfalls nicht ganz ins Paradies zu passen scheint.
Doch dann zieht ein Unwetter auf, bald stürzt Regen auf das Hotel nieder, Donner zerreißt die Luft. In der Hochzeitsnacht findet Ellery im Pool eine Leiche. Als der Tag anbricht, ist nichts wie zuvor. Durch das Unwetter wurde die Brücke schwer beschädigt. Die Hotelgäste sind gefangen. Schnell kippt die Hochzeitsstimmung in etwas Düsteres, Unberechenbares. Dann liegt am Fuß der Klippen eine zweite Leiche. Niemandem ist zu trauen. Und plötzlich ist Olivia verschwunden …
Ally Condie ist eine US-amerikanische Autorin, die mit ihren Jugendbüchern mehrfach auf Platz eins der New-York-Times-Bestsellerliste stand. Ihre Trilogie «Matched» wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und begeisterte Menschen auf der ganzen Welt. «Pretty Perfect» ist ihr erstes Erwachsenenbuch, ebenfalls ein Bestseller in den USA und in Reese Witherspoons Buchclub gefeiert. Ally Condie genießt es, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und in den Bergen nahe ihrer Heimat Utah zu wandern.
Susann Rehlein lebt in Berlin und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und Lektorin.
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «The Unwedding» bei Grand Central Publishing, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«The Unwedding» Copyright © 2024 by Allyson Braithwaite Condie
Redaktion Anne Nordmann
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Mary Wethey/Arcangel Images
ISBN 978-3-644-02355-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Lindsey Leavitt Brown, Ann Dee Ellis, Josie Lauritsen Lee und Brook Davis Andreoli.
Ich liebe euch.
Danke, dass ihr mich gefunden habt.
Lasst uns dahin gehen, wo es lustig ist.
Something old, something new.
Something borrowed, something blue.
Someone lost, someone wed.
Someone broken, someone dead.
Etwas Altes, etwas Neues.
Etwas Geliehenes, etwas Blaues.
Zwei verbunden, einer in Not.
Jemand verschwunden, jemand tot.
Lange vor Sonnenaufgang verließ sie ihr Zimmer. Regen strömte nach wie vor herab – ein gleichmäßiges, alles umschließendes Rauschen.
Nach zwei Schritten war sie durchnässt, aber das war ihr egal. Sie war im Badeanzug, unterwegs zum beheizten Infinitypool, hatte weder Handy noch Handtuch dabei und trug nicht mal ihre Flip-Flops. Der Regen war zu heftig für ein Handy, ein Handtuch wäre sinnlos, und sie vertraute ihren nackten Füßen mehr als rutschigen Flip-Flops, wenn es so glitschig war.
Sie hielt den Kopf gesenkt. Es war noch fast völlig dunkel, und sie konzentrierte sich, um nicht auszurutschen.
Wieder einmal hatte sie das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben, aber das konnte nicht sein, denn irgendwann war sie im Traum durch einen Wald gehetzt, zwischen schwarzen Bäumen hindurch, von denen es herabtropfte, war ausgerutscht und hingefallen und hatte vergeblich nach den Menschen gesucht, die sie liebte und die sie verloren hatte.
Sie musste also geschlafen haben, nur eben nicht gut.
Vorsichtig ging sie über die Steinplatten. In jeder Vertiefung hatte sich Wasser gesammelt, es floss in kleinen, reißenden Bächen rechts und links des Weges entlang und flutete einige der sorgsam gepflegten Pflanzen im Beet.
Wenn man bei so starkem Regen schwamm, war dann alles Wasser, und die Trennung zwischen Erde und Himmel gab es nicht mehr?
Irgendwer hatte die Liegestühle gestapelt und in Folie gehüllt, um sie vor dem Regen zu schützen. Nebel stieg von der Wasseroberfläche auf, und als sie an der Treppe innehielt, fragte sie sich, ob man bei solchem Regen mit dem Kopf über Wasser ertrinken konnte.
Sie hatte gerade begonnen, die Stufen in den Pool hinabzusteigen, als sie ihn sah.
Ein dunkler Schemen im Wasser. Ein anderer Gast, der hier frühmorgens schwamm?
Nein. Er trieb.
Hinten am gläsernen Rand trieb eine Gestalt im Infinitypool.
Ohne recht zu wissen, was sie tat, sprang sie die Stufe wieder hoch, rannte über die nassen Steinplatten zur anderen Seite und sprang so dicht wie möglich neben die Gestalt in den Pool. Es war ein Mann, das konnte sie erkennen, als sie an seiner Seite auftauchte. Ihre Finger rutschten ab bei dem Versuch, ihn umzudrehen. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem Kopf, er war nicht richtig geformt. An seinem Hinterkopf war etwas Dunkles verklumpt. Sie musste ihn umdrehen, Menschen konnten im Wasser nicht atmen und starben. Sie wuchtete ihn herum.
Sein Gesicht: die Augen offen.
Seine Kleidung: durchnässt.
Er trug noch seine Hochzeitsgarderobe, Anzug, Lederschuhe, goldene Manschettenknöpfe, eine schmutzige weiße Blume am Revers. Eine Kamelie? Warum fiel ihr das auf? Die Blume war doch völlig egal. Sie musste ihn aus diesem Pool schaffen. Sie griff ihm unter die Arme. Seine Kleidung war durchweicht, und darunter fühlte sie seinen Körper …
Nicht daran denken, versuch, das auszublenden.
Sie zerrte ihn zu den Stufen am Ende des Pools.
Er ist tot. Das ist eine Leiche. Ich hab eine Leiche in meinen Armen.
«HILFE!», schrie sie.
Nichts.
Sie schrie erneut, während sie ihn die Treppe hinauf und auf die Steinplatten neben dem Pool zerrte. Sie keuchte vor Anstrengung und versuchte, nicht hinzusehen, wie seine Beine über den Beckenrand schleiften.
«HILFE!»
Niemand kam.
Sie konnte sich nicht durchringen, ihm noch einmal ins Gesicht zu blicken, aber sie meinte zu hören, wie der Regen auf seine Haut prasselte.
Sie legte ihn ab und rannte los.
Sie hetzte zum Haupthaus, rutschte unterwegs immer wieder aus, fing sich, rannte weiter und schrie immer wieder.
«Hilfe!»
Aber natürlich wusste sie es längst. Noch während ihr Mund das eine Wort formte, sagte ihr Gehirn das andere.
Tot.
Und sie dachte: nicht schon wieder.
Zwei Tage zuvor
Hat man die Natur so tief erfahren wie die Liebe, kann man nicht mehr ohne sie.
Terry Tempest Williams
Wetter: sonnig
Sonnenaufgang: 7:12 Uhr
Sonnenuntergang: 18:33 Uhr
Höchsttemperatur: 19 °C
Tiefsttemperatur 13 °C
ÜBER DAS KUNSTWERK:
Andeutung
von Clare Han, 2013 (Öl auf Leinwand)
Während dem spektakulären Panorama von Big Sur – den zerklüfteten Klippen dem Ozean – viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, konzentriert sich Clare Han in ihrem Werk auf unauffälligere, aber nicht weniger beeindruckende Landschaften. Das Gemälde Andeutung zeigt einen Teich im Wald. Die Farben Grün, Blau und Taupe bilden den Hintergrund für zarte rote Akzente, Anspielungen auf Tennysons Vers über die Natur, rot an Zahn und Klaue. Der enorme Maßstab des Gemäldes wurde gewählt, um bescheidenere Landschaften und unauffälligere Momente in den Blickpunkt des Interesses zu rücken.
Ihr Umfeld war regelrecht erschüttert, als Luke und Ellery Wainwright sich, kaum dass ihre Älteste mit der Schule fertig war, scheiden ließen.
Keiner konnte fassen, wie schnell das passierte – am letzten Schultag waren sie noch zusammen auf der Nachbarschaftsparty gewesen, ihre Kinder waren durch die Sprinkleranlage gerannt oder hatten mit den anderen Kids auf dem Rasen herumgelungert. Ellery hatte den nach Früchten und karamellisiertem Zucker duftenden Erdbeer-Rhabarber-Crumble mitgebracht, den sie immer machte. Luke hatte mit den anderen Vätern beim Grill gestanden und den Teenagern, die in der Einfahrt der Humphreys Basketball spielten, die Bälle zurückgeworfen, die sich in den Garten verirrten. Sie picknickten mit ihren Kindern auf einer Decke. Später sagte Kat Coburn, sie habe doch gesehen, wie Luke Ellery beim Gehen die Hand auf den Rücken gelegt habe.
Niemand hatte gewusst, dass sie nur noch die Fassade aufrechterhielten, dass Luke die Ehe längst aufgegeben hatte und Ellery starr vor Kummer gegen alle Vernunft hoffte, er würde seine Meinung noch ändern.
Aber am 4. Juli war Luke ausgezogen. Mitte September war die Scheidung über die Bühne, und im Oktober trat Ellery allein die Reise an, die sie für ihren zwanzigsten Hochzeitstag geplant hatten.
«Ich gebe Ihnen einen Tisch draußen auf der Terrasse», sagte die Hostess zu ihr. «Wenn Sie mir folgen möchten.»
Das tat Ellery.
Seit sie einige Stunden zuvor in Monterey gelandet war, fühlte sie sich von Schönheit regelrecht umzingelt. Die Fahrt nach Broken Point war atemberaubend, und das Resort einmalig. Im Haupthaus wurde sie von einem Mitarbeiter an einem eleganten Empfangstresen eingecheckt, der von einem wunderschönen vergoldeten Paravent flankiert wurde. Auf dem gesamten Grundstück waren kleine Feuer in steinernen Kuhlen in den Boden eingelassen, und in der Nähe eines größeren Feuers ragte eine Skulptur aus Glas, Stahl und Granit auf. Darüber wiegten sich an Schnüren befestigte Kugelleuchten im Wind.
Neben dem Haupthaus befand sich das Restaurant Wildrye, dessen Eingangsbereich ein riesiger Lüster aus mundgeblasenem Glas schmückte. Die Tische auf der Terrasse waren mit weißem Leinen eingedeckt, darauf standen elfenbeinfarbene Kerzen und frische Blumen in winzigen Keramikvasen. Ein nach Wald und Meer duftender sanfter Wind strich über die Terrasse. Weit draußen hing der Vollmond über dem Meer und ließ die Wellen schimmern. Ein leuchtendes verglastes Gebäude schmiegte sich ein paar Hundert Meter höher zu Ellerys Linken an den Rand der Klippe, darin Menschen, die in Grüppchen beieinanderstanden.
«Das da oben ist unsere Galerie», sagte die Hostess, eine sanfte junge Frau, auf deren Namensschild Brook stand. «Heute Abend feiert da eine Hochzeitsgesellschaft, aber morgen ist sie für alle Gäste geöffnet.»
Ellery wusste alles über die Galerie und die anderen Einrichtungen des Resorts. Sie war diejenige, die es ausgesucht und die Reise gebucht hatte.
Im vergangenen Winter war sie zufällig auf die Website gestoßen, über einen Artikel mit dem Titel 50 Orte, die du vor deinem Tod gesehen haben musst. (Seit sie zwei Jahre zuvor vierzig geworden war, hatte sie etliche solcher Artikel online gelesen: 100 Romane, die du gelesen haben musst, Die 100 besten Songs aller Zeiten und so weiter und so fort.)
«Das Luxusresort in der atemberaubenden Landschaft von Broken Point», stand quer über der Website in einer Schrift, die seltsamerweise gleichzeitig kultiviert und reißerisch wirkte. Die Fotogalerie spulte Bilder vor ihr ab, die das Meer zeigten, elegante, moderne Gebäude, die diskret zwischen Mammutbäumen standen, eine Frau mit glatten grauen Steinen auf ihrem schmalen, gebräunten Rücken, die eine Spa-Behandlung bekam, köstlich aussehende Mahlzeiten auf cremefarbenen Steinguttellern neben Blumen aus dem hoteleigenen Garten.
Jedes Ferienhaus beherbergte drei Zimmer. Außerdem konnte man eines der fünf Cottages mieten. (Ellery war buchstäblich die Kinnlade runtergefallen, als sie den Preis dafür gesehen hatte.) Es gab eine Sauna und ein Spa, Pendleton-Decken auf den Liegestühlen auf der Terrasse, mehrere beheizte Pools, flauschige weiße Handtücher, jede Menge von Nebelschwaden durchzogene Natur, ruhige Pfade, die sich durch einen ehrwürdigen Hain schlängelten, und besagte Kunstgalerie. Über das Anwesen verteilt standen Skulpturen, und zwischen den Bäumen fand sich ein als Bar fungierender, stylisher silberner Airstream-Wohnwagen mit Tischen und Stühlen ringsherum.
Als Ellery Luke die Website gezeigt hatte, hatte er sofort gesagt: «Lass uns das machen.»
Er stand hinter ihr und knetete ihre Schultern genau dort, wo sie verspannt waren. Sie liebte es, wenn er das tat. «Meinst du wirklich?», hatte sie gefragt, weil das Ganze wirklich sehr, sehr teuer war.
«Klar», hatte er erwidert. «Man feiert nur einmal Porzellanhochzeit.»
«Du solltest trotzdem fahren», sagte Luke später in der Mediation, als sie alles aufteilten, und sein Ton war so sanft wie gönnerhaft gewesen. «Die Anzahlung wird nicht rückerstattet. Und du wolltest doch so gern da hin.»
Du etwa nicht?, wollte sie fragen. Hast du nur so begeistert getan? Warst du da längst fertig mit uns?
«Da wären wir.» Brook zog Ellery einen Stuhl heraus. «Ihr Kellner wird gleich bei Ihnen sein.» Sie gab Ellery eine Speisekarte – cremefarbenes Papier, edel bedruckt. Wie herangebeamt stand sofort danach ein Kellner in einem teuer aussehenden weißen Hemd an ihrem Tisch und erklärte ihr die Abendkarte.
Ellery bekam nicht viel davon mit, weil ihr plötzlich ein scharfer Schmerz durch die Brust schoss. Sie fühlte förmlich, wie ihr Herz sich gegen die Muskeln und Knochen stemmte, die es an seinem Platz hielten.
Aber wie ihre Therapeutin sagte: Der menschliche Organismus konnte nicht lange auf einem hohen Schmerzniveau leben. Selbst wenn das, was man für sein Leben gehalten hatte, ein Scherbenhaufen war, sprangen irgendwann irgendwelche Mechanismen an und hielten einen am Leben. Sie ließen einen gerade noch erträglichen chronischen Schmerz zurück, von dem man irgendwann begriff, dass er einem für den Rest seines Lebens bleiben würde.
Ellery blickte auf. Am Tisch links von ihr nahmen zwei Leute Platz, die Vater und Tochter sein mussten. Sie hörten auf die gleiche Weise zu, als der Kellner auch ihnen die Abendkarte erklärte. Der Vater trug Hemd und Kakihose. Die Tochter wirkte frisch und lebendig, ihr langes lockiges Haar hatte sie zu einem Knoten hochgedreht.
Jeder hatte jemanden. Für alle anderen lief es gut.
Es war nicht so, dass Ellery eines dieser anderen Leben gewollt hätte.
Sie wollte einfach nur ihr eigenes Leben zurück.
Natürlich war ihr bewusst gewesen, dass sie Probleme hatten. Luke hatte in den letzten Jahren definitiv eine Midlife-Crisis durchgemacht, aber sie hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass das vorbeigehen würde. Sie war sich sicher gewesen, dass sie das gemeinsam überstehen würden, wie sie auch alles andere überstanden hatten: das Aufbaustudium, die Babys, Kleinkinder, Jobwechsel, Umzüge, Krankheiten, Teenager.
Er konnte wunderbar sein.
Dann wieder sagte er Dinge, die ihr das Herz brachen.
Ich hätte nicht so jung heiraten sollen.
Ich war so damit beschäftigt, das zu tun, was alle von mir erwarteten, dass ich mich keine Sekunde gefragt habe, ob es das war, was ich tun wollte.
Ich hätte nicht direkt studieren, sondern versuchen sollen, Musiker zu werden.
Ich hatte nie die Gelegenheit, mich selbst zu finden.
Ich habe die Möglichkeiten nicht gesehen, die ich gehabt hätte.
Das war doch absurd. So was sagte im Film der blöde Ex, bevor die betrogene Heldin bedröppelt in ihre Kleinstadt zurückkehrt, um ihre Wunden zu lecken, und dort ihren heißen Highschool-Freund wiedertrifft, der jetzt Tierarzt ist und die frühreife Tochter seiner verstorbenen Schwester großzieht.
Sie hatte immer geglaubt, dass sie und Luke es schaffen würden. Sie waren ein gutes Paar, hatten viel zusammen erlebt, kleine und große Highlights. Immer hatten sie sich gegenseitig aufgebaut, sich angefeuert und einander im Arm gehalten, wenn es Grund zur Trauer gab. Sie wussten, wie der andere im Schlaf aussah, beim Küssen, Weinen, Zähneputzen, wie er schaute, wenn er die neugeborenen Kinder das erste Mal sah.
Die Kinder.
Ellery stand auf. Ihre Serviette fiel auf die Steinplatten, doch sie hob sie nicht auf. Sie drehte sich mechanisch um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Ein Kellner trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Ihre Sandaletten machten Geräusche, als sie zwischen den Tischen hindurchging. Wussten die Menschen, die zu ihr aufblickten, es auch? Dass nichts jemals so war, wie es schien? Nicht einmal dieser schöne Ort, nicht einmal ihr schönes Leben.
Im Mai, zwei Wochen vor den Ferien, hatte Luke sich von ihr getrennt. Die Kinder waren schon im Bett gewesen. Kate, ihre Älteste, hatte ein Cellokonzert vor sich gehabt. Ethan, ihr Sohn, beendete gerade sein erstes Jahr an der Highschool. Maddie, die Jüngste, hatte eine neue beste Freundin, die Luke und sie witzig fanden. Sie hatte gedacht, dass sie über irgendwas davon reden würden.
«Ich bin nicht glücklich», sagte Luke stattdessen. «Mein Leben ödet mich an.»
Während er das sagte, hielt er ihre Hand in seiner. Auch früher schon hatte er solche Sachen gesagt, deshalb war ihr zuerst gar nicht klar gewesen, dass es ihm ernst war. Dass er nicht nur Dampf abließ.
Sie hatte auf die Arbeitsplatte geschaut, wo sie die Frühstücksbrote für die Kinder eingepackt hatte und wo noch Papiertüten, ein Messer und Apfelkerne lagen, auf das Geschirr im Spülbecken. Früher am Abend hatte sie in einem Anflug von Wehmut bedauert, dass sie buchstäblich jede Minute des Tages arbeitete, aber irgendwie nichts davon hatte.
Wie ahnungslos konnte man sein?
Sie hatte alles gehabt.
Und jetzt war ihr alles genommen.
Auf der Toilette des Restaurants holte sie ihr Handy heraus und rief ihre beste Freundin Abby an.
«Wie geht es dir?», fragte Abby sofort.
«Es läuft super», antwortete Ellery. «Ich habe gerade einen Traueranfall auf der Toilette.»
«Perfekt», sagte Abby. «Lass es raus. Musst du ins Telefon weinen?»
«Wahrscheinlich.» Ellery holte stockend Luft. Im Waschraum gab es eine kleine Nische mit einer Chaiselongue. Vielleicht könnte sie sich da einfach drauflegen. Vielleicht wäre das gar nicht so seltsam, wie es ihr vorkam. «Dieses Wochenende findet hier eine Hochzeit statt.»
«Wir wussten, dass das passieren kann», erinnerte Abby sie. «Das wird schon wieder.»
«Erklär mir noch mal, warum wir das für eine gute Idee gehalten haben.»
«Du warst noch nie mit Luke in Big Sur oder Broken Point», zählte Abby die Gründe auf. «Es ist also eine neue Umgebung. Du wolltest das Geld nicht aus dem Fenster werfen. Und …»
«Ich wollte nicht, dass er Imogen mitnimmt», beendete Ellery den Satz.
Imogen war Lukes neue Freundin. Er hatte sie einen Monat nach der Scheidung kennengelernt. Sie war winzig (Ellery war groß), hatte glänzendes rotes Haar (Ellery hatte normales braunes), war fünf Jahre jünger als Ellery und Luke und war Irin, was bedeutete, dass sie einen Akzent hatte.
Gegen einen Akzent war man machtlos.
All das hatte Ellery Abby in ihrem Elend ziemlich oft vorgejammert, das konnte sie nicht noch mal bringen. Jetzt sagte sie: «Ich wünschte, du wärst hier, Abby.» Sie hatte ihre beste Freundin eingeladen mitzukommen, zumal Luke und sie für die Herbstferien gebucht hatten, aber Abby hatte bereits Pläne mit ihrer Familie gehabt.
Gemäß ihren frisch unterzeichneten Scheidungspapieren hatte Luke die Kinder in den Herbstferien. Sie fuhren auf einen Zeltplatz. Ellery hasste Camping, und jetzt würden Luke und die Kids wahrscheinlich oft ohne sie zelten. Ellery wanderte und kletterte leidenschaftlich gern. Sie war eine gute Läuferin, fuhr Ski, Kajak und Paddleboard. Aber im Freien schlafen war einfach nicht ihr Ding.
Klar würde sie jetzt mit Luke zelten fahren, wenn sie damit das Ruder rumreißen könnte. Sie würde alles tun. Er machte neuerdings auch Sachen, die sie gern mit ihm gemacht hätte. Plötzlich hörte er Brené-Brown-Podcasts und redete über emotionale Verletzlichkeit, und er hatte wieder angefangen, Sport zu treiben. Imogen sah in ihm einen aufregenden Typen, da war sich Ellery sicher.
«Ich wünschte auch, ich wäre bei dir. Das ist eine harte Phase», sagte Abby leise. «War es für mich auch, dabei war ich nur sieben Jahre verheiratet. Bei euch sind es zwanzig. Aber ihr schafft das.»
«Ich glaube nicht, dass ich das hier durchziehen kann», sagte Ellery. Gleich das Betreten des Zimmers, das sie mit Luke hätte teilen sollen, hatte sie an ihre Grenzen gebracht. Honigfarbene Holzwände, behagliche weiße Bettwäsche, am Fußende eine grau-rote Pendleton-Tagesdecke, schlichte Ledersessel, edle Kunstdrucke, ein Teller mit zwei schokoladenüberzogenen Erdbeeren und eine handgeschriebene Nachricht auf einer wertigen Karte, die mit dem Logo des Resorts (eine Skizze von drei Bäumen, die am Rand einer Klippe stehen) bedruckt war. «Genießen Sie Ihren Aufenthalt», hatte darauf gestanden. Als Ellery ins Badezimmer gegangen war und die geräumige Dusche mit zwei Duschköpfen und die zwei flauschigen weißen Bademäntel sah, die an von Eames inspirierten Haken hingen, war sie an den Fliesen hinunter auf den Boden gerutscht und hatte das Gesicht in die Hände gelegt.
Würde sie das ganze Wochenende damit zubringen, in verschiedenen Waschräumen zu weinen?
«Drei Tage lang kann man alles aushalten», sagte Abby.
«Ich glaube, du irrst dich», erwiderte Ellery. «Könntest du zum Beispiel drei Tage lang Wehen durchstehen? Könntest du drei Tage lang Klassenarbeiten einer neunten Klasse benoten?»
«Na gut.» Abby lachte. «Du hast recht.»
Ellery und Abby unterrichteten beide Sozialkunde an der Dutch Fields Highschool. Ellery hatte immer gearbeitet, zuerst, um Luke durchs Studium zu bringen, dann, um ihm beim Abzahlen seines Studienkredits zu helfen, und jetzt, um für das College der Kinder Geld anzusparen. Außerdem liebte sie ihren Job und war gut darin, zumindest wenn sie nicht gerade wie jetzt in Trauer versunken war. Sechs Jahre zuvor, direkt nach ihrer eigenen Scheidung, hatte Abby angefangen, auf der anderen Seite des Flurs zu unterrichten, und sie trainierten gemeinsam das Leichtathletikteam der Mädchen. Abby war lebhaft und klug und wunderschön und lustig und eine treue Seele. Sie brachte Ellery mehr zum Lachen als irgendwer sonst. Und alle naselang fand sie einen Grund zu feiern – ein neues Album ihrer Lieblingsband, Beförderungen von Freunden, die halben Geburtstage ihrer Kinder. Abby hatte die Angewohnheit, ihren Freunden beim Umarmen auf den Rücken zu klopfen, und Ellery hatte sich von Anfang an in Abbys Gegenwart wohlgefühlt; in den letzten Jahren aber waren sie unersetzlich füreinander geworden.
«Ich weiß, das ist kindisch», sagte Ellery.
«Das ist gar nicht kindisch», sagte Abby. «Du trauerst eben. Dein schönes Leben hat sich gerade in Luft aufgelöst.»
Ellery stand von der Chaiselongue auf und ging hinüber zu dem langen Marmorwaschtisch mit den Kupferwaschbecken. Sie spritzte etwas von der edlen Lotion aus der goldbraunen Flasche in ihre Hände und massierte sie ein. Ihr Gesicht im Spiegel sah blass und teigig aus. «Da sagst du was.»
«Und jetzt fühlt sich alles superbeschissen an. Erst hat Luke sich jahrelang von dir pampern lassen, jetzt verlässt er dich wegen ein bisschen Midlife-Crisis, und eine fremde Frau hängt mit deinen Kindern ab. Er hat angefangen, sich Gel ins Haar zu schmieren, seine Achseln zu rasieren, V-Ausschnitt zu tragen und in den sozialen Medien Wellnesssprüche zu posten, unter denen eigentlich immer der falsche Autor steht. Soll ich noch mehr sagen, warum es total in Ordnung ist, dass es dir gerade nicht so mega geht?»
«Bitte nicht.» Ellery hätte gleichzeitig kichern und losheulen können. Sie setzte sich wieder auf die Chaiselongue. Die Lotion auf ihren Händen roch wie eine gehobene Version von dem Eis, das sie als kleines Mädchen im Urlaub gegessen hatte.
«Du wirst schon wieder», sagte Abby. «Ich schwöre.»
Abbys Ex hatte sie mit ihrer Nachbarin betrogen. Abbys zwei kleine Jungs waren noch im Kindergarten, als ihr Mann sie verließ. Inzwischen war sie wieder glücklich verheiratet und hatte es, wie sie sagte, ins nächste Kapitel ihres Lebens geschafft.
Nun kamen Ellery doch die Tränen. «Das fühlt sich alles falsch an, Abby. Auf zellulärer Ebene sozusagen.»
«Ich verstehe dich, Süße», sagte Abby sanft. «Ich fühle mit dir.»
«Vielleicht sollte ich hier abhauen», schluchzte Ellery. «Es soll sowieso Regen geben.»
«Du wirst dieses Geld nicht wegwerfen», befahl Abby. «Heute Abend das Dinner. Morgen gehst du wandern, einfach weil du, bevor du mit Luke zusammenkamst, gern gewandert bist und garantiert Spaß haben wirst. Hinterher wirst du dich in deinem Bikini an diesem beheizten Infinitypool rekeln und die Luft eines Ortes einatmen, an dem du noch nie mit Luke warst. Zwischendurch wird es dir beschissen gehen, aber du wirst versuchen, ein paar Minuten oder Stunden zusammenzukratzen, in denen es dir okay geht. Lenke dich ab. Tu so, als wärst du eine andere, eine, die das alles nicht durchmachen muss. Und jetzt geh da wieder raus und setz dich an deinen Tisch. Aber vergiss nicht, vorher deinen Lidstrich nachzuziehen. Ruf mich jederzeit an. Es kommen bessere Zeiten, versprochen.»
«Okay.»
«Vollständige Sätze bitte.»
Ellery holte tief Luft. «Es kommen bessere Zeiten.»
«Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht», sagte Abby sanft.
Ellery wusste, was Abby meinte. Und selbst in den tiefsten Tiefen ihrer Trauer, selbst wenn sie das Gefühl hatte, dass das Ende ihrer Ehe das Schlimmste war, was ihr passieren konnte, wusste sie, dass das nicht stimmte.
Denn das Schlimmste war ihr vor zwei Jahren passiert.
Das würde sie tatsächlich nie wirklich hinter sich lassen können.
Ellery war fast wieder an ihrem Tisch, als jemand sie aufhielt.
«Entschuldigung.» Ein gut aussehender Mann stand vor ihr. Er trug ein Chambray-Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, und seine warmen braunen Augen lächelten freundlich. «Essen Sie allein?»
«Ja.»
«Möchten Sie sich zu uns setzen?»
Der Mann, der sich als Ravi vorstellte, winkte dem Kellner und rückte ihr einen Stuhl zurecht. «Das ist Nina», sagte er und deutete auf die Frau auf der anderen Seite des Tisches.
«Wie nett, dass ich mich zu Ihnen setzen darf.»
«Wir freuen uns über Gesellschaft.» Ninas Stimme war warm und angenehm. Sie trug einen fantastischen Hosenanzug, und ihr dunkles Haar war zu einem perfekt-lässigen Chignon hochgesteckt, wie Ellery ihn nie hinbekommen würde. Ninas Blick wirkte intelligent und taxierend, nicht unfreundlich dabei, nur eben klar.
Der Kellner kam mit einer weiteren Speisekarte. Ellery hatte vorgehabt, die Farfalle zu bestellen, weil sie das Preiswerteste auf der Karte waren, aber sie ertappte sich dabei, wie sie Ninas Filet mignon betrachtete und stattdessen das bestellte. Was soll’s!
«Nina und ich sind Freunde», erklärte Ravi. «Wir reisen seit Jahren zusammen.»
«Das klingt gut», sagte Ellery. «Außerdem ist es viel günstiger, wenn man sich ein Zimmer teilt.»
«Ähm, nein», wehrte Ravi ab. «Wir teilen uns grundsätzlich kein Zimmer.»
«Wir würden uns gegenseitig umbringen», stimmte Nina zu.
«Oh.» Ellery spürte, wie sie errötete. Natürlich. Wer hier Urlaub machte, dachte über den Zimmerpreis nicht nach. Sofort war ihr elend wegen des teuren Filet mignon.
«Wir waren schon oft zusammen auf Reisen und haben ein paar Regeln aufgestellt», sagte Ravi. «Niemals ein Zimmer teilen ist eine davon. Jeden Abend Nachtisch essen ist eine andere. Außerdem stehlen wir auf jeder Reise etwas.»
«Ravi», ermahnte ihn Nina. «Verrate nicht all unsere Geheimnisse.» Sie rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen. «Wir haben sie doch gerade erst kennengelernt.»
Stehlen die beiden wirklich? Misstrauen befiel Ellery. Aber Stehlen passte irgendwie nicht zu ihnen.
«Und an unserem ersten Abend bitten wir immer jemand Fremden an unseren Tisch», sagte Ravi. «Das einzige Kriterium ist, dass derjenige interessant sein muss.»
«Ich bin nicht interessant.» Kaum hatte sie es ausgesprochen, hatte Ellery Abbys Stimme im Ohr. Hör auf, dich unter Wert zu verkaufen!
«Doch, sind Sie – oder dürfen wir gleich zum Du übergehen?» Ravi lehnte sich zurück und musterte sie lächelnd. Er war so entwaffnend freundlich, dass auch sie lächelte und nickte. «Eine schöne, traurige Frau, die allein an einem Tisch sitzt …»
Ellerys Lächeln erstarb. War sie so durchschaubar? Konnten Fremde sehen, wie es ihr ging? Sie straffte sich. Sie würde diesen eleganten Menschen nicht ihre jämmerliche, kleine Geschichte erzählen. Erstens war das nicht der Sinn dieser Reise, zweitens müssten sie sich ihr Vertrauen erst verdienen. So viel Stolz hatte sie dann doch noch.
«Ich glaube, das macht der verschmierte Eyeliner», gab sie Ravi zur Antwort, und er lachte. «Ich bin eine halbwegs fröhliche Highschool-Lehrerin.» Um von sich abzulenken, fragte sie: «Was macht ihr beide beruflich?»
«Ich bin Landschaftsarchitektin», sagte Nina.
«Eine der besten», sagte Ravi. «Google Nina Ruiz, und du wirst sehen, dass sie weltweit tätig ist.»
«Wow!», sagte Ellery. «Was für ein toller Job.»
«Ich liebe es», erwiderte Nina schlicht.
«Sie macht nachhaltige Landschaftsgestaltung für reiche Leute und Unternehmen», sagte Ravi. «Ist gut im Geschäft.»
Ellery war fasziniert. Doch bevor sie Ravi fragen konnte, was er selbst beruflich machte, war er schon beim nächsten Thema. «Also, was hältst du von dem Resort hier?»
«Es ist wunderschön.» Ellery beschloss, nicht zu erwähnen, wie einschüchternd sie alles fand. Oder dass das Resort ihrer Meinung nach trotz seiner angeblichen Umweltfreundlichkeit und seiner Versuche, sich in die Umgebung einzufügen, die Harmonie dieser rauen Landschaft mit ihren Felsen und menschenleeren Stränden und hohen Wellen ruinierte. Beheizte Pools, Stützmauern und teure Gebäude passten nicht hierher. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie bei ihrer Onlinerecherche so angetan von Broken Point gewesen war, und fragte sich, ob die anderen Gäste die ungute Diskrepanz auch spürten oder ob sie sie gar mitgebracht hatte.
«Das hier ist genau das, was ich brauche», sagte Ravi.
«Ravi hat sich gerade von seinem Freund getrennt», erklärte Nina.
«Das tut mir leid», sagte Ellery.
«Wird schon wieder», sagte Ravi. «Irgendwann.» Er erhob sein Glas, und Ellery und Nina stießen mit ihm an.
«Wir sind heute Morgen angekommen», sagte Nina. «Sind aus New York eingeflogen. Und du?» Ihr Ärmel rutschte hoch, als sie ein kleines Brötchen aus dem Korb nahm, und enthüllte eine zarte Tätowierung an der Innenseite ihres Handgelenks. Ellery wünschte, sie könnte sehen, was es war.
«Heute Nachmittag. Aus Colorado.»
«Anscheinend findet hier dieses Wochenende eine Hochzeit statt.» Ravi deutete mit seinem Weinglas zur Galerie hoch. «Ich hoffe auf einen Skandal.»
«Ravi hofft immer auf einen Skandal», sagte Nina zu Ellery.
«Ich bin einfach wacher, wenn ich ein Problem lösen kann», sagte Ravi. «Auch im Urlaub.»
Sanfter Wind strich Ellery über den Nacken und die Handrücken. «Das verstehe ich gut.» Alles wäre so viel besser, wenn sich ihr Gehirn mit einem Problem beschäftigen könnte, das tatsächlich lösbar wäre, anstatt mit solchen, an denen es ständig ergebnislos herumdachte.
«Apropos Probleme.» Ravi beugte sich vor und senkte die Stimme. «Wusstest du, dass hier inkognito irgendein Promi Urlaub macht? Wir müssen herausfinden, wer das ist.»
«Was für ein Promi?» Ellery warf Nina einen verständnislosen Blick zu.
«Jemand, der unbekannt bekannt ist», erklärte Ravi. «Jemand, der in der Menge untertauchen kann, aber über enorme Macht verfügt. Die Chefin eines Filmstudios oder der Gründer von LikeMe oder jemand, der eine Kryptowährung erfunden hat, mit der sich eine ganze Nation finanziert.»
«Oh.» Ellery verspürte einen kleinen Nervenkitzel. «Aber woher weißt du das?»
«Ignorier sein Gefasel», sagte Nina. «Er denkt sich die ganze Zeit irgendwelche Geschichten aus. Und das Schlimmste ist, dass er nach einer Weile selbst daran glaubt.»
«Menschen sind nicht immer diejenigen, die sie zu sein vorgeben.» Ravi suchte Ellerys Blick. «Meinst du nicht auch?»
«Absolut», sagte sie. «Jeder hat dunkle Geheimnisse.» Sogar die freundlich-fröhlichen Kellner, sogar die beiden ihr gegenüber, sogar ihr Ex-Mann und natürlich sie selbst.
Bevor Ravi antworten konnte, kam der Kellner mit dem Essen. Ein paar Drehungen mit der Pfeffermühle, ein dezentes «Darf es noch etwas sein? Nein? Dann guten Appetit», und schon waren sie wieder zu dritt.
Ellery kostete von ihrem Filet mignon. Es zerging auf der Zunge. Mit anderen Menschen zu essen, fühlte sich tröstlich an.
«Mir gefällt, wie du das gesagt hast.» Ravi hielt sein Messer locker in der Hand, sein Blick war nachdenklich. «Man sagt ja, jeder hat Leichen im Keller. Aber ich denke, dass es eher um verborgene, vielleicht auch unbewusste Anteile geht, Schatten quasi.»
Leichen im Keller. Ellery blickte weg und erhaschte dabei versehentlich einen Blick auf einen gut aussehenden Mann, der an der Bar stand. Er trug ein Flanellhemd und eine Cargohose, sein braunes Haar lockte sich um seine Ohren. Er schien Anfang zwanzig zu sein. Wie konnte jemand, der so jung war, hier Urlaub machen? Wahrscheinlich ein Erbe. Obwohl er nicht wie ein Erbe wirkte. Vielmehr wirkte er … unbehaglich, als fühlte er sich fehl am Platze. (Aber waren gut aussehende Menschen nicht überall heimisch?) Sein Hemd war nicht aus Hipster-Flanell, sondern wirklich abgetragen. Und die Art, wie er sich bewegte – als er eine To-go-Box vom Barmann entgegennahm, nickte und wegging –, sprach eher von tatsächlicher Naturverbundenheit als von einstudierter Lässigkeit. Er war die Art von Mann, der sie in ihren College-Zeiten beim Klettern im Canyon begegnet war.
Na ja, die Dämmerung setzte ein, und sie konnte ihn nicht gut sehen; vielleicht erfand sie auch Geschichten.
«Er ist der am besten aussehende Typ hier», sagte Ravi, der sie dabei erwischt hatte, wie sie den Mann musterte.
«Da bin ich nicht sicher», sagte Ellery. «Ich meine, du siehst auch nicht schlecht aus.»
«Danke. Du bist auch ziemlich attraktiv.»
«Und was ist mit mir?», fragte Nina gespielt beleidigt.
«Oh bitte», sagte Ravi. «Du weißt, dass du umwerfend bist.»
Nina gähnte. «Außerdem bin ich müde. Wie spät ist es, acht?»
«Wenn überhaupt.» Ravi schüttelte fassungslos den Kopf. «Du verlierst deinen Biss. Es tut weh, das mit ansehen zu müssen.»
«Ihr seid doch aus New York gekommen», sagte Ellery. «Mit dem Flugzeug.»
«Trotzdem bin ich normalerweise nicht so früh müde», sagte Nina. «Da hat er recht. Ich werde wohl wirklich alt.»
Mit ihren glänzenden Haaren und ihren teuren Outfits hatten Ravi und Nina auf Ellery zunächst wie Ende zwanzig gewirkt. Bei näherer Betrachtung stellte sie jedoch fest, dass sie wahrscheinlich nur ein paar Jahre jünger waren als sie selbst, vielleicht sechsunddreißig, siebenunddreißig.
«Gehst du zahlen?», fragte Nina Ravi. «Ich übernehme morgen Abend.»
«Klar», sagte Ravi. «Wir sehen uns beim Frühstück.»
Nina nahm ihre Handtasche von der Stuhllehne und lächelte Ellery zu. «Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.»
«Gleichfalls.» Ellery sah ihr hinterher, wie sie zwischen den Tischen hindurchging, und wünschte, der Kellner hätte schon die Rechnung gebracht, damit sie auch gehen könnte. Würde es unangenehm werden, mit Ravi allein zu sein?
Zu ihrer Erleichterung kam der Kellner praktisch sofort. Und nachdem sie unterschrieben hatten, wandte sich Ravi mit einem Augenzwinkern an Ellery.
«Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber willst du mit mir eine Hochzeit crashen?»
Genau genommen crashten sie nicht die Hochzeit, sondern nur eine Cocktailparty.
Ellery wusste nicht, was in sie gefahren war. Nicht mal Wein hatte sie getrunken, fühlte sich aber dennoch benommen und trunken vor Abenteuer und Aufregung. Und Ravi war so witzig und charmant.
«Warum noch mal machen wir das?», fragte sie ihn auf dem Weg hoch zur Galerie. Der Pfad führte in sanften Kurven durch ein Wäldchen, dann ging es die Klippen hinauf bis in Gipfelnähe, wo das Glas- und Stahlgebäude thronte. Ihre Füße erzeugten leise Geräusche auf dem mit Rindenmulch bedeckten und von Lichtern gerahmten Weg, auf den Blätter in der Brise zu Boden segelten.
«Das ist eine unserer Regeln, wenn wir verreisen, erinnerst du dich?», sagte Ravi. «Wir stehlen etwas.»
«Wir starten einen Kunstraub oder so etwas?», fragte sie, und als er laut lachte, freute sie sich, dass er sie witzig fand.
«Ich glaube nicht, dass man bei Kunstraub starten sagt», sagte er.
«Was sagt man denn sonst?»
«Hm.» Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und beschleunigte seinen Schritt. «Ich weiß nicht.»
«Einen Kunstraub durchführen?», sagte sie. «Einen Kunstraub begehen?»
Ravi lachte. «Keine Sorge, wir stehlen keine Kunst. Nur einen Drink und ein paar Horsd’œuvres. Mit etwas Glück müssen wir nicht einmal in die Galerie selbst. Wir schleichen uns durch die Personaltür rein, finden den Servicebereich und schnappen uns was.»
«Zählt das überhaupt ohne Nina?», fragte sie.
«Ich will ehrlich sein», sagte Ravi. «Nina stiehlt eigentlich nie etwas.»
«Also immer du?»
«Jedes Mal», bestätigte er.
«Oder sie macht es heimlich», konterte sie, und er drehte sich zu ihr um und grinste sie breit an.
«Zuzutrauen wäre es ihr.»
Das Rauschen des Meeres wurde lauter, als sie zwischen den Bäumen hervortraten, und Ellery meinte das Salz in der Luft zu schmecken. Irgendwo vor ihnen in der Dunkelheit befand sich der Felsvorsprung, der der Gegend und dem Resort den Namen gab – eine zerklüftete, übers Meer ragende Landzunge mit drei zerrupften Bäumen, die sich an die Klippe klammerten. Sie hatte den Felsvorsprung beim Herfahren bestaunt.
«Erzähl», sagte Ravi, «warum hast du allein gegessen? Bist du in Begleitung hier?»
«Nein», sagte sie. «Ich bin alleine gekommen.» Und dann, weil er ihr gegenüber so offen über seine kürzliche Trennung gesprochen hatte, fügte sie hinzu: «Es sollte eigentlich eine Reise mit meinem Mann zu unserem zwanzigsten Hochzeitstag werden.»
«Aber …», hakte Ravi nach.
«Wir haben uns scheiden lassen, und ich wollte nicht, dass er mit seiner Freundin herfährt.» Sie meinte, hinter ihnen auf dem Weg jemanden zu hören, und wandte sich um. Aber da war niemand.
«Gut gemacht», sagte Ravi. «Dem wird ab jetzt gar nichts mehr gegönnt. Wie ist er so? Mal mir ein Bild.»
«Er war freundlich und liebevoll und klug und toll. Und dann hat er beschlossen, sich mal umzusehen, was für Frauen sonst noch so unterwegs sind», sagte sie.
«Also doch nicht so freundlich und klug und toll.»
«Er war wirklich toll», sagte sie. «Jetzt habe ich das Gefühl, ihn gar nicht mehr zu kennen. Er meint, er hätte eigentlich Rockstar werden sollen. Sobald wir geschieden waren, hat er seinen Kleidungsstil geändert, eine Freundin gefunden und ein Motorrad gekauft. Zwei Motorräder, um genau zu sein.»
Ravi schnaubte. «Das klingt ein bisschen zu deutlich nach Midlife-Crisis.»
Nach einer weiteren Steigung erreichten sie die Galerie. Rechtecke aus Licht lagen auf dem auf dunklen Boden. Der nur als graue Fläche erkennbare Ozean unter ihnen rauschte laut. Seitlich des Gebäudes ragte eine gezackte Reihe Felsen auf. Dahinter ging es steil hinab. Ellerys Herzschlag beschleunigte sich. Was machte sie hier?
Der gut beleuchtete Gehweg und die Nähe zu anderen Menschen konnten ihr rasendes Herz nicht beruhigen. Ravi schien nett zu sein, aber was wusste sie eigentlich über ihn? Was konnte man wirklich über jemanden wissen?
Ravi schien ihren Aufruhr nicht zu bemerken. «Und wie heißt der Ex?»
«Luke», sagte sie und war überrascht, als Ravi lauthals lachte.
«Was denn?», sagte sie. «Viele Leute heißen Luke.»
«Das passt ein bisschen zu gut», sagte Ravi. «Der perfekte Name für jemanden, der weiß ist und in der Midlife-Crisis.»
«Aber Luke Skywalker war hot.»
«Nein», stöhnte Ravi. «Bitte sag mir, dass du nicht in Luke Skywalker verknallt warst, sondern in Han Solo.»
«Ähm.»
«Igitt. Schlechter Geschmack ist unverzeihlich. Du kannst von Glück sagen, dass du mich getroffen hast. Das kriegen wir schon hin.»
Sie folgte Ravi zum vom Meer abgewandten Teil des Gebäudes, und es gab tatsächlich eine Seitentür. Sie war angelehnt. Perfekt. Bevor Ellery fragen konnte Wollen wir das wirklich machen?, hatte Ravi die Tür schon geöffnet.
«Das Geheimnis», sagte Ravi, «ist, sich so zu verhalten, als ob man dazugehört. Wenn uns jemand bemerkt, lächeln wir und sagen nett Hallo. Dann drehen wir demjenigen den Rücken zu und suchen uns ein Kunstwerk, auf das wir starren können. Wir tun so, als wären wir ins Gespräch vertieft und über die Maßen sachkundig.»
«Geht klar.» Ellery blickte an sich hinunter. Sie war sich absolut sicher, dass ihr Kleid nicht annähernd edel genug für diese Location war. Durch die offen stehende Tür sah sie in der Galerie Schuhe und Kleider, die sie am liebsten angefasst hätte, so wunderbar waren sie.
An der breiten und raumhohen Fensterfront stand eine junge Frau in einem weißen Kleid – vermutlich die Braut. Ihr braunes Haar war zu einem komplizierten Zopf geflochten, und sie strahlte vor Jugend und Glück. Ein gut aussehender, dunkelhaariger junger Mann hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt, und sie lächelten einander liebevoll an. Ellery tat das Herz weh. Sie waren wunderschön.
«Okay», sagte Ravi. «Hier hinten haben wir kein Glück. Hier sind nur die Toiletten.»
Ellery riss den Blick von dem Paar los und schaute sich um. Ravi hatte recht. Schwarze Wände und hinter ihnen zwei dezent markierte Waschraumtüren. Der Boden jedoch war aus demselben glänzenden Holz wie im Ausstellungsraum, in dem gegenüber der Fensterfront ein riesiges Gemälde hing, dessen Farben und Linien sie selbst aus dieser Entfernung beeindruckten. Ellery wünschte, sie könnte näher herantreten und es betrachten.
«Nirgends Getränke», sagte Ravi. «Entweder sind sie im Ausstellungsraum oder irgendwo auf der anderen Seite. Sollen wir nachschauen?»
Etwas in ihrem Gesichtsausdruck veränderte seine Miene – hatte er gerade noch abenteuerlustig und spöttisch gewirkt, war er jetzt sanft und verständnisvoll. «Schon gut», sagte er. «Warte hier, oder geh raus. Ich bringe dir etwas mit. Okay?»
«Okay.» Bestimmt konnte er ihr die Erleichterung anhören. «Das klingt gut.»
Ravi entschwand in den Ausstellungsraum. Schlank, dunkelhaarig und lässig, fügte er sich in die Umgebung ein, obwohl auch er etwas zu leger gekleidet war. Sie hingegen hätte es wahrscheinlich kaum einen Meter in den Raum hinein geschafft, bevor sie aufgefallen wäre. Außerdem sollte sie zu Hause bei ihrer Familie sein. Wie konnte es sein, dass sie hier herumstand?
Ich sollte nicht allein hier sein.
Ich sollte nicht hier sein.
Ich sollte nicht sein.
Ellery machte einen Schritt auf die Ausgangstür zu. Draußen würde sie sich besser fühlen. Der Ozean tief unter ihr und die Bäume ringsum waren das, was sie jetzt brauchte. Denen war es egal, dass ihr Leben aus den Fugen war. Denen war alles egal.
«Hey.» Ellery zuckte zusammen. Oh nein. Sie drehte sich um und sah eine junge Frau – die junge Frau.
Die Braut.
«Hallo», sagte die Frau. «Wollen Sie auch zur Toilette?»
Sie war wahrscheinlich Mitte zwanzig.
«Ähm, nein. Ich wollte gerade gehen.»
Der Verlobungsring der Braut glitzerte selbst in dem schwachen Licht des Flurs kostbar. Ellery blickte auf ihren eigenen Ehering hinunter. Vor ein paar Wochen hatte sie ihn an die rechte Hand gewechselt. Abby hatte gesagt, es sei an der Zeit, ihn ganz abzulegen, aber das hatte sie nicht übers Herz gebracht.
«Tut mir sehr leid», brachte sie hervor. «Ich weiß, dass das hier eine private Veranstaltung ist. Ich gehe schon.»
«Ach was», sagte die junge Frau gelassen. «Wir haben praktisch das ganze Resort überrannt, das muss lästig für Sie sein. Tut mir leid. Ich bin übrigens die Braut. Olivia.»
«Ellery. Freut mich. Und herzlichen Glückwunsch. Was für ein zauberhafter Ort für eine Hochzeit.» Sie blickte zur Tür. Zeit zu gehen. Ravi würde sie draußen finden.
Aber Olivia plapperte munter weiter, als wäre Ellery ihr Hochzeitsgast und kein Eindringling. «Danke. Meine Mutter hat das Resort ausgesucht.» Sie seufzte. «Ben – mein Verlobter – und ich wollten im engsten Kreis auf dem Standesamt heiraten.» Sie blickte auf ihr weißes Seidenkleid hinab, das im gedämpften Licht golden und silbern changierte. «Das Kleid immerhin hab ich ausgesucht.» Sie zuckte mit den Schultern. «Aber es geht wohl nicht nur um uns dabei.»
«Das war großzügig von Ihnen», sagte Ellery. «Familie ist wichtig. Und Freunde.» Sie dachte an Abby und an alles, was sie zusammen durchgemacht hatten.
«Finde ich auch», stimmte Olivia zu. «Vor allem für Ben sind Freunde immens wichtig.» Ihre Stimme war leise geworden. «Als er ein Teenager war, sind seine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.»
«Das tut mir sehr leid.» Ellery versagte beinahe die Stimme. Es gibt so viel Schlimmes auf dieser Welt, dachte sie. Selbst schöne Menschen, die an luxuriösen Orten andere schöne Menschen heirateten, entkamen dem nicht. «Hat er Geschwister? Andere Verwandte, die er eingeladen hat?»
«Nein», sagte Olivia. «Er ist ein Einzelkind.» Sie lächelte. «Aber als wir beschlossen, die Hochzeit doch so groß zu feiern, wollte er keinen seiner Freunde ausschließen. Jetzt hat er also sieben Freunde da und zwei Trauzeugen.»
Ellery lächelte ebenfalls. «Haben Sie genauso viele Freundinnen eingeladen?»
«Nein, nur meine Cousine Rachel», sagte Olivia. «Sie ist meine Trauzeugin.» Sie strich sich übers Haar.
Ellery fragte sich, ob Olivia der Promi sein könnte, der inkognito hier war. Aber bei Ravi hatte es nach jemandem geklungen, der nicht auffallen wollte. Eine Braut zog immer Aufmerksamkeit auf sich.
«Olivia?!», rief eine Frauenstimme aus der Galerie.
«Das hat nicht lange gedauert», sagte Olivia bedauernd und blickte sich um. «Meine Mutter. Sie ist wegen der Hochzeit ziemlich im Stress. Sie bezahlt alles. Weil, na ja, Bens Eltern können ja nicht.»
«Oh.» Ellery machte einen Schritt auf die Ausgangstür zu. Höchste Zeit zu gehen. Sie bezweifelte, dass die Mutter so großzügig wie die Braut sein würde. «Es war nett, mit Ihnen zu reden.» Danke, dass Sie so freundlich zu mir waren, obwohl mein Kleid bei Anthropologie im Sale war und ich dazu Billig-Eyeliner trage. «Ich hoffe, die Trauung wird perfekt.»
«Danke.» Olivia wandte sich ihrer Mutter zu, sodass Ellery in die Nacht hinausschlüpfen konnte.
«Alle Achtung», sagte Ravi, «du hast echt Mumm.»
«Eher nicht.» Ellery hatte keinen Mumm. Sie hatte auch keine Knochen oder Muskeln. Sie bestand lediglich aus einem Herzen, das sich nach der Familie sehnte, die es nicht mehr gab, und einem Gehirn, das unablässig über die Vergangenheit nachdachte und darüber, warum alles den Bach runtergegangen war und wie sie das hätte verhindern können.
«Oh doch, hast du. Ein beiläufiger Plausch mit der Braut? Du hast jede Menge Mumm.»
Sie gingen den Weg zurück nach unten, Ravi mit einem erbeuteten Sektglas, sie hielt das Zitronen-Lavendel-Törtchen in der Hand, das er ihr eben vor der Tür der Galerie überreicht hatte.
«Hier», hatte er gesagt. «Mir ist aufgefallen, dass du nichts trinkst.»
«Danke.» Das hatte sie berührt. Dass er sie gesehen hatte. Auch dass er sie nach ihrer Telefonnummer gefragt hatte, hatte sie berührt. Er hatte ihr seine und auch Ninas Nummer gegeben. «Falls du mal Gesellschaft willst.»
Weil Ellery nicht wusste, wohin damit, schob sie sich das ganze Törtchen auf einmal in den Mund. Irgendwo in den Tiefen ihres Gehirns leuchtete das Wort köstlich auf und erlosch wieder.
Der Weg von der Galerie hinunter in den Hauptbereich des Resorts war kaum breit genug, dass sie nebeneinandergehen konnten. Die Beleuchtung an den Rändern war so durchdacht arrangiert, dass es aussah, als leuchteten einige der Pflanzen aus sich heraus, und zwar immer genau dort, wohin man als Nächstes den Schritt setzen musste. Ellery wischte sich die Krümel von den Händen. «Wir sind wie Hänsel und Gretel, die unter einem falschen Vorwand in den Wald geschickt wurden.»
«Du sagst es», erwiderte Ravi.
Weil alle Menschen dann beschäftigt waren – sie tranken, aßen, tanzten, schliefen, küssten sich, weinten, lachten –, waren die besten Zeitfenster, um sich draußen frei zu bewegen, spätabends oder im Morgengrauen. Sie mochte es, dass sie auf diese Weise zu sehen bekam, was nur wenige andere sahen. Die mitternachtsblauen Momente, die Zwischenräume.
Nachts und kurz vor Tagesanbruch konnte alles passieren.
Das Meer brach sich an der Küste. Sie konnte es hören und, nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, auch sehen: die silbernen Gischtfontänen und die Strudel, die die Felsen und Klippen umschäumten. Es war ein einsames und doch einladendes Getose.
Das Meer, der Himmel, der Geruch, der Boden, die Bäume.
Sie trat ein wenig zu nah an den Rand.
Hier draußen konnte man leicht vergessen, wer man war.
Man konnte leicht vergessen, was man getan hatte. Was man vielleicht noch tun würde.
Mögen deine Pfade gewunden, einsam und gefährlich sein und zu der atemberaubendsten Aussicht führen.
Edward Abbey
Wetter: sonnig/leicht bewölkt/Regen
Höchsttemperatur: 19 °C
Tiefsttemperatur: 12 °C
Sonnenaufgang: 7:13 Uhr
Sonnenuntergang: 18:32 Uhr
ÜBER DAS KUNSTWERK:
Ohne Titel
von Jamie Klein, 2015 (Stahl)
Diese Skulptur besteht aus zwei Teilen, einem Schreikranich mit zum Himmel gerecktem Schnabel und einem Nest voller Küken, wobei Letzteres sich je nach Jahreszeit gelegentlich unter Wasser befindet.
Ellery hatte sich vorgenommen, ausgiebig all die gesunden, heilenden Dinge zu nutzen, die im Resort angeboten wurden. So was wie das «Sunrise-Yoga», der «Aufwachspaziergang durch die Natur» oder eine «Morgenmeditation, gefolgt von grünem Saft aus selbst angebauten Pflanzen».
Doch stattdessen hatte sie bis 7:37 Uhr geschlafen. Sie war erschrocken aufgewacht, als sie eine zuschlagende Tür und wütende Stimmen unter ihrem Fenster hörte – befremdliche Geräusche an einem so kultivierten Ort.
Wenn sie wenigstens noch zu ihrer Gruppe für die Tageswanderung stoßen wollte, musste sie sich beeilen. Laut der Beschreibung auf der Website war die Wanderung über den Kamm der Berge und auf der anderen Seite an Wasserfällen vorbei zur Küste hinunter atemberaubend.
Ellery zog sich schnell Shorts, ein Tanktop und die alten Laufschuhe an, die sie zum Wandern dabeihatte, schnappte sich ihre Wasserflasche und ihren Rucksack und ging los. Heute wäre ihr zwanzigster Hochzeitstag. Immer weitergehen, redete sie sich gut zu. Sonst erwischt dich das Traurigkeitsmonster. Mit gefletschten Zähnen und ausgefahrenen Krallen wartet es nur auf ein Zeichen von Schwäche. Manchmal fragte sie sich, ob sie dankbar für die Lektionen sein sollte, die sie nach dem Unfall vor etwas mehr als zwei Jahren gelernt hatte – ob gerade sie es ihr ermöglichten, das Ende ihrer Beziehung zu überleben. In anderen Momenten hatte sie das Gefühl, dass genau das Gegenteil der Fall war – erst der Unfall, nun die Scheidung … Sie war so viel Leid ausgesetzt, dass sie meinte, es kaum ertragen zu können.
«Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht», hatte Abby gesagt. Und sie hatte recht. Der Tod war das Schlimmste, nicht wahr?
Allein über diese Frage nachzudenken, war ein Luxus, den sich nur die Lebenden leisten konnten.
Ellery verlangsamte ihre Schritte, als sie zu der Stelle kam, die auf der Karte des Resorts als Zeremonienhain markiert war. Ein geschmackvolles Schild war aufgestellt worden. Haring-Taylor-Trauung, stand in schnörkeliger Schrift darauf. Mitarbeiter stellten Stühle auf und Pfähle, an denen entlang des Weges die Laternen hängen würden.
«Entschuldigen Sie», sagte Ellery. «Soll ich woanders langgehen?»
«Nein, nein.» Eine der jungen Frauen, die die Laternen hielten, winkte sie heran. «Das ist überhaupt kein Problem. Der Hain ist bis eine Stunde vor der Trauung geöffnet. Hoffen wir mal, dass es keinen Regen gibt.»
«Wann ist denn die Trauung?», fragte Ellery.
«Kurz vor Sonnenuntergang», sagte die Frau. «Zur goldenen Stunde.»
«Oh.» Ellery seufzte unwillkürlich. Es war zu perfekt. Olivia und Ben würden atemberaubend aussehen, wenn sie hier zusammen auf der Lichtung standen.
Das Personal band dunkelgrüne Bänder um die Pfähle und Baumstämme, und Ellery ertappte sich dabei, das albern zu finden. Lasst es gut sein, dachte sie. Bäume und Laub und goldenes Licht, das durch die Zweige fällt. Mehr braucht es doch gar nicht.
Entweder es regnet oder nicht.
Entweder sie werden sich lieben oder nicht.
Ellery ging langsamer, als sie am Altar vorbeikam.
Er ähnelte einer übergroßen Version der Steinhaufen, die man oft am Rand von Wanderwegen sieht – einige Teile waren grob behauen, andere glatt. In einen der Steine war eine Signatur eingraviert. Kurz war Ellery verwirrt, dann fiel ihr ein, dass ja Skulpturen über das gesamte Resort verteilt waren. Dies musste eine davon sein.
Ellery war sich nicht sicher, was sie von dem Altar hielt und was das Werk ihr sagen wollte. Sie würde es sich später genauer ansehen. Sie nickte einem der Mitarbeiter, der dort etwas aufbaute, zu und eilte weiter.
Einer der drei anderen Gäste, die zur Wanderung erschienen waren, war der süße Typ, der Ellery und Ravi am Abend zuvor aufgefallen war.
Zudem stellte sich heraus, dass der Typ, der die Wanderung leitete, auch sehr gut aussah – groß und blond, eindrucksvolle grüne Augen, breite Schultern.
Abby wäre begeistert.
«Los geht’s», sagte der Mann. «Ich heiße Canyon und bin heute Ihr Guide.»
Erst Brook, jetzt Canyon. Vielleicht mussten die Leute, die in Broken Point arbeiteten, naturbezogene Namen haben, wie River oder Poppy oder Sage, amüsierte Ellery sich innerlich.
«Hat jeder Sonnenschutz aufgetragen?», fragte Canyon. «Hat jeder genug Wasser dabei?»
Die Gruppe murmelte und nickte einhellig.