Professor Zamorra 1166 - Anika Klüver - E-Book

Professor Zamorra 1166 E-Book

Anika Klüver

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Beschreibung

Anatomie des Todes
von Anika Klüver

Das Geräusch der Säge, die ins Fleisch schnitt, war süß und verheißungsvoll. Dazu kamen die Schreie, die eine angemessene Untermalung darstellten. Es war wie eine Symphonie, zu der er arbeitete, eine Melodie, die ihn beflügelte. Endlich würde er sein Werk vollenden. Er wusste, dass er zu Großem bestimmt war. Das war sein Erbe, sein Blut. Und nun würde sich die harte Arbeit auszahlen. Die Welt würde vor seiner Schöpfung erzittern und sein Genie erkennen.
Erneut setzte er die Säge an und bewegte sie ruckartig. Die Schreie waren verstummt. Irgendwann verstummten sie immer. Doch das spielte keine Rolle. Denn der nächste Patient würde die Melodie von Neuem erklingen lassen ...

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Seitenzahl: 153

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Inhalt

Cover

Impressum

Anatomie des Todes

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Unholy Vault Designs / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-7614-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Anatomie des Todes

von Anika Klüver

Das Geräusch der Säge, die ins Fleisch schnitt, war süß und verheißungsvoll. Dazu kamen die Schreie, die eine angemessene Untermalung darstellten. Es war wie eine Symphonie, zu der er arbeitete, eine Melodie, die ihn beflügelte. Endlich würde er sein Werk vollenden. Er wusste, dass er zu Großem bestimmt war. Das war sein Erbe, sein Blut. Und nun würde sich die harte Arbeit auszahlen. Die Welt würde vor seiner Schöpfung erzittern und sein Genie erkennen.

Erneut setzte er die Säge an und bewegte sie ruckartig. Die Schreie waren verstummt. Irgendwann verstummten sie immer. Doch das spielte keine Rolle. Denn der nächste Patient würde die Melodie von Neuem erklingen lassen …

Edinburgh, Schottland

»Ich habe dir doch gesagt, dass das nichts für mich ist.« Ellen Cooper liefen immer noch Schauer über den Rücken. Sie hätte sich niemals dazu überreden lassen sollen, mit auf diesen Friedhof zu gehen. Aber Nick war so begeistert gewesen. Er hatte gestrahlt wie ein kleiner Junge, und sie hatte ihm den Wunsch einfach nicht abschlagen können. Doch nun war sie der Ansicht, dass sie ihn besser allein hätte losziehen lassen. Sie hätte es sich unterdessen im Hotelzimmer gemütlich machen können. Das wäre zwar ein wenig langweilig, aber deutlich mehr nach ihrem Geschmack gewesen.

»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte Nick. »Das war doch toll.«

»Ich werde nie wieder schlafen können«, zischte Ellen.

»Jetzt übertreibst du aber. So unheimlich war es doch gar nicht. Ich fand es eher interessant. Betrachte es doch einfach als Geschichtsstunde.«

»Wenn ich etwas über die Geschichte von Edinburgh erfahren will, kann ich ein Buch lesen. Dafür muss ich mich nicht nachts auf einem Friedhof herumtreiben.« Sie hielt die Stimme gedämpft, denn sie wollte nicht, dass die anderen Leute etwas von ihrer Auseinandersetzung mitbekamen. Das wäre ihr noch unangenehmer gewesen als die letzte Stunde auf dem finsteren Greyfriars Kirkyard.

Sie waren für eine Woche nach Edinburgh gekommen, um hier ihren ersten gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Ellen hatte sich auf gemütliche Spaziergänge über die High Street und einen Besuch der berühmten Burg gefreut, die hoch über der Stadt aufragte. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass ihr Freund Nick plötzlich eine derartige Begeisterung für Schauergeschichten an den Tag legen würde. Sie waren noch nicht lange zusammen, und ihr war bislang nicht klar gewesen, dass er sich so sehr für Geister und anderen Gruselkram interessierte.

Doch bereits am ersten Abend hatte er eins der zahlreichen Angebote für die sogenannten »Ghost Tours« entdeckt. Die abendlichen Führungen boten Touristen einen Ausflug in die schauerliche Geschichte der Stadt an und schienen sehr beliebt zu sein. Auf jeden Fall waren sie nicht gerade günstig und nicht sonderlich lohnenswert, wenn man sich nicht gern gruselte, so viel wusste Ellen jetzt.

»Jetzt sei doch nicht so«, redete Nick auf sie ein. »Ich bin ja die ganze Zeit über bei dir und werde schon aufpassen, dass dir kein Geist zu nahe kommt. Und du hast es ja auch fast geschafft.«

Er schenkte ihr dieses unwiderstehliche jungenhafte Grinsen und zwinkerte ihr zu. Verdammt, warum musste er nur so unverschämt gut aussehen? Mit seinem hübschen Gesicht, mit dem er problemlos als Model hätte arbeiten können, schaffte er es immer wieder, Ellen um den Finger zu wickeln. Aber wenn sie ehrlich war, gefiel ihr das. Sie mochte das Gefühl, einen so attraktiven Mann an ihrer Seite zu haben, der noch dazu ein wirklich netter Kerl war. Doch momentan wünschte sie sich, sie könnte ein wenig standhafter sein und seinem Charme widerstehen.

Ellen hatte sich Nick zuliebe auf eine dieser Führungen eingelassen. Er hatte sie dazu eingeladen und genoss offensichtlich jede Minute. Ellen hingegen hatte jetzt schon genug davon. Aber sie hatten bereits bezahlt und erst die Hälfte der Führung hinter sich gebracht. Wenn sie jetzt einfach ging, würde sie nicht nur Nick enttäuschen, sondern auch Geld verschwenden.

»Ja, schon gut«, brummte sie, während sie folgsam mit den anderen Mitgliedern der Gruppe durch die Stadt liefen, um zum nächsten Abschnitt der Führung zu gelangen. »Wahrscheinlich war der Friedhof deutlich schlimmer als das, was noch kommt. Ich werde das schon irgendwie durchstehen.«

Die Geschichten, die ihnen ihr Führer auf dem Friedhof erzählt hatte, waren wirklich scheußlich gewesen. Sie wusste nicht, was ihr unheimlicher war, die Vorstellung von Grabräubern, die frisch bestattete Leichen ausgegraben hatten, um sie an Medizinschulen zu verkaufen, oder die Behauptung, dass auf dem Friedhof ein Poltergeist sein Unwesen trieb. Letzterer sorgte angeblich regelmäßig dafür, dass Leute, die an den Führungen teilnahmen, später Kratzer und blaue Flecken entdeckten, für die es keine Erklärung gab.

Ellen hielt das für Unsinn, aber der Gedanke hatte trotzdem etwas Beklemmendes an sich. Und sie erwischte sich dabei, wie sie hoffte, dass sie später beim Zubettgehen keine unerklärlichen Verletzungen bei sich oder Nick vorfinden würde, denn sonst würde sie zumindest in dieser Nacht wirklich keinen Schlaf finden.

Der zweite Teil der Führung versprach jedoch tatsächlich, weniger unheimlich und eher informativ zu werden. Sie würden die sogenannten South Bridge Vaults besichtigen, eine Reihe unterirdischer Gewölbe, die einst als Lager und Werkstätten und später vor allem als Unterschlupf für den ärmeren Teil der Bevölkerung gedient hatten. Angeblich hatte es dort auch jede Menge Kriminalität gegeben, und so rankten sich natürlich auch einige schauerliche Geschichten um dieses unterirdische System aus Tunneln und Räumen.

Als sie den Eingang erreichten, versammelte sich die ganze Gruppe darum. Nick nahm Ellens Hand und drückte sie kurz. »Danke, dass du das so tapfer mitmachst. Ich weiß, dass dir der Friedhof nicht besonders gefallen hat. Aber das hier wird sicher auch für dich interessant.«

Ellen schenkte ihrem Freund ein kurzes Lächeln. Nach diesem Abend würde sie eine Menge bei ihm gut haben. Und daran würde sie ihn später auf jeden Fall erinnern. Doch nun musste sie erst mal diesen Ausflug in Edinburghs Unterwelt hinter sich bringen.

Ihr Führer hieß Ian und übte seinen Beruf eindeutig mit Leib und Seele aus. Schon auf dem Friedhof hatte er voller Begeisterung von jedem Spuk erzählt, der dort angeblich umging. Er schien tatsächlich eine Menge Ahnung zu haben, das musste Ellen ihm lassen. Aber sie schloss auch nicht aus, dass er selbst an das glaubte, was er den Touristen erzählte. Irgendwie wirkte er nicht so, als würde er das alles nur als Schau für seine Kunden abziehen. Er war noch recht jung, vielleicht ein paar Jahre älter als Nick und sie. Doch er schien in dieser Tätigkeit eindeutig seine Erfüllung gefunden zu haben.

»Sind alle da? Gut. Wäre ja peinlich, wenn mir unterwegs jemand verloren gegangen wäre. Das ist mir nämlich in all den Jahren, die ich das nun schon mache, noch nie passiert, und ich würde nur ungern jetzt damit anfangen.«

Die Gruppe lachte höflich und lauschte Ian.

»Also, wir werden jetzt gleich die Gewölbe betreten. Ein paar Dinge vorweg, damit alles seine Ordnung hat. Bleiben Sie immer dicht zusammen und achten Sie darauf, wo Sie hintreten. Der Boden ist hier oft uneben und rutschig, und wir wollen ja nicht, dass der Abend für Sie im Krankenhaus endet. Außerdem gilt auch hier das, was ich Ihnen schon auf dem Friedhof mitgeteilt habe. Wenn Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt der Führung unwohl fühlen, sagen Sie mir bitte sofort Bescheid. Ich hatte schon oft Leute, die einfach zusammengeklappt sind, und das sollten wir nach Möglichkeit vermeiden. Und auch hier unten können Geister nicht ausgeschlossen werden. Wenn Sie also das Gefühl haben, dass Sie die Präsenz eines Toten umgibt, könnten Sie damit durchaus richtigliegen.«

Wieder lachten die Leute pflichtbewusst über den makaberen Scherz, den Ian vermutlich jeden Abend machte. Auch Nick war wieder voll bei der Sache. Ellen konnte seine Aufregung regelrecht spüren. Na gut, dachte sie. Dann wollen wir das Ganze mal hinter uns bringen. Sie biss die Zähne zusammen und betrat zusammen mit der Gruppe den ersten Gewölberaum.

Die ersten fünfzehn Minuten waren tatsächlich nicht so schlimm. Eigentlich waren sie sogar ziemlich informativ. Ellen lauschte Ians Schilderungen über den Bau der Gewölbe unter den Bögen der Brücke. Sie staunte, als er erklärte, dass das hier einst eine Art Einkaufszentrum gewesen sei, wobei die einzelnen Räume jeweils als kleine Läden fungierten, in denen man alles Mögliche erwerben konnte. Doch angenehm war es hier sicher auch damals nicht gewesen. Ellen konnte sich lebhaft vorstellen, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen die Leute hier gehaust hatten. Die Luft war klamm und roch abgestanden und modrig. Überall rann Feuchtigkeit an den Wänden hinunter, und man hatte das Gefühl, durch eine von Menschenhand geschaffene Tropfsteinhöhle zu gehen.

Nick ließ immer wieder ihre Hand los, um sich irgendeine Ecke oder einen Stein im Gemäuer genauer anzusehen. Ellen wusste nicht, ob er Ians Vortrag überhaupt noch zuhörte. Er schien durch diese Räume zu wandern, als wäre er irgendwie in die Vergangenheit abgerutscht und könnte erkennen, wie es hier damals ausgesehen hatte. Ellen hätte ihn lieber an ihrer Seite gehabt, aber sie wollte ihm nicht den Spaß verderben. Irgendjemand stellte Ian eine Frage, und Ellen richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Führer.

»Ja, natürlich war das Leben hier unten gefährlich«, beantwortete Ian die Frage des offenbar sensationslüsternen Gruppenmitglieds begeistert. »Sie können sich sicher vorstellen, dass sich hier in der Dunkelheit jede Menge zwielichtige Gestalten herumtrieben. Es war ein perfekter Ort für kriminelle Machenschaften. Zum einen konnte man sich hier gut verstecken, und zum anderen fragte niemand nach, wenn irgendein Bettler oder Tagelöhner verschwand. Mord und Raubüberfälle waren damals zweifellos an der Tagesordnung.«

Ellen spürte einen Kloß im Hals, der nun plötzlich dicker wurde. Sie schluckte und wollte Luft holen. Doch die klamme Atmosphäre in dem Gewölbe erschwerte ihr das Atmen. Sie drehte sich herum, um nach Nick zu sehen, konnte ihn aber nirgends entdecken. Eben war er noch hinter ihr gewesen und hatte sich eine eingeritzte Inschrift in einer Wand angesehen, auf die Ian die Gruppe hingewiesen hatte.

Ellen wurde schwindelig. Die Dunkelheit, die lediglich von ein paar funzeligen Lampen in Schach gehalten wurde, schien sich auszubreiten und den Raum zu verschlucken. Die niedrige Decke verstärkte das ohnehin schon klaustrophobische Gefühl, und die Luft war so dicht, dass Ellen beim Atmen zu ersticken drohte.

Sie hatte sich nun ganz von der Gruppe abgewandt und schaute sich panisch nach Nick um. Wo war er nur? Er konnte ja nicht weg sein. Hatte er sich in einen anderen Raum geschlichen, um das Gewölbe auf eigene Faust zu erkunden? Er konnte sie hier doch nicht allein lassen. Schließlich wusste er, dass sie sich auf dieser Tour nicht wirklich wohlfühlte.

Ellens Unruhe fiel nun offenbar auch den anderen Teilnehmern auf. Sie hörte Gemurmel und das Knirschen von Schuhen auf dem unebenen Steinboden. Doch die anderen Leute kümmerten sie nicht. Sie wollte loslaufen, um nach Nick zu suchen. Aber etwas hielt sie zurück. Eine nie gekannte Angst machte sich in ihr breit und umfasste ihr Herz wie eine eisige Faust. Dieser Ort hier war gefährlich. Sie konnte nicht einfach loslaufen. Wenn sie sich verirrte, würde sie nie wieder hinausfinden und hier sterben.

Das waren absurde Gedanken, und doch konnte sie sie nicht abschütteln. Irgendetwas hatte von ihr Besitz ergriffen. Das Gefühl war so beklemmend, dass sie ins Taumeln geriet. Das schummrige Licht flackerte vor ihren Augen. Sie öffnete den Mund, um nach Nick zu rufen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

Dann packte plötzlich eine Hand ihre Schulter, und sie wirbelte herum. Verdattert starrte sie in Ians Gesicht. Der Touristenführer sah sie besorgt an.

»Miss, geht es Ihnen nicht gut?«

»Ich … Ich …«, stammelte Ellen.

»Schon gut, das passiert öfter. Sie sind nicht die Erste, der auf einer meiner Touren ein bisschen seltsam zumute wird. Das liegt an der Luft hier unten. Die kann …«

»Nein«, fiel Ellen ihm ins Wort. »Sie verstehen das nicht. Nick ist weg. Er war eben noch hier, und jetzt ist er verschwunden. Er wollte bei mir bleiben, weil er wusste, dass ich Angst hatte. Wo ist er?«

Ian wirkte sofort alarmiert. Prüfend ließ er den Blick über die Gruppe schweifen. »Ist Nick der Mann, in dessen Begleitung Sie waren?«

»Er ist mein Freund«, sagte Ellen und rang nach Luft, weil sich ihre Kehle immer weiter zuschnürte. »Er wollte unbedingt diese Tour mitmachen. Er hat sich eben noch hier umgeschaut, und jetzt ist er weg.«

»Okay, das haben wir gleich«, meinte Ian. »Sicher ist er nur in einen anderen Raum gegangen, obwohl das nicht erlaubt ist.« Er wandte sich an die Gruppe. »Bitte bleiben Sie hier und verhalten Sie sich ruhig. Ich werde mich auf die Suche machen und unseren Ausreißer zurückholen.« Er schob Ellen zu den anderen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Keine Sorge, mir ist noch nie ein Teilnehmer abhandengekommen. Ihr Freund wird hier ganz in der Nähe sein.«

Und damit verschwand ihr Führer und ließ Ellen und die anderen allein in dem düsteren Raum. Das Schlimme war, dass es hier nicht still war. Alle Laute wurden durch die höhlenartige Architektur auf unangenehme Weise verstärkt. Jedes Husten und jedes Räuspern der anderen Teilnehmer ließ Ellen zusammenzucken. Und dann waren da noch andere Geräusche, die sie nicht zuordnen konnte. Sie konnte nicht mal beurteilen, aus welcher Richtung sie kamen. Sie glaubte, ein beständiges leises Klopfen zu hören, aber womöglich bildete sie sich das nur ein. Jedenfalls schien keiner der anderen Teilnehmer es wahrzunehmen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrte Ian zurück. Der Strahl seiner Taschenlampe wankte durch die Dunkelheit, und Ellen wollte erleichtert aufatmen. Doch Ian war allein. Sie sah sofort, dass er niemanden bei sich hatte, obwohl die Schatten seine Gestalt hinter dem Lichtkegel der Taschenlampe beinahe verschluckten.

Ian kam auf die Gruppe zu. »Bitte bleiben Sie ruhig.« Seine Stimme war kontrolliert, aber Ellen sah das Entsetzen in seinen Augen. Sofort wusste sie, dass Nick etwas zugestoßen war. Ihre Knie gaben nach, und sie schwankte. Ein Mann neben ihr umfasste ihren Arm und stützte sie.

»Ich muss Sie jetzt alle auffordern, mir zu folgen«, fuhr Ian fort. »Ich werde Sie auf dem schnellsten Weg über einen Notausgang nach draußen führen. Wir müssen die Tour abbrechen, weil jemand vermisst wird. Natürlich bekommen Sie alle Ihr Geld zurück. Bitte kommen Sie mit mir, den Rest regeln wir dann draußen.«

Ellen spürte nur noch, wie sie jemand packte und mit sich schleifte. Irgendwie musste man sie nach draußen gebracht haben, denn plötzlich war die Luft besser, und sie konnte wieder atmen. Sie schaute sich um und starrte in ratlose und teilweise auch verärgerte Gesichter. Dann sah sie Ians Gesicht. Er schaute ihr direkt in die Augen. Ellen verstand nicht, was hier los war. Sie wollte den Mann vor sich packen und schütteln und ihn anschreien, damit er ihr Nick zurückbrachte. Das hatte er ihr doch versprochen. Aber ihr ganzer Körper fühlte sich taub und kraftlos an.

»Ich habe bereits die Polizei verständigt«, sagte Ian, und Ellen hatte keine Ahnung, was er ihr damit sagen wollte. »So etwas ist mir wirklich noch nie passiert, und ich bin sicher, dass sich das alles aufklären wird. Aber Ihr Freund scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Wir werden das Gelände noch einmal absuchen, sobald die Behörden eingetroffen sind. Und die Polizei wird Ihre Aussage und einige Informationen über Nick benötigen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«

Ellen fühlte sich zu überhaupt nichts in der Lage. Sie starrte Ian einfach nur an. »Wo ist mein Freund?«, brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.

»Das weiß ich leider nicht, Miss«, erwiderte Ian. »Aber ich werde Ihnen helfen, ihn zu finden. Die Polizei ist unterwegs. Und auch ich werde tun, was ich kann. Ich habe doch gesagt, dass ich noch nie einen Teilnehmer einer Tour verloren habe, erinnern Sie sich? Und ich will, dass das so bleibt. Wir werden Nick finden, das verspreche ich Ihnen. Aber jetzt kommen Sie erst einmal mit mir. Wir müssen der Polizei erzählen, was passiert ist. Danach sehen wir weiter.«

Ellen ließ sich von Ian mitziehen. Im Augenwinkel sah sie Licht aufblitzen, und ein Teil ihres Verstands registrierte, dass es sich um das Blaulicht eines Polizeiautos handelte. Langsam sickerten die Ereignisse der letzten halben Stunde zu ihr durch. Sie musste der Polizei von Nick erzählen, damit man nach ihm suchen konnte. Doch etwas in ihr wusste, dass er sich nicht mehr in dem unheimlichen Gewölbesystem unter der South Bridge befand. Er war fort, und sie konnte kaum noch atmen, weil sie befürchtete, dass er nie wieder zu ihr zurückkehren würde.

***

Château Montagne, Frankreich

»Warum klingelt das Telefon eigentlich immer genau dann, wenn man es sich in der Badewanne gemütlich gemacht hat?«, fragte Nicole Duval mit unverkennbarer Empörung in der Stimme.

»Du bist doch gar nicht in der Badewanne, chérie«, erwiderte Zamorra verwundert. »Und ich bin es auch nicht.«

»Tja, vielleicht wäre ich es aber gerne«, kam es trotzig zurück. »Wie auch immer, du weißt schon, was ich meine. Das Telefon klingelt immer zum ungünstigsten Zeitpunkt. Und wenn um diese Zeit noch jemand anruft, kann das nichts Gutes bedeuten.«

»Ich frage mich viel eher, was du um diese Zeit noch in der Badewanne willst. Es ist doch schon fast Mitternacht. Wer bitteschön badet um Mitternacht?«

»Verrückte und Verliebte, chéri, das weiß doch jeder. Aber jetzt hör schon auf, dich an diesem Badewannenkommentar festzuklammern, und geh ans Telefon.«

Zamorra eilte zum Apparat und nahm den Hörer ab. »Hallo?«, meldete er sich vorsichtig. Die Uhrzeit sprach tatsächlich dafür, dass es sich um etwas Dringendes handelte.

»Hallo«, ertönte eine Männerstimme aus dem Telefon. Sie wies einen leichten schottischen Akzent auf. »Spreche ich mit Professor Zamorra, dem Parapsychologen?«

»So ist es«, bestätigte der Meister des Übersinnlichen. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Bitte entschuldigen Sie die späte Störung, Professor, aber ich habe ein sehr wichtiges Anliegen und bin überzeugt, dass Sie mir weiterhelfen können. Mein Name ist Ian McDougal, und es geht um den Fall einer vermissten Person.«

Zamorra warf Nicole einen Blick zu und stellte das Telefon auf Lautsprecherfunktion, damit seine Partnerin mithören konnte.

»Woher haben Sie meine Nummer?«, wollte Zamorra wissen.