Professor Zamorra 1158 - Simon Borner - E-Book

Professor Zamorra 1158 E-Book

Simon Borner

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Beschreibung

Nicole Duval und Gryf machen sich auf die Suche nach dem vermissten Professor. Der zeitlose Sprung der Silbermonddruiden bringt sie zu ihrer eigenen Überraschung nach Chicago! Weit und breit ist dort kein Zamorra zu sehen. Was sollen sie also hier?
Sie steigen im Hotel Lilith ab, das sie beinahe magisch anzieht. Es handelt sich um einen aus der Zeit gefallen scheinenden Altbau voller angestaubtem Prunk und seltsamer Dauergäste.

Wer sind die eigenartigen Zwillinge aus dem Penthouse? Welches grauenvolle Geheimnis verbirgt der bucklige Rezeptionist? Und was hat es mit den unheimlichen Geräuschen auf sich, die jede Nacht von Neuem erklingen, die außer Nicole und Gryf aber niemand gehört haben will?


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Seitenzahl: 150

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Inhalt

Cover

Impressum

Hotel Lilith

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Gilda Tenorio / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-7108-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Hotel Lilith

von Simon Borner

Die Schmerzen waren unerträglich. Jede Faser seines Körpers schien in Flammen zu stehen. Die brennend heißen Schübe, die durch seinen Leib pulsierten wie elektrische Schläge, raubten ihm beinahe die Sinne. Aber nur beinahe. Ohnmacht war eine Gnade, die ihm nicht gewährt wurde. Genauso wenig wie die des Sterbens …

»Ich warte, Nummer 39«, erklang die Stimme jenseits der Wand aus Qual. Sie klang ungeduldig, aber auch amüsiert. Sie genoss es, ihn zu foltern. »Und du weißt ganz genau, worauf. Also? Es liegt allein an dir.«

»Mein sogenanntes Ich hat wenig mit einer Person gemeinsam. Weit eher ist es ein Sammelsurium diverser natürlicher Zwänge, Gelüste, Ängste und so weiter. Ich verdanke sie in Teilen meinen Vorfahren, meiner Ausbildung … und vielleicht meinen Dämonen.«

– C.S. Lewis

Kapitel 1 Das Ding auf der Schwelle

Wieder kamen die Schübe. 39 – seinen wahren Namen hatte er längst vergessen, denn jede neue Sitzung war wie Lochfraß an seinem Gedächtnis; sie kosteten ihn seine Existenz – wand sich in den ledernen Fesseln. Panisch biss er in den ekligen Knebel. Kalter Schweiß drang ihm aus allen Poren. Der ganze Leib zitterte unkontrolliert. Die Nasenflügel flatterten wie ein haltloser Stofffetzen im Sturm.

Sie wartet. Immer wieder schoss es durch sein Hirn. Sie wartet.

Und sie bestätigte den Satz prompt. »Nur du kannst das hier beenden«, hörte er sie säuseln. Im selben Moment strichen ihre Finger spielerisch über seine Schulter. Die Berührung war qualvoll wie ein Blitzeinschlag. »Gib mir, was ich möchte … und sofort hören wir auf.«

39 wollte es ja! Krampfhaft strengte er sich an, um ihren Willen zu erfüllen. Aber das ging nicht, wenn sie ihm solche Schmerzen zufügte. Er konnte nicht klar denken, solange sein Leib in qualvoller Pein verging. Wie sollte er da wegdenken können?

»Vie …« Eine zweite Stimme jenseits der Wand – stockend und ängstlich. Demütig. »Vielleicht braucht er eine Pause?«

Die Frau lachte spöttisch. »Was? Meinst du, er gehorcht besser, wenn wir ihm Zuckerbrot statt der Peitsche geben? Die vergangenen Wochen hätten dich Besseres lehren sollen, du Narr. Und überhaupt: Was wagst du es, hier den Mund zu öffnen? Willst du mit ihm tauschen, 18?«

»N … Nein, Ma’am«, antwortete 18, untertänig wie ein getretener Hund. »Ich meinte bloß: Vielleicht kann er es nicht, solange wir ihm wehtun. Vielleicht braucht sein Geist ein wenig mehr … Entspannung, damit es gelingt.«

Die Frau klang nachdenklich. Irgendwann willigte sie ein. »Also gut, versuchen wir’s.« Eine Pause. »Lass ihn los, 18.«

Sofort vergingen die Schmerzen. Von einem Moment auf den anderen waren das Feuer und die Schübe fort – genau wie das Gefühl, als wüte ein Staubsauger unkontrolliert und gnadenlos in den Resten seiner Erinnerungen. 39 hing schnaufend in den Fesseln, und die ganze Welt fuhr mit ihm Karussell. Alles drehte sich vor seinen blinzelnden Augen. Die Kleidung klebte ihm am schweißnassen Körper. Ihm war speiübel, doch er fürchtete, zu ersticken, wenn er dem Gefühl nachgab. Der Knebel verstopfte seinen Mund.

»Ich warte!«, zischte die Frau. Ganz dicht an seinem rauschenden Ohr.

39 zuckte zusammen. Vor lauter Erleichterung hatte er die Angst kurzzeitig vergessen. Nun kehrte sie zu ihm zurück. Doch die Schmerzen nicht. Noch nicht.

Ich muss es schaffen, begriff er. Jetzt sofort.

Andernfalls wären die Schmerzen erst der Anfang.

Wieder blinzelte der Gefangene. Dann fanden seine Augen endlich das offene Kästchen. Es war quadratisch und stand direkt vor ihm auf einem schmalen Podest aus schwarzem Marmor. Das zweiflügelige Türchen stand sperrangelweit offen und ihm zugewandt.

39 konzentrierte sich auf das dunkle Innere des Kästchens. Krampfhaft versuchte er, seinen Pulsschlag zu beruhigen und die Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Er brauchte Ruhe, verdammt. Es ging nicht unter Zwang.

Doch es musste gehen. Es gab keinen anderen Weg.

Der Geknebelte starrte in das Schwarz im Inneren des Kästchens. Das Schwarz starrte zurück. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten wurden zäh wie Brei. Und dann …

Die Explosion geschah an zwei Stellen gleichzeitig. Im Inneren des Kästchens entstand ein gleißend heller Wirbel aus Licht und Nichts, ein Strudel, der sich unentwegt um die eigene Achse drehte, strahlend und klar wie das Licht der Sonne. Im selben Moment flogen alle mentalen Schleusen in 39s Geist auf. Das Licht flutete seinen Verstand, und ein unendlich scheinender Ozean an Möglichkeiten füllte die Stellen, an denen seine Erinnerungen Löcher bekommen hatten.

Der Schmerz verging endgültig. Auch der Pulsschlag und die Atmung normalisierten sich augenblicklich. Mit einem Mal dachte 39 nicht mehr nach. Stattdessen … dachte er weg!

Die Frau jubelte vor Begeisterung. 39 sah sie aus den Augenwinkeln. Sichtlich zufrieden trat sie vor ihn und in das Licht, das aus dem Kästchen fiel. Sofort reckten sich die tentakelartigen Strahlen in ihre Richtung. Sie strichen über ihre weichen Gesichtszüge, liebkosten ihre Arme und Hände. Die Frau stand einfach da und ließ es geschehen. Sie wirkte verzückt und wie weggetreten. Sie wirkte selig.

39 konnte sich noch immer nicht rühren, doch innerlich brach er zusammen. Er hatte das Tor geöffnet, nicht sie! Er war es, dem der Segen gebührte! Es war einfach nicht fair.

Zumal die Schmerzen prompt wiederkehrten. Kaum hatte sich die Frau vor 39 gestellt, in sein Licht, kamen sie zurück. 39 bäumte sich entsetzt in seinen Fesseln auf und schrie in seinen Knebel. Im Augenwinkel konnte er Nummer 18 sehen, den treudoof grinsenden Folterknecht. Er saß auf einem Hocker gleich neben ihm und glotzte selig in den Wirbel aus Licht.

So war es immer schon gewesen. Es endete immer gleich.

Und es würde sich nie ändern.

39 spürte die Schübe in seinen Gliedern, das Brennen auf der Haut und den Schmerz in seinen Knochen. Er ahnte, wie der Staubsauger ihm die letzten Reste dessen stahl, das er einst gewesen war. Und er schloss die Augen.

Tränen rannen ihm über die Wangen, als er auf einen Tod wartete, der doch nicht kam.

***

Die Lobby war unglaublich schön! Sie erstreckte sich über mehrere Etagen, und die hohen Wände waren mit kunstvoll gefertigtem Zierrat geschmückt – allesamt im Jugendstil gehalten. Claire Nichols sah Treppengeländer aus Messing und Gold, weinrote Teppiche, schwere Ledersessel und Tische aus Edelholz, eine geschmackvoll beleuchtete Hausbar, ja sogar einen Kronleuchter!

Doch all das sah aus, als hätte es schon bessere Tage gesehen. Tage, die allesamt Jahrzehnte zurücklagen. Wenn nicht sogar ein ganzes Jahrhundert! Es lag Staub auf den Möbeln. Zwischen den einzelnen Segmenten des Kronleuchters hingen dicke Spinnennetze. Außerdem war es dunkel hier drin, denn die Fenster waren verhangen, und nur die vielen kleinen Tisch- und Stehlampen schufen vereinzelt rotgelb-trübe Inselchen der Helligkeit. Beispielsweise an der Rezeption, auf die Lilly zielsicher zuhielt.

»Dann wollen wir doch mal schauen«, sagte die Frau in Rot. Sie schwang die langen Beine über die Theke und kam hinter ihr wieder auf den Boden. »Irgendwo bringen wir dich schon noch unter.«

Einmal mehr fragte sich Claire, was sie hier eigentlich tat. Und einmal mehr war es ihr im Grunde schnurzegal. Hauptsache, sie tat es mit Lilly!

Sie kannte die Frau in Rot erst seit wenigen Tagen, und kennen war arg übertrieben[1]. Es gab niemanden in ganz Chicago, den Claire wirklich kannte. Die sechzehnjährige Ausreißerin war in die Stadt gekommen, um allem zu entfliehen. Um einen dicken fetten Strich unter die Gräuel der Vergangenheit zu machen und komplett neu zu beginnen. Doch das war ihr gründlich misslungen. Die unheimliche Gabe, die in ihr schlummerte, war in Chicago neu erwacht. Mehr noch: Sie hatte zu ganz neuer Blüte gefunden! Daheim im Niemandsland hatten »bloß« eine Handvoll Mitschüler unter Claires bizarrem Hunger leiden müssen. Hier in der Stadt waren es in Windeseile deutlich mehr Opfer geworden. So viele, dass Claire eines Abends endlich durchziehen wollte, was sie all die vielen Monate zuvor nicht gewagt hatte: Sie war auf das größte Hochhaus der Stadt gestiegen, um in den sicheren Tod zu springen. Um das Monster, das in ihr schlummerte, ein für alle Mal zu bändigen.

An jenem Abend sah sie Lilly zum ersten Mal. Die Frau in Rot hielt Claire fest, als sie springen wollte. Und sie machte Claire neugierig.

In den folgenden Tagen waren sie einander überall begegnet: in U-Bahnen, in Straßencafés, selbst nachts in den Fast-Food-Läden. Überall hatte Claire sie wiedergesehen. Doch es kam nie zu einem klärenden Gespräch. Claire sah Lilly, blinzelte kurz, und schon war die Frau wieder verschwunden. Niemand außer ihr schien sie bemerkt zu haben.

Bis sie Claire eines Tages am Hafen einfach ansprach und einlud. Hierher, in dieses von der Zeit vergessene Hotel in einem der ältesten und heruntergekommensten Vierteln der Stadt. Laut Lilly wohnten hier noch mehr Menschen wie sie. Menschen mit ungewöhnlichen Gaben, die vom Rest der Welt ausgegrenzt und gefürchtet wurden. Freaks.

Und nun standen sie an der Rezeption. Ein breites Regal zierte die Wand dahinter. In einzelnen Fächern hingen altmodische Schlüssel mit glänzenden Anhängern. Lilly ließ die ausgestreckte Hand über die Sammlung schweifen, brummte hier, zögerte da, und schließlich griff sie bei dem Schlüssel mit der Nummer 23 zu.

»Hier«, sagte sie und wandte sich wieder Claire zu. »Ist eben erst frei geworden. Zum Glück, denn der Vormieter war echt ein unerträglicher Narr. Speichellecker der übelsten Sorte, verstehst du? Na ja, von jetzt an soll sein Zimmer dir gehören.«

Claire starrte auf den Schlüssel auf der Theke. Ein echtes Zimmer. Sie lebte seit Wochen auf der Straße, schlief unter Brücken und in Parks. Und jetzt bekam sie ein Bett und alles?

»Das kann ich nicht bezahlen«, sagte sie. »Ich habe kein Geld.«

Lilly runzelte beleidigt die Stirn. »Wer hat denn von Geld gesprochen? Nein, Dummerchen. Du bist doch eine von uns. Du musst hier gar nichts bezahlen. Ich will, dass du bei uns bist. Dass du endlich das Zuhause bekommst, das du verdienst. Erinnerst du dich?« Sie nickte in Richtung der Tür, durch die sie ins Gebäude getreten waren. »Das da draußen … Das sind nicht deine Leute. Mit denen hast du so wenig gemeinsam wie ein Fisch mit einer Möwe. Hier drin ist das anders. Außerdem bist du hier in Sicherheit vor der Welt und ihren Vorurteilen.«

Zweifelnd sah Claire sich um. Eben noch hatte das Angebot der Fremden unfassbar toll geklungen. Nun fragte sie sich, ob es zu gut war, um wahr sein zu können. »Viel Betrieb ist hier ja nicht gerade«, murmelte sie.

Ihr Blick fuhr über die leeren Sessel, die leeren Barhocker, die leeren Treppen und die leeren Flure hinter den goldenen Geländern der oberen Etagen. Nicht einmal der Fahrstuhl rührte sich. Das ganze Haus, so schien es, war mucksmäuschenstill.

»Und das ist gut so«, betonte Lilly. »Unsere Gäste bevorzugen die Stille, und ich bin da ganz einer Meinung mit ihnen. Das Hotel Lilith ist eine Insel der Ruhe im Chaos des Lebens, Claire. So möchten wir es. Wer hier lebt, der mag es ungestört.« Sie lächelte herzlich. »Ich bin sicher, dass auch du das bald zu schätzen weißt.«

Lilly deutete in Richtung des Fahrstuhls. »Sollen wir? Ich bringe dich gern hoch, damit du dich ausruhen und ein wenig frisch machen kannst.«

Claire nickte. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Die Herzlichkeit, die Lilly verströmte, wog schwerer als alle Skepsis – und in der Tat: Sie sehnte sich nach ein bisschen Ruhe.

Der Fahrstuhl war ein Altertümchen, gefangen in einem Schacht aus Metall. Claire sah verchromte Oberflächen, Milchglasscheiben, ein Tastenfeld mit hölzerner Umrandung. Er rumpelte und ächzte, als er sich in Bewegung setzte, doch er fuhr.

Im zweiten Stock stiegen sie aus und betraten einen L-förmigen Flur. Dunkle Teppiche wetteiferten mit Wänden voller dunkler Stofftapeten. Neben den schmalen Türen, die rechts und links von ihm abgingen, hingen kleine Lämpchen – die einzigen Lichtquellen weit und breit. Claire sah kein Fenster.

Vor der Tür mit der Nummer 23 blieb Lilly stehen und schloss auf. Der Raum dahinter erwies sich als sauber und sehr übersichtlich – ein Tisch, ein Bett, ein Fenster mit roten Vorhängen, ein Heizkörper. Doch das Bett wirkte bequem, und das kleine Bad hatte alles, was man brauchte.

Claire fühlte sich sofort heimisch, so absurd es klang. »Schön«, staunte sie. Dann bemerkte sie das Bild über dem Bett. Es zeigte eine Art Wildwestlandschaft. Irgendeine verlassene Silbermine mitten im Wüstennichts. Zwei Augen funkelten im Schwarz der Höhlenöffnung. »Bis auf das da.«

Lilly lachte. »Ein echter Collins«, erklärte sie. »Gefällt er dir nicht? Zu unheimlich?«

»Collins? Sollte mir der etwas sagen?« Claire hob die Schultern. »Ich hab’s nicht so mit Kunst. Sorry.«

»Keine Sorge, die wenigsten haben je von ihm gehört.« Lilly trat ans Bett. Fast schon liebevoll strich sie mit den behandschuhten Fingerkuppen über den Bilderrahmen. »Aber er war einer von uns, weißt du? Einer der Ersten, die je hier im Hotel abstiegen. Damals in den Siebzigern.« Sie lächelte wieder, und ihr Blick schien sich in Erinnerungen zu verlieren. »Lange her.«

Erneut fragte Claire sich, wie alt die Frau in Rot überhaupt war. Sie sah nicht aus, als hätte sie in den Siebzigern gelebt. Bei Weitem nicht. Sie wirkte viel jünger.

»Was wurde aus ihm?«, fragte Claire, um die Stille zu unterbrechen. »Aus Collins, meine ich. Fiel er am Ende doch noch seinem Fluch zum Opfer? Du sagtest ja, er sei wie wir gewesen.«

Blinzelnd kehrte Lilly zurück in die Gegenwart. »Ich sagte aber auch, dass unser Talent alles andere als ein Fluch ist!«, tadelte sie. »Tu uns beiden den Gefallen und rede dir das nicht länger ein. Du bist jetzt bei uns. Da, wo du hingehörst. Da, wo du sicher bist. Zu Hause.« Sie legte den Zimmerschlüssel auf den kleinen Tisch und ging zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen und sah zurück. »Ruh dich ein bisschen aus, okay? Und wenn du magst: Ich esse immer um 22 Uhr noch einen kleinen Abendimbiss. Nichts Schweres, nur ein Häppchen und dazu ein Glas Wein. Du kannst mir gern Gesellschaft leisten. Dann erzähle ich dir ein wenig mehr über das Hotel und seine Bewohner. Deal?«

Claire nickte. »Deal.«

Lilly nickte freundlich und ging. Claire blieb allein zurück, allein mit der Stille dieses großen, fremden Hauses. Schweigend ging sie zum Fenster und schlug den Vorhang zurück. Draußen regierte der Abend. Die schmale Straße lag in Dunkelheit. Nebel war vom Lake Michigan aufgestiegen und zog nun durch die Stadt, wie an so vielen Abenden in Chicago. Er verschluckte alle Details, alle Geräusche. Außerdem wirkte er ungemütlich. Claire war froh, nach all der Zeit einmal nicht draußen zu sein, sondern hier. Im Warmen. Im Licht.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Lilly ihre Frage nach dem Maler namens Collins nicht beantwortet hatte.

***

Das Bett sah nicht nur bequem aus, es war es. Claire lag rücklings darauf, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Zimmerdecke. Sie hatte geduscht und sich die Zähne geputzt, zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit. Sie hatte sogar kurz erwogen, zu Hause bei ihren Eltern anzurufen, den Gedanken aber sehr schnell wieder verscheucht. Ein Schlussstrich war ein Schlussstrich, oder? Und außerdem: Das Telefon dort auf dem Nachttisch gehörte in ein Museum. Das schwarzgoldene Ding mit Kabel und Wählscheibe funktionierte sicher nicht mehr und war nur Dekoration.

In diesem Moment klingelte es!

Claire erschrak, als das schrill scheppernde Geräusch durch die Stille schnitt. Perplex starrte sie den schwarzgoldenen Kasten an, als hätte sie nie zuvor ein Telefon gesehen. Dann hob sie ab – zögernd und mit spitzen Fingern. »Ha … Hallo?«

Statisches Rauschen drang aus dem Hörer. Doch irgendwie … war da noch mehr. Claire konnte es weder benennen, noch beweisen, aber das Gefühl blieb.

Sie setzte sich auf und runzelte die Stirn. »Hallo?«, fragte sie erneut. »Ist da jemand?«

Das Rauschen veränderte sich nicht. Bis …

Klickende Laute, fremdartig und bizarr, mischten sich in die Statik. Claire glaubte Musik zu hören, ganz fern und schwach. Glenn Miller? Moonlight Serenade?

Allmählich wurde es ihr unheimlich. Spinn ich jetzt völlig, oder was passiert hier?

»Hallo?«, fragte sie erneut. Und dann, völlig impulsiv, fügte sie an: »Hier ist Claire.«

Die Musik verstummte. Das Rauschen auch. Und eine Stimme erfüllte den Hörer. »Claire …« Sie war tief und fest, gütig wie die eines Großvaters und zugleich streng wie der Tonfall eines Richters. Es schwang Sehnsucht in ihr mit.

»J … Ja?«, sagte Claire. Mehr Frage als Antwort. »Claire Nichols. Wer ist da?«

»Sag, Claire«, ignorierte die Stimme ihre Frage, »wer bist du? Bist du neu? Bist du … anders? Hat sie dich eingeladen? Und wo ist der alte 23 abgeblieben, weißt du das? Ich habe mich doch nicht verwählt! Ich verwähle mich nämlich nie, Claire Nichols.«

Ihre Angst stieg, so verrückt das auch klang. Nervös stieg Claire vom Bett. Sie nahm das Telefon in die Hand und ging damit zum Fenster, schaute erneut durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Die Straße vor dem Hotel war so leer und so dunkel wie vorhin. »23? Ich fürchte, ich verstehe nicht. Das hier ist Zimmer 23, falls Sie das meinen. Aber nochmals: Wer sind Sie?«

»Nein, Claire«, sagte die tiefe, strenge Großvaterstimme sanft. »Die Frage ist vielmehr: Wer bist du?« Dann atmete der Mann aus. Es klang entspannt und relaxt. »Aber das werden wir schon sehr bald erfahren, nicht wahr? Oh ja, das werden wir. Wir alle. Und wer weiß? Vielleicht bist du ja genau das, was uns gefehlt hat. Willkommen, Claire Nichols. Willkommen … neue 23.«

Wieder erklangen die seltsamen Klickgeräusche. Dann kehrte auch das Rauschen zurück und darin die eigenartige Musik. Letztere wurde zunehmend lauter. Und auf einmal: »Claire?«

Kein Rauschen mehr. Nur noch Swing – und die Stimme!

Claire zuckte zusammen. »L … Lilly? Bist du das?«

Wo kam die denn plötzlich her?

»Na, sicher bin ich das, Dummerchen«, antwortete ihre Gastgeberin. »Mir fiel gerade ein, dass ich dir nicht gesagt habe, wo du mich findest – und gleich ist es Zeit für unseren Abendumtrunk.«

Erstaunt sah Claire zur Uhr auf dem Nachttisch. Tatsächlich: 21 Uhr 55. Die Zeit war aber sehr schnell vergangen!